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Geschichte der Philosophie
Karl Vorländer
Inhalt:
Karl Vorländer – Biografie und Bibliografie
Geschichte der Philosophie
Vorwort zur 1. Auflage.
Aus dem Vorwort zur 2. Auflage.
Vorwort zur 3. Auflage.
Zur fünften Auflage.
Einleitung.
1. Philosophie. Ihr Name und Begriff.
2. Die Geschichte der Philosophie. Ihre Methode, Quellen und Hilfsmittel. Einteilung des Stoffes.
3. Verhältnis der orientalischen Völker zur Philosophie.
4. Selbständigkeit der griechischen Philosophie. Quellen und Hilfsmittel zu ihrer Geschichte.
Die Philosophie des Altertums
Erste Periode. Vorsokratische Philosophie.
Kapitel I. Anfänge der Reflexion über den Kosmos.
Kapitel II. Anfänge der Reflexion über das Denken vom Kosmos. Sein und Werden (die Eleaten und Heraklit).
Kapitel III. Die jüngeren Naturphilosophen: Empedokles, Anaxagoras u. a.
Kapitel IV.
Zweite Periode. Sokrates und die Sophisten.
Kapitel V. Die sophistische Aufklärung.
Kapitel VI. Sokrates.
Kapitel VII. Die sokratischen Schulen.
Dritte Periode. Die klassische Philosophie der Griechen: Plato und Aristoteles.
Kapitel VIII. Plato.
Kapitel IX. Aristoteles.
Vierte Periode. Die hellenistisch-römische Philosophie.
A. Hellenistische Periode.
Kapitel X. Die Stoiker.
Kapitel XI. Die Epikureer.
Kapitel XII. Die Skeptiker.
B. Die Philosophie auf dem Boden des römischen Weltreichs.
Kapitel XIII. Die Philosophie bei den Römern.
Kapitel XIV. Vorläufer des Neuplatonismus.
Kapitel XV. Die Neuplatoniker.
Die Philosophie des Mittelalters.
Erster Abschnitt. Die Philosophie der Kirchenväter (Patristik).
Kapitel I. Ältere Patristik.
Kapitel II. Jüngere Patristik
Zweiter Abschnitt. Die Scholastik.
Kapitel III. Die Anfänge der Scholastik.
Kapitel IV. Die Glanzzeit der Scholastik.
Kapitel V. Ausgang der Scholastik. Zunehmender Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen.
Blüte der deutschen Mystik.
Die Philosophie der Neuzeit
Übergangsperiode.
Kapitel I. Die Philosophie der Renaissance.
Kapitel II. Die Begründung der modernen Naturwissenschaft.
Erste Periode. Die Zeit der grossen Systeme.
Kapitel I. Descartes (1596-1650).
Kapitel II. Thomas Hobbes (1588-1679).
Kapitel III. Spinoza (1632-1677).
Kapitel IV. Leibniz (1646-1716).
Zweite Periode. Die Philosophie der Aufklärung.
A. England und Schottland.
Kapitel V. Locke (1632-1704).
Kapitel VI. Weitere Entwicklung der Aufklärungsphilosophie in England.
B. In Frankreich.
Kapitel VII. Die französische Aufklärungsphilosophie von Bayle bis Rousseau.
C. In Deutschland.
Kapitel VIII. Die deutsche Aufklärungsphilosophie.
Dritte Periode. Die Neubegründung der Philosophie durch Immanuel Kant
Kapitel IX. Einleitung.
Kapitel X. Kants Neubegründung der Wissenschaft. (Kritik der reinen Vernunft.)
A. Die konstitutiven Prinzipien der Erfahrung.
Kapitel XI. B. Die regulativen Prinzipien der Erfahrung oder die Ideen.
Kapitel XII. Kants Neubegründung der Ethik.
Kapitel XIII. Die Begründung der Ästhetik.
Vierte Periode. Die Systeme der nachkantischen Philosophie von Fichte bis Schopenhauer. (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts.)
Kapitel XIV. Einleitung: Von Kant zu Fichte.
Kapitel XV. Fichte.
Kapitel XVI. Schelling.
Kapitel XVII. Hegel.
Kapitel XVIII. Kritische Nebenströmungen. Schleiermacher, Herbart, Beneke.
Kapitel XIX. Schopenhauer.
Fünfte Periode. Die Philosophie der Gegenwart.
Kapitel XX. Der Positivismus.
Kapitel XXI. Materialismus und Spiritualismus.
Kapitel XXII. Die moderne Entwicklungsphilosophie: Darwin, Spencer.
Kapitel XXIII. Idealistische Systembildungen auf naturwissenschaftlicher Grundlage.
Philosoph, Sohn des Philosophen Franz Vorländer, geboren am 2. Januar 1860 in Marburg, verstorben am 6. Dezember 1928 in Münster. Studierte in Marburg und in Berlin besonders Philosophie, deutsche Literatur und Geschichte und wirkte als Professor am Reformgymnasium in Solingen. Er schrieb. »Der Formalismus der Kantischen Ethik in seiner Notwendigkeit und Fruchtbarkeit« (Marb. 1893); »Kant und der Sozialismus« (Berl. 1900); »Die neukantische Bewegung im Sozialismus« (in den »Kantstudien«, Bd. 7, 1902); »Marx und Kant« (Vortrag, Wien 1904); »Geschichte der Philosophie« (in der »Philosophischen Bibliothek«, 2. Aufl., Leipz. 1908, 2 Bde.); »Kant, Schiller, Goethe. Gesammelte Aufsätze« (das. 1907) u. a. Außerdem hat er die meisten Schriften Kants mit Einleitungen und ausführlichen Sachregistern (Halle 1899–1906) herausgegeben. V. ist zu den Neukantianern zu zählen (s. Neukantianismus) und bringt den Sozialismus mit Kant in Verbindung, indem er meint, die Kantische Ethik eigne sich am besten zur Grundlage für die sozialistische Weltanschauung, die eine Gemeinschaftsethik zur Absicht habe.
Es mangelt heute keineswegs an philosophiehistorischen Werken; wer daher mit einer neuen Geschichte der Philosophie auf den Plan tritt, muß einen besonderen Grund dafür haben. Das vorliegende Buch glaubt nun in der Tat einem vorhandenen Bedürfnis entgegenzukommen; es will die Lücke ausfüllen, die gegenwärtig zwischen den großen Werken von Überweg-Heinze, J. E. Erdmann, Eduard Zeller, Kuno Fischer auf der einen, den kleineren Kompendien und Abrissen von Schwegler, Kirchner e tutti quanti auf der anderen Seite klafft. Gerade der vielgebrauchte Schwegler, der seinerzeit eine respektable Leistung darstellte und seine praktische Brauchbarkeit durch die zahlreichen, ihm zuteil gewordenen Auflagen bewiesen hat, ist heute, 45 Jahre nach dem Tode seines Verfassers, gänzlich veraltet: woran auch die verhältnismäßig geringfügigen Ergänzungen Sterns wenig geändert haben. Er, der von den Fachmännern nur mit einem gewissen verächtlichen Lächeln genannt zu werden pflegt, sollte allmählich aus dem Bücherfach unserer Studenten und sonstigen Liebhaber der Philosophie verschwinden. Ein Werk von mittlerem Umfange wie das unsere, welches die ganze Geschichte der Philosophie zusammenfassend darstellte, existiert unseres Wissens bisher noch nicht. Denn die verdienstlichen Grundrisse von E. Zeller und R. Falckenberg schildern nur einzelne Teile der philosophischen Gesamtentwicklung, die vortreffliche Geschichte der Philosophie von Windelband aber ist kein Lehrbuch im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern eine Geschichte der philosophischen Probleme und Begriffe.
Als ich vor nahezu fünf Jahren dies Buch begann, war freilich ein beträchtlich kleinerer Umfang beabsichtigt, aus den damals geplanten 400 Seiten ist ungefähr das Doppelte geworden. Aber je mehr ich in der Arbeit vordrang, desto weniger genügte mir eine bloß summarische Behandlung des Stoffes. Die griechische Philosophie, die bereits sämtliche philosophischen Grundbegriffe und Probleme, nur in vereinfachter Gestalt, behandelt und daher für den Anfänger stets die beste Einleitung in die Philosophie bilden wird, durfte nicht knapper, als geschehen, behandelt werden. Aber auch die Philosophie des Mittelalters, die ich anfangs, wie es ja auch die meisten nichtkatholischen Universitätslehrer in ihren Vorlesungen tun, ganz zu übergehen vorhatte, enthält so viele interessante philosophische Gedanken, daß ich auch ihr einen kürzeren Abschnitt meines Buches (80 Seiten) gewidmet habe. Weshalb ich endlich auch die Philosophie der Gegenwart (1840-1900) einer eingehenderen Darstellung unterziehen zu müssen glaubte, ist Bd. II, 403 des näheren auseinandergesetzt.
