Vier zauberhafte Schwestern – Wie alles begann: Flame und die Kraft des Feuers - Sheridan Winn - E-Book

Vier zauberhafte Schwestern – Wie alles begann: Flame und die Kraft des Feuers E-Book

Sheridan Winn

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Beschreibung

Wie alles begann: die Vorgeschichte der Erfolgsserie »Vier zauberhafte Schwestern« – erzählt in einer eigenen neuen Serie! Im ersten Band erleben die Leser, wie Flame, die älteste der Cantrip-Schwestern, ihre magischen Kräfte entdeckte. Doch die Macht des Feuers ist nicht leicht zu bändigen ... An Flames neuntem Geburtstag tanzen plötzlich kleine Flammen auf ihrer Hand! Was ist nur mit ihr passiert? Ihre Großmutter weiht sie in ein uraltes Geheimnis ein: Die Mitglieder der Familie Cantrip hatten schon immer magische Kräfte, und nun sind sie auch in Flame erwacht. Leider muss Flame das Geheimnis für sich behalten. Und das ist gar nicht so einfach, wenn man drei neugierige kleine Schwestern hat und aus Versehen die Wiese hinter dem Haus verbrennt … Für alle Fans und Neueinsteiger – auch unabhängig von den anderen Bänden lesbar!

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Seitenzahl: 173

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Sheridan Winn

Vier zauberhafte Schwestern - Wie alles begann

Flame und die Kraft des Feuers

Aus dem Englischen von Katrin Weingran

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Georgie, in LiebeDie Cantrip-FamilieFreitag, 8. Juni Erste MagieSamstag, 9. Juni Zwei GeburtstageDie KerzenGrandma trifft einGrandma erklärt allesSamstag, 9. Juni & Sonntag, 10. Juni MitternachtSonntag, 10. Juni BrandspurenIm TurmMontag, 11. Juni Im KlassenzimmerIn Grandmas ZimmerDienstag, 12. Juni Die Gabe des zweiten GesichtsFreitag, 15. Juni & Samstag, 16. Juni Die SpinneSamstag, 16. Juni Donner und KrähenFunkenflugPanikSonntag, 17. Juni Ein Sonntag auf Cantrip TowersDanksagung

Für Georgie, in Liebe

Freitag, 8. JuniErste Magie

Zwei Dinge konnte Flame Cantrip ganz und gar nicht leiden: Spinnen und Höhen.

Kleine Spinnen waren nicht das Problem. Es waren die großen mit den langen haarigen Beinen, die Flame zu Stein erstarren ließen. Sie verabscheute, wie schnell die Tiere hierhin und dorthin wetzten. Sie ertrug die Vorstellung nicht, eine Spinne könnte über oder unter ihr Bett krabbeln. Cantrip Towers bot nicht nur den Cantrips, sondern auch unzähligen Spinnen ein Zuhause. Das riesige alte Gebäude mit den zwei hohen Türmen verfügte über Hunderte Orte, an denen sie es sich gutgehen lassen konnten. Manche dieser Krabbeltiere kamen ihr gigantisch vor. Sie wollte sie nicht töten, aber sie wollte sie auch nicht in ihrem Zimmer haben. Normalerweise sprang sie aufs Bett und brüllte, bis ihre Eltern oder ihre kleine Schwester Flora zur Rettung herbeieilten. Flora hob die Spinnen auf und brachte sie nach draußen.

Höhen machten Flame nichts aus, solange sie etwas vor sich hatte – eine Wand oder ein Geländer, zum Beispiel. Aber am Rande eines bodenlosen Abgrunds zu stehen, war etwas ganz anderes. Sie fühlte sich von der Tiefe angezogen, als würde sie etwas dorthin zerren, und sie den Fall nicht verhindern können. Allein bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um.

