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Italien - Ort der Sehnsucht vieler Mittel- und Nordeuropäer und Heimat des Herzens von Gerhard Tötschinger, Kenner der Stiefelhalbinsel seit Jahrzehnten. Dieses Buch ist eine Hommage des Autors an ein Land, das sich nach langen Jahren politischer Dunkelheit und kultureller Kargheit wieder auf seine historischen und klassischen Wurzeln besinnt, die ganz Europa und seiner Kultur unendlich viel gegeben haben. Anekdoten und Erinnerungen, lustige und nachdenklich stimmende - von Noto auf Siziliens Südspitze bis an den Rand der Alpen weiß der Verfasser zahlreicher erfolgreicher Venedigbücher in seinem wohl persönlichsten Werk zu berichten.
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Seitenzahl: 211
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Gerhard Tötschinger
Viva l’Italia
Gerhard Tötschinger
Erlebtes · Erdachtes · Erlesenes
Open my heart and you will seegraved inside of it ITALY
ROBERT BROWNING 1812–1889
Vorsatz: Ein Markt an der ligurischen KüsteSeite 4: Venedig. Markt am Campiello dei MiracoliSeite 6: Bergamo. Der DomNachsatz: Fellinis »Buch der Träume«, die Sammlung seiner Zeichnungen.Der Mund, abgegossen von Gundi Dietz
Warum dieses Buch?
Passeggiata mit Ruggero
Accademia Italiana della Cucina
Passeggiata II
Die Märkte
Il Volontariato
Passeggiata III
Fellini
Monte Conero
Passeggiata IV
Die Oper
Libertà e Giustizia
Passeggiata V
Die Carabinieri
Pasta
Passeggiata VI
Dreher, Haas & Co.
Viva l’Italia ...?
Todi
La Mamma
Der neue Kapitän
Passeggiata VII
Die letzten Tage von Pompeji
Ostia
Ich bin Bauer
Lucca
Giuseppe Garibaldi
Passeggiata VIII
Bergamo
Der Papst sieht fern
Bomarzo
Passeggiata IX
Personenregister
Italien in uns – ein Kaleidoskop. Lollobrigida, Rossini, Pizza, Celentano, Strandleben, Pinocchio, Visconti, Papst, Mastroianni, Alfa Romeo, Volare, Canal Grande, Sophia Loren, Spaghetti, Sonne, Fellini, Fußball.
Plötzlich verdunkelt – ein Land, in das die Kälte eingezogen ist, der zynische Materialismus, eine Regierung, die immer wieder in Wahlen bestätigt, dem Beobachter von außen unbegreifbar wird und bleibt. Ein Regierungschef als groteske Karikatur eines Latin Lovers.
Und so bleibt man also draußen – das wunderbar leuchtende Kaleidoskop ist kaputt.
Aber nun ist ein Wandel im Gang. Italien kehrt zurück. Die Lethargie, die Gleichgültigkeit gegenüber der Gemeinschaft, der italienischen wie der menschlichen, weicht, macht wiedererwachendem Gemeinsinn Platz. Das hat etwas von Risorgimento – Wiedererwachen, Aufstehen, eine sanfte Revolution. Der Jugend reicht es – sie will wieder mitreden, mitbestimmen, über sich selbst bestimmen, sich einmischen. Die Planlosigkeit der Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat schließlich, hat endlich zum Widerstand geführt.
Das wird natürlich ein sehr persönliches Buch sein, sein müssen. Eine große Fülle von selbst Erlebtem im Laufe der Jahrzehnte der Begegnung mit dem Sehnsuchtsland der Nordländer hat in mir ihre Spuren hinterlassen. Ich werde nicht, wie das vor zwei, drei Generationen noch der Brauch war, schreiben »Der Autor dieser Zeilen hat an einem freundlichen Frühlingstag in Caltanisetta gesehen, wie …«. Hier steht also »Ich habe im Frühjahr 1997 in C …«
Flanieren – ein aus der Mode gekommenes Wort, spazieren ohne Ziel, ohne Zeitdruck. Ruggero kann das noch, den Spaziergang, die Passeggiata.