Da ich mir als Leser vor allem Studierende und solche Gebildete denke, die sich einem ernsteren Studium der Philosophie widmen wollen, war ich bestrebt, eine wenn auch nicht leichte, so doch klare, jedem Gebildeten verständliche Sprache zu gebrauchen. Hie und da mag sie freilich, da ich das Buch nicht noch stärker – über zwei Bände hinaus – anschwellen lassen wollte, etwas zu knapp und gedrängt erscheinen. Daß ich meinen zahlreichen Vorgängern auf dem Gebiete der Geschichtschreibung der Philosophie, wie auch den Einzelforschungen und Einzeldarstellungen, die ich am Eingang der betreffenden Paragraphen zitiert habe, vieles verdanke, brauche ich kaum erst zu versichern. Dennoch trägt mein Buch, denke ich, seine eigene Färbung. Zwar habe ich – schon um des didaktischen Zweckes willen, den es in erster Linie verfolgt – möglichste Objektivität erstrebt und diese hinsichtlich der Darstellung der Tatsachen hoffentlich auch annähernd erreicht. Es war mir darum zu tun, ein Buch zu liefern, das durchaus wissenschaftlichen Charakter trüge. Allein eine vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist von dem Historiker, und erst recht von dem der Philosophie, nicht zu erreichen, auch nicht einmal zu wünschen; denn sie würde zu schwächlicher Farblosigkeit, gänzliche Enthaltung vom eigenen (wenn auch nur immanenten) Urteil zur Urteilslosigkeit führen. Daß überall die neuesten gelehrten Forschungen nach Möglichkeit berücksichtigt sind, werden die Fachleute, so hoffe ich, anerkennen.
Mit den Literaturangaben meine ich das richtige Maß innegehalten zu haben. Die chronologische Tabelle der Hauptwerke der neueren Philosophie am Schlüsse des zweiten Bandes wird hoffentlich den Beifall der Leser finden; ebenso die Spaltung des Registers in ein Verzeichnis 1. der Philosophen, 2. der Literatoren. Zu den letzteren sind alle, zu den ersteren mit Absicht nur die, wichtigsten Belegstellen angeführt. Einem Wunsche des Verlags entsprechend, hat die am 1. Januar 1903 in allen Ländern deutscher Zunge zur Einführung gelangende neue deutsche Rechtschreibung bereits Anwendung gefunden.
Schließlich bleibt mir noch die angenehme Pflicht, meinen Freunden, den Herren Professor P. Natorp in Marburg und Professor F. Staudinger in Darmstadt für manchen freundlichen Rat, sowie dem letzteren und den Herren Dr. O. A. Ellissen in Einbeck und Dr. W. Jesinghaus hier für ihre bereitwillige Hilfe bei der Korrektur und Herrn Verlagsbuchhändler Joh. Friedr. Dürr für sein stetes, liebenswürdiges Eingehen auf meine Wünsche meinen aufrichtigsten Dank auszusprechen.
Solingen, im August 1902.
Karl Vorländer.
An der Gesamtanlage des Buches habe ich nichts zu ändern gefunden. Denn daß die Periode des Überganges von der mittelalterlichen zur neueren Philosophie jetzt ihren Platz in Band I bekommen hat, hat seinen Grund lediglich in dem Mißverhältnis des äußeren Umfanges der beiden Bände, von denen sonst der zweite noch einmal so stark geworden wäre wie der erste. Sollte nicht eine Dreiteilung stattfinden, von der der Verlag absehen zu sollen glaubte, so blieb kein anderer Ausweg übrig. Aber auch der innere Charakter des Werkes konnte unverändert bleiben...
Daß ich Plato mit größerer Liebe als Aristoteles, Kant eingehender als Schelling oder Hegel behandelt, daß ich Hermann Cohen beinahe ebensoviel Seiten wie Wilhelm Wundt gewidmet habe, liegt an meiner philosophischen Auffassung, deren sich eben, bei allem Streben nach Objektivität, kein Philosophiehistoriker entschlagen kann und – soll. Geschwankt habe ich dagegen, ob ich, einem, von mehreren Seiten geäußerten Wunsche folgend, das letzte Kapitel oder wenigstens den letzten Paragraphen des zweiten Bandes (»Sonstige philosophische Erscheinungen der Gegenwart«) streichen sollte. Auch ich empfinde es als einen Schönheitsfehler, daß die zusammenhängende Darstellung hier gegen Schluß durch eine große Reihe von Gelehrtennamen und Büchertiteln unterbrochen wird. Aber, da von anderer Seite gerade Wert auf eine solche Übersicht gelegt wurde und jener Schönheitsfehler sehr leicht durch das Überspringen der betreffenden Seiten von dem Leser beseitigt werden kann, so habe ich schließlich von der Streichung dieses – natürlich auch von mir nur als Nachschlageparagraphen gedachten – Abschnittes doch abgesehen...
Solingen, Ende November 1907.
K. V.
Rascher, als ich gedacht, ist eine neue Auflage des Buches notwendig geworden. Dies und der Umstand, daß es auch ins Russische, Finnische und Spanische teils übersetzt worden ist, teils noch übersetzt wird, läßt mich hoffen, daß ich mit der Anlage des Ganzen das Richtige getroffen. Ich habe mich daher, wie schon bei der zweiten Auflage, auf Verbesserungen, namentlich Ergänzungen, im einzelnen beschränkt, die diesmal auch dem ersten Teile in weiterem Maßstabe zugute gekommen sind. So hat z.B. die Darstellung der indischen Philosophie (S. 12 f.) und des Neuplatonismus (Philo, Plotin, Proklus) eine, wenn auch nur beschränkte, Umgestaltung erfahren, während im 2. Bande neue Richtungen der Gegenwart, wie der Pragmatismus, neu, andere (z.B. der Vitalismus und E. Mach) stärker berücksichtigt wurden. Aber auch sonst ist kaum ein Paragraph ohne Verbesserungen geblieben, insbesondere auch die neu hinzugekommene Literatur, soweit sie von Wichtigkeit schien, sorgfältig nachgetragen worden. Von der von geschätzter Seite vorgeschlagenen Einführung eines gemeinsamen Registers für beide Bände habe ich Abstand genommen, weil die Bände auch einzeln verkauft werden. Dagegen wurden die Register selbst ausführlicher gestaltet.
Solingen, im August 1910.
Karl Vorländer.
Was Philosophie ist, kann man nur durch eigenes Philosophieren und im Laufe desselben lernen. Wir vermeiden es daher absichtlich, uns gleich zu Anfang dieser Philosophiegeschichte in tiefergehende Auseinandersetzungen über Begriff und Wesen der Philosophie ein zulassen, sondern beschränken uns darauf, eine gedrängte Skizze ihrer Namensgeschichte zu geben, um daran einige Bemerkungen über unsere eigene Auffassung zu schließen.
Der Ausdruck philosophein wird zuerst von Herodot (I, 30) gebraucht, und zwar in seinem ursprünglichen Wortsinne der Liebe zur Weisheit, des Bildungsstrebens; ähnlich in der Grabrede des Perikles (Thukyd. II, 40). Neben dieser allgemeineren erhält das Wort seine engere Bedeutung als Fachausdruck für die Wissenschaft »vom Seienden« erst bei Plato und Aristoteles.1 Es bezeichnet bei diesen Klassikern der antiken Philosophie fast genau das, was wir heute unter »Wissenschaft« verstehen, und wird deshalb auch in der Mehrzahl (philosophiai) gebraucht. Aristoteles insbesondere unterscheidet bestimmter seine »erste« Philosophie, welche die ersten Gründe und Prinzipien alles Seienden erforscht, von den übrigen Philosophien oder Wissenschaftszweigen, desgleichen von den vorhergegangenen Denkrichtungen, die ebenfalls philosophiai heißen. Entsprechend der weiteren Entwicklung der Philosophie selbst, fällt dann ihr Begriff bei den nacharistotelischen Schulen der Stoiker und Epikureer wesentlich mit dem Streben nach vernunftgemäßer Glückseligkeit zusammen: die »Weisheitsliebe« wird zur Lebenskunst, während die Einzelwissenschaften, allmählich erstarkt, unter besonderen Namen sich von der gemeinsamen Stammmutter loszulösen beginnen. In ihrer letzten Periode endlich tritt, die antike Philosophie in enge Verbindung mit der religiösen Spekulation.
