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Wie alles begann: die Vorgeschichte der Erfolgsserie »Vier zauberhafte Schwestern« – erzählt in einer eigenen neuen Serie! Im dritten Band entdeckt Flora ihre magische Kraft der Erde. An Floras neuntem Geburtstag passiert etwas Unglaubliches: Sie kann auf einmal Pflanzen blitzschnell wachsen lassen! Schon immer hatte sie eine besondere Verbindung zur Natur, und nun verfügt sie über die magische Kraft der Erde. Aber die Zauberkräfte sind eine große Macht. Ist sie dafür wirklich bereit? Für alle Fans und Neueinsteiger – auch unabhängig von den anderen Bänden lesbar! Alle Bände der Serie: »Vier zauberhafte Schwestern - Wie alles begann: Flame und die Kraft des Feuers« »Vier zauberhafte Schwestern - Wie alles begann: Marina und die Kraft des Wassers« »Vier zauberhafte Schwestern - Wie alles begann: Flora und die Kraft der Erde« Bei Antolin gelistet
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Seitenzahl: 177
Sheridan Winn
Vier zauberhafte Schwestern
Wie alles begann: Flora und die Kraft der Erde
Aus dem Englischen von Katrin Weingran
FISCHER E-Books
Für Diana, in Dankbarkeit
Samstag, 3. Mai
Spuren legen 11
Die Schnitzeljagd 26
Sonntag, 4. Mai
Drei Schwestern 53
Der Röntgenblick 67
Montag, 5. Mai
Wird sie, oder wird sie nicht? 78
Die Grillparty 88
Montagabend
Magische Missgeschicke 102
Dienstag, 6. Mai
Die Schule und das Eichhörnchen 112
Mittwoch, spät in der Nacht
Das Mondlichtabenteuer 121
Mittwochnacht und Donnerstagmorgen
Floras Magie 129
Samstag, 10. Mai
Der Jahrmarkt 137
Die Ritter von Noonsbury 147
Samstagabend und Sonntag
Blitz und Donner 161
Sonntagabend
Die Erde bebt! 171
Taschenlampen und Laternen 180
Sonntag, spät in der Nacht
Im Keller 191
Das zweite Erdbeben 200
Montag, 12. Mai, kurz vor Sonnenaufgang
Die Kraft der Erde 208
An Floras neuntem Geburtstag war ihr Vater Colin Cantrip schon um fünf Uhr morgens auf dem Gelände von Cantrip Towers unterwegs. Er hatte seiner Tochter versprochen, die Spur für eine Schnitzeljagd auf dem Grundstück zu legen. Damit ihn keine der Töchter dabei beobachtete, hatte er das Haus früh verlassen. Alle vier hatten ihm hoch und heilig versprochen, vor halb drei nicht nach Hinweisen Ausschau zu halten. Aber die Versuchung war groß, und er befürchtete, das Versprechen wäre bald vergessen. Die Frage war, wo die Schnitzeljagd beginnen sollte. Es durfte nicht zu offensichtlich sein.
Der große Mann mit den sanften braunen Augen und dem freundlichen Gesicht dachte kurz nach, dann drehte er sich um und ging die Einfahrt hinunter. Er würde an dem beeindruckenden, schmiedeeisernen Eingangstor von Cantrip Towers beginnen. Dieses hatte schon bessere Tage gesehen, war aber immer noch atemberaubend, genau wie das große Haus mit den märchenhaften Türmen.
Es war ein wunderschöner Morgen, und es versprach ein noch schönerer Tag zu werden. Für die erste Maiwoche war es ungewöhnlich warm, und Cantrip Towers erblühte zum Leben. Sowohl die Weißdorn- als auch die Holunderbüsche zierte ein Meer aus cremefarbenen Blüten. Ein Teppich aus Glockenblumen schmückte den Waldboden, und der Kuckuck rief. Im Teich tummelten sich Kaulquappen, während die Singvögel ihr erstes Gelege schon fast aufgezogen hatten. Schwalben schossen durch die Luft.