Er ist mein ältester Freund in Venedig, im doppelten Sinn. Jetzt ist er gerade einundneunzig Jahre alt geworden und bis auf die Probleme mit der nachlassenden Hörkraft geht es ihm gut. Ruggero war einmal Schneider, danach Hotelbesitzer und seit einigen Jahren ist er Privatier. Das Schneiderhandwerk hat er mit Freuden ausgeübt – auch für prominente Kunden wie den Grafen Zorzi, guter Geist der jungen Biennale, oder für den Sohn des Komponisten Ermanno Wolf-Ferrari, er war Maler. Und weil er keine Lehrlinge mehr bekam, weil das Handwerk schon in den frühen Sechzigerjahren da und dort dem Tourismus weichen musste, hat er aufgegeben und sich mit dem väterlichen Erbe ein Haus mit kleinem Hotel gekauft.
Dort habe ich immer wieder gewohnt, am Campo Santa Maria Formosa, und habe mich nach und nach mit dem Hausherrn, dem Nachtportier, mit allen hier angefreundet. Wenn ich abends zurückkam vom Bummel, von der Trattoria oder Cantina, oder zumeist von der Piazza, so hat immer irgendein Alberto oder Massimo gewartet, oder Ruggero selbst. Die Flasche Wein stand stets schon bereit – und dann wurde geredet. So habe ich vieles von der Geschichte Venedigs erfahren, das in keinem Reiseführer zu finden ist, habe auch Fragen beantwortet und habe, auch nicht unwichtig, viel gelacht.
Eines Tages kam ich wieder an und spürte im Verhalten meiner Hotelgastgeber eine getragene Feierlichkeit. Ich war pünktlich angekommen, direkt in das Hotel gegangen, ohne Bar-Intermezzo oder Umwege. Ruggero selbst geleitete mich die üblichen zwei Stiegen hinauf, mir folgte der jugendliche Boy mit meinem Gepäck.
Dann machten wir vor demselben kleinen Zimmer Halt wie immer – und Ruggero blickte mich erwartungsvoll an. Sicher, dachte ich, haben sie neu tapeziert oder das Bad hat jetzt goldene Fliesen oder was auch immer. Wir gingen nicht weiter, alle drei. Ruggero gab mir den Zimmerschlüssel, auch wie immer, aber da war ein neuer, schwerer Anhänger dran, und als ich aufsperrte, stand ich in der Tat in einem komplett neu ausstaffierten Raum. Da waren nicht nur die Tapeten tatsächlich neu, auch die Vorhänge der beiden Fenster, da und dort machte sich an der Decke etwas Stuck bemerkbar, wie man ihn nicht nur in Venedig, in Plastik gegossen, kaufen kann. Aber das störte mich nicht, es hat sogar ganz schön ausgesehen. Mein Freund hat eben Geschmack, als einstiger Tailleur.
»Bravo«, sagte ich, »da habt ihr viel Arbeit gehabt!«
Ruggero lächelte und wies auf meinen Schlüsselanhänger. Er war aus Messing, schwer und groß, nicht leicht zu verlieren und auf ihm stand eingraviert: Salone di Gerardo.
Da war ich gerührt. Und so bezahlte ich nun im Monat, was ich sonst für eine einzige Nacht bezahlt hatte. Also kam ich noch öfter hier an, saß noch öfter Stunden nach meiner Heimkehr mit einem der Herren bei Wein und habe noch mehr von Venedig erfahren.
Ruggeros Lieblingsthema ist die Philosophie. Gerade die Deutschen und die Österreicher haben es ihm angetan, allesamt: Husserl, Heidegger, Popper, natürlich auch Freud und Adler. Er spricht nicht Deutsch und so muss er sich manches Zitat und viele Fachausdrücke übersetzen, oder übersetzen lassen. Also habe ich ihm erklärt, was mit »Lebenswelt« gemeint ist, und er hat meine Bildungslücken in der Philosophie geschlossen, teilweise.
Blick aus meinem Fenster auf den Campo Santa Maria Formosa
Damals, das ist alles lange her, war er ein sogenanntes Bild von einem Mann.
In den besten Jahren, so zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Eines Nachts, es war spät und der ersten Flasche war eine zweite gefolgt, hat er düster vor sich hin gestarrt und blieb still. Nach einigen Minuten habe ich ihn gefragt, ob etwas geschehen sei, ob vielleicht ich ihn geärgert hätte.