Die Begriffsbestimmungen des späteren Altertums erleiden zwar im christlichen Mittelalter keine wesentliche Veränderung, aber die Philosophie ist zur dienenden Magd der Theologie geworden, deren von vornherein feststehende Dogmen sie mit den Mitteln der menschlichen Vernunft rechtfertigen, begründen, im besten Falle weiter ausgestalten soll. Mit dem Wiedererwachen der Wissenschaften im Zeitalter der Renaissance wirft die Philosophie das kirchliche Joch ab, betrachtet als ihre einzige Quelle das »natürliche Licht« der Vernunft und wird wieder zu dem, was sie im klassischen Altertum gewesen war: einer auf vernunftmäßiger Begründung ruhenden Welterkenntnis und Lebensanschauung. Im Gegensatz zum kirchlichen Dogma wird sie so zur »Weltweisheit«, wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte, Ihr Wissenschaftscharakter tritt natürlich bei den verschiedenen Systemen in verschieden starkem Grade hervor, am entschiedensten bei Kant.
Wie aus der vorangegangenen Skizze klar geworden sein wird, ist »Philosophie« schon im Altertum in einem engeren und in einem weiteren Sinne – Kant würde sagen: nach ihrem Schulbegriff und nach ihrem Weltbegriff2 – gebraucht worden. Dem schließt auch die folgende Begriffsbestimmung sich an. Philosophie im engeren Sinne, genauer Philosophie als Wissenschaft, sucht die Vereinheitlichung der Erkenntnis, welche die Einzelwissenschaften auf ihren Teilgebieten erstreben, auf dem Gesamtgebiet menschlichen Erkennens überhaupt zu erreichen, indem sie dessen Grundsätze und Grundbegriffe festzustellen und in systematischen Zusammenhang miteinander zu bringen sucht. Am kürzesten könnte man deshalb Philosophie in diesem Sinne vielleicht als Prinzipienlehre der Wissenschaften bezeichnen. Alle Wissenschaften haben das Bestreben, ihre letzten Grundlagen philosophisch nachzuweisen. Wir unterscheiden heute nicht mehr bloß die älteren philosophischen Lehrfächer der Logik (Erkenntnistheorie), Psychologie, Ethik und Ästhetik, sondern reden auch von einer Rechts-, Geschichts-, Natur-, Sprach-, Religions-, Sozialphilosophie, ja sogar von einer Philosophie der Mathematik und der Technik.
Neben dieser Philosophie im engeren, erkenntniskritischen Sinne, welche die Einzelwissenschaften oder Kulturgüter (wie Moral, Religion, Kunst, soziales Leben) zum Gegenstande ihres erkenntniskritischen Verfahrens macht, steht nun aber noch die Philosophie »nach ihrem Weltbegriffe«, die auf Grund der gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnis ein geschlossenes Weltbild zu entwerfen sucht, sonach mit dem Anspruch einer Weltanschauung auftritt. Sie unterscheidet sich von der den gleichen Anspruch erhebenden künstlerischen oder religiösen Weltanschauung durch ihre Gebundenheit an das Vernunftmäßige Denken. In diesem allgemeineren Sinne, den eine Geschichte der Philosophie nicht übersehen darf, weil das philosophische Denken tatsächlich in zahlreichen Fällen diesen Weg eingeschlagen hat, würde Philosophie etwa gleichzusetzen sein mit: vernunftgemäßer Weltbetrachtung.
Erstes Erfordernis aller Geschichtsschreibung ist gewissenhafte Erforschung der Tatsachen nach den Grundsätzen kritisch-historischer Methode, die hier als bekannt vorausgesetzt werden darf. Sind die Tatsachen auf solche Weise sorgfältig ermittelt, so handelt es sich um ihre Verbindung zu einem Ganzen geschichtlicher Darstellung. Eine gewisse Subjektivität ist hierbei unvermeidlich; ohne sie würde ein farb-und blutloses Machwerk entstehen. Insbesondere muß der Verfasser einer Philosophiegeschichte, gerade so wie der Autor einer Geschichte der Mathematik oder der Naturwissenschaften Mathematiker oder Naturforscher sein muß, selbst bis zu einem gewissen Grade Philosoph sein, d. i. zu philosophieren verstehen, denn er hat nicht, wie man es noch vor 100 Jahren verstand, eine philologische Literargeschichte oder eine anekdotenhafte Sammlung merkwürdiger Meinungen zu geben. Wie die Behandlung, so ist auch die Abgrenzung des Stoffes nicht leicht. Das Verhältnis zur Kulturgeschichte, die Entwicklung und die Probleme der positiven Wissenschaften erfordern Berücksichtigung, ferner neben dem systematischen der persönliche (biographische) Faktor.
Die zuverlässigsten Quellen für die Feststellung des Tatsächlichen sind natürlich in erster Linie die Werke der Philosophen selbst. Für die Neuzeit, seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, fließen diese Quellen reichlich genug. Neuere und neueste Entdeckungen und Veröffentlichungen einzelner Schriften und namentlich brieflicher Äußerungen haben zwar manche wertvolle Ergänzungen und Berichtigungen im einzelnen, aber im Verhältnis zur Gesamtmasse des bereits Bekannten doch nicht allzuviel Neues von grundstürzender Bedeutung gebracht. Auch über die christliche Scholastik des Mittelalters sind wir durch die zum größten Teile noch erhaltenen Originalwerke ziemlich zuverlässig unterrichtet. Am ungünstigsten steht es in dieser Beziehung mit der Philosophie des Altertums. Aus ihrer ältesten, der vorsokratischen Periode sind uns leider nur zufällig erhaltene Bruchstücke aufbewahrt, aus der nacharistotelischen Philosophie der Griechen nicht viel mehr. Um so erfreulicher ist die Tatsache, daß wenigstens die Werke ihrer Klassiker, Plato und Aristoteles, fast vollständig erhalten sind, aus der späteren Zeit die Schriften des Lukrez, Cicero, Seneka, Plutarch, Epiktet, der wichtigsten Neuplatoniker und Kirchenväter. Für die fehlenden Teile besitzen wir immerhin eine Art sekundärer Quellen in den, freilich meist erst aus nachchristlicher Zeit stammenden, literarhistorischen Berichten (s. unten S. 14 f.).
Die einzige Sammlung von Hauptwerken der Philosophie, die wir bisher in Deutschland besitzen, bildet die von v. Kirchmann begründete, später in den Verlag von Dürr (jetzt F. Meiner) in Leipzig übergegangene Philosophische Bibliothek. Sie enthält die sämtlichen philosophischen Schriften von Descartes, Plato, Spinoza und Kant; die Hauptwerke von Aristoteles, Bacon, Berkeley, Bruno, Cicero, Comte, Condillac, Eriugena, Fichte, Grotius, Hegel, Hume, Julian, La Mettrie, Leibniz, Lessing, Locke, Macchiavelli, Schelling, Schiller, Schleiermacher, Sextus Empiricus, Shaftesbury, einzelnes von d'Alembert, Fries, Herbart, Lotze, Wolff, – die fremdsprachlichen in deutscher Übersetzung – und wird noch weiter vervollständigt werden, bezw. in zeitgemäßer Neuauflage erscheinen (vgl. unter der Literatur zu den einzelnen Philosophen).
Die Geschichtsschreibung der Philosophie ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft.. Die ältesten historischen Darstellungen, wie die des Engländers Stanley (London 1655) oder des Deutschen Brucker (1731 bis 1737 und 1742 bis 1744), sind heute für uns völlig wertlos. Ein systematisches Interesse für sie erwacht erst nach der großen Erneuerung der Philosophie durch Kant. Indessen sind die Darstellungen aus dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts (von Tiedemann, Buhle, Tennemann, Fries u. a.) jetzt teils veraltet, teils leiden sie, wie namentlich die geistvollen Vorlesungen von Hegel (Bd. XIII – XV der S. W., Berlin 1833-36), unter der Konstruktionssucht ihrer Verfasser. In Frankreich machte sich in den 40er Jahren namentlich Victor Cousin und seine Schule um die Durchforschung der Geschichte der Philosophie verdient. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Gesamtdarstellungen derselben immer häufiger; die Bibliographie in Bd. I, § 4 des gleich zu erwähnenden Werkes von Ueberweg zählt in ihrer neuesten Auflage nicht weniger als 59 seit diesem Zeitraum auf. Wir heben an dieser Stelle nur die wichtigsten hervor:
A). F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie (4 Bände), seit Ueberwegs Tod (1871) fortgeführt und bedeutend erweitert von Prof. M. Heinze-Leipzig, nach dessen Tode (1909) von Praechter, Baumgartner, Frischeisen-Köhler und Oesterreich, jetzt in 10. bezw. 11. Auflage vorliegend; zwar trocken, aber als reichhaltige Stoffsammlung und Nachschlagebuch (mit ausführlicher Bibliographie) für den Fachmann unentbehrlich.
