Viktor, Kunstgebilde - Ulrike Gollmer - E-Book

Viktor, Kunstgebilde E-Book

Ulrike Gollmer

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Beschreibung

Viele Jahre sind vergangen, seit Malve sich von Viktor zurückgezogen hat. Doch er verfolgt sie noch immer. Er sucht sie in ihren Albträumen heim, und menschliche Begegnungen bringen die schmerzhaften Erinnerungen zurück. Malve ist, nach der langen Zeit, unfähig zu lieben, und beginnt, nach ihrem verloren gegangenen Gefühl zu suchen. So begibt sie sich auf eine spirituelle Reise der Selbstreflexion und der Aufarbeitung. Unterstützung erhält sie hierbei von ihren alten Gefährten: der Buche, dem Schwan und dem See.

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Inhaltsverzeichnis

Albträume

Teil 1 Reflexionen

Winterspaziergang

Intuitionen

Sean

Teil 2 Malves Leidens-Notizbuch

Liebeserwecken

Feuerherz

… wie die Nordsee…

Der Verdacht

Schnittermelodie

Quintessenz Liebe – Ein Rotweintraum

Liebessterben

Kalter Stahl

Das Gefängnis

Spielzeug

40 Jahre, 19 Tage

Mut zum Mut

Der Schmerz

Buchenschloss

Der Hass

Malvinengrab

Die Rose

Antworten

Sterbender

Erinnerungen

Die letzte Rose

Seifenblasenmenschen

Rosenherz

Danke

Teil 3 Erkenntnis

Schlafes Ende

Paul

Lichtweg

Nachwort

Was ist Leben? Raserei! Was ist Leben? Hohler Schaum, Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben; Denn ein Traum ist alles Leben Und die Träume selbst ein Traum.

Pedro Calderón de la Barca

Albträume

Der ursprünglich blaue wolkenlose Himmel zog sich zu. Kleine weiße Schafe bestürmten, was vorher freundlich und azurwässrig erschienen war, wuchsen minütlich an, verdunkelten die Sonne. Schwalben, Sturmboten, flogen unter Wolkengebilden, die sich zu bizarren Figuren formten. Sie berührten mit den Schnäbeln das Wasser des Sees. Ich stand an seinem Ufer, den Kopf in den Nacken gelegt, abwechselnd die Vögel und den sich zu sam men brau enden Sturm beobachtend.

Ein Schauspiel der Elemente, eine Augenweide für mich, Befriedigung für meine Seele, war in vollem Gang, schien rasch seinem Höhepunkt entgegenzuschreiten. Ich genoss die Drama turgie des Sturms, dessen Schreiberin die Natur selbst war, wurde melancholisch. Das Herz schwoll mir an vor Gefühl, ich wollte der sich mir offenbarenden Szene zujubeln, so schön war sie anzu schau en. Mein Blick hing gebannt im Himmel.

Die einzelnen Wolkenungetüme zeichneten sich durch ihre scharfen, weißen Umrisse vom nun tiefgrauen Hintergrund des Himmels ab. Der Wind berührte sacht ihre Geometrien, wurde irgendwann unfreundlich, blies heftig, griff derb nach ihnen und versuchte, sie zu zerreißen. Die Wolken wehrten sich gegen ihn, wurden zu Monstern, bäumten sich auf, hielten sich bedrohlich im Dunkel des aufkommenden Sturms.

Der Wind begann, in seinem Übereifer das Wasser des Sees anzupeitschen, aufzupeitschen. Kleine Wellen, die schnell größer wurden, berührten meine Fußspitzen, schlugen mir klatschend auf das Leder meiner Schuhe.

Ein erster Blitz überzog den Himmel, der Donner grollte kurz darauf. Die Wolkenmonster rissen ihre übergroßen zahnlosen Mäuler auf, Regen brach in dicken Tropfen aus ihnen heraus, über mich herein, zuerst vereinzelt, dann unzählig.