In die folgende Stille sagte mein Freund Ruggero mit Bedeutung: »Tutti i miei problemi sono sessuali.«*
Ich war von dem Geständnis überrascht, das hätte ich nun überhaupt nicht gedacht. Und eben waren wir doch noch bei Husserl …?
»Ruggero, also, ich weiß nicht, gerade du …?«
Die Antwort folgte auf Italienisch, wie das ganze Gespräch ja in seiner, nicht in meiner Muttersprache geführt wurde. Aber ich gebe sie hier lieber in deutscher Übersetzung wieder:
»Ich muss immer wieder nachdenken, wie ich aus meinem Haus herauskomme oder wieder hineinkomme, ohne dass meine Frau es bemerkt.«
Das war nicht als Pointe gedacht, war kein Herrenwitzlein, er hat es absolut ernst gemeint.
Vor einigen Monaten haben wir wieder diskutiert, nach langen Jahren.
G: »Meinst du nicht auch, dass Denken alleine nicht genügt? Man erkennt denkend etwas, deutet es, und jetzt geht es erst los, man hat das Ergebnis in seinem Alltag umzusetzen. So sucht man, diese Denkergebnisse in schriftliche Formen, in Aussagen zu bringen und das erst recht, wenn man davon lebt, dass man solche Ergebnisse in Büchern zusammenfasst, erfasst. Und von den eigenen Erfahrungen lernt man am allerbesten, von allem, das man selber erlebt, selber getan hat. Du bist ein Philosoph und deutest die Welt und ich schaffe mir meine eigene Welt, mit meinen Büchern, meinen Inszenierungen.«
Ruggero (mit gütig-nachsichtigem Lächeln): »Ja, ich weiß, du verehrst meinen Landsmann Giambattista Vico, der hat das ja als einen Kernsatz seiner Philosophie formuliert. Also – wir sind soeben dabei, umzusetzen, lassen den Erkenntnissen Taten folgen. Seit Dezember 2011 ist Italien im Wandel, wieder einmal und Gott sei Dank. In den letzten Jahren, vielen Jahren, hat es eine Demütigung bedeutet, im Ausland unterwegs zu sein. Jetzt haben wir wieder Würde, wir finden wieder zu unserem Stil, wir sind innerhalb kurzer Zeit in einem ganz anderen Zustand.
G: »In so kurzer Zeit …?«
R: »Man hat gewartet, viele haben gewartet, voll Sehnsucht, andere haben gekämpft, wie meine Freunde und ich. Berlusconi und die Seinen haben sich ja aufgeführt wie Despoten, haben nur an sich gedacht, er vor allem, nur an sich. Naja, das hat eben eine Weile ganz gut funktioniert und man hat gedacht, es hätte Zukunft.«
G: »Aber ihr habt den Irrtum und seine Folgen spät erkannt und lange geduldet, ja, ihr habt das alles geschätzt und schließlich gewählt, immer wieder.«
R: »Jedes Volk gerät in Momente, sagt Umberto Eco, da es seinen Verstand verliert. Und dabei denkt er an Mussolini, an Hitler, und er denkt auch an die Wahlen, die Berlusconi an die Macht gebracht haben.«
G: »Du hast Hoffnung, du meinst ihr schafft es? Aus eigener Kraft?«
R: »Da war noch vor kurzer Zeit ein Mann, ein grotesker, skurriler, nein besser: Ein burlesker Mann, der mit ausladenden Gesten, kosmetischen Operationen, sich als der Capitano in der Commedia dell’Arte gab. Die ihn gewählt haben, die vielen – ich kenne auch einige – haben das zum Teil eindrucksvoll gefunden und den Mann für einen wirklichen Capitano gehalten, mit seiner Angeberei und diesen Bunga Bunga Schweinereien. Cavaliere, haha, lächerlich, zudem – wer auf sich hält, ist Commendatore, oder noch besser, gar nichts. Siehst du, das ist Italien – die Sehnsucht nach einem starken Mann. Nachdem die Lateranverträge unterzeichnet waren, nach rund sechzig Jahren Krach zwischen dem Papst und Italien, hat Pius XI. gesagt, es sei wohl nötig gewesen, dass die Vorsehung einen Boten sende, und er hat Mussolini gemeint. Hast du das gewusst?«
Mit Gottfried Kumpf in Venedig
G: »Nein, habe ich nicht, aber ich habe immer wieder gehört und gelesen, dass sie Mussolini den Mann der ›Provvidenza‹ genannt haben, der Vorsehung, also daher kommt das!«
R: »Gut, und wir hätten uns also hinsetzen können, über den Mann lachen und warten. Aber wir haben zu lange gewartet. Mittlerweile ist die Wirtschaft kaputt, die Stimmung war jahrelang grauenhaft und die Jugend hat keine Arbeitsplätze.«
G: »Und da hast du Hoffnung, Ruggero?«
R: »Habe ich. Ich bin vor acht Jahren schon Mitglied von >Libertà e Giustizia< geworden, wir haben immerhin hier in Venedig vieles ausrichten können. Und wir arbeiten zusammen mit anderen Vereinigungen, hier zum Beispiel mit >Pro Rialto<, wir helfen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, wir übernehmen Schulgeld, Ausbildungskosten. Und jetzt nehmen wir eine Grappa.«
* Alle meine Probleme sind sexuelle.
