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In seiner "Volkstümlichen Geschichte der Philosophie" präsentiert Karl Vorländer eine umfassende Darstellung der Philosophiegeschichte auf verständliche und zugängliche Weise. Das Buch bietet einen detaillierten Einblick in die Entwicklung der Philosophie von den antiken Griechen bis zur modernen Zeit und beleuchtet dabei die wichtigsten Denker und Konzepte. Vorländer zeigt dabei nicht nur die Entwicklung der Ideen, sondern geht auch auf den historischen und kulturellen Kontext ein, in dem diese Philosophen lebten und arbeiteten. Sein Schreibstil ist klar und prägnant, was es einem breiten Publikum ermöglicht, sich mit komplexen philosophischen Themen auseinanderzusetzen. Dabei gelingt es ihm, auch komplexe Ideen leicht verständlich darzustellen und Zusammenhänge verständlich zu machen. Karl Vorländer, selbst ein renommierter Philosophiehistoriker, bringt sein fundiertes Wissen und seine Leidenschaft für das Thema in dieses Buch ein. Durch seine langjährige Erfahrung und sein umfangreiches Fachwissen gelingt es ihm, die Geschichte der Philosophie lebendig werden zu lassen und dem Leser einen tiefen Einblick in die Denkweise vergangener Zeiten zu gewähren. Sein Werk zeugt von einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Thema und einer klaren Sprache, die es auch Laien ermöglicht, sich mit der Philosophiegeschichte vertraut zu machen. Diese "Volkstümliche Geschichte der Philosophie" ist daher nicht nur ein Muss für Studierende der Philosophie, sondern auch für alle, die sich für die Entwicklung des menschlichen Denkens interessieren und einen fundierten Überblick über die Philosophiegeschichte erhalten möchten.
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Seitenzahl: 478
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Inhaltsverzeichnis
Schon lange war es mein Wunsch, neben meiner zweibändigen Geschichte der Philosophie, die sich hauptsächlich in den Kreisen der Studierenden eingebürgert zu haben scheint, eine kürzere Darstellung desselben Stoffes für den freidenkenden Mann aus dem Volke zu schreiben, der für die großen Weltanschauungsfragen interessiert ist. Das ist allerdings keine leichte Aufgabe und ist wohl deshalb bisher noch nie versucht worden. Denn ein solches Buch soll kurz sein und doch die Hauptprobleme der Philosophie klar herausarbeiten, ihre Hauptgestalten lebensvoll schildern; allgemeinverständlich, ohne doch an der Oberfläche zu bleiben. Nun, »ich hab’s gewagt!« Eine Aufforderung von Professor Ferd. Jak. Schmidt in der Neuen Zeit vom 12. März 1920 bestärkte mich in dem Entschluß. Jahrelanger geistiger Verkehr mit bildungsdurstigen Männern der verschiedensten Kreise läßt mich hoffen, daß ich den Ton im allgemeinen getroffen habe. Vermieden sind selbstverständlich alle fremdsprachlichen Zitate, nach Möglichkeit auch die Fremdwörter, desgleichen fast alle Literaturangaben. Wer sie sucht, wer überhaupt eingehendere Belehrung wünscht, den verweise ich auf meine gegenwärtig in sechster Auflage erscheinende größere Geschichte der Philosophie (zwei Bände, Verlag Felix Meiner, Leipzig, 368 und 533 Seiten). Wer die Werke der Philosophen selbst lesen will, findet die weitaus meisten und wichtigsten in deutscher Übersetzung, mit Einleitungen und Erläuterungen, in der ebenfalls im Verlag Meiner erschienenen, nahezu zweihundert Bände zählenden Philosophischen Bibliothek. Zum Schlusse spreche ich dem Verlag J. H. W. Dietz Nachf. in Stuttgart meinen herzlichen Dank für sein bereitwilliges sofortiges Eingehen auf meinen Antrag, dem Verlag F. Meiner für die von ihm erteilte Zustimmung aus.
Münster i. W., 1. Mai 1921 Professor Dr.Karl Vorländer
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Der Anfang aller Philosophie ist, wie schon ein altgriechischer Denker gesagt hat, das »Sich wundern«. Wenn der Verstand des Kindes zu erwachen beginnt und es die Eltern oder den Lehrer mit seinen beständigen Fragen nach dem Warum? der Dinge quält, wenn der Naturmensch darüber nachzudenken anfängt: Woher stamme ich? Wozu lebe ich?, so steckt darin bereits der Keim des Philosophierens. Denn das aus dem Griechischen stammende Wort »Philosophie« bedeutet: Liebe zur Weisheit, also Drang nach Erkenntnis. Auf diesem im Vernunftmenschen stets wachen Erkenntnistrieb, im rastlosen Forschen nach der Wahrheit ruht alle echte Wissenschaft. Nicht auf dem vermeintlichen »Besitz« derselben; denn dieser macht nach einem bekannten Lessing-Wort den Menschen nur »ruhig, träge und stolz«. Das Kind nun und der noch auf einer niederen Stufe des Wissens stehende Naturmensch beruhigt sich wohl in der Regel mit der beliebigen Antwort, die ihm die Eltern, die Erfahreneren, die angeblich oder wirklich Klügeren, im anderen Falle die Herrschenden oder die Priester auf jene neugierigen Fragen geben. Bis dann beim einzelnen, wie bei ganzen Völkern, mit seinem Heranreifen allmählich ein tieferer Wahrheitsdrang erwacht, der sich mit oberflächlichen, seinen Verstand unbefriedigt lassenden Antworten nicht mehr abspeisen läßt. Er will jetzt selbst eine Ansicht von sich und der Welt auf gesichertem Boden von Grund aus neu aufbauen – wie wir es auch in unserer Geschichte der Philosophie bei allen ihren großen Wendungen bewahrheitet sehen werden –, er will vom bloßen Meinen und Glauben zum Wissen gelangen. Philosophie ist also, das wollen wir uns zunächst merken, gleichbedeutend mit Wissenschaft und ist in diesem Sinne auch bereits von den bedeutendsten Denkern des griechischen Altertums, Plato und Aristoteles, gebraucht worden.
Wodurch unterscheidet sich aber Philosophie von den übrigen Wissenschaften, die wir alle kennen: Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichts-, Sprachwissenschaft usw.? Nun, sie alle haben ihr ganz bestimmtes Einzelgebiet, das sich heute, ebenso wie die technische Arbeit, immer mehr spezialisiert hat, in immer zahlreichere Teilgebiete zerfällt. Sie alle aber haben, sofern sie nicht in bloßem Sammeln und Ordnen von Stoff aufgehen wollen, das Bestreben, sich auf ihre letzten Grundlagen, ihre obersten Grundsätze zu besinnen, ihre Grenzen zu bestimmen, ihre Methode (Untersuchungsweise) festzustellen, ihren etwaigen systematischen Zusammenhang miteinander nachzuweisen, ihr gemeinsames Ziel festzustecken. Und insoweit sie das tun, nehmen sie teil an der Philosophie. Die Philosophie setzt, wenn sie auf wissenschaftlichem Grunde ruhen will, die Arbeit der Einzelwissenschaften voraus, die letzteren aber würden stumpf und blind bleiben, falls sie sich nicht über den Alltagsbetrieb der Einzelforschung erheben wollten.
Auch in der Philosophie gibt es heute eine ganze Reihe Einzelfächer. Zunächst eine Philosophie, die das menschliche Denken als solches untersucht und, je nachdem sie auf dessen Form oder seinen Inhalt gerichtet ist, Logik oder Erkenntniskritik (Prüfung der Erkenntnis) genannt wird. Auf die denkende Erfassung der äußeren Natur und die höchsten Fragen der Naturwissenschaft geht die Naturphilosophie, während die Psychologie (das heißt Seelenlehre) die seelischen Erscheinungen zum Gegenstand hat und ihrerseits wiederum in eine Psychologie des einzelnen, der Geschlechter, der Berufe, Lebensalter, Völker usw. zerfallen kann. Neben diesen Wissenschaften von dem, was ist, steht dann eine Philosophie des Sollens, die sich mit den Zwecken unseres Wollens und Handelns beschäftigt und griechisch Ethik, lateinisch Moral (Moralphilosophie), das ist Sittenlehre, heißt. Daneben die Philosophie der Kunst, dieses dritten großen Kulturgebiets neben Wissenschaft und Sittlichkeit, die so, wie diese die Gesetze des Wahren und des Guten, ihrerseits die des Schönen aufsuchen will, oder die Ästhetik. Mit dem Fortschritt der Wissenschaften haben sich dann diesen Hauptgebieten der Philosophie noch weitere Zweige angegliedert. Wir reden heute von einer Geschichts-, einer Sprach-, einer Religionsphilosophie, ja sogar von einer Philosophie der Mathematik und der Technik. Von der Ethik haben sich die Philosophie des Rechts, des Staats und der Gesellschaft (Sozialphilosophie), nach der anderen Seite hin die Wissenschaft von der Erziehung oder Pädagogik abgezweigt.