Manchmal fragte Flame sich, ob sie je die Angst vor Spinnen und Höhen verlieren würde. Eigentlich war es ja ganz vernünftig, Angst vor Spinnen (die giftig sein konnten) oder Höhen (aus denen man stürzen konnte) zu haben. Es war sicherer, sich vor ihnen in Acht zu nehmen. So oder so fand sie, dass es okay war, manches nicht leiden zu können, solange es nur so wenige Dinge waren.

Flame war groß für ihr Alter, hatte lange kupferfarbene Haare und leuchtend grüne Augen. Ihr wacher Verstand ließ sie alles in Frage stellen, und sie war normalerweise die erste, die im Unterricht die Hand hob. Auf dem Sportplatz rannte sie, was das Zeug hielt, und sie war stark und schnell und wollte um jeden Preis gewinnen. Ihre drei kleinen Schwestern nannten sie herrisch, was Flame nervte. Flame sah ein, dass sie gern den Ton angab, aber sie hielt sich einfach für gut organisiert und für jemanden, der stets wusste, was zu tun war. Das nervte wiederum Marina, Flora und Sky, die klagten, sie sei trotzdem herrisch. Herrisch oder nicht, Flame fühlte sich wie so viele Erstgeborene für alles verantwortlich.

Darüber hinaus war sie sehr wahrheitsliebend.

Am Tag vor ihrem neunten Geburtstag machte sich Flame allerdings keine Gedanken um die Wahrheit. Sie hatte nichts zu verbergen und brauchte daher keine Ausflüchte erfinden. Sie musste kein Geheimnis hüten.

Abgesehen von Spinnen und Höhen gab es im Leben der ältesten Cantrip-Schwester nichts, das ihr Sorgen bereitet hätte.

Doch das sollte sich bald ändern.

Samstag, 9. JuniZwei Geburtstage

Am Samstagmorgen erwachte Flame in aller Früh. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen flutete Sonnenlicht ins Zimmer, und warme Luft wehte durch das offene Schiebefenster herein.

Heute wurde sie neun Jahre alt. Neun! In wenigen Stunden würde sie mit all ihren Freunden Geburtstag feiern. Es würde ein wunderbarer Tag werden.

Flame lauschte. Draußen im Garten sangen die Vögel, aber in dem großen alten Haus war alles still. Die Eltern lagen vermutlich gemütlich im Bett, und Grandma war noch nicht eingetroffen. Auch die Schwestern schliefen noch. Es gab also keinen Grund schon aufzustehen. Sie konnte die Vorfreude genießen.

Tags zuvor war sie erst acht gewesen. Jetzt war sie neun.

Geburtstage waren schon seltsam, überlegte sie. Wenn die Leute sie zu früheren Gelegenheiten gefragt hatten, wie es war, sieben oder acht zu sein, hatte sie erwidert, genau wie am Tag zuvor. Sie wusste, dass sie mit jedem Jahr größer und stärker wurde, aber sie konnte nicht spüren, wie sie wuchs und sich veränderte, zumindest nicht von einem Tag zum anderen. Doch jetzt hatte sie den Eindruck, dass etwas an ihr anders war.

Lag es daran, dass sie neun war? Was bedeutete es, neun zu sein? Warum fühlte sie sich heute anders als gestern?

Sie richtete sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte sich im Zimmer um. Es sah genauso aus wie am Vorabend, als sie ins Bett gegangen war – die roten Wände, der dunkelblaue Teppich, ihre ordentlich gefalteten Kleider auf dem Stuhl, die Bücher, die in Reih und Glied im Regal standen – alles war an seinem Platz. Das Zimmer sah aus wie immer. Oder vielleicht doch nicht?

Sie blickte sich erneut um. Hatten die Dinge mehr Kontur?

Vielleicht lag es am Sonnenlicht, dachte sie und grübelte eine Weile darüber nach.

Nein, es war mehr als das. Etwas hatte sich verändert. Aber was?