»Ren-ne, ret-te-dich, flie-he«, riefen die Vögel, meine kleinen gefiederten Freunde mir zu, brachten sich nach ihrer mir entgegengeschrienen Warnung vor dem Regen in Sicherheit. Sie verschwanden dahin, wo ich sie nicht mehr sehen konnte, in die hohen Bäume.

Das herabfallende Wasser platschte auf den See, schlug nach ihm, nach mir. Ich schloss die Augen, spürte die über meine Haut laufenden Tropfen, nahm den Geruch des Gewitters in mir auf, sog das Parfüm der Natur in mich ein, wurde eins mit Wolken, Wind und Regen, sickerte in die nasse Erde ein und wuchs als Weide in den Himmel empor. So verwurzelt mit dem, was mich geboren hatte, was meine Mutter, meine Ernährerin war, ignorierte ich die Warnung der Schwalben, verschmolz mit Wasser, Pflanzen, Bäumen, wurde eins mit ihnen, wurde die Elemente selbst.

Als ich irgendwann die Augen wieder öffnete, erblickte ich verschwommen weißen Dunst in der Mitte des Sees, der sich zu gruppieren schien, sich zu einer Nebelsäule ausbildete, schnell größer wurde, sich mit dem Regen vermischte. Der Nebel formte sich zu einer Hand, die über das Wasser Richtung Ufer glitt. Sie blieb einige Meter von mir entfernt stehen, bäumte sich auf. Ihre dunstigen, milchigen Finger materialisierten sich, wurden zu Knochen, Sehnen, Muskeln, Fleisch.

Die Hand schoss auf mich zu, Finger legten sich um meine rechte Fessel, umschlossen diese fest und versuchten kraftvoll, mich umzuwerfen. Ich verlor das Gleichgewicht, kam ins Straucheln, stürzte, schlug im Sand auf. Angst lähmte, was vor Kurzem noch mit der Erde so fest verbunden schien. Mein Verstand erfasste nicht, was mit mir passierte, konnte deshalb auch keinen Impuls senden, mich in Sicherheit zu bringen. Doch ich spürte Kälte, roch verwesendes Fleisch. Mein Körper zitterte. Ich war dem ausgeliefert, was ich nicht erklären konnte.

Die Hand zog mich über den Sand. Das Wasser kam näher, verschlang meine Beine. Zentimeter um Zentimeter rutschte ich tiefer in den See. Erst, als das Nass meine Lippen berührte, begriff ich, dass mich jemand töten wollte, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Die Erkenntnis kam spät, doch plötzlich war der Wille zu überleben präsent. Verzweifelt versuchte ich, mich aus dem eisernen Griff des Übernatürlichen zu befreien, schlug mit den Armen um mich, trat mit dem freien Bein nach IHR, die mich festhielt.

Sie war stärker als ich, lies nicht los. Wasser drang in meinen Mund. Das drohende Ertrinken aufhalten wollend, griff ich in den Sand, der mir keinen Halt gab; griff ich nach einer leeren Bierflasche, die irgendjemand hier am Strand vergessen hatte; versuchte ich, mich an einem verkohlten Ast festzuhalten, der wohl aus einem niedergebrannten Lagerfeuer stammte. Nichts rettete mich. Nichts konnte mein Untergehen aufhalten. Das Wasser sickerte mir in die Nase.

Den Kopf bereits unter Wasser, den Atem anhaltend, die Augen aufgerissen, blickte ich in zwei Bernsteine, nahm ein zu einer Fratze verzogenes Gesicht wahr. Blondes Haar floss um weiße Männerhaut. Keine Luft bekommend, wusste ich, dass ich nun starb. Mein letzter Gedanke war, dass Viktor mich zu sich in sein Grab hinabzog.