Alle diese verschiedenen Zweige der Philosophie werden gelegentlich von uns berührt werden. Allein ihr Betrieb fordert eine sehr eingehende Fachkenntnis, die von einem Handarbeiter bei seiner heutigen Schul-und Vorbildung nur unter den allerschwierigsten Verhältnissen erworben werden kann. Aber es gibt neben diesem »Schul«-Begriff, um mit Deutschlands größtem Philosophen Immanuel Kant zu reden, auch noch einen weiteren oder »Welt«-Begriff der Philosophie. Der philosophische Nichtfachmann – und das ist die ungeheure Mehrzahl aller an Philosophie interessierten Menschen – begehrt mehr als eine Prinzipienlehre der Wissenschaften, wie man die Philosophie im engeren Sinne nennen könnte. Ihn verlangt nach einer auf diesem Grunde aufgebauten Gesamtanschauung der Dinge, die nicht bloß seinem Drange nach Wissen und Erkennen, sondern auch seinem Trieb nach Wollen und Handeln, ja schließlich auch seinem Gefühl genügt, die ihm Antwort auf die vielerlei Rätselfragen des menschlichen Lebens gibt: kurzum nach einer ihn befriedigenden Weltanschauung.
Nicht jede Weltanschauung freilich ist philosophischer Art. Es gibt auch andere Standpunkte, von denen aus man die Welt betrachten kann: beispielsweise den des Dichters oder Künstlers überhaupt ( künstlerische oder ästhetische) oder den des Frommen ( religiöse Weltanschauung), des Politikers und andere, um von so untergeordneten wie dem des Geschäftsmanns, des Militärs, des Höflings oder ähnlicher ganz zu schweigen. Mit ihnen allen hat es unsere Darstellung nicht oder doch nur mittelbar zu tun; wir werden höchstens einzelne von ihnen streifen können. Unser Feld ist vielmehr nur die auf dem Boden der Wissenschaft sich erhebende vernunftgemäße Weltbetrachtung.
Die folgende Darstellung schildert deshalb auch nur die Philosophie derjenigen Völker, die es zum Anbau (lateinisch »Kultur«) von Wissenschaft und Kunst gebracht haben, das heißt der Kulturvölker. Eine vielgelesene Schrift der Gegenwart hat sich in dem etwas großspurigen Ausdruck gefallen: »Wir denken heute in Erdteilen!« Das mag für Geschichte, Politik und Wirtschaftsbeziehungen stimmen, nicht jedoch für eine Geschichte der Philosophie. Völlig kultur-und deshalb auch geschichtslose Völker, wie die eingeborenen Rassen Afrikas, Amerikas, Australiens, Nordasiens, fallen außerhalb des Rahmens unserer Darstellung. Etwas anders steht es schon mit den Stämmen Asiens, genauer dessen, was wir das
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oder den Orient, das heißt das Land, wo für uns »Abendländer« die Sonne aufgeht, zu nennen pflegen.
Hier finden sich uralte Kulturen in dem chinesischen Tiefland, in Vorderindien, an den Ufern des Nil und in den Ebenen des Euphrat und Tigris. Indes die Geschichte des philosophischen Denkens ist nicht einerlei mit Kultur-, Religions-oder Sittengeschichte. Soviel Interessantes eine Darstellung der chinesischen, indischen, ägyptischen, babylonisch-assyrischen Kultur auch bieten würde, so ist doch das ganze Denken dieser Völker – abgesehen etwa vom chinesischen – zu stark religiös gefärbt und liegt zudem unserer ganzen europäischen Denkweise zu fern, als daß wir näher darauf einzugehen brauchten. Die einzige Philosophie, die nach den bisher vorliegenden Forschungen diesen Namen verdient, die der Inder, hat überdies einen viel zu gewaltigen Umfang, als daß wir uns damit im einzelnen befassen könnten. Wir begnügen uns daher, im folgenden das Wichtigste aus der »Philosophie« des Orients in groben Zügen zu umreißen.
1. Im sechsten vorchristlichen Jahrhundert hat in China Meister Lao, das heißt der Alte, ein anscheinend tiefsinniges philosophisches System entworfen, das an den Anfang aller Dinge das Tao, das ist einen namenlosen Urgrund setzt, aus dem der Schöpfer des Weltalls, aller Kräfte und aller Tugenden hervorging. Selbst nicht weiter erforschbar, schreibt das Tao, als Maß aller Maße und Vernunftordnung aller Dinge, auch dem menschlichen Handeln den richtigen Weg vor. Zu ihm soll der Weise emporstreben, indem er sich von allem Sinnlichen loslöst und auf sich selbst zurückzieht. In das Volk konnte dieser tiefsinnige, aber weltfremde »Taoismus« nicht eindringen.
Viel besser paßte sich dem nüchternen Wesen des Durchschnittschinesen die praktische Sittenlehre des Kung-tse, das heißt Meister Kung an, der um 500 vor Christus lebte und unter dem von den Jesuiten latinisierten Namen Konfuzius auch bei uns bekannt geworden ist. Seine Philosophie scheint im wesentlichen rein praktische Sitten-und Staatslehre gewesen zu sein. Religion ist ihm die Summe der überlieferten Satzungen und Gebräuche. Er selbst nennt sich einmal »einen Überlieferer, keinen Schöpfer«. Noch heute besitzt der Konfuzianismus, dem im elften und zwölften Jahrhundert nach Christi Geburt mehrere Denker eine naturphilosophische Unterlage zu geben suchten, bei dem konservativen Charakter des Chinesen, die meisten Anhänger.
Den Sozialisten unter unseren Lesern wird von Interesse sein, daß schon fast ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, bald nach Konfuzius, ein chinesischer Denker namens Mih-tse den Mut gehabt hat, eine Art kommunistischer Liebeslehre zu verkünden, die den Luxus, die unproduktive Arbeit, die Ungerechtigkeit und den Krieg bekämpft, allerdings das Heil noch von einer Gesinnungsänderung der Gebildeten und Regierenden erwartete. Anderthalb Jahrtausende später, um 1070 bis 1100, während man sich bei uns noch um die Vorherrschaft von Kaisern oder Päpsten stritt, soll tatsächlich in China bereits eine sozialistische Regierung bestanden haben; wir wissen jedoch nichts von einem philosophischen Niederschlag derselben.
2. Im Gegensatz zu den übrigen Völkern des Morgenlandes haben die uns als sogenannte »Indogermanen« stammverwandten, philosophischer angelegten Hindus ihre Philosophie in verschiedenen Systemen ausgebaut. Der gemeinsame Kern ist die Lehre vom Brahman, das, ähnlich dem chinesischen Tao, die Welt hervorbringt (Brahma der Weltschöpfer), trägt (Wischnu ihr Erhalter) und wieder in sich zurückschlingt (Schiwa ihr Zerstörer); und auf der anderen Seite dem Atman, das heißt der menschlichen Seele, die nur in dem Gedanken Ruhe finden kann, daß sie sich als mit dem All-Einen eines Wesens erkennt (Tat twam asi, d. h. das bist du) und die gesamte Sinnenwelt als wertlos und leidvoll von sich abstößt. Der wichtigsten Richtung, der in den Vedas oder heiligen Büchern vorliegenden »Vedanta«-Philosophie, dünkt sogar die ganze Welt und das eigene Selbst nur Trug und Schein, von dem Schleier der Maya (der täuschenden Sinne) verhüllt. Eine andere Richtung dagegen predigte einen ziemlich krassen Materialismus. Allein alle diese fein ausgesponnenen Gedankensysteme, die von ihren deutschen Haupterforschern Max Müller und Paul Deussen den höchsten Erzeugnissen europäischen Denkens gleichgestellt werden, spielten bei den Indiern nur innerhalb ihrer höchsten Klasse, der Gelehrten oder Priester, eine Rolle. Das war auch sehr natürlich bei einem Volke, das seit alters her in vier streng voneinander geschiedene Klassen oder »Kasten« (daher die Bezeichnung »Kastengeist«!) zerfiel und, soviel wir wissen, heute noch zerfällt: 1. die höchste die der Brahminen oder Priester, die bei dem religiösen Charakter dieses Volkes, ähnlich wie im mittelalterlichen Europa, gleichzeitig auch die einzigen Gelehrten sind, der Sage nach aus dem Haupte des Schöpfergottes Brahma entsprossen; 2. die Krieger, aus seiner Brust, 3. die Ackerbauer, aus seinem Magen, 4. die Handwerker und Kaufleute, aus seinen Armen und Beinen entstanden. Unter ihnen allen die rechtlose Klasse der von den eingewanderten Hindus unterworfenen dunkelhäutigen Ureinwohner des Landes, Parias genannt. Wer ein schlechtes Leben führt, dessen Seele wird nach seinem Tode in die nächsttiefere Kaste versetzt, und umgekehrt. Neuerdings hat sich eine Versöhnung von altindischem und modern-europäischem Geiste angebahnt in den Schriften des auch bei uns bekanntgewordenen indischen Denkers und Dichters Rabindranath Tagore, der neben dem Versenken der Einzelseele in das All-Eine doch auch das Recht der Persönlichkeit betont und von dieser statt müßiger Beschaulichkeit tatkräftiges Handeln verlangt.