W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 7.Aufl. 1916; mehr eine Geschichte der Probleme, scharf, geistvoll, eigenartig, dem Fortgeschritteneren sehr zu empfehlen.
J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie,2 Bände, 1866 (in 4. Aufl. von Benno Erdmann, 1896), namentlich für das Mittelalter und die Zeit von 1830-1860.
Stöckl, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie(3. Aufl. 1889) einseitig konfessionell (katholisch), ein kürzerer Grundriß desselben, 2. Aufl. hrsg. von Kirstein, Mainz 1911.
Allgemeine Geschichte der Philosophievon Wundt, Oldenberg, Goldziher, H. v. Arnim, Bäumker, Windelband, 1909 (Bd. I, 5 der Teubnerschen Kultur der Gegenwart).
P. Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen,6 Bde., Lpz. 1894-1918. Schopenhauerscher Standpunkt. Besondere Berücksichtigung der indischen Philosophie.
B) Neben diesen Gesamtdarstellungen seien noch einige hervorragende Werke über einzelne philosophische Richtungen oder Disziplinen erwähnt:
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart,1. Aufl. 1866, 8. Aufl. (mit Einleitung und kritischem Nachtrag von H. Cohen) 1908; seit 1905 auch bei Reclam, hrg. von O. A. Ellissen.
Theob. Ziegler, Geschichte der Ethik,2 Bände, 1881, 1886 (nur bis zum 17. Jh.).
H. Siebeck, Geschichte der Psychologie,2 Bände 1880, 1884 (bis Thomas von Aquino).
K. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande,4 Bde., 1855-70 (bis zur Renaissance).
K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis zu Newton,2 Bände, 1889-90.
R. Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie,2 Bde., 1904, 1908.
Ed. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik,2 Bde., 1899f.
Ludw. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie,Stuttgart 1897, 2. Aufl. 1903.
C) Darstellungen in Einzelbildern bieten:
Große Denker,unter Mitwirkung einer Reihe Gelehrter (darunter Hönigswald, Kinkel, R. Lehmann, Medicus, Menzer, Natorp, R. Richter, Windelband) herausg. von E. von Aster, Leipzig 1912.
R. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker,12. Aufl. Leipzig 1918.
Frommanns Klassiker der Philosophie(hrsg. von R. Falckenberg); darin erschienen: Fechner, Hobbes, Kierkegaard, Rousseau, Spencer, Nietzsche, Kant, Aristoteles, Platon, Schopenhauer, Carlyle, Lotze, Wundt, Mill, Goethe, die Stoa, Feuerbach, Lessing, Descartes, Hartmann.
Ganz der philosophiegeschichtlichen Forschung widmet sich das seit 1888 in Berlin erscheinende Archiv für Geschichte der Philosophie (herausg. von L. Stein u. a.); außerdem finden sich zahlreiche Beiträge in den übrigen deutschen und ausländischen Fachzeitschriften. Reichhaltiges Material enthält auch R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 3 Bde. (über 2000 Seiten), 1910; vgl. auch dessen Philosophen-Lexikon, 1912. Seit 1910 gab Arnold Ruge einige Jahre unter dem Titel Die Philosophie der Gegenwart ein Jahrbuch heraus, das die gesamte jährlich erscheinende wissenschaftlich-philosophische Literatur systematisch zusammenstellte.
Was die Einteilung des Stoffes betrifft, folgen wir der Einfachheit halber der alten Einteilung der Weltgeschichte im Altertum, Mittelalter und Neuzeit. Die Philosophie des Altertums teilen wir in vier größere Perioden: I. eine vorzugsweise kosmologische: die vorsokratische Philosophie; II. eine vorherrschend anthropologische : Sophisten, Sokrates, Sokratiker; III. die systematische Periode oder die klassische Philosophie der Griechen: Plato, Aristoteles; IV. die in erster Linie auf das Praktische gerichtete hellenistisch-römische Philosophie, und als deren Anhang: die neuplatonische Theosophie.
Die Hauptabschnitte der christlichen Philosophie des Mittelalters bilden: I. die Patristik oder Philosophie der Kirchenväter; II. die Scholastik und Mystik.
Die Philosophie der Neuzeit endlich zerfällt in; 1. die Philosophie der Übergangszeit (15. und 16. Jahrhundert); II. die Zeit der großen metaphysischen Systeme (17. Jahrhundert); III. die Philosophie der Aufklärung (18. Jahrhundert); IV. die Neubegründung der Philosophie durch Kant; V. die großen nachkantischen Systeme (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts); VI. die Philosophie der Gegenwart (seit etwa 1840).
Ehe wir uns der Geschichte der griechischen Philosophie zuwenden, werfen wir einen kurzen Blick auf die sogenannte »orientalische Philosophie«.
Der beste deutsche Kenner der indischen Philosophie, Paul Deussen, schildert in den drei ersten Bänden seiner Allgemeinen Geschichte der Philosophie (S. 7 f.) die Philosophie der Inder mit eindringender Sachkenntnis; der 3. Band (1908) gibt auch einen knappen Überblick über die buddhistische und chinesisch-japanische Philosophie. Vgl. ferner in dem § 2 erwähnten Sammelwerk Allgemeine Geschichte der Philosophie die Abschnitte von H. Oldenberg (Indien), W. Grube (China), Inouye (Japan). Ferner H. Oldenberg, Buddha, sein Leben, seine Lehre und seine Gemeinde, 5. Aufl. 1906. Ein großes Quellen-Sammelwerk sind die von M. Müller herausgegebenen »Heiligen Bücher des Ostens« (Sacred Books of the East, Oxford, 1879-1904 in 50 Lexikonbänden). – Der Einführung in die chinesische Philosophie dient die Sammlung: ›Die Religion und Philosophie Chinas‹, übersetzt und eingeleitet von Richard Wilhelm, (bis 1914 deutschem Pfarrer in Tsingtau), von denen bis jetzt Kungfutses »Gespräche« und drei taoistische (s. S. 12), bei Diederichs (Jena) erschienen sind.
Die Geschichte der Philosophie ist weder Religions-noch Sittengeschichte, die Philosophie selbst besteht weder in theologischer Spekulation noch in praktischer Sittenlehre. Von einer orientalischen »Philosophie« kann man unter solchen Voraussetzungen nur in bedingtem Sinne reden. Der Hauptgrund aber, weshalb wir mit fast sämtlichen Darstellungen der allgemeinen Geschichte der Philosophie von einem näheren Eingehen Abstand nehmen, ist der, daß sie zu dem gesamten europäischen Denken in zu entfernter Beziehung steht. Die einzige unter ihnen aber, die einen wirklich philosophischen Charakter trägt, die tiefsinnige Spekulation der Inder, ist viel zu umfangreich, um Nichtspezialisten eine auf selbständigem Quellenstudium beruhende Darstellung zu gestatten.
1. Die allerdings zum Teil spekulative Götterlehre der Ägypter kann unmöglich als Philosophie In unserem Sinne gelten, ebensowenig die religiösen Vorstellungen der alten Assyrer und Babylonier. Auch die von Zarathustra (Zoroaster) reformierte altpersische Religion enthält, außer ihrem allgemeinen dualistischen Prinzip eines Reiches des Lichts (des Guten) und der Finsternis (des Bösen), das uns bei den Manichäern (§ 52) wieder begegnen wird, keine Bestandteile philosophischer Art. Ebenso zeigt das Volk der Hebräer wenig philosophische Anlagen.
2. Die sogenannte chinesische Philosophie ist in ihrem Hauptvertreter Kung-tse d.h. Meister Kung (von den Jesuiten latinisiert in Konfuzius, um 500 v. Chr.) wesentlich praktische Sitten- und Staatslehre, die auf bemerkenswerter sittlicher Höhe steht (»Liebet euch untereinander«, »Vergeltet Gutes mit Gutem und Übles mit – Gerechtigkeit«, »Was du nicht willst, daß dir geschehe, das tue anderen nicht«), dagegen einer theoretischen Grundlage fast völlig entbehrt zu haben scheint. Nur einmal wird folgende Stufenleiter aufgestellt: Das Wissen vervollkommnen besteht darin, die Dinge zu untersuchen; ist das Wissen vollkommen, dann erst ist das Denken wahrhaftig; ist das Denken wahrhaftig, dann erst ist das Herz lauter, die Persönlichkeit ausgebildet, das Hauswesen geregelt, das Staatswesen geordnet. Die Kardinaltugenden sind: Menschlichkeit, Rechtlichkeit, Schicklichkeit, Weisheit und Treue, das Grundprinzip das der richtigen Mitte. Besonders stark betont wird das Gebot der Kindespflicht. Für metaphysische Fragen zeigt Kung kein Verständnis; Religion ist ihm gleichbedeutend mit den altüberlieferten Satzungen und Gebräuchen, wie er denn einmal offenherzig von sich selber bekennt: »Ich bin ein Überlieferer, kein Schöpfer.« In alledem ist er der Typus des Chinesen. Daher auch sein bis heute dauernder ungeheurer Einfluß; nicht weniger als 1500 Tempel sind ihm geweiht. (Weiteres s. bei von der Gabelentz, Confucius und seine Lehre, Leipzig 1888.) Die Lehre des »Meister Kung« wurde zwei Jahrhunderte später von Meng-tse (Mencius) weiter gebildet und philosophisch vertieft. Über ihn, dessen Sittensprüche einen adeln Sinn und aufmerksame Menschenbeobachtung verraten, vgl. die Monographie von F. Faber (Elberfeld 1877).