Das Wasser drang in meine Lungen ein. Alles wurde dunkel. Alles wurde ruhig. Ich wurde ruhig. Er tat nun, was er zu seinen Lebzeiten nicht geschafft hatte, nämlich mich zu sich zu holen, mich für immer an ihn zu binden. Das Leben wich aus meinem Körper. Ich lies los, lies es gehen. Trieb – tot - auf eine Insel aus Seegras zu, das mich berührte, meinen bleichen erkaltenden Körper streichelte. Sah mich, schwebend, im Wasser. Reglos. Leblos. Der Schwan verabschiedete sich von mir. Der Karpfen weinte. Viktor grinste.

Ich erwachte!

Teil 1 Reflexionen

Winterspaziergang

Albträume kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Sie werden vom Licht des Lebens angezogen, versuchen, zu verdunkeln und zu erschrecken, was ehemals in Frieden erstrahlte. Sie tauchen aus dem Unterbewusstsein auf, kriechen ins Oberbewusstsein, manifestieren ihre Tentakel des Grauens im alltäglichen Treiben des Seins. Wenn man sie dort bemerkt, befördern sie Dinge zutage, die besser in den Weiten der Vergessenheit geblieben wären.

Albträume sind die Zerrbilder dessen, was man an Schlimmem erlebte und nie verarbeiten konnte. Sie tauchen auf, stark abstrahiert, aus den Tiefen des eigenen Selbst, in die man sie führte, einkerkerte, irgendwann einmal, in der Hoffnung, dass sie dortbleiben mögen. Sie sind Monster, die einem vor Augen führen, dass man gegen das Böse dieser Welt noch nicht gewonnen hat. Dass man von Zeit zu Zeit von ihnen eingeholt wird, um vor die Prüfung gestellt zu werden, das Leben anzunehmen, wie es sich gerade zeigt, und es nach guten Vorsätzen zu gestalten oder sich dem Kampf des Schreckens ein erneutes Mal zu stellen und einen neuen Weg zu finden, die Albträume, das Böse, sterben zu lassen. Sollte es nicht gelingen, weder das eine noch das andere, ist man verloren, wird wahnsinnig, irr im Kopf, lebt am Leben vorbei, ist unbrauchbar für die Menschen.

Albträume sind die Krieger, gegen die man sich in dunklen kalten Nächten zu stellen hat; weder auf einen drohenden Kampf vorbereitet, noch die Gegner kennend. Dunkel sind sie, gefühllos, saugen an der Herzwärme, drohen sich gegen die Seele zu erheben, die, man kann es annehmen, gebeutelt ist; mehr gilt es nicht zu wissen. Es ließe sich einiges Wissenschaftliche zu ihnen sagen, das aber nichts daran ändert, wer und was sie sind und wie sie das Fürchten lehren. Irgendjemand befiehlt sie, auszuschwärmen, das Leben zu schwächen. Wer es sein könnte, bleibt in der Verschwiegenheit der Weltenchroniken.

Doch wie ist mit Albträumen umzugehen? Wie kann man ihnen begegnen, sie als einen Teil des eigenen Selbst akzeptieren, die sich ja in der Tat und mit enormer Wucht unter Umständen in jedem Schlaf bemerkbar machen? Ist es möglich, ihnen zwar gegenüberzutreten, sie aber weder als Bedrohung zu sehen noch sie ein erneutes Mal Oberhand über das eigene Leben gewinnen zu lassen, obwohl sie unentwegt an etwas erinnern, das nicht mehr sein sollte, das man wohl nie verarbeiten konnte? Gilt es, die Albträume zu enträtseln und der unendlichen Gnade Gottes zu übergeben, welcher sie in seinen Schoß aufnimmt und für immer bei sich behält? Liegt die Antwort in der Liebe? Ist die Liebe das Lichtschwert, das ersticht, was dunkel und kalt nach einem greift?