Flame ließ den Blick zum dritten Mal durch das Zimmer schweifen. Es war nicht das Zimmer, das sich verändert hatte, sondern etwas an ihr.

Werden die Augen schärfer, wenn man neun wird?, überlegte sie.

Flames Blick blieb an dem Sonnenstrahl hängen, der ins Zimmer fiel. Sie liebte den Morgen. Er brachte das Versprechen eines neuen Tages mit all seinen Möglichkeiten. An diesem Morgen freute sie sich auf ihre Geburtstagsparty, und es kribbelte im ganzen Körper. Dieses Gefühl war ihr vertraut. Sie hatte bisher an jedem Geburtstag so empfunden. Doch heute kam sie sich vor wie elektrisiert. In ihr brodelte es. Sie fühlte sich so lebendig.

Das hatte nichts mit der Party zu tun. Sie wusste nicht, woher oder warum sie das wusste. Sie wusste es einfach. Flame wusste oftmals Dinge einfach so. Das Wort Transformation schoss ihr durch den Kopf.

Transformation ist ein sehr erwachsenes Wort, dachte sie. Passiert das gerade mit mir?

Die Vorhänge blähten sich auf, als ein plötzlicher Windstoß zum Fenster hereinfuhr. Während sie sich kurz hoben, erfüllte Sonnenlicht den Raum.

Flame spürte das Licht und verstand in einem Moment absoluter Klarheit, was sie zu tun hatte.

Ich muss das Ganze anders angehen, dachte sie. Ich muss die Frage laut stellen und auf mich beziehen.

Einen Moment zögerte sie. Flame redete normalerweise nicht mit sich selbst.

Niemand wird es hören. Ich bin allein, sagte sie sich. Stell endlich die Frage!

Sie holte tief Luft und flüsterte: »Ändert sich irgendetwas, wenn ich, Flame Cantrip, neun werde?«

Während sie noch sprach, glitten die Vorhänge an der Stange nach rechts und links, als ob sie jemand aufgezogen hätte. Sonnenlicht strömte ins Zimmer.

»Boah!«, rief Flame und riss erschrocken die Augen auf.

Was war gerade geschehen? Wer hatte die Vorhänge zurückgezogen? Vielleicht hatten ihre Schwestern etwas ausgeheckt, um sie hereinzulegen, und standen hinter den Vorhängen – aber da war niemand.

Flame starrte zum Fenster.

Merkwürdig, dass es genau in dem Moment passiert ist, als ich die Frage gestellt habe, dachte sie.

Eine Weile grübelte sie darüber nach, und mit jeder Minute wurde ihre Gewissheit größer.

Heute morgen ist etwas mit mir geschehen. Ich bin neun Jahre alt und ich bin nicht mehr dieselbe wie gestern.

Die Empfindung, die mit diesem Wissen einherging, war so stark wie keine zuvor.

Wenn sie nun jemand gefragt hätte, wie es war, neun zu sein, hätte sie ihn angesehen und gesagt: Ich komme mir anders vor.

Flame ließ sich in die Kissen zurückfallen. Einige Zeit verstrich, und nach und nach bemerkte sie ein Kribbeln in den Fingern. Sie streckte die Hände aus und wendete sie hin und her. Sie sahen genauso aus wie tags zuvor – lange Finger, rosa Haut –, aber sie fühlten sich anders an. Es kam ihr vor, als zuckten Stromstöße durch sie. So etwas hatte sie noch nie gespürt. Sie schüttelte die Hände aus, ballte und streckte die Finger, aber das Kribbeln ließ nicht nach. Die Empfindung war nicht unangenehm, nur seltsam.

Während sie ihre Hände ansah, hatte sie plötzlich ein Bild vor Augen. Es blitzte nur kurz auf, doch es war so deutlich! Sie sah sich selbst mit ausgestrecktem rechten Arm dastehen, mit dem Zeigefinger deutete sie auf etwas. Gleichzeitig hörte sie in Gedanken das Wort Magie. Was hatte das alles zu bedeuten? Im nächsten Moment vernahm sie das Wort Geheimnis.