Colin hatte eine große Segeltuchtasche dabei, deren Riemen quer über seine Brust verlief. Darin befanden sich ein paar Stücke weißer Kreide, ein Brett, auf dem die Worte Willkommen in der vergessenen Welt standen, eine handgemalte Karte des Wilden Walds, etliche Wegmarkierungssteine und ein Bündel grader Stöckchen. In der linken Hand hielt er einen Spaten und in der rechten eine große rechteckige Tasche, aus der etwas ragte, das ein wenig an einen Dinosaurierknochen erinnerte.
Er dachte an seine Töchter – es fiel ihm schwer zu glauben, dass es bereits Floras neunter Geburtstag war. In einem Monat würde Flame zwölf werden und die kleine Sky acht. Und einen Monat danach Marina elf. Jede Tochter würde eine Geburtstagsparty feiern, und dies war nicht das erste Mal, dass Colin eine Schnitzeljagd vorbereitete.
Spurenlesen war Floras Hobby. Sie kannte die Fuß- und Krallenabdrücke einer Menge Tiere und Vögel. Es war typisch für sie, an ihrem Geburtstag auf Schnitzeljagd gehen zu wollen. Colin konnte sich gut vorstellen, dass sie eines Tages eine Expedition anführen würde, die nach neuen Tierspezies suchte – oder Dinosaurierknochen. Und Flora liebte es, sich um Pflanzen zu kümmern. Im Gemüsegarten war sie stets an seiner Seite und lernte von ihm. Von allen Töchtern war sie die naturverbundenste.
Flora und ich teilen etwas Besonderes miteinander, dachte Colin, als er das Tor erreichte. Er wandte sich nach Osten und zwängte sich durch das Unterholz bis zu der hohen Backsteinmauer, die um Cantrip Towers herum verlief und das Haus und die Menschen, die darin wohnten, in einer eigenen Welt einschloss.
Colin stellte seine Sachen ab und nahm die Holztafel sowie einen der Stöcke aus der Tasche. Mit dem Taschenmesser schnitzte er eine Kerbe in den Stock, dann rammte er ihn in den Boden. Er drückte das Brett in die Kerbe. Daran hing eine kleine Plastiktüte, in der zwei Bonbonbeutel steckten. Eine Belohnung dafür, dass die Kinder den ersten Hinweis entdeckt hatten. Daneben legte er ein langes und zwei kurze Stöckchen zu einem Pfeil auf den Boden, der nach links deutete. Er hob seine Sachen auf und schob sich weiter durch das Unterholz – große Ginsterbüsche –, um den zweiten Hinweis zu platzieren.
Kleine Entdecker müssen sich durchs Unterholz kämpfen, selbst wenn sie sich den Weg nicht mit Macheten frei hacken dürfen wie im Film, dachte er. Und hier auf Cantrip Towers gibt es jede Menge Unterholz. Also wo hinterlasse ich jetzt den zweiten Hinweis …
Zwei Stunden später kehrte Colin gerade zum Frühstück ins Haus zurück, als Sky Floras Zimmertür aufriss. Sie landete mit einem großen Sprung auf Floras Bett und brüllte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
Flora war schlagartig wach. »Danke!«, antwortete sie.
»Ich liebe Geburtstage!«, rief Sky aufgeregt. »Ich freue mich schon so auf die Schnitzeljagd!«
Flora lächelte die kleine Schwester an. »Ich auch!«
»Komm schon, steh auf. Wir müssen nach unten, damit du deine Geschenke auspacken kannst!« Sky hüpfte vom Bett. Flora schlug die Decke zurück.
»Ich möchte mich erst anziehen«, verkündete sie.
»Wie langweilig«, maulte Sky.
»Komm, du auch!«
Sky stöhnte auf, dann sauste sie in ihr Zimmer.