Mitten im Zweiten Weltkrieg und in ihrer Tendenz gegen die absolut herrschende Ideologie und ihre Kriegsverherrlichung wurde in Berlin 1940 die Komödie »Kirschen für Rom« uraufgeführt, ihr Autor war Hans Hömberg. Die Hauptrolle spielte einer der großen Theaterstars dieser Jahre und Jahrzehnte – Gustaf Gründgens. Er gab einen reichen, römischen Patrizier, der zwar als Feldherr siegreich, aber am eigenen militärischen Ruhm nicht mehr interessiert war. Als Gastgeber jedoch war er schon zu seiner Zeit berühmt, er ist es bis heute – Lukullus.
Der Name ist zum Synonym für die Küche des alten Rom geworden, ja er steht ganz allgemein für Tafelfreude. Das »lukullische Gastmahl« hat den Ruf des Lucius Licinius Lucullus ebenso die Jahrhunderte überdauern lassen wie seine Großtat, die ersten Kirschen aus dem Lande Pontus, aus der Stadt Giresun, nach Rom zu bringen. Die neu entdeckte Delikatesse eroberte in knapp hundert Jahren ganz Europa.
Ein Gastropreis trägt seinen Namen, auch Hotelbetriebe in der halben Welt schmücken sich mit ihm. Ein spezieller Kundenkreis begegnet dem großen Feldherrn immer wieder, wiewohl er sich beim besten Willen nicht für seine wirklichen Leistungen begeistern kann. Es gibt sogar ein Hundefutter Lukullus, weiters auch eine Saatbaufirma und in die Literatur ist der große Genießer nicht nur mit Hilfe von Hömberg und Gründgens eingegangen.
Bertolt Brecht hat das Hörspiel verfasst »Das Verhör des Lukullus«, einen Prozess im Jenseits über die Frage, ob die menschlichen Verdienste oder die militärischen Taten zählen.
Paul Dessau hat aus dem Text Brechts die Oper »Die Verurteilung des Lukullus« geschaffen.
Den bedeutendsten militärischen Gegner des Lucius Licinius Lucullus, Mithridates, kennt die Opernwelt – »Mitridate, re di Ponto«, Libretto von Vittorio Amedeo Cigna-Santi, Musik von W. A. Mozart, Uraufführung am Teatro Regio Ducale in Mailand 1770. Die Handlung basiert auf dem Drama »Mithridate« von Jean Racine und hat nichts mit dem realen Leben des großen Feindes der Römer zu tun. Lucullus hat ihn in mehreren Feldzügen besiegt, hat sein Land erobert und dabei auch die Verwaltung der römischen Provinz Asia reformiert. Er war in seinen Maßnahmen dem besiegten Feind gegenüber maßvoll und menschlich, allerdings brachte er es in diesen Kriegsjahren zu legendärem Reichtum. In Roms Umgebung errichtete er sich nach dem letzten, dem dritten Feldzug gegen Mithridates mehrere Villen und einen Palast im Zentrum, auf einem der sieben Hügel Roms, auf dem Palatin. Die Gastmähler, die Lucullus in diesen Villen gab, brachten ihm seinen Ruf als Feinschmecker ein und die Tat, aus Asien die bis dahin in Rom unbekannte Kirsche mitgebracht zu haben, führte ihn zweitausend Jahre später in die deutsche Literatur. Hömbergs Komödie »Kirschen für Rom« war noch Jahre nach der Uraufführung beliebt und erfolgreich, 1954 spielte man das Stück in Düsseldorf, wieder mit Gustaf Gründgens, und in einer eigenen Inszenierung zum siebzigsten Geburtstag des Bundespräsidenten von Deutschland, Theodor Heuss, der ein besonderer Verehrer von Hans Hömberg war.