Keins der Wörter wurde laut ausgesprochen, sie waren einfach da, irgendwo in ihrem Kopf.

Flame blinzelte verwundert, doch das Bild und die Wörter waren weg.

Hatte sie tatsächlich die Wörter Magie und Geheimnis gehört oder war das alles nur ein Traum gewesen?

Wusch! Ihre Finger durchzuckte ein Stromstoß. Dann ein neues Bild in ihrem Kopf: ihre Augen, ihre leuchtend grünen Augen als Nahaufnahme. Gleichzeitig vernahm sie in Gedanken das Wort Zukunft.

Flame stand der Mund offen.

Transformation. Magie. Geheimnis. Zukunft. Kribbelnde Finger. Vorhänge, die sich wie von Geisterhand öffneten!

Was hatte das alles zu bedeuten?

Musste sie die Sache geheim halten? Durfte sie niemandem davon erzählen?

Flame runzelte die Stirn. Sie hatte noch nie ein Geheimnis gehabt. Wie sollte das gehen? Sie erzählte ihren Eltern und Schwestern immer alles. Im Grunde war sie außer früh am Morgen und spät am Abend nie allein.

Das Ganze war so merkwürdig. Was sollte sie jetzt machen?

Da öffnete sich die Zimmertür und ihre drei Schwestern stürmten herein. Flame musste ihre Überlegungen auf später verschieben.

»Herzlichen Glückwunsch, Flame!«, riefen Marina und Flora und sprangen zu ihr aufs Bett.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte auch Sky und krabbelte auf Flames Schoß.

Flame richtete sich auf und drückte die kleine Schwester fest an sich. »Dir auch alles Gute zum Geburtstag, Bienchen«, erwiderte sie. »Du bist jetzt fünf! Das ist ganz schön groß, was?«

Sie kitzelte Sky am Bauch. Die Schwester kicherte selig, und es wurden erst mal jede Menge Umarmungen und Küsse getauscht.

»Ich freu mich auf meine Schatzsuche!«, rief Sky. Sie strich sich das zerzauste blonde Haar aus dem Gesicht.

»Und ich mich auf meine Olympiade!«, entgegnete Flame.

Lustigerweise hatten Flame, die älteste Cantrip-Schwester, und Sky, die jüngste, am selben Tag Geburtstag, und zwar am 9. Juni.

Colin und Ottalie, die Eltern der Mädchen, waren der Meinung, es sei besser, wenn beide getrennt feierten. Zwei Partys gleichzeitig auf die Beine zu stellen war zwar eine Herausforderung, aber sie hatten auf Cantrip Towers jede Menge Platz für Schatzsucher und Athleten.

Das große Haus mit den zwei charakteristischen Türmen lag im Norden von Norfolk auf dem Land und war über hundert Jahre zuvor von Sidney Cantrip, dem Ururgroßvater der Schwestern, erbaut worden. Der berühmte Süßwarenfabrikant hatte das Haus mit dem Rosengarten, dem Geheimen Garten, dem Wilden Wald, dem Großen Feld, einem Gemüsegarten und großzügigen Rasenflächen umgeben. Cantrip Towers war ein glückliches Heim, und die Besucher kamen zahlreich und gerne. Eine hohe Backsteinmauer schloss das ganze Anwesen in seine eigene Welt ein.

An diesem Tag würden Colin und zwei Eltern von Flames Freunden die Wettkämpfe der Olympiade organisieren, während Ottalie und die Mutter einer Freundin von Sky sich um die Schatzsucher kümmerten. Marina mit ihren fast acht Jahren würde bei Flame mitfeiern, die sechsjährige Flora dagegen bei Sky und ihren Freunden. Im Anschluss an die Spiele würden alle unter der großen Blutbuche an einem langen Tisch zusammensitzen und essen. Es würde zwei Geburtstagstorten geben, und alle würden zweimal Happy Birthday singen, einmal für Flame und einmal für Sky.