Kurze Zeit später hatten die Schwestern sich gewaschen und angezogen und rannten die breite Mahagonitreppe ins Erdgeschoss hinunter. Sie stürmten in die Küche.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz!«, sagte Ottalie. Sie drückte ihre Tochter fest an sich und gab ihr einen Kuss.
»Alles Liebe zum Geburtstag«, wünschte Colin. Auch er umarmte sie fest.
Als Nächstes war Marilyn an der Reihe. »Herzlichen Glückwunsch, Flora!«, sagte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sky nahm am langen Küchentisch Platz und beobachtete das Ganze froh. Flora setzte sich neben sie.
»Möchtest du die Geschenke und Karten jetzt öffnen oder zuerst frühstücken?«, fragte Ottalie.
»Frühstücken!«, rief Sky.
»Es ist nicht dein Geburtstag«, ermahnte die Mutter sie mit einem Lächeln.
»Schon klar, aber ich habe Hunger«, entgegnete Sky.
Ottalie verdrehte die Augen. »Du hast ständig Hunger!«
Sky rieb sich den Bauch. »Ich wachse eben noch.«
Ottalie wandte sich Flora zu. »Also?«
»Zuerst das Frühstück, bitte«, sagte Flora. »Ich möchte, dass Flame und Marina dabei sind, wenn ich die Geschenke öffne.«
Sie mussten nicht lange warten. Als Flora und Sky sich über ihr Rührei auf Toast hermachten, kamen Flame und Marina in die Küche.
»Herzlichen Glückwunsch!«, riefen sie, umarmten Flora und überreichten ihr Karten und Geschenke.
Es herrschte eine ausgelassene Stimmung am Tisch, wie an allen Geburtstagen der Cantrips. Sie waren eine Familie, die von Herzen gern feierte.
Während Marilyn noch mehr Rührei und Toast machte, setzte Ottalie den Kaffee auf und Flame schenkte Marina und sich Apfelsaft ein.
Gegenüber von Flora hing Marina mit verträumtem Gesichtsausdruck ihren Gedanken nach, sie schien noch nicht richtig wach zu sein. Flora lächelte, als sie die zerknitterten Kleider und ungekämmten Haare bemerkte. Flame dagegen wirkte wie aus dem Ei gepellt. Ihre langen kupferfarbenen Haare fielen seidig glänzend auf ihre Schultern, und ihr Blick war hellwach. Sie sah Flora über den Tisch hinweg prüfend an. Flora erwiderte ihren Blick fragend, da ihr nicht klar war, warum ihre große Schwester so forschend guckte. Aber andererseits war der forschende Blick typisch für Flame, und über das Öffnen der Karten und Geschenke vergaß Flora rasch alles andere.
»Ein Fernglas!«, rief Flora, als sie das Geschenkpapier vom Geschenk der Eltern riss. »Wow! Damit kann ich Vögel beobachten. Es ist schön leicht. Danke, Mum, danke, Dad!« Und sie umarmte beide. Als Nächstes war das Formicarium an der Reihe, eine Ameisenfarm in einem großen Glaskasten. Es war das Geschenk ihrer Großmutter. Flora hüpfte begeistert auf und ab. »Das wünsche ich mir seit Jahren, Grandma! Darf ich es in mein Zimmer stellen, Mum?«
Ottalie sah das Formicarium an. Sie schüttelte sich. »Ja, solange du gut aufpasst, dass die Ameisen nicht entwischen.«
»Ja, pass immer gut auf, dass der Deckel zu ist«, mahnte Marilyn.
Flame schenkte Flora ein Buch, mit dem sich Blumen bestimmen ließen. Marinas Geschenk war eine Handtasche, die mit bunten Perlen bestickt war. Sky hatte von ihrem Taschengeld ein Buch mit Gruselgeschichten für Flora gekauft.
»Die können wir unter der Bettdecke mit der Taschenlampe lesen«, schlug sie vor.
»Das wird total gruselig«, sagte Flora begeistert.
Auch Tanten, Onkel und Cousins hatten Karten und Geschenke geschickt. Als alles ausgepackt war, begab sich die Familie nach draußen.