Und warum das alles an dieser Stelle? Weil man auch an der Tafel beim Mahl am Mittelmeer ein gutes Tischgespräch braucht. Und weil die alles durchdringende Kultur Italiens im Laufe von fast dreitausend Jahren auch der Küche nicht nur Ideen und Rezepte, sondern auch zahllose Geschichten und Anekdoten gebracht hat.
Zu den berühmtesten Kochbüchern der Küchengeschichte gehören eines aus der Antike und eines aus dem 19. Jahrhundert, beide aus Italien, beide geprägt vom hohen Fachwissensstand ihrer Zeit.
Das Kochbuch des Apicius ist das älteste erhaltene Kochbuch der Antike – »De re coquinaria – Über die Kochkunst«. In zwei Exemplaren ist es erhalten, eines ist im Besitz der Academy of Medicine in New York, das zweite befindet sich in der Bibliothek des Vatikan.
Der Name Apicius bedeutet nicht den tatsächlichen Autor. Es gab im Rom der Antike mehrere Feinschmecker dieses Namens, das Buch ist eine Sammlung von Rezepten aus verschiedenen Quellen. Wer das »Gastmahl des Trimalchio« oder den Film Fellinis nach diesem Buch kennt, wird sich unter einem römischen Gastmahl eine opulente dekadente Orgie vorstellen. Der Text aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. umfasst das bekannteste und längste Kapitel des Romans »Satyricon«, sein Autor war Petronius Arbiter. Das ist eben eine Satire, in der ein zu großem Reichtum gekommener freigelassener Sklave, Trimalchio, als ein klassischer Neureicher verspottet wird.
»De re coquinaria« aber zeigt eine ganz andere römische Küche, in der Groteskes wie »Pfau in Honig« oder »gefüllte Haselmäuse« nicht vorkommen. Rund ein Viertel der Rezepte betrifft Soßen, die für Vielfalt des Geschmacks sorgen.
Das zweite zum Klassiker gewordene Kochbuch hat Pellegrino Artusi verfasst. Er kam 1820 zur Welt und starb mit fast einundneunzig Jahren, was viele Feinschmecker mit Beruhigung zur Kenntnis nehmen werden. Zur Welt ist er in Forlimpopoli gekommen, einer kleinen Stadt nahe der adriatischen Küste, in der Provinz Forli-Cesena. Sein Lebensweg lässt an einen anderen Italiener von Weltruf denken, an Rossini. Hat dieser als Musiker seinen Lebensweg begonnen, bis er sich fast ausschließlich den Freuden von Küche und Keller widmete, so war jener zuerst Kaufmann, dann Dichter und endlich ein ungemein erfolgreicher Gastrosoph. Das Wort gibt es zwar, aber die dazugehörige Wissenschaft wird nicht als solche anerkannt. Ihr erster Vertreter von Bedeutung war Jean Anthelme Brillat-Savarin, vor allem mit seinem Buch »Die Physiologie des Geschmacks«. Und nun erschien, rund ein halbes Jahrhundert später, Artusi. Er hatte als Seidenfabrikant ein Vermögen teils geerbt, teils selbst erworben. Auf weiten Geschäftsreisen kreuz und quer durch die italienische Halbinsel hatte er große Erfahrung, auch im Gastronomischen, gesammelt. Und er war ein Patriot.