Eine weit tiefsinnigere Natur als Konfuzius war sein älterer Zeitgenosse Lao-tse, d. i. der Alte, der an den Anfang der Dinge einen namenlosen Urgrund (Tao) setzt, aus dem der Vater des Alls und aller Kräfte und Tugenden hervorgeht. Selbst unerforschlich, unkörperlich und Maß aller Maße, schreibt es, als die vernünftige Ordnung der Dinge, dem Handeln des Menschen den Weg vor. Zu ihm soll der Weise emporstreben, durch Loslösung von allem Sinnlichen und mystisches Sich-Insichselbst-Zurückziehen. (Vgl. Laotse, Vom Sinn des Lebens sowie Das wahre Buch vom quellenden Urgrund und Vom südlichen Blütenland in der Wilhelmschen Sammlung.)
Wohl hatte der hochsinnige Weise einzelne begeisterte Nachfolger und Fortbildner, indes scheint der weltfremde »Taoismus« im Volke doch nie tiefere Wurzeln geschlagen zu haben, im Gegensatz zu dem recht auf das praktische Wesen des Chinesen berechneten Konfuzianismus. Eine neue Blüte erlebte die chinesische Philosophie im 11. und 12. nachchristlichen Jahrhundert, indem Tschou-tse und Tschu-hi der Lehre des Konfuzius eine metaphysisch-naturphilosophische Grundlage zu geben suchten. Dieser Neukonfuzianismus besitzt noch heute in den höheren Kreisen Chinas das Übergewicht über den Taoismus und den im ersten nachchristlichen Jahrhundert aus Indien eingeführten Buddhismus und hat sich auch nach Japan verbreitet, wo er sowohl die alte, nationale Schinto-Religion als auch den seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. von China her eingedrungenen, aber altersschwach gewordenen Buddhismus zurückdrängte. Seitdem befindet sich die »Philosophie« der Chinesen anscheinend im Zustande dauernder Stagnation: anstatt neuen Schaffens Auswendiglernen der »klassischen« Schriften und zahllose Kommentare zu den letzteren.
3. Weit mehr spekulativen Gehalt als das chinesische weist das indische Denken auf, dem man in Europa seit den letzten sechs Jahrzehnten ein immer tiefer eindringendes Studium gewidmet hat, und das von einzelnen dieser Forscher, wie den Deutschen Max Müller (in Oxford †) und Paul Deussen (in Kiel), den höchsten Erzeugnissen abendländischer Philosophie an die Seite gestellt wird. Wir müssen uns begnügen, die Hauptsache hervorzuheben. Den Mittelpunkt des gesamten indischen Philosophierens, in seinen verschiedenen Systemen, bildet die Lehre vom Brahman, dem alle Welten hervorbringenden, tragenden und in sich zurückschlingenden, über alle Endlichkeit erhabenen All-Einen, und die vom Atman, dem eigenen Selbst oder der menschlichen Seele. Die Einheit beider, dadurch daß die Seele erkennt; Tat twam asi (= das bist du), verkünden in schwungvoller Dichtersprache die altindischen Upanishads (d. i. Geheimlehre des Veda oder »heiligen Wissens«)3. Indem unsere Seele in diesem Gedanken Ruhe findet, stößt sie die ganze Sinnenwelt als wertlos und leidvoll von sich. Aber da der Mensch sich doch nun einmal seiner eigenen Beschränktheit wie auch der Vielheit der Sinnendinge beständig bewußt bleibt, so mußte in der Fortentwicklung des indischen Denkens ein innerer Widerspruch entstehen. Ihn suchte die Sankhya-Philosophie zu lösen, indem sie die Wirklichkeit der Welt und der Einzelseele bejahte, sowie den Gegensatz von Natur und Geist zugab. Dem Vedanta-System dagegen ist, ähnlich wie später den griechischen Eleaten (s. § 6), Welt und Einzelseele bloßer Schein und Zaubertrug (der »Schleier der Maya«). Wahrheit liegt nur im Brahman. Denn »nur durch die Offenbarung kann man dies überliefe höchste Brahman erkennen, nicht durch eigenes Nachdenken« : also theologische Spekulation, nicht Philosophie! Nur für das niedere Wissen existiert eine Vielheit von Seelen, die, durch ihre eigene Schuld in die Welt der Körperlichkeit getreten, in dieser mancherlei Formen durchwandeln. Für das höhere Wissen gibt es nur das eine, ungeteilte Brahman, das zugleich Sein und Denken und mit meinem eigenen Selbst identisch ist. Andere Systeme betonen mehr logische oder naturphilosophische Gesichtspunkte. Das von Carvaka predigt sogar krassen Materialismus, Verachtung aller Religion als Priestertrugs und, als höchstes Ziel des Menschen, den sinnlichen Genuß; freilich ist die Carvakalehre nicht spezifisch indisch mehr zu nennen. – Für eingehendere Studien verweisen wir auf das zu Anfang des § genannte dreibändige Werk Deussens, ferner auf Deussen, Das System des Vedanta, 2. Aufl., 1906, außerdem auf die Werke von: v. Schröder, Indiens Literatur und Kultur in historischer Entwicklung, 1887, sowie Max Müller (in deutscher Übersetzung): Physische Religion, Leipzig 1892; Anthropologische Religion, 1894, und besonders: Theosophie oder psychologische Religion, 1895.
Der gleichfalls auf indischem Boden erwachsene, aber später durch Verfolgungen von dort (nach Hinterindien, China, Japan, Tibet, Ceylon) verdrängte Buddhismus teilt mit der Spekulation der Brahminen den pessimistisch-mystischen Grundzug, ist aber wesentlich religiös, praktische Heilslehre. Die von hohem sittlichem Idealismus erfüllte, aber auch zu passivem Quietismus, Unterdrückung auch der gesunden Sinnlichkeit und mönchischer Weltflucht neigende Lehre des indischen Königssohnes dringt neuerdings sogar in Europa vor. Es wurde sogar eine deutsche »Monatsschrift für den Buddhismus«, Der Buddhist, »Publikationsorgan des buddhistischen Missionsvereins« gegründet und 1918 eine Neubuddhistische Zeitschrift (Berlin-Wilmersdorf). Übrigens scheint sich in neuester Zeit bis zu einem gewissen Grade eine Versöhnung des altindischen mit dem europäischen Geiste anzubahnen in der Gestalt des bengalischen Denkers und Dichters Rabindranath Tagore, der neben dem Einssein der Einzelseele mit der Gottheit oder dem All doch auch das Eigenrecht der Persönlichkeit stark hervorhebt, die von dem Quietismus der Beschauung zur Selbstverwirklichung im Handeln führt (vgl. P. Natorp, Die Weltalter des Geistes, 1918, S. 39-51).
Gerade diejenigen Völker also, die den Griechen am nächsten wohnten und mit ihnen in Handelsbeziehungen standen, die Ägypter, Phönizier, Babylonier haben sich nicht zu einer Philosophie erhoben, die von ihren religiösen, d. i. mythologischen Vorstellungen unabhängig gewesen wäre. Es ist daher Torheit, den Ursprung der griechischen Philosophie im Orient zu suchen. Ein solches Bestreben ist auch bei den Griechen selbst während ihrer Blütezeit nie hervorgetreten; erst in den Zeiten des Verfalls, insbesondere des Neuplatonismus (s. Kap. 14 u. 15), suchte man den eigenen, mit morgenländischen Lehren vermischten Philosophemen größeres Ansehen zu geben, indem man sie als Erzeugnisse uralter Weisheit des Morgenlandes darstellte. Auch den Versuchen von Gladisch und Röth, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ist ein solcher Nachweis nicht gelungen.