»Versprecht mir, nicht nach Hinweisen Ausschau zu halten«, sagte Colin streng. Er sah einer nach der anderen fest in die Augen. »Ihr verderbt euch sonst den ganzen Spaß an der Schnitzeljagd.«
Sie versprachen es ihm. Dann liefen sie über den Rasen zu den Ställen, um nach ihren Haustieren zu sehen. Da es so ein schöner Tag war, holten sie die Meerschweinchen und Kaninchen aus den Käfigen und setzten sie in Drahtgehege auf den Rasen. Colin hatte diese für die kleinen Tiere gebaut, damit sie in den Sommermonaten viel Auslauf und frisches Gras bekamen.
Colin und Ottalie holten drei lange Klapptische aus den Ställen und trugen einen nach dem anderen unter die große Blutbuche. Dort würde es später den Geburtstagskuchen geben. Die Mädchen brachten Klappstühle herbei. Während Colin und Ottalie die Tische aufreihten, holten die Schwestern noch mehr Stühle. Marilyn kam mit drei langen Tischtüchern aus dem Haus, die sie über den Tischen ausbreitete.
»Ich überlege, wie wir die Tische für unsere kleinen Entdecker dekorieren könnten?«, sagte sie.
»Mit Zweigen?«, schlug Marina vor.
»Ein paar langen Gräsern?«, überlegte Ottalie.
»Mit Essen!«, rief Sky und sauste los.
Flora konnte vor Aufregung kaum stillstehen. »Ich freue mich ja schon so!«, rief sie klatschend. Da fiel ihr auf, dass Flame sie wieder forschend ansah. Beunruhigt fragte sie: »Was? Was hab ich gemacht?«
Flame schüttelte lachend den Kopf. »Du hast gar nichts gemacht!«
»Okay«, erwiderte Flora und flitzte los, den nächsten Klappstuhl holen.
Flame sah Flora voller Vorfreude hinterher. Es würde erneut geschehen. Die dritte Cantrip-Schwester war neun Jahre alt geworden und würde an diesem Tag ihre magischen Kräfte erhalten. Oder zumindest sollte sie heute ihre magischen Kräfte bekommen. Bisher schien Flora genauso fröhlich und unbekümmert wie immer. Noch hatte Flame keine Anzeichen für Magie entdeckt, wie zum Beispiel, dass Flora ängstlich auf ihre Hände starrte, so als hätten sie angefangen zu kribbeln.
Flame dachte daran zurück, wie erstaunt sie gewesen war, als vor drei Jahren ihre eigenen Finger zu kribbeln begonnen hatten. Es war früh am Morgen ihres neunten Geburtstags gewesen, kurz nach dem Aufwachen. Flame hatte gleich gespürt, dass etwas anders war, dass das Kribbeln etwas zu bedeuten hatte. Instinktiv hatte sie gewusst, dass sie niemandem davon erzählen durfte. Im Laufe des Tages war das Kribbeln immer stärker geworden, bis es richtig unangenehm gewesen war. So, als stünden sie unter Strom, dachte Flame. Dann hatten sie geschmerzt. Als baue sich eine Spannung auf, die sich entladen müsse. Trotzdem hatte Flame ihrer Familie davon nichts erzählt.
Sie dachte daran zurück, wie sie vor den Augen aller die Kerzen auf dem Kuchen ausgeblasen hatte und wie sie jedes Mal wieder aufgeflammt waren, wenn sie sich dem Kuchen mit dem Messer näherte. Ihre Hände hatten gebrannt, und sie hatte gespürt, dass zwischen dem Brennen in ihren Fingern und dem Wiederaufflammen der Kerzen ein Zusammenhang bestand.
Sie war ein einziges Nervenbündel gewesen. Etwas passierte mit ihr, und sie musste es geheim halten. Wie sollte sie herausfinden, was los war? Mit wem sollte sie reden? Völlig aufgelöst war sie in ihr Zimmer gerannt, wo Marina sie aufgespürt hatte. Und wieder hatte Flame keinen Ton gesagt.