So brachte er nun sein Wissen von den verschiedenen regionalen und lokalen Küchen zu Papier und das in Verbindung mit einem zweiten Projekt – der Sprache. Er suchte neue, den Regionen Italiens entsprechende Ausdrücke und ersetzte mit ihnen das vorherrschende Gastro-Französisch. Dass seine Familie schon 1851 – er war erst einunddreißig Jahre alt – mit ihrer Firma nach Florenz übersiedelt war, in das Land der edelsten Form der Heimatsprache, hatte ihn natürlich beeinflusst. Jahre später schrieb er: »Nach der Einigung Italiens erschien es mir als logische Konsequenz, an die Einheit der gesprochenen Sprache zu denken.«
Warum seine Familie die Heimatstadt verlassen hatte und unter welch schrecklichen Umständen, das hatte Artusis Sehnsucht nach einem geordneten Staat nicht nur geweckt, das Erlebnis hatte ihn geprägt.
Ein Bandit namens Stefano Pelloni, geboren 1824, war zuerst zum Mythos der armen Leute geworden – ein Robin Hood der Emilia. Tatsächlich aber war der Brigant, sein nom de guerre war »Il Passatore«, ein blutrünstiger, nur auf materiellen Vorteil bedachter Räuber. In der Nacht des 25. Jänner 1851 überfiel er mit seiner Bande das Theater von Forlimpopoli. Die Gangster bedrohten die Zuschauer, hielten sie in Schach, raubten einen reichen Logenbesitzer nach dem anderen aus – auch die Familie Artusi. Schließlich vergewaltigten sie mehrere Frauen – vor allen Augen. Eines der Opfer war Pellegrino Artusis Schwester, Gertrude. Sie überlebte, aber sie wurde durch das furchtbare Erlebnis verrückt. Die Familie verließ den Ort des Geschehens wenige Wochen später für immer.
Einige Wochen danach entdeckte die päpstliche Gendarmerie den Bandenchef in einer Jagdhütte, er war von einem Komplizen verraten worden. Beim folgenden Schusswechsel wurde Il Passatore getötet. Sein Leichnam wurde auf einem Wagen durch die ganze Romagna geführt und auf allen großen Plätzen ausgestellt, zum Zeichen, dass die Bedrohung ein Ende gefunden hatte. Noch eine Fußnote – der berühmte italienische Fernsehstar Raffaella Carrà hatte den Passatore zum Ahnen, sie hieß mit bürgerlichem Namen Pelloni.
Artusi und die Seinen hatten Forlimpopoli also verlassen. Doch die kleine Stadt hat den großen Mitbürger nicht vergessen. Hier gibt es die Casa Artusi, die sein Andenken hochhält und seiner Idee dient, über hundert Jahre nach seinem Tod. Man hat den hundertfünfzigsten Jahrestag der italienischen Einheit gemeinsam mit dem hundertsten Todestag des großen Küchenweisen begangen. Das Haus, das seinen Namen trägt, ist offen für »Köche und Köchinnen, Amateure, Gastwirte, Feinschmecker, Kinder …«. Die Casa Artusi ist Restaurant, Kochschule, Museum, Veranstaltungszentrum, Weinkeller, Bibliothek. Vierzigtausend Bücher warten hier auf ihre Leser!
Büste von Pellegrino Artusi auf dem Cimitero delle Porte Sante
Das Grab des berühmten Mannes liegt freilich in Florenz, wo er gestorben ist. Dort ist auch zum ersten Mal das Buch »La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene« erschienen, also – »Die Wissenschaft von der Küche und die Kunst, gut zu essen«. Dreißig Jahre zuvor war der König von Italien in Florenz eingezogen, in die Hauptstadt des jungen Königreichs. Sie sollte es nur wenige Jahre lang bleiben. Die landläufige Übersetzung »… Kunst des Genießens« trifft nicht den Kern, denn tatsächlich dreht sich diese Sammlung von Rezepten und von Erlebnissen in Wirtshäusern in ganz Italien ja nicht um den Genuss an sich, es geht eben um Essen und Trinken.
Damit stellte sich Pellegrino Artusi in eine Reihe mit anderen italienischen Patrioten, die ihre Kunst, ihr Wissen, ja ihr Leben dem Ziel widmeten, aus einer beträchtlichen Anzahl von kleinen und mittelgroßen Staaten ein geeintes Land zu schaffen.