****

Es ist Winter. Wieder ist es Winter, denke ich. Wieder ist es kalt draußen, sage ich mir. Schnee, Nebel, Frost. Ein erneutes Mal erlebe ich die Natur, die sich zur Ruhe begeben hat, sich in tiefem Schlaf befindet. Wenn ich durch meinen Buchenwald laufe, spüre ich die Stille, den Frieden in ihm. Die Bäume, entkleidet, erstarrt in Minusgraden, stehen wie Monolithen vor mir, erinnern an vergangene Jahrhunderte, an Glück und Leid, die vor Langem vergingen. Sie verharren in der Kälte, geduldig, stumm, wissen um das Kommen des nächsten Frühlings. Sie sind Denkmäler, die uns immer wieder zeigen möchten, wie beständig die Jahreszeiten sind. Diese kommen mit Sicherheit, sie sind die Einzigen in unserer Welt, die sich außer dem Untergehen der Sonne und ihrem Wiederaufgehen verlässlich durch unser Leben bewegen, ohne sich jemals von uns abzuwenden.

Ich gehe zu einer bestimmten Buche und bleibe vor ihr stehen. Ich entspanne mich, mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Ich neige ehrfürchtig meinen Kopf zum Gruß, da sie meine Vertraute ist, die große Weiße, die mir seit langer Zeit Lebensratschläge gibt. Die Freundin steht vor mir. Stark, kerzengerade. Groß, stolz, erhaben. Nackt. Stellenweise hängt ein verwelktes Blatt an einem ihrer unzähligen Äste, die der Wind ihr nicht abjagen konnte. Ich berühre ihre glatte, helle Rinde, die wunderschöne Haut eines Baums, der seit mindestens hundertfünfzig Wintern die Wurzeln tief in der Erde verankert hat, aber noch einige Jahrhunderte existieren kann, wenn er nicht vorher gefällt oder krank wird. Gib mir einen Teil deiner Erdung, denke ich bei mir, da ich seit vielen Jahren in einer Zwischenwelt lebe, die mich nicht mehr auf meinem Planeten ankommen lässt. Ansprechen werde ich sie nicht, da ich weiß, sie hört mich im Zustand ihrer Starre nicht. Sie verschläft den kalten Winter. Vielleicht hüllt sie sich in Baumträume ein, ist mit ihren Gedanken in der Anderswelt, kein Mensch kann das genau sagen. Wer weiß schon, was eine Buche empfindet, wie sie sich ihren Emotionen hingibt.

Zärtlich streiche ich mit meiner kalten Hand über den Stamm, berühre sie mit meinen Lippen. Ich erinnere mich in dieser Jahreszeit an damals, wie so oft in kalten Tagen und Nächten.

Damals, in meinem alten Leben, vor vielen Wintern, als alles grau war, das Büro, die Halle, die Menschen, ließ ich den Schmerz hinter mir. Ja, ich erinnere mich. Viele Jahre ist es her, seit ich Viktor das letzte Mal gesehen, damals, als ich ihn verlassen hatte. Viele Jahre brauchte ich, um mich in meinem Leben neu auszurichten. Viel Zeit benötigte ich, um mein Leben neu zu sortieren, zu ordnen, mich neu zu organisieren. Die Buche war mir Zuhörerin und Trösterin. Sie beruhigte den Verstand, der wahnsinnig werden wollte.

Ich erinnere mich, an damals. Ich war bunt gewesen, zuerst, knallbunt, ein Paradiesvogel, als ich das Grau der Firma betrat, das Grau der Menschen wahrnahm. Ich steckte voller Träume, Ideen, Lust auf das Leben. Damals. Ich wollte verändern, ich wollte mitreißen, ich wollte Farbe versprühen. Gefühle schäumten aus mir heraus. Ich wollte das Grau um mich herum bunt machen, wollte es mit mir verzaubern. Doch das Grau radierte mir die Farben ab, machte mich blass. Es verwandelte mich in Dunkelgrau, dann in Blassgrau. Der Schmerz nahm mir alle Graustufen, machte mich irgendwann unsichtbar. Der Schmerz radierte aus, was früher geschillert hatte.

Ich erinnere mich. Vor einigen Jahren war ich aus der Tristesse geflüchtet, damals, als ich unsichtbar geworden war, als ich den Schmerz hinter mir lassen wollte. Ich hatte mir ein neues Leben erschaffen, einen neuen Wirkungskreis gefunden, meinen alten Standort gegen einen neuen eingetauscht. Ich war geflüchtet, weit weg von allem, was grau gewesen war und mir meine Farben genommen hatte. Die Buche war mein Anker in der Menschenwelt gewesen.