An jenem Abend war Marilyn auf Cantrip Towers eingetroffen. Es hatte ihr schrecklich leidgetan, Flames Geburtstagsparty verpasst zu haben, und sie hatte sie gebeten, zu ihr ins Zimmer zu kommen. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, hatte sie gefragt: »Kribbeln deine Hände, Flame, so als stünden sie unter Strom?«
Woher wusste sie das? Flame war so verblüfft gewesen, dass sie kein Wort hervorbrachte. Dann hatte Marilyn ihre langen, schlanken Finger genommen und gesagt: »In deinen Händen stecken magische Kräfte.«
Flame hatte sie ungläubig angestarrt. »So etwas gibt es doch nur in Büchern!«
»Deine magischen Kräfte erwachen«, hatte Marilyn ihr eröffnet, und als Flame sie fragte, woher sie das wüsste, hatte ihre Großmutter geantwortet: »Weil meine Hände sich an meinem neunten Geburtstag ebenso angefühlt haben – und wir beide Cantrips sind.«
»Aber magische Kräfte hat doch keiner!«, hatte Flame gesagt, und ihre Großmutter hatte gelächelt.
Die Magie lag den Cantrips im Blut, so war es schon seit vielen Generationen. Niemand wusste, wer die Kräfte besaß, und sie mussten stets geheim gehalten werden und durften nur benutzt werden, um Gutes zu tun. Marilyn hatte einst die magischen Kräfte der Cantrips besessen, daher wusste sie, dass die vier Schwestern ihre Kräfte an ihrem neunten Geburtstag bekommen würden. Jede würde eine Kraft haben, die in Verbindung mit einem der vier Elemente stand: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Flames Kraft würde die des Feuers sein.
»Deine Hände können Feuer machen«, hatte Marilyn ihr gesagt. »Sie können es löschen. Sie können Hitze und Licht schaffen. Deine Kraft kommt von Osten, vom Ort des Geistes und der Inspiration. Sie wird dir erlauben, in die Zukunft zu sehen. Und sie wird dir großen Mut verleihen.«
Das war inzwischen drei Jahre her. Dann, vor zwei Jahren, hatte Marina ihre Kraft des Wassers bekommen. Flame dachte mit einem Lächeln an den Geburtstag der Schwester zurück. Da sie kein Kribbeln in den Fingern gespürt und noch nichts von den Kräften geahnt hatte, die sie bald besitzen würde, hatte Marina eine ausgelassene Party am Strand von Holkham gefeiert. Flames Nerven dagegen waren zum Zerreißen gespannt gewesen. Sie hatte die Schwester mit Argusaugen beobachtet und gewartet, dass die Kraft des Wassers sich endlich zeigte und sie Marina erklären konnte, was los war und dass sie kein Wort davon verraten durfte.
Als Flame zu Bett ging, hatte sich Marinas Kraft noch immer nicht offenbart. Kurz vor Mitternacht – exakt zum Zeitpunkt ihrer Geburt neun Jahre zuvor – hatten Marinas Finger schließlich angefangen zu kribbeln. Sie war im Bett hochgefahren und wollte gerade ihre Mutter holen, als Flame ins Zimmer kam und ihr eröffnete, dass sie magische Kräfte hätte.
Marina hatte es zunächst genauso wenig glauben wollen wie einst Flame.
»Was für Kräfte?«, hatte sie gefragt. »Meine Finger tun weh. Wie kann das Magie sein?«
Flame hatte geantwortet: »Es beweist, dass Magie durch deine Hände strömt.«
Marina hatte die Zähne zusammengebissen und »Autsch!« hervorgestoßen, während Flame das Fenster öffnete, die Hand ausstreckte und sagte: »Behalte meine Zeigefinger im Blick.«
Marina hatte aufkeuchend beobachtet, wie ein Feuerblitz aus Flames Finger schoss, in hohem Bogen in den Nachthimmel stieg und auf dem Rasen niederging. Im Mondlicht hatte sie gerade so die Rauchsäule erkennen können, die aus dem feuchten Gras aufstieg. »Was hast du gemacht?«
Ihre Augen waren so weit aufgerissen gewesen, dass Flame meinte, sie müssten jeden Moment herauskullern.