Gegen die kastenartige Abschließung der Brahmareligion setzte sich bereits im sechsten vorchristlichen Jahrhundert der in demselben Indien entstandene Buddhismus zur Wehr. Es ist keine Religion für die Auserwählten, sondern für die leidenden Massen: Alles, was ist, ist dem Leiden unterworfen, das aus dem ewig ungestillten Durst nach den Freuden und Lüsten des Lebens entspringt. Wer dagegen seine Leidenschaften besiegt, der geht in das Nirwana ein, das heißt das ewige Verlöschen, nach den einen aller Wünsche und Begierden, nach den anderen alles Existierens überhaupt, womit denn auch den beständig sich fortsetzenden Seelenwanderungen und Wiedergeburten des Brahmanismus ein Ende gemacht ist. Soviel Edles und Hohes die Lehre Buddhas, des freiwillig arm gewordenen indischen Königssohns, auch enthält, ihre Neigung zu bloß leidender Ergebung, mönchischem Sichzurückziehen aus der Welt, Unterdrückung auch der gesunden Sinnlichkeit mag sie zwar manchen Übermodernen – noch 1918 wurde in Berlin-Wilmersdorf eine »Neubuddhistische Zeitschrift« gegründet – als Zeitbedürfnis erscheinen lassen, wie wir ihr unter anderem auch bei Schopenhauer begegnen. Allein sie lehrt die Massen nicht das, was ihnen nach unserer Anschauung weit mehr not tut: Auflehnung gegen das Unrecht, Erhebung gegen gewaltsame Unterdrückung, Kampf für ein positives gesellschaftliches Lebensideal, das einem jeden Menschen ein menschenwürdiges Dasein verbürgt. Darum schmachten auch heute noch die vielen Millionen Vorder-und Hinterindiens, Japans und Chinas in Knechtschaft und Unterdrückung.
3. Auch bei den alten Persern findet sich philosophisches Denken nur in religiösem Gewand. Durch die altpersische, von dem weisen Zarathustra (Zoroaster) vor 600 n. Chr. geläuterte, von den in Persien und Indien zerstreuten Parsis noch heute gepflegte Religion zieht sich als Kern der Glaube an einen von Anbeginn der Welt dauernden Kampf zwischen dem Reiche des Lichts (des Guten) und der Finsternis (des Bösen). Indem man durch gut Denken, Reden und Handeln Ormuzd, dem Gott des Guten, dient, schwächt man zugleich die Macht Ahrimans, des Lügengeistes und Prinzips des Bösen. Überwiegen die guten Taten des Menschen, so gelangt er nach seinem Tode in das Paradies, im entgegengesetzten Falle in die Hölle. – Wie man sieht, waren sowohl im Buddhismus wie in der Zarathustra-Religion bereits manche Bestandstücke des Christentums lange vor dem Auftreten Jesu vorhanden.
4. Daß die Araber und Juden philosophisch nicht unbefähigt waren, werden wir bei der Philosophie des Mittelalters noch sehen. Bei den alten Israeliten aber nehmen wir kaum etwas davon wahr. Denn daß die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel »Mose«, mit ihrem Aufstieg vom Unvollkommenen zum Vollkommneren von einem philosophisch beanlagten Dichter ersonnen, daß die später dem weisen König Solomo zugeschriebene Spruchweisheit und das Buch Jesus Sirach mannigfaltige Lebensweisheit in sich bergen, daß die Bücher der Propheten mit ihren flammenden Anklagen gegen den Kapitalismus bis zu einem gewissen Grad als Vorläufer der heutigen Sozialisten angesehen werden können: das alles stempelt ihre Verfasser noch nicht zu Philosophen. Am ehesten ließe sich vielleicht noch das Buch Kohçlet mit seiner ergreifenden Predigt von der Eitelkeit alles menschlichen Lebens und Strebens, die gerade dem anscheinend glücklichsten und reichsten aller Menschen als »Weisheit Salomonis« in den Mund gelegt wird, ein philosophisches Lehrgedicht nennen, oder mit noch mehr Grund das Buch Hiob, in dem das immer wieder dem religiösen Denken sich aufdrängende Problem behandelt wird, wie das Dasein des Übels in der Welt, das häufig gerade die Besten am meisten trifft, mit der angeblichen Güte und Weisheit eines allmächtigen Gottes vereinbar sei.
Aber das alles ist doch stark religiös gefärbt und nicht auf dem Grunde wissenschaftlichen Denkens erwachsen. Die Philosophie im strengeren Sinne des Wortes findet nicht im Morgenland ihre früheste Stätte, sondern bei demjenigen Volke, das ihr den Namen gegeben hat: bei dem, um mit Kant zu reden, »bewunderungswürdigen Volke der Griechen«.
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Mancher sich für besonders »modern« haltende Leser wird vielleicht, wenn er die Überschrift dieses ersten Teiles liest, bei sich denken: Was soll uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts eine so ausführliche Beschäftigung mit den alten Griechen, die vor zweiundeinhalb Jahrtausenden gelebt haben, deren Lebens-und Wirtschaftsverhältnisse, deren Sprache, deren ganze Kultur so völlig andersartig gewesen ist? Freilich für den, der alle Werte dieser Erde am liebsten in Mark und Pfennig umwandeln möchte, haben sie keine Bedeutung. Wohl aber für den, dem geistige Kultur, Kunst, Wissenschaft noch einen unschätzbaren Wert darstellt. Vor allem gerade für die Philosophie hat Altgriechenland eine hervorragende, ja geradezu ausschlaggebende Bedeutung, weil griechisches Denken bereits sämtliche oder doch nahezu sämtliche große, die Menschheit und darum auch noch die Gegenwart bewegende philosophische Probleme in einfachster, für jeden gebildeten Menschen auch heute noch verständlicher Form behandelt, uns sozusagen vorgedacht hat. Alle die philosophischen Richtungen und Einzelwissenschaften, die wir im Verlauf unserer Philosophiegeschichte noch kennenlernen wollen: Idealismus und Materialismus, Dogmatismus und Skeptizismus, Nationalismus und Mystizismus, oder: Naturphilosophie und Ethik, Psychologie und Logik, mechanische und teleologische Naturauffassung, Geschichts-und Religionsphilosophie, haben Ursprung und Pflege auf altgriechischem und später, von dort verpflanzt, auf dem Boden des römischen Weltreichs gefunden.
Mit welchem von diesen Zweigen der Philosophie beginnt nun das erste selbständige Denken der griechischen Wissenschaft? Nun, es geht mit der geistigen Entwicklung der ganzen Menschheit ähnlich zu wie mit der geistigen Entwicklung des Individuums (Einzelmenschen). Wie die Aufmerksamkeit des Kindes oder des Naturmenschen, so richtet sich auch das Nachdenken der Philosophie naturgemäß zunächst auf die Erklärung der uns umgebenden äußeren Natur. Mit anderen Worten: sie ist zuerst Naturphilosophie.
Aber eben Natur philosophie, nicht mehr religiöse oder theologische Naturbetrachtung. Gewiß, das erste Nachsinnen über die Rätsel des äußeren Daseins, über das »Wohin?« und »Wozu?« der Welt führt überall zuerst zu religiösen, und zwar kindlich-naiven Vorstellungen. Man stellte sich beispielsweise Sonne, Mond und Sterne, das Meer, das Erdinnere (die »Unterwelt«) als gelenkt und regiert von besonderen »göttlichen« Wesen vor; man erfand eine förmliche Welt von Gottheiten und Halbgottheiten und eine Sagenwelt (Mythologie), die von ihnen kündete. Höchstens daß man sie dann einer obersten Gottheit unterordnete, wie die Inder ihrem Brahma, die Israeliten, die schon besonders früh einen einzigen Nationalgott verehrten, ihrem Jehova oder Jahve, die Babylonier ihrem Baal, die Ägypter ihrem Sonnengott Ra-Ammon, die Griechen ihrem Zeus. Aber mit der Aufwärtsentwicklung des menschlichen Denkens konnte der Glaube an diese mannigfaltige Götterwelt nicht erhalten bleiben. Mochte damit noch so viele schöne Poesie, noch so viele wunderbar herrliche Gestaltung in Erz und Marmor zugrunde gehen, wie Schiller es in seinen »Göttern Griechenlands« so unnachahmlich schön besungen hat, so mußte doch an die Stelle des Gottes Helios, der »seinen Sonnenwagen in stiller Majestät lenkte«, der »seelenlos sich drehende Feuerball« der nüchternen wissenschaftlichen Wahrheit treten.
Eine Zwischenstufe zwischen beiden bildet in Altgriechenland, zeitlich wie sachlich, das Denken der sogenannten »Orphiker«, so benannt nach ihrem angeblichen Ahnherrn, dem sagenhaften nordgriechischen königlichen Sänger Orpheus, deren geheimnisvolle Weisheit noch bis lange in die Blütezeit von Hellas (Altgriechenland) hinein in phantastischen Geheimdiensten (»Mysterien«) sich fortpflanzte. Ihre Gedanken beschäftigten sich, statt des Volksglaubens an die heitere Welt der angeblich auf dem höchsten Berge Griechenlands, dem Olymp, thronenden Götter und Göttinnen, mit der Herleitung alles Gewordenen aus einem Urgrund, als den sie irgendein Unentwickeltes, die einen die Nacht, die anderen den die Erde umwölbenden Himmel, wieder andere den sie umgebenden Vater Okeanos (Ozean), die meisten ein wirres Durcheinander, das »Chaos« – ähnlich dem »Tohuwabohu« der ersten Verse des ersten Kapitels Mose – betrachteten: aus dem dann der ordnende Zeus und seine Geschwister zuerst ein naturgesetzlich geordnetes Weltall schaffen, nachdem sie die unter dem Sinnbild von überstarken Riesengeschlechtern (Giganten und Titanen) versinnbildlichten ungebändigten Naturkräfte gebändigt haben, ähnlich wie die nordischen »Asen« zunächst die urgewaltigen Eis-und Frostriesen bezwingen müssen.