Distanz hatte Einsamkeit bedeutet und versprach mir die Ruhe, die ich brauchte, um zu erkennen, dass ich noch lebte. Und ich wollte mir meine Farben zurückerobern, wollte wieder sichtbar werden, irgendwann.

Die Einsamkeit garantierte mir das Überleben. Ich hatte es geschafft, mich in einer neuen Welt einzuleben. Ich hatte es geschafft, im Hier und Jetzt zu funktionieren. Und ich hatte es geschafft, mich von Menschen, die mich kennenlernen wollten, fernzuhalten. Ich blieb bewusst auf Distanz, nicht, weil ich sie nicht interessant fand, nein, einfach nur, um sicherzugehen, nicht ein erneutes Mal ausradiert zu werden. Ich vertraute den Menschen nicht mehr, konnte weder das Gute noch das Böse in ihnen erkennen.

Ja, ich erinnere mich. Noch immer liegt meine Hand auf dem Stamm meiner Freundin. Ich erkenne. Das Untergehen meiner Farben riss das Vertrauen in die Menschen mit sich. Ich konnte die Zeichen nicht mehr deuten, wann ein Mensch ehrlich war und wann er heuchelte, wann er es gut mit mir meinte, wann er meine Freundschaft suchte, wann er mich ausnutzte oder für sein Ego missbrauchte. Irgendwann im Viktor-Spiel war mir die Fähigkeit des Erkennens wohl verloren gegangen.

Damals, als ich unsichtbar geworden war, hatte ich mich mit den mir verbliebenen Sinnen auf meine mentale Ausrichtung konzentriert, eine Sinnsuche gestartet, hatte mein inneres Gleichgewicht versucht wiederherzustellen. Kurzum, ich hatte mir eine Lebensart antrainiert, mit der ich leben konnte, die mich aber nicht ausfüllte, doch eventuell zu neuer Erkenntnis führte. Und tatsächlich, der Schmerz war vergangen, er hatte sich von mir gelöst, war verschwunden, war wohl zum nächsten Menschen gezogen, und ich wurde sichtbar. Ich war grau, dezent mittelgrau, man konnte mich wieder wahrnehmen. Es war ein Sieg für mich, da ich wieder in der Welt stand, wenn auch nur mit einem Bein, nicht fest auf beiden Füßen stehend. Und doch war es auch ein immer noch währender Triumph für Viktor, denn alles, was ich unternommen hatte, um wieder in ein von Sonne erhelltes Leben zu gelangen, brachte mich nicht in eine fühlende Welt zurück. Gefühl war verloren gegangen, Vertrauen gestorben. Tränen nie mehr aus dem Herzen getreten.

Immer, wenn ich die Nähe meiner Freundin fühle, spüre ich den Drang, noch einmal gegen Viktor kämpfen zu wollen. Ich möchte ihn bestrafen, dafür, dass er sich mit meinen Farben bereicherte, dass er sich mit ihnen übergoss, dass er sich in sie kleidete. Doch konnte er sie halten? Blieben sie bei ihm? Ich kann mich erinnern, an ihn, den Mann, den Farbendieb, der kurz in Rot aufleuchtete und dann von der Dunkelheit verschlungen wurde.

Ich stehe vor meiner Freundin und blicke mich um. Die Natur braucht den Winter, um sich erneuern zu können. Auf den ersten Blick scheint sie grau zu sein. Würde ich sie malen müssen, würde ich sie in allen mir zur Verfügung stehenden Grauschattierungen abbilden wollen, doch ich fühle, es ist nicht das Grau, das mich kleidet. Das Auge sieht grau, doch das Herz fühlt die Erneuerung von Farbe, von Licht, Leben, Wärme. Ich weiß, dass sie spätestens in drei Monaten in Millionen Farbnuancen sprühen wird. Ich weiß, jetzt schläft sie, ich weiß, bald wird sie wieder erwachen, bald wird sie strahlen.