Im Gegensatz dazu wird die folgende Darstellung erweisen, daß die griechische Philosophie in ganz natürlicher Weise aus den Daseinsformen des griechischen Volkstums hervorgewachsen ist, womit natürlich nicht geleugnet werden soll, daß die Griechen in Mathematik und Astronomie, Mythos und Kunst ihren orientalischen Nachbarn manches verdanken.
Ehe wir zu dieser Darstellung übergehen, seien die wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zur Geschichte der griechischen Philosophie erwähnt. Von den unmittelbaren Quellen und ihrer großen Lückenhaftigkeit ist schon die Rede gewesen. Hier nur das Hauptsächlichste von den Quellen zweiten Ranges, den Berichterstattern. Selbstverständlich ist, trotz ihrer naturgemäßen Subjektivität, schon die Charakterisierung philosophischer Richtungen durch Plato von großem Wert, weniger (vgl. § 19) die durch Xenophon. Die erste planmäßige, wenn auch durch seinen eigenen philosophischen Standpunkt stark beeinflußte Darstellung der Prinzipien seiner Vorgänger gab jedoch erst Aristoteles im ersten Buche seiner Metaphysik (c. 3-30). Seine Schule, die peripatetische, zeichnete sich durch zahlreiche Arbeiten ähnlicher Art aus, von denen jedoch nur eine (über Xenophanes, Zeno und Gorgias) und ein Abschnitt von Theophrasts Geschichte der naturphilosophischen Ansichten erhalten sind. Auch von der reichen doxographischen d.h. die Meinungen der Philosophen beschreibenden und erklärenden, übrigens vielfach mit Vorsicht aufzunehmenden Literatur der Alexandriner besitzen wir nur noch Auszüge Späterer. Aus nachchristlicher Zeit stammen die fälschlich unter Plutarchs Namen gehenden sogenannten Placita philosophorum (150 n. Chr.), sowie die Auszüge des Stobäus (um 500 n. Chr., gute Ausgabe von Wachsmuth, 1884). Das ausführlichste, aber auch unkritischste Werk sind des Laertius Diogenes (um 240 n. Chr.) 10 Bücher Über Leben und Lehren berühmter Philosophen (neue Ausgabe von Martini vorbereitet). Vieles findet sich außerdem beiden Römern Varro, Cicero, Lukrez, Seneka, bei den Griechen Plutarch, Galen und namentlich Sextus Empirikus, bei mehreren Neuplatonikern und Kirchenvätern und bei den Kommentatoren des Aristoteles, besonders Simplicius.
Die vollständigste bisherige Sammlung, die freilich kritische Genauigkeit vermissen läßt, bietet Mullach, Fragmenta philosophorum Graecorum. 3 Bde. 1860, 1867, 1881. Die griechischen Doxographen hat H. Diels (Doxographi Graeci, 1879) herausgegeben, ebenso die vorzügliche Sammlung : Die Vorsokratiker, griechisch und deutsch 1903, 2. Aufl. 1. Bd. 1906, 2. Bd. 1907 und 1910. Brauchbare Auszüge aus den Quellen gibt die Historia philosophiae Graeco-Romanae von Ritter und Preller, 8. Aufl. ed. Wellmann, Gotha 1898.
Von philosophiegeschichtlichen Werken außer den S. 7 f. genannten, von denen die 10. Auflage (1909) des I. Bandes von Ueberweg-Heinze durch den neuen Herausgeber Karl Praechter wesentlich gewonnen hat, heben wir als die bedeutendsten hervor:
Chr. A. Brandis, Handbuch der griechisch-römischen Philosophie,3 Teile, 1835 ff., daneben die kürzere Geschichte der Entwickelungen der griechischen Philosophie etc., 1862 ff.
Ed. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 1. Aufl., 1844-1852, jetzt in 3., 4. und zum Teil in 5. Aufl.; daneben der kurze Grundriß der Geschichte der griechischen Philosophie (317 S.), 10. Aufl. bearb. von F. Lortzing 1911.
W. Windelband, Geschichte der alten Philosophie, 3. Aufl. sorgfältig neubearbeitet von A. Bonhöffer, 1912.
P. Deussen, Die Philosophie der Griechen, 1911.
Ein Gesamtgemälde der griechischen Philosophie gibt das geistvolle, freilich stark persönlich gefärbte Werk von Th. Gomperz, Griechische Denker. Bd. I (Vorsokratik) 1896, 3. Aufl. 1911, Bd. II (Sokrates, Sokratiker, Plato) 1903, 3. Aufl. 1912, Bd. III (Aristoteles und seine Nachfolger) 1909.
Anregend durch Mitphilosophieren der Verfasser: E. Kühnemann, Grundlehren der Philosophie, Studien über Vorsokratiker, Sokrates und Platon, 1899. Kinkel, Geschichte der Philosophie, Bd. I und II (bis Plato inkl.) 1906, 1908. Eine kurze zusammenfassende Übersicht gibt H. v. Arnim in der S. 7 zitierten Kultur der Gegenwart.
Auch auf Th. Ziegler, Ethik der Griechen und Römer, (1881), Leop. Schmidt, Ethik der alten Griechen (Berlin 1881), Max Wundt, Geschichte der griechischen Ethik, Leipzig 1908, R. Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus, 2 Bde. 2. Aufl. 1912, und Krische, Die theologischen Lehren der griechischen Denker (Göttingen 1840) sei hingewiesen. Eigenartig, jedoch nicht ausgereift das Werk eines geborenen Griechen: Abr. Eleutheropulos, Die Philosophie und die Lebensauffassung des Griechentums auf Grund der gesellschaftlichen Zustände, 2 Bde. 1900.
Die zuverlässigste und reichhaltigste Bibliographie gibt Praechter in der neuesten Auflage von Ueberweg, Bd. I, in einem besonderen Anhang von 130 Seiten.
§ 1. Ursprung der griechischen Philosophie.
Mit der Vorstellung griechischer Kunst und Wissenschaft pflegt sich der Gedanke an den allen Musen geweihten Boden Attikas zu verbinden. Zu der Zeit indes, wo wissenschaftliches Streben, d.h. Streben nach dem Wissen um seiner selbst willen unter dem Hellenenvolke zuerst erwacht, um 600 vor Christi Geburt, waren die Kolonien dem Mutterlande an geistiger und wirtschaftlicher Kultur noch durchaus überlegen. Die Wiege der Philosophie, die, wie wir sahen, zunächst einerlei ist mit Wissenschaft überhaupt, hat nicht auf alt-, sondern auf neuhellenischem Boden, in Kleinasien, Unteritalien und Thrakien gestanden. Innerhalb der genannten drei Kolonialgebiete aber war die Westküste Kleinasiens und hier wieder die von dem regsamen ionischen Stamme besiedelte Mitte den anderen in der Entwicklung weit voraus. Hier war ein weitblickender Kaufmannssinn zu Hause, der mit kühnem Unternehmungsgeist, hinwegschreitend über den engen Gesichtskreis des Kleinstädters, in die Fremde zog und alle Küsten des Mittelmeeres mit neuen Pflanzstädten oder doch Handelsniederlassungen bedeckte, nachdem schon längst das Ägeische Inselmeer zu einer griechischen Binnensee geworden war. In den Städten Ioniens häuften sich die Erzeugnisse dreier Erdteile; mit dem wachsenden Wohlstande wich auch die im Mutterlande noch fortdauernde altväterische Rauheit der Sitten, was, freilich manche sittliche Schäden zur Folge hatte, aber durch künstlerische und wissenschaftliche Bestrebungen dem Leben einen höheren Inhalt zu verleihen geeignet war.
Es ist kein Zufall, daß neben äußerer Behaglichkeit des Lebens und teilweise üppigem Reichtum auch die griechische Kunst hier ihre Geburtsstätte und erste Heimat fand. Bereits um 590 wird der Bau des großartigen Artemistempels zu Ephesus begonnen. Und auf dem Boden, wo schon Homers Gesänge entstanden und zuerst erklungen waren, in den Insel- und Küstenstädten der kleinasiatischen Griechen, findet nun auch die individuellere Lyrik ihre ersten Vertreter: Kallinos von Ephesos, Archilochos von Paros, Mimnermos von Kolophon, Sappho und Anakreon. Uns interessiert hier nur deren »gnomischer« Zweig, die Spruchweisheit. In diesen Sittensprüchen oder kurzen Gedichten elegischen Versmaßes kommt nicht nur das persönliche Gefühl, sondern auch das ethische Denken zum erstenmal zu offenem Ausdruck. Als Meister der letzteren gelten der Überlieferung die »sieben Weisen«, von denen jedoch bloß vier (Thales, Bias, Pittakos und Solon) überall gleichmäßig erwähnt werden; nur von Solon ist noch manches erhalten. Ihr Erkenntnisstreben ist durch das bekannte: »Erkenne dich selbst!« gekennzeichnet; der hauptsächlichste Inhalt ihrer Moral liegt in der echt-griechischen Betonung des Maßhaltens (»Nichts zuviel!«).