Es war alles so aufregend, dachte Flame und sprang aus dem Bett.

Es gab so viel zu tun und vorzubereiten, dass sie keine Zeit mehr hatte, über kribbelnde Finger oder sich öffnende Vorhänge nachzugrübeln. Um die Mittagszeit fragte sie sich sogar, ob sie alles nur geträumt hatte. Doch ihre Finger kribbelten weiter. Flame erzählte niemandem etwas davon. Dies sollte ihr erstes Geheimnis sein.

Die Kerzen

Die Sonne brannte auf Cantrip Towers herab, als sich um halb drei achtunddreißig Kinder auf dem Rasen versammelten.

Auf der einen Seite standen Flame und ihre Freunde in Sportkleidung neben der vierspurigen Laufbahn, die Colin auf den ebensten Abschnitt der Rasenfläche gezeichnet hatte.

Er war ein großer, freundlicher Mann, der mit den kastanienfarbenen Haaren und braunen Augen Flora sehr ähnelte. An diesem Tag hatte er sich eine Trillerpfeife umgehängt und hielt ein Klemmbrett mit Papier und Stift in der Hand. Während die Sportler gespannt warteten, teilte er sie ihn vier Gruppen ein. Jede Mannschaft bekam eine Farbe – rot, blau, gelb und grün –, und jeder Athlet trug ein entsprechendes Band über der Brust. Flames Mannschaft waren die Roten.

»Na schön, stellt euch alle zum ersten Rennen auf«, sagte Colin.

Flame und die anderen Kinder sprangen aufgeregt auf und ab, sie konnten es kaum erwarten, endlich loszurennen.

Gleichzeitig tummelten sich auf der anderen Seite des Gartens achtzehn Piraten mit gestreiften Oberteilen, falschen Bärten und schwarzen Augenklappen. Zwei Jungen trugen große schwarze Piratenhüte, und einer hatte sogar einen Papagei auf der Schulter sitzen. Sky und Flora hatten gestreifte Tücher um den Kopf und Plastikschwerter um die Hüfte gebunden.

»Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste«, schrie Flora.

»Johoho, und ’ne Buddel voll Rum!«, rief Sky.

Zwei Jungen lieferten sich bereits ein Übungsgefecht mit ihren Schwertern.

»Auf geht’s Piraten, lasst uns auf Schatzsuche gehen!«, rief Ottalie, und die Kinder sausten über die Wiese davon. Ottalie Cantrip, die klein und blond war wie Sky, aber noch temperamentvoller, rannte hinterher.

Zwei Stunden lang maßen die zwanzig Olympioniken sich beim Hochsprung, Weitsprung, Einhundertmeterlauf, Kugelstoßen, Sackhüpfen, Dreibeinlauf und Eierlaufen. Als letzte Disziplin war das langsame Fahrradfahren an der Reihe. Dabei musste man so langsam fahren, wie man konnte, ohne einen Fuß auf den Boden zu setzen. Es war kniffelig. Die meisten Kinder fuhren zu langsam, verloren das Gleichgewicht und stellten einen Fuß auf den Boden. Ein paar fielen vom Fahrrad. Der Gewinner war der Radfahrer, der als letzter ins Ziel kam, ohne den Boden zu berühren. Wie üblich war es am Ende Flame, die das Rennen gewann.