Verhält es sich mit dem Menschen genauso? Braucht er einen Winter in seinem Menschenleben, um sich neu zu erkennen? Um sich neu zu sortieren? Um eine neue Richtung im Fortschreiten seines Weges einschlagen zu können? Um neue Lebensfarbe zu produzieren? Ich erblicke zwischen gesunden schlafenden Laubbäumen eine Fichte, die keine dreißig Jahre zählt. Sie ist krank, sie wird den Sommer nicht mehr lebend erreichen können. Also ja, der Winter ist eine Auslese für alles Lebende.

Ich verlasse meine Buche und laufe den gefrorenen Schotterweg tiefer in den Wald hinein. Ich beobachte. Frost belegt das auf dem Boden liegende Laub mit einer dünnen weißen Schicht aus Eisblumen. Ein flüchtiges Erkennen kreuzt mein Denken, dass auch im Winter Blumen blühen können, zauberhaft geometrische. Ich betrachte sie und rieche ihren erdigen Duft, den nur der Winter hervorbringen kann. Das Laub fühlt sich unter meinen Sohlen hart an, und wenn ich auf es trete, scheint es auseinanderzubrechen. Vögel umgeben mich, zwitschern ihre Wintermelodie, die langsam und leise fließt, der Jahreszeit angepasst. Sie suchen wohl Sämereien, die letzten Beeren an den Sträuchern. Saatkrähen sitzen auf Ästen, ziehen ihre Köpfchen ein, die Füße sind unter aufgeplustertem Gefieder versteckt. Weitere Tiere zeigen sich mir nicht.

Stecke auch ich im Winter meines Lebens? Ist meine Endzeit gekommen, der letzte Abschnitt meiner Lebenszeit? Fühlt sich so der Tod an, indem man nicht mehr fühlt? Kann nicht mehr erneuert werden, was Menschen einem genommen haben? Wiederbelebtes Vertrauen? Bin ich zu schwach, um einem neuen Frühling entgegenzutreten?

Tränen, wohin sind sie versickert, die Gefährten meiner Kinder- und Jugendzeit? Wo haben sie sich versteckt, die, die mich ein langes Stück meines Erwachsenenlebens begleiteten? Glaube an die Menschen, Liebe zu den Menschen, Hoffnung für die Menschen, wohin sind sie gegangen? Waren sie nur flüchtige Gäste, deren Fortgehen vorprogrammiert war? Bin ich die Fichte, die den Winter nicht überleben wird, die vergeblich auf Lebensfarbe wartet, auf sattes Grün?

Oft will ich Gefühl greifen, es wieder in mich pflanzen, es in mir vermehren, doch es gelingt mir nicht. Oft kann ich Gefühl nicht erkennen, und wenn ich es sehe, zerfließt es mir zwischen den Fingern, die versuchen, es zu halten. Ich kann nicht erzwingen, für was die Zeit noch nicht reif ist oder nie mehr reif sein wird. Schmeckt so der Tod? Wie schmeckt der Tod? Dass er dunkel ist, ahnen wir, dass er erdig schmeckt, nehmen wir an, dass er verwestes Fleisch ist, wissen wir. Ist ein Leben lebenswert, wenn Gefühl fehlt, die Erinnerung an Verlorenes aber nicht weichen möchte? Ist ein Leben lebenswert, wenn es faulig schmeckt wie verrottender Mensch?

Intuitionen

Ich erinnere mich.

Vor nicht allzu langer Zeit, donnerstags, kurz nach 23 Uhr, schloss ich die Haustür hinter mir zu, hängte meinen dicken Wollmantel an seinen, ihm bestimmten Platz, betrat mein Wohnzimmer, schenkte mir ein Glas dunkelroten schweren Bordeaux ein. Dieser war von mir, kurz bevor ich meine Wohnung gegen 19 Uhr verlassen hatte, entkorkt und in eine Karaffe gegossen worden, damit er atmen konnte, seinen Charakter ausbildete, ich seinem Geist Freiraum schenkte.