Auch in politischer und sozialer Beziehung erfuhren die alten Verhältnisse starke Veränderungen. Die alten vornehmen Geschlechter erscheinen zurückgedrängt, durch Demokratie oder Tyrannis auch hier die Kraft des Einzelnen zu freierer Entfaltung gekommen. In der eben erwähnten Spruchdichtung spielen die politischen Parteikämpfe eine wichtige Rolle. Die ersten Philosophen, die genannt werden, sind zum Teil die Gesetzgeber ihrer Staaten gewesen.
Ferner war in den Kolonien am frühesten der für der Anfang des griechischen Philosophierens geradezu entscheidende Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften ermöglicht. Durch ihre Handelsbeziehungen zu den alten Kulturvölkern des Morgenlandes war den Koloniegriechen um das Jahr 600 bereits ein reicher Schatz des Wissens zugeflossen. Wir dürfen annehmen, daß sie in Astronomie, Arithmetik und Geometrie den Chaldäern, Phöniziern und Ägyptern vieles verdankten. Ihre geographischen Kenntnisse hatten infolge ihrer weit ausgedehnten Seefahrten und Landreisen schon einen verhältnismäßig hohen Grad erreicht; und in der Geschichtsschreibung begann an Stelle der früheren Fabeleien die nüchternere Arbeit der Logographen zu treten. Wie es mit der Entlehnung einzelner Kenntnisse aus dem Orient beschaffen gewesen, ist eine Frage, die den Philosophiehistoriker weniger interessiert. Wichtig dagegen ist es, festzuhalten, daß die ersten Philosophen, wie wir sehen werden, zugleich Männer der positiven Wissenschaft gewesen sind.
Für die Richtung endlich, in der sich die erste Problemstellung der griechischen Philosophie bewegt, wie für den Gegenstand ihrer Forschung, ist eine Veränderung des religiösen Denkens zu beachten, die sich um diese Zeit vollzieht und schon in der »Theogonie« des böotischen Lehrdichters Hesiod im Keime verborgen liegt: von der Götterentstehungslehre des Mythos beginnt sich eine, freilich ebenfalls noch mythische, Weltentstehungslehre loszuringen. Statt mit der heiteren Welt der olympischen Götter beschäftigen sich die sogenannten »Orphiker« – deren Ahnherr der sagenhafte thrakische Sänger Orpheus gewesen sein soll, und deren religiöse Richtung sich durch eine Mischung von Mystik und Ekstase kennzeichnet – mit der Herleitung alles Gewordenen aus seinem Urgrund, als welchen sie irgendein Unentwickeltes: die Nacht, das Chaos, den Himmel oder den Ozean betrachten, während eine andere, etwas jüngere Richtung, als deren Haupt Pherekydes von Syros (um 550), einer der ersten griechischen Prosaisten, genannt wird, den ordnenden Zeus, wenn auch ihn zusammen mit Erde und Zeit, an den Anfang alles Gewordenen setzt.
Mit dieser kosmogonischen Richtung der altgriechischen »Theologen« (so nennt sie Aristoteles) hat die beginnende Wissenschaft den Gegenstand ihrer Forschung gemein. Auch sie fragt nach der Entstehung, nach dem Uranfang alles Gewordenen. Aber sie fragt und antwortet nicht mehr in der Form des Mythos, sondern in derjenigen des begrifflichen Denkens. Sie forscht nicht mehr nach dem zeitlichen Uranfang und nach göttlichen Urwesen als seinen Trägern, sondern nach dem Stoff, der bei allem Wechsel der Dinge verharrt. Die erste Philosophie der Griechen ist Naturphilosophie4, ihr erster Begriff, die archê (der Uranfang), im Grunde ein chemischer: der Urstoff.
Außer den betr. Abschnitten der S. 15 f. angeführten Werke vgl.: Byk, Die vorsokratische Philosophie der Griechen. Lpz. 1875f. K. Goebel, Die vorsokratische Philosophie. Bonn 1910. Joël, Der Ursprung der Naturphiolosophie aus dem Geiste der Mystik. Jena 1906. J. Burnet, Early greek philosophy, London 1892.
§ 2. Die milesische Naturphilosophie. Der Urstoff.
H. Ritter, Geschichte der ionischen Philosophie. Berlin 1821. – R. Scydel, Der Fortschritt der Metaphysik innerhalb der Schule des ionischen Hylozoismus.Leipzig 1860. – P. Tannery, Pour l'histoire de la science hellène. De Thalès à Empédocle.Paris 1887. – Wolfg. Schultz, Altionische Mystik. Wien 1907.
Die älteste und mächtigste der ionischen Städte war das infolge seiner bevorzugten Lage zu außerordentlichem Reichtum gediehene Milet, die Mutterstadt von nicht weniger als 80 Kolonien. Hier blühte, neben Seehandel und Industrie und durch sie angeregt, auch die wissenschaftliche Forschung, bis die Besiegung und Zerstörung der Stadt durch die Perser ihr ein Ende machte. Von diesen ältesten Naturphilosophen hat die Überlieferung nur drei Namen aufbewahrt: Thales, Anaximandros und Anaximenes.
1. Thales.
Noch halb im Dunkel der Sage schwebt die Gestalt dieses »Ahnherrn« der Philosophie, wie ihn Aristoteles nennt. Nur weniges Sichere ist uns über Leben und Lehre des außerordentlichen Mannes überliefert. Ein Zeitgenosse von Krösus und Solon, lebte er zwischen 624 und 545. Aus einer vornehmen, ihren Ursprung auf Kadmus zurückleitenden milesischen Familie stammend, erwarb er sich auch politische Verdienste um seine Vaterstadt. Seine Kenntnisse in der Geometrie, Astronomie und Naturwissenschaft überhaupt, die er auf Handelsreisen nach Phönizien und Ägypten erwarb oder doch vermehrte, werden von den Alten gerühmt. So soll er den ägyptischen Priestern ein Mittel zur Messung ihrer Pyramiden angegeben, einen Distanzmesser konstruiert, den Himmel als Hohlkugel erkannt, vor allem aber die Sonnenfinsternis vom Mai 585 vorausgesagt haben; wahrscheinlich war er auch in der Wasserbautechnik erfahren (Diels). Jedenfalls liegt der Zusammenhang der Philosophie mit den positiven Wissenschaften bei ihm klar zutage.
Was ihn aber zum ersten Philosophen stempelt, ist seine nicht mehr mythologische, sondern wissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung. Aristoteles (Metaphysik I, 3) bezeichnet ihn ausdrücklich als den Begründer derjenigen Philosophie, welche allein die Materie als den Urgrund (archê) der Dinge aufstellte. Eine solche Ur-Sache fand Thales im Wasser: sei es, daß die alte Theogonie mit ihrem Urvater Okeanos oder (was wahrscheinlicher) das Lebenselement seiner Heimat ihm diese Wahl nahe legte; wir kennen seine Begründung nicht mehr. Selbst Aristoteles stellt, da schon zu seiner Zeit nicht mehr und vielleicht überhaupt nie etwas Schriftliches von Thales vorhanden war, nur Vermutungen darüber auf: weil die Nahrung und der Same von Pflanzen und Tieren feucht seien, die Lebenswärme sich somit aus dem Feuchten entwickle; wozu wir wohl auch die unendliche Wandelbarbarkeit des flüssigen Elementes fügen dürfen.
Wenn Thales erklärte: der Kosmos sei »voll Dämonen«, so wollte er mit diesem der polytheistischen Anschauungsweise seines Volkes entnommenen Ausdruck wohl keine außerhalb des Stoffes stehende, ihn bewegende göttliche Ursache, sondern nur die Belebung oder Beseelung des Stoffes selbst bezeichnen, des Magnets z. B., wenn er das Eisen anziehe. Die Kraft liegt im Stoff.
Dieser Hylozoismus (Stoffbelebung) – oder Hylopsychismus (Stoffbeseelung), wie man ihn neuerdings genannt hat – scheint allerdings noch ziemlich roh, stellt aber trotzdem den gewaltigen, weil grundsätzlichen, Fortschritt von der Mythologie zur Naturwissenschaft dar. Einen weiteren Fortschritt vollzog dann sein. Landsmann Anaximander.