Mit dieser Richtung altgriechischer Weisheit hat die beginnende Philosophie der Griechen wohl den Gegenstand ihrer Forschung gemein. Auch sie fragt nach dem Uranfang alles Gewordenen. Allein sie fragt danach nicht mehr in der Form religiösen, sondern wissenschaftlichen Denkens. Der Augenblick, wo dies geschieht, ist die Geburtsstunde der griechischen Philosophie.
Ihre Wiege stand nicht in dem unseren Lesern als Stätte höchster hellenischer Kulturblüte bekannten Athen, sondern auf der anderen Seite des griechischen Inselmeers, in Kleinasien. Karl Marx hat zuerst der Ansicht in weiteren Kreisen zum Durchbruch verholfen, daß die wirtschaftliche Entwicklung der Völker von durchschlagendem Einfluß auch auf den geistigen Inhalt von bestimmten Geschichtsperioden ist. Nun hatte sich aber früher als im Mutterland in den Kolonien der alten Griechen, das heißt an den kleinasiatischen, unteritalischen, thrazisch-mazedonischen Küsten des Mittelmeers, ein blühender Handel und in seinem Gefolge eine rege, nicht bloß wirtschaftliche, sondern auch politische, wissenschaftliche und künstlerische Kultur entwickelt, neben der freilich auch manche sittliche Schädigung, wie sie übermächtig werdender Kapitalismus mit sich zu bringen pflegt, einherging. Namentlich unter dem geistig besonders regsamen jonischen Stamm, der sich an der Westküste Kleinasiens und den ihr benachbarten Inseln angesiedelt hatte. Hier sind Homers Gesänge zuerst erklungen, hier fand auch die griechische Lyrik (Liederdichtung) ihre frühesten Vertreter, hier entstanden die ersten großen Werke der bildenden Kunst, wie der berühmte Tempel der Göttin Artemis zu Ephesus, hier die Anfänge der Geschichtschreibung. So befindet sich denn hier auch die Geburtsstätte griechischer Philosophie. Denn auch die positiven Wissenschaften hatten hier ihre erste Pflege auf hellenischem Boden gefunden. Bei den ausgedehnten Handelsfahrten der Koloniegriechen zu Wasser und zu Lande hatte sich auch in kultureller Beziehung ein reger Austausch mit den Kulturvölkern des nahen Morgenlandes: den Phöniziern, Ägyptern und Chaldäern (in Babylonien und Assyrien) angebahnt, denen sie sicher in Völkerkunde, Arithmetik, Geometrie und Astronomie vieles verdankt haben. Die ersten Philosophen sind zugleich Mathematiker und Astronomen und zum Teil auch – Politiker gewesen.
Die bedeutendste aller griechischen Pflanzstädte aber an der von der Natur in jeder Weise begünstigten Westküste Kleinasiens war das reiche Milet, die Mutter von angeblich nicht weniger als achtzig blühenden Tochterstädten an den Gestaden des Mittel-und Schwarzen Meeres. Die erste Philosophie der Griechen ist:
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Als »Urheber« der Philosophie wird von dem drei Jahrhunderte später lebenden Aristoteles, dem wir die zuverlässigsten Nachrichten über diese ihre Anfänge verdanken, der Milesier Thales (um 624 bis 545 v. Chr.) bezeichnet, ein Mann von vornehmem Geschlecht, der in der Mathematik und in der Astronomie so bewandert war, daß er eine Sonnenfinsternis, wahrscheinlich die von 585, richtig voraussagte. Er erdenkt zuerst einen stofflichen Urgrund aller Dinge, und zwar das Wasser. War doch für diese Küsten-und Inselgriechen das Meer das alles belebende Element, dessen Inneres ja auch voll von Leben ist; schwamm doch die Erde nach ihrer Meinung auf dem Wasser, und ist doch der Same alles Lebendigen feucht. – Dagegen sah sein ein Menschenalter später (588 bis 524) lebender Landsmann Anaxímenes die Luft als den Urstoff an, sie, das beweglichste und unbegrenzteste der Elemente, das zugleich als Atem Anfang und Ende alles tierischen Lebens darstellt. Aus ihrer Verdünnung ging ihm zufolge das Feuer, aus ihrer Verdichtung oder Zusammenziehung Winde, Wolken, Wasser und Erde hervor. – So war es denn von selbst gegeben, daß ein dritter Denker, der uns später noch besonders beschäftigen wird, Heraklít aus Ephesus (535 bis 475), das Feuer als Urelement annahm. Aus Feuer ist das Weltall einstmals geworden, in Feuer wird es sich dereinst auch wieder auflösen, um daraus in neuer Läuterung wieder hervorzugehen, eine Lehre, die wir uns durchaus verständlich machen können, wenn wir für das »Urfeuer« den Feuerball des Sonnensystems einsetzen.
Einen gewissen Fortschritt stellt der zwischen Thales und Anaximenes lebende Anaximánder insofern dar, als er nicht mehr wie diese einen bestimmten, mit den Sinnen wahrnehmbaren Stoff, sondern ein unbestimmtes, bloß gedachtes Etwas, das er das »Unendliche« oder »Unbegrenzte« nannte, und das möglicherweise auch bloß das noch völlig Unbestimmte, Gestaltlose bedeutet, als den Urgrund aller Dinge bezeichnet.
Nun sind aber sicherlich alle diese Denker nicht bei der bloßen Aufstellung eines solchen Urstoffs stehengeblieben, sondern haben auch seine Weiterentwicklung verfolgt. Das sehen wir an den leider nur ganz geringen Bruchstücken, die uns von der Lehre Anaximanders zufällig erhalten geblieben sind. Danach gingen aus seinem unbestimmten »Unendlichen« zunächst das Kalte und das Warme, aus ihnen das Flüssige, aus diesem durch Austrocknen die Erde, sodann die Luft und eine beide umgebende Feuerkugel (also die uns von Kindheit an geläufigen »vier Elemente«) hervor. Aus diesem Feuermeer lösten sich dann durch Bersten und Ringbildungen Sonne, Mond und Sterne los, während aus dem Urschlamm der walzenartig gestalteten Erde zuerst sehr unvollkommene, dann fischartige Lebewesen, darauf, entsprechend der zunehmenden Trockenwerdung der Erde, Landtiere, endlich – in sehr allmählicher Entwicklung – Menschen entstanden. Wie der Leser sieht, eine phantasievolle Hypothese (Annahme), welche in gewissem Sinne Kant-Laplaces Weltentstehung und Darwins Abstammungslehre schon vorausnimmt. Und wie in die urferne Vergangenheit, so richtete sich der Blick unseres Ioniers auch in eine ferne Zukunft des Weltalls. Der einzige wörtlich erhaltene Satz aus seiner Schrift »Über die Natur« lautet: »Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach ihrem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« In ewigem Wechsel folgen einander unzählige neuentstehende und wieder vergehende Welten.
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Einen sehr wesentlichen Fortschritt vollzieht dann der schon vorhin genannte Heraklit, indem er zum ersten Male an die Stelle des bisherigen bloß stofflichen (lateinisch konkreten, das heißt wörtlich »zusammengewachsen«) ein zwar vom Stoff noch nicht völlig losgelöstes, aber doch geistigeres, abstraktes (gleich von den Sinnen »abgezogenes«) Prinzip oder leitenden Grundsatz aufstellt. Es gibt, lehrte der Weise von Ephesus, nichts Festes und Beharrliches in der Welt. Panta rei (wörtlich: »alles fließt«): Alle Dinge sind in stetem Flusse, in ewigem Wechsel und Werden begriffen. »Nicht zweimal«, so lautet ein von ihm gern gebrauchtes Gleichnis, »können wir in denselben Fluß hineinsteigen, denn neue und immer neue Gewässer strömen ihm zu.« Der Kosmos, das heißt die geordnete Welt, gleicht einem fortwährend umgerührten Mischtrank. Und zwar vollzieht sich dieser beständige Werdeprozeß mit Vorliebe in Gegensätzen: Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Mischung und Trennung, Entstehen und Vergehen, Hohes und Tiefes, selbst Gutes und Böses; es ist im Grunde alles dasselbe, nämlich nur eine verschiedene Form des gleichen Prozesses. »Streit ist der Vater aller Dinge.« Gegensatz erzeugt Einheit.