Natürlich lässt sich heute, in einem klar definierten Europa, nur mehr schwer begreifen, welche Ziele der Nationalismus des 19. Jahrhunderts verfolgte. Dieser Nationalismus, der seit Napoleons Beutezug durch den gesamten Kontinent erwacht war, führte zu Kriegen, Revolutionen, blutrünstiger Gewalt, zu Katastrophen wie den »ethnischen Säuberungen« im 19. und im 20. Jahrhundert.
Von Ideen, wie sie Russland verfolgte, dem Panslawismus, oder irgendwelchen abstrusen pangermanischen Obsessionen, waren diese italienischen Aktivisten des Risorgimento weit entfernt. Einen »Panromanismus« hat es nicht gegeben. Artusi und seine Mitdenker wollten in einem Land leben, dessen Weg zu bestimmen ihre Sache und nicht die einer bestimmenden Schicht aus einem anderen Kulturkreis, von anderer Sprache war. So stand er also mit seinem Projekt »Küche und Sprache« an der Seite von Alessandro Manzoni, dem Dichter der »Verlobten«, und ebenso von Giuseppe Verdi.
Das Buch hatte zuerst bescheidenen, bald glänzenden Erfolg. Bis zu Artusis Tod im Jahr 1911 ist es in fünfzehn immer wieder verbesserten und erweiterten Auflagen erschienen. Da gibt es eigene Hinweise auf die Jahreszeiten, ja Monate, wann welche Rezepte am geeignetsten erscheinen, hier gibt es eine eigene Abteilung »Cucina per gli stomachi deboli«, Küche für schwache Mägen.
Es birgt nicht nur eine große Zahl von Rezepten aus allen Landschaften der Apenninen-Halbinsel, der Autor erweist sich auch als brillanter Erzähler. Da werden die Tafelgenossen beschrieben, denen er seine Erfahrungen verdankt, Typen von großer Vielfalt, aus dem Norden und Süden des Landes.
Und diese Vielfalt, der regionale Reichtum, ist es auch, was Italiens Küche prägt, weit mehr als die Tafel anderer Länder. Das ist einer der Vorteile der Jahrhunderte ohne Einheit – die Vielfalt in der Sprache wie in der Gastronomie. So kann es also keine »italienische Küche« geben, nur eine typisch toskanische oder lombardische oder sizilianische. Und dieser Reichtum wird verteidigt – vor allem durch eine Institution, die zu einer Zeit entstanden ist, als von Junkfood oder Fastfood noch keine Gefahr drohte.
Der österreichische Küchenwissenschaftler Christoph Wagner datierte den Beginn dieser Begriffe auf das Jahr 1972, als die New York Times sich mit dem Thema »Schnelles Essen« befasste. »Junkfood« taucht allerdings schon früher in Wörterbüchern auf, etwa um 1960.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer Krise in der Gastronomie Italiens.
Wie in Wien das Kaffeehaussterben, das Aufkommen der neuen Espressos zu düsteren Prophezeiungen des kulturellen Endes führte, so »ertönte der Schmerzensschrei ›Die Küche Italiens stirbt!‹ in allen unseren Regionen«, so liest man es in alten Zeitungsberichten.
Am 29. Juli 1953 traf sich eine große Runde von Freunden im Hotel Diana in Mailand zum Abendessen. Sie alle hatten gesellschaftliches Gewicht, waren erfolgreiche Geschäftsleute, Journalisten, Künstler. So saßen auch ein prominenter Schriftsteller in der Tischgesellschaft, Dino Buzzati, und ein einflussreicher Verleger, Arnoldo Mondadori.
Zusammengerufen hatte sie Orio Vergani, ein Gastgeber von internationalem Ruf. Er entstammte einer Mailänder Künstlerfamilie und er wurde selbst schon als junger Journalist prominent, seine Sportreportagen waren von hoher literarischer Qualität. Mit einem avantgardistischen Theaterstück feierte er Triumphe, Vergani wurde auch berühmt als der »erste Fotojournalist Italiens«.
Aber an diesem Abend im Hotel Diana ging es ihm um ein anderes Projekt, das er schon länger mit sich getragen hatte. Er wollte die bedrohte Küche seiner Heimat retten. Und so gründete er mit seinen Freunden die Accademia Italiana della Cucina.
Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Qualität der Gastronomie Italiens kämpferisch zu bewahren. In ihren Selbstdarstellungen verwendet die Accademia den Begriff »difendere«, also »verteidigen.«
Die Generalversammlung am 30. März 2009 in Sanremo hat die Statuten neu festgelegt. In 29 Artikeln wird festgehalten, welche Ziele auf welche Weise zu erreichen sind. Zweck der Aktivitäten der Accademia ist es, die Tradition der italienischen Küche zu schützen und zu ihrer Verbesserung im In- und Ausland beizutragen. Ein Akademiemitglied darf folgenden Berufen nicht angehören: Koch, Wirt, Restaurantmitarbeiter, Cateringmitarbeiter oder Cateringunternehmer, Mitarbeiter von Kochschulen.
Das wichtigste Kochbuch, das die Akademie herausgegeben hat, »Cucina Italiana«, wird in seinem Vorwort noch deutlicher. Die Menschen heute seien beim Essen gehetzt, dem Pillenwahn verfallen, dem Diätkult ergeben. Und besonders die Tischgespräche seien gefährdet – »… sprühten diese einst bei den opulenten Mahlzeiten der Belle Époque von Witz und Geist, so drehen sie sich heute monoton um ein und dasselbe Thema – was dick macht und was nicht.«
In der Erinnerung an die Anfänge der Accademia erzählt ihr früherer Präsident Giovanni Nuvoletti Perdomini von der Ehrfurcht der Gründer »vor den Traditionen, dem Anliegen, den verschwenderischen kulturellen Reichtum unseres Landes zu verteidigen«. Und er klagt an: »Vor dem Hintergrund der geschändeten Kulturlandschaften eines verratenen Italien verlor sich allmählich ein weiterer Bestandteil unseres Kulturerbes, die Gastronomie, in der pseudo-internationalen Anonymität, die in Gestalt von dekadenten Fastfood-Produkten, Hamburgern, folienumschweißten Pizzen nach Wildwest-Manier und explosiven Cola-Getränken daherkam.« Und in der Tat hat man sich jahrelang mit Erfolg gegen die »folienumschweißten« Delikatessen von McDonalds zu wehren vermocht – bis am Ende der Kampf doch, in diesem einen Fall, verloren und das Lokal eröffnet war – und das ausgerechnet im historischen Zentrum von Rom, gleich bei der Spanischen Stiege. Aber der Kampf geht weiter.
Das Vorwort erinnert an den heiligen Thomas von Aquin, der der Kochkunst den Segen erteilte: »Diese Kunst ist die höchste, sie nährt die Sterblichen.« Und er zitiert auch den unvermeidlichen Dante: »Schau, wie zum Weine wird die Sonnenwärme, wenn sie sich mit dem Saft der Rebe bindet.« (Purgatorio 25, 77/78)
Der Präsident wird nicht müde, in seinem einleitenden Essay Italien, die Accademia und ihr vorliegendes Kochbuch zu loben: »Wir haben mit Bescheidenheit die immensen Schätze unserer Küche ausgebreitet, eben jene Schätze, die untrennbar unserem Wesen und also mit unseren italienischen Schätzen und Gebräuchen verbunden sind, geprägt von Einfachheit und Natürlichkeit.« Zuletzt rühmt er die Vielfalt, die wir der Vielzahl der unterschiedlichen Provinzen verdanken: »Denn schließlich sind unsere Provinzen oftmals nichts anderes, als die einstigen souveränen Staaten einer unvergleichlichen historischen Vergangenheit. Souverän auch in allen feinen Künsten des Lebens, in einem Land, voller Vielfalt und Fantasie, das in Geografie und Geschichte immer Klassenbester war … und unter uns gesagt, auch in der Kochkunst.«
Die Accademia Italiana della Cucina sieht sich als eine kulturelle Institution, die an die Zeit vor dem Faschismus anknüpft, an die Ideale des jungen Königreichs, ja die Gedanken Pellegrino Artusis wiederbelebt. Für viele Italiener gilt das Wort Umberto Ecos im Gedanken an die Jahre Mussolinis wie an die Berlusconis und die Wahlergebnisse, die zu den politischen Folgen geführt haben: »Jedes Volk hat einen Moment, da es den Verstand verliert.«