Nun setzte ich mich in meinen Sessel, das Glas in der linken Hand haltend, die rechte lag auf der Armstütze, und schaute aus dem Fenster. Schwarze Umrisse tanzten in der Dunkelheit, Sterne beleuchteten, was nur wenige sehen konnten, sich mir aber überdeutlich zeigte: Schattengestalten, dem Licht abgewandt. Kreaturen, die vor der Helligkeit des Tages flohen, weil sie die Sonne nicht ertrugen.

Ich war aus einer Theateraufführung gekommen. Rainer-Maria Rilke war gelesen worden. Nun ließ ich mir einige seiner Gedichte durch den Kopf gehen. Rilke war ein wort- und gefühlsgewaltiger Lebensbeobachter, Lebensfühler gewesen und mir, seit ich mich zurückerinnern konnte, ein Freund, mit dem ich mich treu verbunden fühlte.

Ich schwenkte das dunkle Getränk und verlor mich im Strudel, den der Wein in der großen Glastulpe bildete. Sein Bouquet drang mir in die Nase, machte mich benommen. Mein Blick tauchte tiefer und tiefer in Dunkelheit, ich erkannte das Leben, das zu sterben drohte und mir zu verstehen gab, Rilke konnte mich nicht mehr berühren.

Seit ich zurückdenken, die Erinnerung an vergangene Tage greifen kann, hatte Rainer-Maria Rilke in mir einen Gefühlssturm ausgelöst allein durch seine Worte, durch seine Gedichte, die er den Menschen hinterlassen hatte. Es hatte mich der Panther zum Weinen gebracht, es hatten mir die Engellieder neue Erkenntnisse für mein künftiges Leben geschenkt. Er hatte seine Farben mit meinen gemischt und mich inspiriert, der Welt meine eigenen Farben zu schenken. Er hatte mich mit seinem Feuer aufgeheizt, und ich war bereit gewesen, es als einer seiner Fackelträger weiterzugeben.

Nun blickte ich in Dunkelheit. Viktor hatte mir mein Feuer ausgeblasen, mir die Farben genommen, mir Rilke stumm gemacht. Vor wenigen Stunden war mir der Freund rezitiert worden, und ich hatte angespannt jeder Silbe gelauscht, die die Schauspieler gesprochen hatten, die mit Musik untermalt waren. Und ich hatte mit jeder von mir vernommenen Strophe gewusst, dass er gekämpft und gelitten hatte wie ich. Ich hatte ihn gehört, vor einigen Stunden, doch die Worte drangen nicht mehr in mich ein, berührten mich nicht mehr, erreichten den Grund des Herzens nicht, prallten auf der grauen Haut ab. Gefühl, auch für Rilke, hatte sich verflüchtigt.

Die dunklen Schatten vor meinem Fenster spiegelten mein Inneres wieder. Der Blick aus ihm zeigte mir Schwärze, die in die Unendlichkeit zu führen schien und kein Licht zuließ. Der Rotwein übernahm die Oberhand, machte mich benommen, trieb mich durch dunkle Gedankengassen, die an ihren Enden in die Tiefen der Leere stürzten. Hatte man Rilke damals auch versucht zum Schweigen zu bringen, indem man ihm Dolche in sein Herz getrieben hatte, wie das bei mir der Fall gewesen war?

Der Verlust des Fühlens machte mein Leben arm, das wusste ich, und in Stunden der Erkenntnis wollte ich sterben. Jetzt wollte ich sterben, da ich Rilke nicht mehr fühlte.

Ich trank das Glas leer, ohne es abzusetzen, ohne sein Bouquet auf mich wirken zu lassen, und schenkte mir sofort nach.