Heraklit ist ein tiefsinniger Denker, der etwas von Goethes Faust an sich hat. »Ich erforschte mich selbst,« erklärte er einmal mit stolzem Selbstgefühl, im Gegensatz zu den »Vielwissern« und dem »Unverstand« der Menge. Seine Sprache – es sind immerhin über 120 Fragmente (Bruchstücke) aus seinen Schriften erhalten – ist bilderreich, manchmal fast orakelhaft, so daß er bereits im Altertum den Beinamen »der Dunkle« erhielt, und Sokrates sagte, es bedürfe eines »delischen«, das heißt vorzüglichen Tauchers, um bei Heraklit auf den Grund zu kommen. Der »Menge« stand er auch politisch gegnerisch gegenüber. »Augen und Ohren sind schlechte Zeugen der Wahrheit, wenn sie ungebildeten Seelen angehören.« Deshalb müssen Strafen da sein, um sie im Zaume zu halten. Aber auch wider die damals in den griechischen Stadtstaaten vielfach aufkommende »Tyrannis«, das heißt Gewaltherrschaft einzelner, streitet er: »Überhebung muß man löschen gleich einer Feuersbrunst« und: »Für das Gesetz muß das Volk kämpfen wie für eine Mauer.« An eine über allem waltende Weltvernunft, wie manche meinen, hat er schwerlich geglaubt. Vergleicht er doch einmal die Ewigkeit mit einem »brettspielenden Knaben«, der die Steine aufbaut und wieder zusammenwirft. »Sein eigener Sinn ist des Menschen Dämon,« das heißt sein Charakter ist sein Schicksal.
Es ist begreiflich, daß ein so tiefsinniger und eigenartiger Denker wie Heraklit »der Dunkle« von Ephesus von jeher tiefere Naturen angezogen hat, wie schon im Altertum Plato und die Stoiker und in der Neuzeit so entgegengesetzte Denker wie den gemütstiefen Theologen Schleiermacher und die verstandesscharfe und zugleich leidenschaftliche Kämpfernatur Ferdinand Lassalles, der ein zweibändiges Werk über ihn veröffentlicht hat (1858).
Durch Heraklit war der anscheinend feste Bestand aller Dinge in ein ewiges Werden aufgelöst worden. Die ergänzende Gegenlehre dazu haben die Eleaten aufgestellt, so genannt nach der auf Griechenlands andrer Seite, in Unteritalien gelegenen Stadt Elea, einer jener Kolonien, die als »Großgriechenland« in blühendem Kranze die Küsten Süditaliens und Siziliens umsäumten.
Ein Vorläufer der strengeren eleatischen Philosophie ist der wandernde Sänger Xenóphanes (um 570 bis 480), aus dem kleinasiatischen, durch sein Harz bekannten Kolophon gebürtig, der nach einem jahrzehntelangen Wanderleben sein müdes Haupt in Elea zur Ruhe legte. Xenophanes ist weniger Naturforscher als Poet. Als solcher zeigt er einige auffallend unhellenische Züge. Erhaltene Verse warnen vor Überschätzung der Körperkraft, ja schätzen selbst den Siegespreis eines Wettkämpfers von Olympia gering. Er verwirft die ganze griechische Sagenwelt einschließlich Homers, weil sie den Göttern menschliche Laster wie Diebstahl, Betrug und Ehebruch andichte. Ja, er zeigt sogar, ganz im Widerspruch zu der plastischen Schöpferkraft griechischer Bildhauer, Abneigung gegen deren bildliche Darstellung und sagt einmal geringschätzig: Rinder und Löwen würden, falls sie Hände hätten, ihre Götter in Rinds-und Löwengestalt bilden. Der Vielgötterei (Polytheismus) des Volksglaubens stellt Xenophanes die Lehre von einem höchsten Gott (Monotheismus) entgegen, »der weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich ist noch an Gedanken«, »ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr«, völlig unbeweglich und unwandelbar ein und derselbe bleibend, » Eines und Alles«. Seine Gottheit ist also im Grunde einerlei mit dem Weltall, das selbst eine gewaltige Einheit bildet, seine Weltanschauung demnach Pantheismus (von pan: alles und theos: Gott).
Dieser Pantheismus erhielt eine strengere philosophische Begründung erst bei Xenophanes’ Schüler Parménides (geb. 540 oder 515) aus Elea, der schon im Altertum seiner Denkergröße und seiner sittlichen Hoheit wegen in hohem Ansehen stand. Zur Wahrheit führen ihm zufolge nicht die Sinne, die uns eine Vielheit beständig sich verändernder Dinge vorspiegeln, sondern nur das reine Denken, das uns zu der Erkenntnis bringt: daß nur das Seiende ist, daß es dagegen ein Nichtseiendes, mithin auch ein Werden nicht geben kann. Nur ein Seiendes vielmehr kann gedacht werden; ja »dasselbe ist Denken und Sein«. Das reine Sein ist ewig, ungeworden, unbeweglich, unzerstörbar, unteilbar, allgegenwärtig, unendlich, überall sich selbst gleich. Anscheinend in einem gewissen Widerspruch hiermit nahm er dann doch für die Welt der Erscheinungen zwei Urstoffe: einen lichten, leichten, feurigen und einen dunklen, schweren, erdhaften an: der erste das wirkende, der zweite das leidende Prinzip. Auch die menschliche Seele ist aus beiden gemischt.
Von Parmenides’ Nachfolger ging sein Lieblingsschüler Zenon (um 490 bis 430) so weit, daß er mit dem Dasein des Vielen auch die Möglichkeit der Bewegung in scharfsinnigen Erörterungen bestritt und zum Beispiel die verblüffende Behauptung aufstellte: der fliegende Pfeil ruhe, weil er in jedem Augenblick nur in einem und demselben Raume sei, in Wahrheit während der ganzen Dauer seiner Bewegung.
Beide Richtungen, die des Heraklit und seiner Jünger (von denen Krátylus folgerichtig behauptete, auch nicht einmal steige man in denselben Fluß hinab) und die der Eleaten sind fruchtbar geworben für die Folgezeit. In dem ewigen »Werden« des ersteren ist das gesamte entwicklungsgeschichtliche Denken im Keim eingeschlossen, während die Männer von Elea mit ihrer Betonung des beharrenden Seins den »ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht« (Schiller) aufdecken und so die Urheber des Gedankens der Substanz, an der sich die Veränderungen vollziehen, geworden sind.
Ob Parmenides mit seinem kühnen Satze von der Einerleiheit (Identität) von Denken und Sein bereits, wie manche meinen, an ein anderes als das bloß körperliche Dasein gedacht hat? Wir wissen es nicht, dürfen jedenfalls die altgriechischen Denker nicht ohne weiteres mit unserem Maßstab messen. Sicher aber haben gleichzeitig mit ihm schon andere den Gedanken eines unkörperlichen Seins in die Philosophie eingeführt, nämlich die Pythagoreer den Begriff der Zahl.
Die Gestalt des weisen Pythagoras selber, der in reiferem Mannesalter um 535 von der Insel Samos in das unteritalische Kroton einwanderte, ist früh von Sagen umwoben worden. Mit Sicherheit wissen wir nur, daß er dort eine sittlich-religiöse Vereinigung, eine Art Freundschaftsorden gründete, der im Anschluß an die ernstere dorische Stammesart auf Einfachheit, Mäßigkeit, Abhärtung, Selbstbeherrschung und Treue gegen Götter, Eltern, das Gesetz drang und zu täglicher Selbstprüfung aufforderte, auch an eine Seelenwanderung und Vergeltung nach dem Tod glaubte. Die Freundestreue der Pythagoreer (vgl. Schillers »Bürgschaft«) ist sprichwörtlich geworden. Dagegen läßt sich von ihrem Mahnsatz: »Den Freunden ist alles gemeinsam« noch keineswegs, wie manche es angenommen, auf Sozialismus schließen, außer auf einen solchen, der allen Ordens-und Klostergemeinschaften eigen ist. Im Gegenteil, der Pythagoreische Bund, der sich bald auf eine Reihe unteritalischer Griechenstädte ausdehnte und in ihnen längere Zeit großen Einfluß gewann, trug, wie die meisten dorischen Ansiedlungen, einen ausgesprochen aristokratischen Charakter, geriet mit der Volkspartei in heftige Kämpfe und wurde schließlich um die Mitte des fünften Jahrhunderts von dieser zersprengt. Von den nach dem Mutterland Geflüchteten ließ sich Philolaos in Theben nieder. Den von ihm erhaltenen Bruchstücken allein verdanken wir unsere nähere Kenntnis der Pythagoreischen Lehre.
Das Neue und Eigenartige dieser Lehre ist, daß bei ihr zum ersten Male ein reines Gedankending zum philosophischen Prinzip gemacht wird: die Zahl. Wie kam das? Nun, Pythagoras und seine Jünger waren nach dem zuverlässigen Zeugnis des Aristoteles die ersten, die sich gründlich mit der Mathematik beschäftigten, und zwar nicht bloß mit der Geometrie der Ebene – der bekannte Satz von der Winkelsumme eines rechtwinkligen Dreiecks trägt ja noch heute Pythagoras’ Namen –, sondern auch mit der Arithmetik und mit deren Anwendung auf Musik und Astronomie. Die Pythagoreer haben zuerst die Zahlenverhältnisse der Saitenlänge bestimmt, aus denen die Tonhöhe und der Wohlklang hervorgeht, haben Klanggeschlechter und Tonarten unterschieden und so die mathematischen Grundlagen der musikalischen Harmonie geschaffen. Und als Astronomen haben sie bereits gelehrt, daß die Erde und die übrigen Gestirne leuchtende Kugeln seien, die in zahlenmäßig bestimmten Abständen das heilige Zentralfeuer, den »Herd des Alls« umkreisten.