Seit zwei Jahren übten die Schwestern nun zusammen, streng geheim, mit der Großmutter als Ratgeberin. Die ganze Zeit über hatten sie Floras neunten Geburtstag herbeigesehnt. Heute war es so weit, und Flora lief mit Klappstühlen unter dem Arm über den Rasen zum Tisch.
Flame und Marina waren sich einig gewesen, dass sie herausfinden würden, zu welcher Uhrzeit Flora zur Welt gekommen war, damit sie sie an ihrem Geburtstag nicht die ganze Zeit beobachten mussten. Falls sie später am Tag geboren war, brauchten sie sich während der Party keine Gedanken zu machen. Also hatte Marina einige Tage zuvor Ottalie ganz beiläufig gefragt, zu welcher Zeit die Schwestern geboren worden waren. Flora war am frühen Abend gegen sechs Uhr zur Welt gekommen, hatte Ottalie erzählt.
Flame grübelte darüber nach, während sie Stühle aufstellte. Die meisten Freunde würden um sechs Uhr schon weg sein, aber was war, wenn Floras magische Kraft sich nicht an den Zeitplan hielt?
Neben ihr schob Marina einen Stuhl an den Tisch. »Nur die Ruhe, Flame«, raunte sie. »Hör auf, dir Sorgen um Flora zu machen. Es wird alles gutgehen. Wir haben noch jede Menge Zeit.«
Flame seufzte. »Hoffentlich hast du recht.«
»Versuch, nicht ständig daran zu denken.«
Flame sah ihre Schwester an. »Machst du dir denn keine Sorgen?«
»Doch, natürlich. Aber ich möchte Flora nicht die Party verderben.«
Flame lächelte schief. »So wie ich fast deine verdorben hätte?«
Marina lachte. »Du warst im Beschützermodus.«
»Und ganz schön nervig.«
»Du bist immer nervig.«
»Bin ich gar nicht!«
»Bist du wohl!«
Die Schwestern rannten um die Wette zu den Ställen zurück.
Flora Cantrip sah in ihrem khakifarbenen Hemd und den weiten, knielangen Shorts wie eine waschechte Entdeckerin aus. Um die Taille hatte sie sich einen breiten Ledergürtel geschnürt, und auf dem Kopf saß ein großer Tropenhelm. Sie hatte all diese Dinge im Verkleidungszimmer auf dem Dachboden gefunden und viel Spaß dabei gehabt, die Truhen mit alten Kleidern zu durchstöbern. Sie trug ein rotweiß gepunktetes Halstuch und hatte sich das neue Fernglas, eine Trillerpfeife und einen Kompass umgehängt. Ihre Füße steckten in ledernen Wanderschuhen. Aus der Hemdtasche lugte eine gefaltete, alte Karte, und sie hatte ihr Taschenmesser am Gürtel befestigt.
Ottalie Cantrip hatte nichts dagegen, Kostümpartys für ihre Töchter auszurichten, solange sie die Kostüme dafür im Verkleidungszimmer fanden. Nur im äußersten Notfall ließ sie sich dazu bewegen, neue Kleidungsstücke anzuschaffen. Sie war gerne dazu bereit gewesen, Skys weißes T-Shirt und die weiße Hose so zu verzieren, dass sie wie ein Astronautenanzug aussahen. Sky hatte es großen Spaß bereitet, mit Hilfe ihrer Großmutter einen Astronautenhelm zu basteln. Für Marina hatte die Großmutter aus einem Stück Leopardenkunstfell, das sie in einem Schrank gefunden hatten, ein Jane-Kostüm geschneidert. Marina hatte eine diebische Freude daran, in dem Leopardenfell und Flip-Flops als Tarzans Freundin Jane herumzulaufen, auch wenn sie wusste, dass keiner von beiden ein echter Entdecker gewesen war.