Die Piraten folgten mit lautem Juchhe und Fuchteln der Schwerter der Spur, die Colin quer durch den Garten über das Große Feld und durch den Wilden Wald gelegt hatte. Der Schatz, nach dem sie suchten, bestand aus einer Holzkiste voller Schokoladengoldtaler. Um ihn zu finden, mussten die Piraten Hinweise suchen und deuten: Kreidezeichen auf Baumstämmen, Zweige, die zu Pfeilen gelegt waren, Steine, die ein Muster bildeten, und ähnliches. Die falschen Fährten, die Colin mit eingebaut hatte, führten die lärmenden Piraten manchmal in die Irre, doch schließlich entdeckten sie den Schatz, der zwischen zwei hohen Buchen vergraben war. Sie trugen die Truhe zurück zum Haus, ließen sich ins Gras fallen und verputzten die Schokoladenmünzen.

Danach stürzten sich die Piraten auf die Wasserrutsche, die Colin auf dem Rasen in Hanglage angelegt hatte. Sky und ihre Freunde kreischten fröhlich beim Rutschen. Um halb fünf waren alle völlig erledigt. Die meisten Kinder waren pitschnass geworden, aber das war ihnen egal.

Durstig und hungrig und übers ganze Gesicht strahlend, setzten sich alle unter die große Blutbuche. Am einen Ende des langen Tisches saßen die Olympioniken, am anderen die Piraten.

Ottalie, Colin und ihre Helfer brachten große Platten mit belegten Broten, Würstchen im Schlafrock, Scones und Marmelade nach draußen und verteilten sie auf dem Tisch. Alles war selbstgemacht. Ottalie, die gebürtige Französin, war eine wundervolle Köchin. Die Kinder bekamen Limonade eingeschenkt und waren fröhlich und lachten miteinander, während sie es sich schmecken ließen.

Dann war es Zeit für die Geburtstagstorten. Ottalie trug Skys Kuchen, der wie ein Piratenschiff aussah, ins Freie. Skys graue Augen strahlten aufgeregt, sie klatschte freudig mit den Patschehändchen, als ihre Mutter das Kunstwerk vor ihr auf dem Tisch abstellte. Alle sangen Happy Birthday, im Anschluss blies Sky die fünf rosafarbenen Kerzen aus. Mithilfe ihrer Mutter führte Sky das Messer und schnitt den Kuchen an. Dabei wünschte sie sich etwas.

Als Nächste war Flame an der Reihe. Ihre Geburtstagstorte war mit den fünf olympischen Ringen verziert. Sie sah einfach umwerfend aus, und in der Mitte steckten neun goldene Kerzen.

Bis zu dem Moment, als Ottalie den Kuchen vor ihr abgestellte, hatte Flame das Kribbeln in ihren Fingern völlig vergessen. Sie war zu beschäftigt gewesen, um über Transformation und Geheimnisse und Elektrizität nachzudenken. Doch kaum, dass der Kuchen den Tisch berührte, kehrte das Kribbeln in ihre Finger zurück. Sie holte scharf Luft und ballte die Fäuste.

»Herzlichen Glückwunsch, Liebling«, sagte Ottalie.

»Die Torte sieht wunderschön aus, Mum, vielen, vielen Dank«, erwiderte Flame und öffnete die Fäuste.

Ottalie zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Hosentasche.

Flame keuchte auf. Etwas würde geschehen. Das spürte sie. Sie sah zu, wie ihre Mutter ein Streichholz entzündete und es an die erste Kerze hielt. Ihre Finger kribbelten, als der Docht zu brennen begann.

Als Ottalie die zweite Kerze anzündete, wurden Flames Hände warm, und sie wurden noch wärmer, als die dritte Kerze aufflammte. Bei der vierten Kerze meinte Flame, ihre Hände stünden in Flammen. Das Ganze wurde allmählich unangenehm. Sie hätte die Hände gerne ausgeschüttelt. Es fiel ihr schwer, sie stillzuhalten. Würde den anderen auffallen, dass etwas nicht stimmte? Sie warf einen raschen Blick auf ihre Hände, doch sie sahen aus wie immer.

»Bitte schön«, sagte Ottalie mit dem Entzünden der neunten Kerze.