Wir brauchen nur an den ungeheuren geistigen Fortschritt zu denken, der sich auch heute noch in der Entwicklung des einzelnen wiederholt, als der Mensch bewußt zu messen und zu zählen begann. So konnten die Pythagoreer wohl als die ersten mathematischen Forscher, hingerissen von berechtigter Entdeckerfreude, in den Zahlen »die Prinzipien alles Seienden« erblicken und in begeisterten Worten deren Macht künden: »Kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und belehrend über alles Zweifelhafte und Unbekannte. Denn niemandem wäre das Geringste von den Dingen, weder an sich noch in ihren Verhältnissen zueinander, offenbar, wenn nicht die Zahl wäre und ihre Wesenheit. So aber macht sie, der Seele es anpassend, alles der Wahrnehmung erkennbar.«
Ganz erklärlich war es, daß sie dann weiter von diesem Fundament aus die Macht der Zahl auf alle möglichen Gebiete ausdehnen wollten. »So kannst du denn nicht bloß in den dämonischen und göttlichen Dingen, sondern auch in allen menschlichen Werken und Worten die Natur der Zahl und ihre Kraft überall walten sehen, sowie auch in allen technischen Künsten und in der Musik.« Mit Recht sagt Spengler: In Wirklichkeit sind Töne etwas Zahlenmäßiges, so gut wie Linien, Harmonien, Melodien, Reime, Rhythmen, so gut wie Perspektiv, Proportion, Schatten und Kontur (Untergang des Abendlandes, I, Seite 302). Der Gegensatz des Geraden oder Unbegrenzten und des Ungeraden oder Begrenzenden gehe, so meinten sie, durch die ganze Welt und wiederhole sich in den Gegensätzen des Einen und des Vielen, des Rechten und des Linken, des Männlichen und des Weiblichen, Ruhenden und Bewegten, des Lichtes und der Finsternis, ja sogar des Guten und des Bösen. Oder die Abstände der Gestirne von der Sonne wurden nach den musikalischen Tonintervallen (Zwischenräumen) berechnet und, da alles in rascher Umdrehung Befindliche tönt, jene himmlische »Sphären-Harmonie« (Sphäre, d. i. Kugel) angenommen, von der im Prolog zu Goethes »Faust« die Rede ist. Zu solcher Zahlen spekulation kam dann, zum Teil recht willkürliche, Zahlen spielerei hinzu. Noch verstehen läßt es sich, daß 1 den Punkt, 2 die Linie, 3 das Dreieck, 4 die Pyramide bedeuten soll. Aber recht phantastisch klingt es doch, wenn 4 zugleich, weil Gleiches (2) plus Gleichem (2), die Gerechtigkeit, oder 5, weil die Verbindung der ersten männlichen Zahl 3 mit der ersten weiblichen 2 darstellend, die Hochzeit, 6 die Seele, 7 den Verstand, die Gesundheit und das Licht symbolisch ausdrücken soll, wenn die Sieben und die Zehn als heilige Zahlen galten, bei denen geschworen wurde usw.! Die großen Mathematiker haben ja allezeit etwas vom schöpferischen Genie und Künstler in sich gehabt. Und so ist von jeher nüchternste Verstandesschärfe oft genug mit einem beinahe mystischen Phantasieschwung verbunden gewesen, vor allem gerade in den Perioden neuer Entdeckungen und Erfindungen. So bei Paracelsus, Giordano Bruno, bei Beginn der Neuzeit, bei Bacon und Newton und Pascal im siebzehnten, aber auch noch bei dem Franzosen Comte, den deutschen Naturgelehrten Fechner und Zöllner im neunzehnten Jahrhundert.
Das Verdienst der Pythagoreer besteht neben ihren Leistungen in den Einzelwissenschaften – zwei von ihnen haben im vierten Jahrhundert schon die Drehung der Erde um ihre eigene Achse gelehrt – vor allem darin, daß sie zuerst in Griechenland auf die mathematisch-physikalische Gesetzmäßigkeit hingewiesen haben, die das gesamte Weltall durchwaltet und zu einem harmonisch geordneten Ganzen macht, wie sie denn auch den Ausdruck für das letztere, Kosmos, d. i. Ordnung, anscheinend zuerst gebraucht haben. Noch zu Platos Zeit (nach 400) standen Pythagoreer in Ansehen. Zwei von Philolaos’ Schülern werden in seinem »Phädo« erwähnt; ein dritter (Lysis) war der Lehrer des berühmten thebanischen Staatsmannes und Spartabesiegers Epameinondas; ein vierter (Archytas), aus Wielands Romanen bekannt, leitete das blühende Staatswesen von Tarent. Bald darauf scheint jedoch die Pythagoreische Lehre ausgestorben zu sein, um erst nach einem halben Jahrtausend in neuem Gewand wieder aufzutauchen.
Der scharfe Gegensatz zwischen dem eleatischen Sein und dem heraklitischen Werden, der auch in heftigem literarischem Streit zwischen beiden Richtungen seinen Ausdruck fand, konnte denkende Gemüter nicht befriedigen, mußte vielmehr ein Antrieb werden, zwischen beiden eine Vermittlung zu suchen. Das geschah durch die Naturphilosophen des fünften Jahrhunderts, zunächst durch
1. Empédokles (490 bis 430)
aus der reichen sizilischen Handelsstadt Akragas, dem römischen Agrigent (heute Girgenti). Obschon, gleich den meisten dieser älteren Denker, von vornehmer Geburt, war er doch volksfreundlich. Er war nicht bloß als Philosoph, sondern auch als Arzt, Dichter, Redner, Ingenieur und Politiker hochberühmt. Mit den Eleaten leugnet er, daß Etwas aus Nichts entstehen oder in Nichts vergehen könne. Die Veränderung erfolgt vielmehr durch Mischung und »Entmischung« oder, wie er es in dichterischem Bilde ausdrückt, durch Liebe und Haß. Gleiches oder Verwandtes zieht sich an, Feindliches bleibt einander fern. Redet doch auch die heutige Wissenschaft noch von chemischen »Wahlverwandtschaften«. Weil der fliegende Stein die Erde »liebt«, strebt er dieser zu. Aus den zwei Urstoffen des Parmenides sind bei Empedokles vier »Wurzeln aller Dinge« geworden, indem zu dem Wasser des Thales, der Luft des Anaximenes, dem Feuer Heraklits die Erde als viertes hinzugefügt wird: also die bekannten, durch Aristoteles dem Mittelalter überlieferten vier Elemente, die erst durch die moderne Chemie zu mehr als achtzig Urstoffen erweitert worden sind.
Das Interesse unseres Philosophen war weniger dem mathematisch-physikalischen Teil der Naturforschung als der Wissenschaft von der lebendigen Natur (Biologie) zugewandt. Recht materialistisch klingt sein Satz: »Je nach vorhandenem Stoffe wächst dem Menschen die Einsicht.« Von der Mischung des Blutes hängt ihm das Denken ab. Also der Anfang der Lehre von den vier Temperamenten (den Heiß-, Kalt-, Leicht-und Schwerblütigen). Und doch ist dieser Materialismus wieder vergeistigt, also Monismus von der Art Haeckels: »Alles besitzt Denkkraft.« Die Sinneswahrnehmungen entstehen dadurch, daß kleinste Stoffteilchen der äußeren Gegenstände in die Spalten oder »Poren« unserer Sinneswerkzeuge eindringen. Auch auf dem Gebiet der vergleichenden Naturforschung hat er wertvolle Gedanken geäußert. An Goethes ähnliche Anschauungen erinnert sein Vers: »Eines ist Haar und Laub und dichtes Gefieder der Vögel.«
2. Anaxágoras (500 bis 428)
wanderte um 463 aus Kleinasien in Athen ein und wurde hier ein Freund des großen Staatsmannes Perikles, mit dem er gegen Ende seines Lebens die Ungunst der wankelmütigen Menge teilte, die ihn wegen seiner »Gottlosigkeit«, das heißt Verwerfung der üblichen Vielgötterei, verbannte. Vielleicht erregte den Argwohn der Altgläubigen schon seine neue Lehre vom Nûs, das heißt einer Art Weltvernunft, die als Kraft hinter allen Dingen walte. Als Urelemente nahm Anaxagoras nicht mehr vier bestimmte, sondern unendlich viele »Samen« der Dinge an, die von Uranfang an in unendlich kleinen Bestandteilen zu allen möglichen Dingen (zum Beispiel Fleisch, Blumen, Gold) vorhanden waren und sich dann nur, soweit sie gleichartig waren, zu verbinden brauchten. So gingen aus dem schlammartigen Boden der Erde, befruchtet von den aus der diese umgebenden Dunstluft (Atmosphäre) und dem leichten himmlischen Äther niederfallenden Keimen, die ersten Lebewesen hervor. Jedem Wesen wohnt so viel Erkenntnis bei, als Denkstoff (Nus) in ihm enthalten ist. Wir empfinden nicht durch das Gleichartige, sondern durch das Entgegengesetzte, zum Beispiel das kalte Wasser durch die Wärme der Hand, das Süße durch das Saure usw. Obwohl von den öffentlichen Angelegenheiten sich fernhaltend, übte Anaxagoras lange Zeit durch seine würdige Persönlichkeit und seine Weisheit auf die aufgeklärten Kreise großen Einfluß; unter anderen auch auf den berühmten Trauerspieldichter Eurípides, der an ihn gedacht haben wird, wenn er die Glückseligkeit desjenigen preist, der rein der Forschung im Hinblick auf die ewigen Gesetze des Weltalls lebt.