Flame hatte eine alte Pilotenmütze aus Leder und eine Pilotenbrille entdeckt und dazu noch eine Pilotenjacke aus Schafsleder. Daher hatte sie beschlossen, als Amelia Earhart zu gehen, die amerikanische Pilotin, die als erste Frau allein den Atlantischen Ozean in einem Flugzeug überquert hatte. »Große Entdecker haben nicht nur den Dschungel bereist«, verkündete Flame.
»Damit hast du recht«, sagte Marilyn. »Obwohl Earhart genau genommen eine Pionierin war und keine Entdeckerin.«
Flame lächelte. »Für mich ist sie eine gewesen.«
»Du siehst toll aus, Liebes. Ihr seht alle toll aus.«
»Lasst uns ein Foto von euch machen«, schlug Colin vor. Die Entdeckungsreisende, der Astronaut, Jane und Amelia Earhart stellten sich auf.
»Ihr seht wirklich phantastisch aus!«, sagte Ottalie.
Marilyn lächelte ihre Enkelinnen voller Stolz an. Sie betrachtete Flora und hoffte, ihre magische Kraft träte am Abend zutage, ohne Probleme zu bereiten. Zumindest war Flora nicht allein, sie hatte Flame und Marina an ihrer Seite. Nächstes Jahr um diese Zeit würden alle ihre Enkelinnen die magischen Kräfte der Cantrips haben. Marilyn fragte sich kurz, was dann geschehen würde, aber da kamen die ersten Wagen die Einfahrt hinauf. Das Fest begann.
Abgesehen von den vier Cantrip-Schwestern waren noch die zwanzig Kinder aus Floras Klasse auf der Party. Dazu gehörten drei Indiana Jones, ein King Kong, der schrecklich brüllte und mit den Armen um sich schlug, ein Mädchen und ein Junge, die als Mogli und Balu aus dem Dschungelbuch verkleidet waren, und ein Sir Francis Drake, Pirat im Dienste der englischen Königin Elisabeth. Floras beste Freundin Katie hatte sich als Marco Polo verkleidet.
Das erste Spiel war eines, das Ottalie sich ausgedacht hatte. Es hieß Höllisch knifflige Codewörter. Die Kinder teilten sich in vier Gruppen auf. Jede Gruppe bekam ein Blatt mit einem Code aus Zahlen und Symbolen, der sie zu zwölf verschiedenen Orten auf Cantrip Towers führen würde. An jedem dieser Orte befand sich ein Buchstabe, der zusammen mit den anderen das Lösungswort ergab. Flame führte die Gruppe der jüngsten Kinder an und bemühte sich, ihnen nach Kräften zu helfen. Ottalie und Colin halfen den anderen Gruppen, während Marilyn in der Küche das Kuchenessen vorbereitete.
Als das Spiel vorbei war, setzten sich alle mit Gläsern selbstgemachter Limonade ins Gras. Dann ging die Schatzsuche los. Niemand hatte bisher Colins Startschild entdeckt. Es dauerte eine Weile, bis die Kinder es fanden. »Weiter, weiter!«, rief Colin ihnen zu, als sie Richtung Eingangstor rannten. Cantrip Towers war ein großes Anwesen.
»Eine super Methode, sie vor dem Kuchenessen auszupowern«, sagte Colin zu Katies Mutter Molly. Sie war geblieben, um den Cantrips zu helfen, und lachte, als sie der Kindertruppe zum Eingangstor folgten.
»Ich hab’s gefunden!«, ertönte ein Schrei. »Zeig her, zeig her!«
Vierundzwanzig Kinder drängelten sich um das Startschild, dann rasten sie weiter in die Richtung, die der Pfeil ihnen wies, an der Mauer entlang.