Menschen, die vor Glück strahlten, machten mich nachdenklich. Menschen, die Liebe widerspiegelten, erinnerten mich an meine eigene Leere. Ich erkannte in ihnen, dass sie mit der Schöpfung im Einklang standen, während ich in einer trüben Suppe aus nicht verarbeiteten Emotionen stapfte, die Augen vor dem schloss, was mich in diesen Sumpf aus Abartigkeiten und Perversion geworfen hatte.

Rotwein bedeutete Heilung für eine Nacht. Der Bordeaux verhalf mir zu der Auszeit, die ich brauchte, um schlafen zu können, mich nicht im Verlust verlorener Gefühle zu suhlen, sondern um einem neuen Tag entgegenzugehen.

****

Ich erinnere mich. Am nächsten Morgen war der Kopf schwer, aber die Gedanken klar und viele Fragen fanden sich ein. Musste man, um in die Zukunft zu gehen, sich seiner Vergangenheit stellen? Musste man sich intensiv mit ihr auseinandersetzen, sie noch einmal durchleben, um neue Erkenntnisse zu finden, die neue Wege aufzeigten? Wenn man das nicht tat, hängte man dann in einer Zeitschleife oder einem Vakuum fest, das eine ständig verdrängend, nicht hinter sich lassend, das andere nie mehr erreichend? Steckte man dann für immer im mittelgrauen Morast entschwundener Farben, versank im Lauf der farblosen Jahre komplett in der Leere? Löste sich auf?

Ich hatte in den vergangenen Jahren bewusst meine Erinnerungen an die Viktor-Spiele und den mir zugefügten Schmerz verdrängt, hatte die Menschen verdammt. Rilke führte mir vor Augen, dass nun die Zeit gekommen war, einen Schritt auf das Leben zuzugehen. Der Schritt, das spürte ich, würde wichtig für mich sein, um wieder wegen des eingesperrten Panthers weinen zu können, um die Engel zu fühlen, um den Freund an meiner Seite zu spüren. Doch wo anfangen, wo aufhören? Der Mensch stand im Zentrum meiner Leere. Der Mensch trug den Namen Viktor.

Meine Intuition machte sich bemerkbar, zuerst ganz sacht, leise, flüsterte mir zu, mir den Menschen genauer zu betrachten, und sie wurde, als ich nicht auf sie reagieren wollte, laut. Der Mensch sei der erste Schritt zu meiner Heilung, versprach sie mir. Der Mensch habe mir Wunden zugefügt, mit denen ich mich auseinandersetzen solle. Der Mensch sei, wie er sei, und ich müsse ihn als diesen erkennen und dadurch meinen weiteren Weg finden. Der Mensch habe alles Berauschende aus mir gesaugt, das einst meine Triebfeder im Lebenszeitenuniversum gewesen war. Der Mensch sei die Antwort auf meine zukünftige Existenz.

Ich verstand. Ich vertraute mich meiner Intuition an. Ich ließ mich von ihr leiten. Sie fasste mich bei der Hand, führte mich in eine Klosterkirche, in der ich umgeben war von göttlicher Liebe und Zuversicht in die Zukunft. Ich setzte mich auf eine Kirchenbank, wusste, an diesem Ort würde ich sicher sein, konnte, ohne Angst zu bekommen, meine Studie am Objekt Mensch beginnen.

Der Mensch ließ nicht lange auf sich warten. Er durchschritt das Hauptportal, tauchte seine Finger in geweihtes Wasser, zeichnete das Kreuz Christi auf Stirn und Brust – im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – betrat das Hauptschiff, den Altarbereich, trat vor den Hauptaltar, hob den Blick gen Himmel, betrachtete sich die alte, prunkvolle Orgel auf der Empore, verschwand in die Kreuzgänge, die Nebenschiffe, den Marienaltar, zündete ihr zu Ehren drei Kerzen an, saugte die mittelalterlichen Gemälde an den Wänden in sich ein. Der Mensch war neugierig auf das, was er sah, doch er war nicht gewillt, ein Gespräch mit seinem Schöpfer oder der Muttergottes zu suchen.