Sämtliche Blicke waren auf Flame gerichtet, als alle Happy Birthday für sie sangen.

Flame lächelte, aber ihre Hände prickelten dermaßen, dass es ihr schwerfiel, still zu stehen. Endlich war das Lied zu Ende und ihre Mutter sagte: »Hol tief Luft und puste alle auf einmal aus!«

Das tat Flame. Die Kerzen gingen aus. Alle applaudierten. »Hurra!«, riefen sie.

»Schneide den Kuchen an und wünsch dir was«, forderte Ottalie Flame auf. Sie reichte ihr das Messer.

Flame stand auf und nahm den Messergriff in beide Hände. Sie wollte die Messerspitze gerade in die Mitte des Kuchens senken, als die neun Kerzen zu neuem Leben erwachten.

Flame zögerte.

Alle lachten.

Ottalie machte große Augen und rief: »Oh!«

»Sind es Kerzen, die man nicht auspusten kann, Mum?«, fragte Flame. Sie blickte auf ihre Hände.

»Nein, es sind ganz gewöhnliche«, erwiderte Ottalie. »Am besten bläst du sie noch mal aus.«

Flame holte zum zweiten Mal tief Luft und blies die Kerzen aus, doch sobald ihre Hand in die Nähe des Kuchens kam, flackerten die Kerzen erneut auf.

Alle prusteten los. Sie starrten abwechselnd Flame und den Kuchen an.

»Das sind so Scherzartikelkerzen!«, brüllte Bill Tolver.

»Die kann man gar nicht auspusten!«, sagte Lisha.

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Ottalie ratlos. »Wie merkwürdig.«

Flame schluckte. Ihre Finger prickelten, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass sie die Kerzen entzündet hatte. Rasch senkte sie die Hände und blies die Kerzen mit einem lauten »Puuuhhh« zum dritten Mal aus.

Alle hielten inne, um zu sehen, was passieren würde.

In dem Moment, als die Kerzen ausgingen, reichte Flame ihrer Mutter das Kuchenmesser. »Schneide bitte du die Torte an, Mum«, bat sie. »Ich muss auf die Toilette.«

Und bevor jemand etwas sagen konnte, sprang sie von ihrem Stuhl und rannte ins Haus.

Flame raste die breite Mahagonitreppe in den zweiten Stock des Hauses hinauf, dann den Flur entlang und in ihr Zimmer. Sie warf die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit klopfendem Herzen dagegen.

Was geschieht mit mir?, dachte sie.

Flame streckte die Hände aus, wendete sie hin und her. Sie sahen normal aus, aber sie kribbelten noch immer. Flame spürte, wie sie vibrierten. So als schösse eine Art elektrischer Ladung durch ihre Finger. Neben dem Kribbeln war da ein Puls in ihren Händen, den sie so noch nie wahrgenommen hatte. Bum, bum, bum, machte er. Es war nicht ihr normaler Puls. Der hier war anders. Zum Beispiel war er viel schneller – obwohl ihr eigener Puls im Moment bestimmt raste.

Plötzlich zischten ihre Fingerspitzen und wurden knallrot. Sie waren so heiß, dass Flame den Eindruck hatte, sie würden jeden Moment in Flammen aufgehen.

Sie schrie erschrocken auf.

Verängstigt lehnte sie sich gegen die Tür und starrte auf ihre Handflächen.

»Ich habe Angst«, flüsterte Flame. »Ich begreife das alles nicht – und es tut weh! Soll ich es Mum oder Dad sagen?«

Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Es lenkte sie von ihren Händen ab, und sie blickte sich im Zimmer um. Es war niemand da – niemand, den sie hätte sehen können, aber sie hatte das untrügliche Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Und Flame vertraute stets ihrem Gefühl. Wenn sie spürte, dass etwas da war, war es wahrscheinlich auch so.

»Hilf mir«, flüsterte sie.