Anaxagoras’ Lehre von den unendlich vielen Urbestandteilen des Seienden leitet uns über zu dem Denken des Mannes, der den Abschluß dieser ersten, wesentlich naturphilosophischen Periode des griechischen Denkens bildet, aber auch schon in neue Bahnen weist.
3. Demokrit
Demokrit, schon ein Zeitgenosse von Sokrates (465 bis 370), stammte aus der griechischen Schildbürgerstadt Abdçra an der Küste Thraziens, die uns durch Wielands Roman »Die Abderiten« vertraut geworden ist. Nach langen Forschungsreisen heimgekehrt, erreichte er dort in stillem Forscherleben ein hohes Alter.
Das eigentliche Kernstück seiner Philosophie ist seine Lehre von den Atomen. Die ganze Welt besteht aus unzähligen kleinsten, weiter nicht mehr teilbaren ( atomos, d. i. unteilbar) Körperchen, verschieden nur an Lage, Gestalt und Größe. Indem sie sich durch den leeren Raum bewegten, senkten sich die schwereren der Mitte zu; aus ihnen entstand unsere Erde. Aus den emporsteigenden leichteren Himmel, Luft und die durch ihre schnelle Bewegung glühend gewordenen Gestirne. Am feinsten und glattesten, rund und gleich denen des Feuers sind diejenigen Atome, welche die Seele zusammensetzen und durch den ganzen Körper verteilt sind. Aus der Welt der Atome ist jeder Zufall und jede etwa hinter derselben stehende bewußt zweckmäßig handelnde göttliche Kraft, wie Anaxagoras’ »Nus«, ausgeschlossen.
So scheint Demokrits Lehre dem ersten Blick grob materialistisch zu sein. Und doch ist sie im letzten Grunde, wie alle echte Wissenschaft, »idealistisch«, das heißt auf den Gedanken gegründet. Sind doch die Atome sinnlich nicht mehr wahrnehmbar; und selbst wenn es gelänge, einen noch so kleinen Teil durch das Mikroskop zu beobachten, könnte man doch in Gedanken das Teilen ins Unendliche fortsetzen. Überdies nimmt Demokrit neben den Atomen ein »Leeres« an, von dem er behauptet, daß es »in Wahrheit« ebenso existiere wie die Materie. So denkt er – soviel wir wissen, in der Naturwissenschaft zum ersten Male – ein Sein ohne Stoff, weil es notwendig ist, um die Vielheit und die Bewegung zu erklären. Auch stellt er über die Sinneswahrnehmung, die nur das gewöhnliche »Sein« der herrschenden Meinung, zum Beispiel Süß und Sauer, Warm und Kalt, Weiß und Schwarz, das heißt alles nur »im Verhältnis zu einem anderen« (wir sagen heute dafür: relativ oder subjektiv) zu erfassen vermag, die »echte« oder »vollbürtige« Erkenntnis, das heißt das begriffliche Denken. Der Stoff oder die Materie, aus der seine Atome bestehen, ist eben auch nur ein Hilfsbegriff, eine »Hypothese« (Voraussetzung), um die äußere Natur, die Welt der Erscheinungen zu erklären.
Und noch etwas anderes können wir aus der Betrachtung des Weisen von Abdera lernen, was man häufig seitens der Kirchlichen bestreitet: daß naturwissenschaftlicher »Materialismus« und streng mechanische Weltansicht verbunden sein können mit hohem sittlichem Idealismus. Ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß aus Demokrits Ethik mehr als zweihundert Fragmente, meist allerdings nur kurze Sinnsprüche, erhalten sind. Sie gehen zwar von Lust und Unlust als nächsten Beweggrund menschlichen Handelns aus, betrachten jedoch als Endziel die »Wohlgemutheit« und Unerschütterlichkeit der Seele. Die sinnlichen Triebe sollen sich beugen unter die Herrschaft von Norm und Gesetz, wie das sturmbewegte Meer zur Windstille besänftigt wird. Wir setzen aus der reichen Fülle dieser Sprüche, die sich auf alle Gebiete des Menschenlebens beziehen, einige besonders bezeichnende hierher: »Glückseligkeit und Elend liegen in der Seele. – Gut ist nicht das Nicht-Unrechttun, sondern das nicht einmal Unrechttun- Wollen. – Den herrenlosen Schmerz der im Krampf erstarrten Seele banne durch Vernunft. – Dem freien Mann ist Freimut eigen, schwierig jedoch die Wahl des richtigen Augenblicks. – Den frischen Tag beginne mit frischen Gedanken. – Die Bildung ist für Glückliche eine Zierde, für Unglückliche eine Zufluchtsstätte. – Unvernünftig ist es, sich in das Unvermeidliche nicht zu fügen. – Mannesmut macht das Unheil gering.« In der Tat, wenn das scholastische Mittelalter ihn den »lachenden«, wie den pessimistischen Heraklit den »weinenden«, Philosophen genannt hat, so trifft das zu nur auf die Gelassenheit, mit der er dies Treiben der Welt ansah, und die von keiner Todesfurcht oder Unsterblichkeitshoffnung gestört war. »Einige, die von der Auflösung der sterblichen Natur nichts wissen, der Übeltaten aber in ihrem Leben sich bewußt sind,« so sagt er einmal, »bringen ihre ganze Lebenszeit in Verwirrung und Ängsten zu, indem sie sich lügenhafte Märchen über das Leben nach dem Tode vorspiegeln.« Und der Vielgereiste fühlte sich als Weltbürger: »Dem Weisen steht jedes Land offen, denn die Heimat einer edlen Seele ist die ganze Welt.«
Von Demokrits übrigen zahlreichen Schriften ist leider so gut wie nichts erhalten. Im ganzen zeigte sich die Zeit für sein Prinzip mechanischer Naturerklärung noch nicht reif. Zudem wurde die Philosophie durch seinen Zeitgenossen Sokrates und dessen Nachfolger auf andere Fragen hingelenkt. So geriet er allzufrüh in unverdiente Vergessenheit, aus der ihn erst nach zwei Jahrtausenden die Naturwissenschaft der Neuzeit wieder ans Licht gezogen hat. Heute »erklären wir die Gesetze des Schalles, des Lichtes, der Wärme, die chemischen und physikalischen Veränderungen in weitestem Umfang aus der Atomistik« (F. U. Lange, Geschichte des Materialismus, 1. Band, Seite 15).
Mit Demokrit schließt die vorzugsweise naturphilosophische Epoche griechischen Philosophierens. In der Tat hatte man damit auch alle damals denkbaren Standpunkte philosophischer Naturbetrachtung erschöpft. Wer sie alle emsig durchdacht hatte, mußte schließlich, wie der platonische Sokrates im »Phädo« oder wie »Faust« zu Anfang seines ersten Monologs, zum Zweifel an allen und damit auch zum Zweifel an einer allgemeingültigen Wahrheit überhaupt kommen. Inzwischen hatte sich auch bereits eine geistige Bewegung gebildet, die diese Zweifel in sich aufnahm und weiterbildete. Damit werden wir jedoch auf einen anderen Boden versetzt, den der Stadt Athen.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Natürlich hatten sich auch schon die Naturphilosophen mit anderen Gegenständen als dem »Kosmos«, der äußeren Natur, beschäftigt. Thales selbst wird als einer der Sieben Weisen bezeichnet, deren jeder der griechischen Geistesart durch einen Sinnspruch Ausdruck gegeben haben soll; Thales durch das Wort, das auch über dem Eingang zu der berühmten Weissagestätte in Mittelgriechenland, dem delphischen Orakel, stand: »Erkenne dich selbst!« Von mehreren von uns genannten der vorsokratischen Denker wird überliefert, daß sie auch Gesetzgeber ihrer Staaten gewesen seien. Mindestens von Pythagoras und Heraklit ist starkes politisches Interesse bezeugt. Gleichwohl treten erst um die Mitte des fünften Jahrhunderts die öffentlichen Angelegenheiten und, statt der äußeren Natur, das Studium des Menschen mit seinem Wahrnehmen und Denken, seinem Wollen und Begehren, seinem öffentlichen und privaten Handeln in den Brennpunkt des philosophischen Denkens. Um das zu verstehen, müssen wir wenigstens einen ganz kurzen Blick auf die wirtschaftlich-politische Entwicklung der alten Griechen werfen.
Die etwa im zehnten Jahrhundert entstandenen berühmten homerischen Heldensagen, die Ilias (Erzählung von den Kämpfen um das kleinasiatische Troja oder Ilion) und die Odyssee (von den Irrfahrten des klugen Helden Odysseus), sind noch ganz vom »Herren«standpunkt aus gesehen. Ähnlich wie in unserem mittelalterlichen Nibelungenlied erscheint »das Volk« noch als ganz bedeutungsloser Zuschauer der Handlung, höchstens als Knechte, die sich für ihren Herrn zu opfern haben. Anders schon das Bauerngedicht »Werke und Tage« des Böotiers Hesiód, der uns zeigt, wie schon damals der arbeitende Landmann durch den reichen Besitzenden ausgebeutet wurde. Und so zeigen die im Schulunterricht gewöhnlich nur kurz gestreiften Jahrhunderte von den Perserkriegen eine fast ununterbrochene Kette von Klassenkämpfen: so in Attika, über das wir am genauesten unterrichtet sind, zwischen den Großgrundbesitzern der Ebene, den Kleinbauern des Gebirges und den Gewerbetreibenden in Stadt und Hafen. Solons politische Reform, die eine Art Vierklassenwahlrecht und eine bedeutsame wirtschaftliche Erleichterung der Ausgebeuteten schafft, hilft nur vorübergehend. Zeitweise tritt ein Alleinherrscher (Pisistratus) an der Spitze der niederen Klassen auf. Dann erfolgt – zum erstenmal 510 – eine Demokratisierung, die jedoch erst ein Menschenalter später, nach der glücklichen Vertreibung der Perser vom heimatlichen Boden, breitere Formen annimmt. Unter der Leitung seines berühmten Staatsmannes Perikles übernimmt dann Athen ein weiteres Menschenalter (etwa 460 bis 430) hindurch die Führung Griechenlands nicht bloß in politischer und wirtschaftlicher, sondern auch in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung, als die »Bildungsschule« von Hellas, wie der Geschichtschreiber Thukydides den großen Staatsmann der Epoche sagen läßt. Wer in diesem demokratischen Staatswesen zu Macht und Einfluß gelangen wollte, mußte in allen Sätteln gerecht und vor allem redegewandt sein. Das überzeugende oder überredende Wort war es, das in der Volksversammlung, im Rat, vor den Volksrichtern den Sieg errang. Diesem Bedürfnis kamen die Sophisten entgegen.
Der Name »Sophist« bedeutet ursprünglich den Meister in irgendeiner Kunst, besonders im Wissen, ungefähr wie unser heutiges Wort »Gelehrter«. Jetzt wurde es aber besonders von denen gebraucht, die, von Stadt zu Stadt wandernd und – was dem griechischen Vollbürger auffiel – gegen Bezahlung öffentliche und private Vorträge hielten, in denen sie allgemeine Kenntnisse verbreiteten, insbesondere aber die gebildete Jugend – heute würde man sagen: die Studenten – zum »richtigen Denken, Sprechen und Handeln in öffentlichen und Privatangelegenheiten« erziehen wollten. Der tadelnde Nebensinn, den wir heute mit den Bezeichnungen »Sophist« und »sophistisch« verbinden, rührt daher, daß wir sie fast nur aus der ungünstigen Beleuchtung durch ihre philosophischen Gegner Sokrates, Plato und Aristoteles oder aus ihrer Karikatur in den Komödien des witzig-geistreichen Aristóphanes kennen, und zweitens von der Tatsache, daß eine Reihe von ihnen, namentlich später, mehr auf glänzende Rhetorik und gewandte Disputierkunst als auf ernste Erforschung der Wahrheit sahen (siehe weiter unten).
Namentlich die Älteren unter ihnen erfreuten sich als kluge Männer und populäre Verbreiter von Bildung und Aufklärung bei der Mehrzahl der Gebildeten hohen Ansehens. So zunächst der Älteste von ihnen, Demokrits Landsmann,
Protágoras (480 bis 415 oder 411),
dessen Namen einer von Platos Dialogen trägt. Sein Hauptsatz lautet: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.« Jede Vorstellung besitzt eine relative Wahrheit, das heißt für den jedesmal Wahrnehmenden unter den Bedingungen seines Wahrnehmens; dem Kranken zum Beispiel erscheinen bestimmte Dinge anders als dem Gesunden. Infolgedessen tut der Mensch am besten, sich von den unfruchtbaren theoretischen Spekulationen ab-und den praktischen Aufgaben des Lebens zuzuwenden, um durch kluge Voraussicht und Erwägung der Folgen Beherrschung der Naturkräfte und der menschlichen, namentlich der politischen Verhältnisse zu lernen. In der Politik denkt Protagoras ziemlich konservativ; Recht und Sitte erscheinen ihm als die unentbehrlichen Stützen der Gesellschaft. Recht advokatenhaft klingt sein Ausspruch: die Kunst der Rede vermöge »auch die schwächere Sache zur stärkeren zu machen«. In betreff der Götter bekannte er, »nicht zu wissen, ob sie existieren oder nicht«. Vielleicht dieser freimütigen Äußerung oder seiner Gleichgültigkeit gegen die Verehrung der Volksgötter hatte er seine Verurteilung wegen »Gottlosigkeit« zu verdanken; seine Schriften wurden öffentlich verbrannt.
Protagoras hatte sogar die Gültigkeit der Mathematik angezweifelt, weil er die reinen Linien, Kurven usw. in der »Wirklichkeit« vermißte. Noch weiter in solcher Anzweiflung aller Wissenschaft ging
Gorgias (480 bis 380)
aus der sizilischen Stadt Leontinoi, und von dieser 427 in politischer Mission nach Athen gesandt, wo seine glänzende Beredsamkeit große Triumphe feierte. Wie Protagoras jede Meinung für berechtigt erklärte, so Gorgias eine jede für falsch. Es klingt allerdings beinahe wie ein schlechter Witz oder ein bloßes rhetorisches Kunststück, wenn er folgende drei Sätze aufstellte: 1. Es existiert nichts. 2. Wenn aber auch etwas existierte, so wäre es doch für den Menschen unfaßbar. Und 3. selbst wenn es faßbar wäre, so wäre es doch unaussprechlich und unmitteilbar. Ein solcher vollendeter Skeptizismus (Zweifel) schlägt sich selbst ins Gesicht. Von den
späteren Sophisten
wagte Pródikos von der Insel Keos schon die Entstehung der Religion in sehr aufklärerischer Weise dahin zu erklären: die Menschen der Vorzeit hätten alles vergöttert, was ihnen Nutzen brachte, zum Beispiel das Wasser als Poseidon, das Brot als Demeter, das Feuer als Hephästus usw. Bekannt ist bis heute seine moralische Fabel von »Herakles am Scheidewege«.
Der radikale politische Individualismus, der in dem demokratischen Athen herrschte, und von dessen nachteiligen sozialen Folgen bei Plato noch die Rede sein wird, zog auch theoretisch schon damals weitgehende Folgerungen. So setzte der vielseitige Polyhistor (Vielwisser) Hippias von Elis den vergänglichen Menschensatzungen das, was von Natur ewig und unveränderlich gelte, entgegen und stellte den an heutige anarchistisch-kommunistische Theorien anklingenden Satz auf: das Gesetz sei der Tyrann der Menschen und treibe sie durch seinen Zwang zu vielen naturwidrigen Handlungen an. Daraus zogen dann andere noch radikalere Schlüsse. So führt der Sophist Kallikles in Platos »Gorgias’«, ganz ähnlich wie neuerdings Nietzsche, aus: der Starke sei am glücklichsten, weil er sich am besten auszuleben vermöge, und dies könne er nur durch Verachtung von Recht und Gesetze, die ja größtenteils nur im Interesse der Masse der Schwachen aufgestellt seien. Und Kritias, der Gewalttätigste unter den »dreißig Tyrannen« nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, behauptete: ein kluger Staatsmann habe den Glauben an die Götter erfunden, um das Volk durch Furcht vor göttlichen Strafen unterwürfiger zu machen. Andere stellten im Gegenteil für die damalige Zeit revolutionäre Freiheitsforderungen. So verlangte Lykophron im Namen des gleichen Rechts für alle Aufhebung aller Vorrechte der Geburt, ja Alkidamas und andere – was selbst ein Plato und Aristoteles nicht gewagt haben – Abschaffung der Sklaverei; denn »die Gottheit hat alle frei erschaffen, die Natur niemanden zum Sklaven gemacht«. Phaleas von Chalkçdon endlich ist, wenn wir von dem ungefähr gleichzeitig lebenden Plato absehen, der erste griechische Sozialist gewesen, der Gleichheit des Besitzes, der Erziehung und Gemeinwirtschaft für alle – freien Bürger forderte, und Aristophanes’ satirisches Lustspiel »Die Weibervolksversammlung« (392) beweist, daß die von ihm verspotteten Gedanken der Güter-und Frauengemeinschaft schon vor Platos Republik ihre Anhänger gehabt haben müssen.
Bei anderen Sophisten führte diese radikale Anzweiflung aller bisher geltenden Wahrheiten (wie schon bei Gorgias) zu leerer Wortstreiterei, oder zu absichtlich ersonnenen Fang-und Trugschlüssen