2. Anaximander.
Schleiermacher, Über Anaximandros. Berlin 1815 [S. W. III, 2, 171-396]. – Neuhäuser, Anaximander Milesius. Bonnae 1883. – P. Natorp, Über das Prinzip und die Kosmologie Anaximanders, Philos. Monatsh. XX, 367-398. Diels, Anaximanders Kosmos. Archiv f. Gesch. der Philos. 1897, S. 278 ff.
Auch dieser außerordentliche Mann ist in der freien Seeluft Milets groß geworden. Etwas jünger (610-547) als Thales, ragte er gleich diesem durch mathematische und astronomische, außerdem auch geographische Kenntnisse hervor. Er verfertigte aus Erz die erste Weltkarte, entwarf eine Himmelskarte zur Orientierung der Schiffer bei Nacht und soll auch den Gebrauch der Sonnenuhr in Griechenland eingeführt haben. Auch leitete er die Anlage der Kolonie Apollonia am Pontus, sodaß es wohl begreiflich ist, wenn die Milesier ihrem Mitbürger eine Ehrenbildsäule setzten, deren Überreste heute im Berliner Museum für Völkerkunde stehen. Leider sind von seiner Schrift – der, wie allen Schriften der ersten Naturphilosophen, später der Titel »Über die Natur« (peri physeôs) beigelegt wurde – nur wenige Zeilen und kein einziger vollständiger Satz auf uns gekommen.
Dennoch vermögen wir uns aus dem Überlieferten von Anaximanders Weltentstehungslehre schon ein etwas deutlicheres Bild zu machen. Der bedeutsame Fortschritt gegen Thales besteht darin, daß er nicht, wie dieser, ein bestimmtes sinnliches Element, sondern einen unbestimmten, gedachten Stoff als archê setzt. Der Urgrund aller Dinge ist für ihn das 'Apeiron, d. i. das Unendliche (oder Unbestimmte?), das dann weiter als unsterblich und unvergänglich, ungeworden und unerschöpflich, beschrieben wird. Ob er es als eine Mischung verschiedener bekannter Elemente betrachtet oder wahrscheinlicher qualitativ ganz unbestimmt gelassen hat, ist eine auch heute noch umstrittene Frage. Aus diesem unbestimmten Urstoffe ließ Anaximander durch »Aussonderung« zuerst das Kalte und das Warme hervorgehen; aus ihnen bildete sich das Flüssige, aus dem letzteren durch Austrocknung der Erde, weiter die Luft und eine beide, wie der Baum die Borke, umgebende Feuerkugel. Aus dieser hätten sich durch Bersten und Ringbildung Sonne, Mond und Sterne losgelöst, die sie in symmetrischen Abständen umkreisen; seine Theorie ist eine Vorläuferin der pythagoreischen Sphären-Harmonie (§ 3), wobei die uralt heilige Dreizahl eine geheimnisvolle Rolle spielte. Aus dem Urschlamm der walzenförmig gestalteten, von allen Punkten jenes Feuermeeres gleich weit entfernten Erde ließ unser Philosoph, wenn wir dem späten Berichte Plutarchs Glauben schenken dürfen, die ersten lebenden Wesen entstehen und sich in stufenartiger Folge allmählich weiter entwickeln. Zuerst entstanden fischartige, dann, bei zunehmender Austrocknung der Erde, aus diesen Landtiere; die Entwicklung des Menschen dauerte am längsten. Mit den einzelnen Stufen war zugleich eine Umwandlung der Lebensweise verbunden: wie man sieht, eine höchst interessante, wenn auch noch rohe Vorausnahme der modernen Deszendenztheorie.
Und die Zukunft des Weltalls? Darüber belehrt uns das einzige wörtlich erhaltene Fragment: »Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (sc. ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« Eine düstere, an uralte orientalische Vorstellungen gemahnende, religiös gefärbte Weltanschauung tritt uns hier entgegen. In ewigem Wechsel folgt sich eine unendliche Reihe entstehender und vergehender Welten, von der die unsrige nur einen vorübergehenden Spezialfall darstellt.
So bietet Anaximander den ersten bestimmter überlieferten Versuch einer rein natürlichen, aus einem mechanischen Prinzip hergeleiteten Welterklärung. Denn, wenn er einmal von seinem Unendlichen den Ausdruck gebraucht, es »umfasse« und »lenke« alles, und es deshalb »göttlich« nennt, so haben wir nach dem sonst über ihn Überlieferten keinen Grund, daraus auf die Annahme eines von dem Weltstoff unterschiedenen göttlichen Geistes bei ihm zu schließen. Das war erst einer späteren Periode der griechischen Philosophie vorbehalten.
3. Anaximenes.
Auch er stammt aus Milet und ist etwa ein Menschenalter jünger als seine beiden Vorgänger; seine Lebenszeit fällt zwischen 588 und 524. Wenn Anaximenes wieder ein bestimmtes Element, die Luft, als Urstoff setzt, so bedeutet dies in gewisser Hinsicht allerdings einen Rückschritt hinter Anaximander. Indessen wurden doch mit der Wahl gerade dieses Stoffes die wesentlichsten Eigenschaften des anaximandrischen Apeiron, seine Unbegrenztheit und Beweglichkeit, berücksichtigt. Vielleicht ist Anaximenes durch die Beobachtung des Atems als Lebensursprungs zur Annahme seines Prinzips geführt worden. Wenigstens läßt der einzige aus seiner Schrift sicher erhaltene Satz das als möglich erscheinen: »Wie unsere Seele« – hier offenbar in ihrer Grundbedeutung (psychê) als animalisches Lebensprinzip gedacht – »Luft ist und uns dadurch zusammenhält, so umfaßt auch den ganzen Kosmos wehender Hauch und Luft«. Daß sein Urstoff, wiewohl beseelt (vgl. oben Thales), im Grunde doch nur materiell zu denken ist, ergibt sich aus dem weiteren Entwicklungsprozeß, den der Philosoph ihn nehmen läßt. Durch Verdünnung geht aus ihm das Feuer, durch Verdichtung oder Zusammenziehung Wind, Wolken, Wasser und Erde hervor. Auch seine astronomischen Kenntnisse zeigen große Fortschritte. Er erkannte die Beleuchtung des Mondes durch die Sonne und unterschied die Planeten von den Fixsternen. Mit Anaximander nahm auch er einen ewigen Wechsel von Weltentstehung und Weltzerstörung an.
4. Als Nachzügler der milesischen Naturphilosophie, der »ionischen Physiologen«, sind die im 5. Jahrhundert lebenden Denker Hippon und Idaios (von Himera) zu betrachten. Ersterer erklärte gleich Thales das Feuchte für den Urstoff alles Gewordenen, während der sonst ganz unbekannte Idaios sich dem Anaximenes angeschlossen haben soll. Über den gleichfalls durch die Milesier angeregten Diogenes von Apollonia s. Anhang zu § 8. Die weitere Ausbildung der griechischen Philosophie sollte zunächst auf einem anderen Schauplatz vor sich gehen und in einer anderen Richtung sich vollziehen.
§ 3. Die pythagoreische Zahlenlehre.
Die ausführlichste Monographie: Chaignet, Pythagore et la Philosophie Pythagoricienne, 2 Bände, Paris 1873. Eine kurze populäre Darstellung des »Pythagoras und der Pythagorassage« gibt Ed. Zeller, Vortr. u. Abhandl. I, 30-50. Vgl. auch Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter, Leipzig 1874.
Während in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts die Ionier Kleinasiens bereits um ihr nationales Sonderdasein mit den Persern zu ringen hatten, standen noch in der Vollkraft ihrer Macht und Kultur die hellenischen Pflanzstädte des Westens, die in blühendem Kranze die Gestade Unteritaliens und Siziliens umsäumten. Ein »Großgriechenland« im wahren Sinne des Wortes, mit reicherem Dasein als das Mutterland, war dort entstanden: gleichfalls in buntem Wetteifer der griechischen. Stämme, nur daß die Dorier hier das Übergewicht besaßen. In eine dieser dorischen Städte wanderte zwischen 540 und 530 der Samier Pythagoras ein.
1. Pythagoras und seine Jünger.
Über Pythagoras und seine Schule mangelt es zwar keineswegs an Nachrichten, aber der echte Kern derselben ist dermaßen von späteren Entstellungen und Fabeleien überwuchert, daß es schwer hält, zumal da wir keine einzige Zeile von seiner Hand besitzen, die Wahrheit herauszuschälen. Bei den Neupythagoreern des 3. und 4. Jahrhunderts nach Chr. ist aus dem religiösen Weisen schließlich ein Sohn Apollons, ein allmächtiger Wundertäter, ein allwissender Seher geworden. Die über ihn erzählten Geschichten erinnern lebhaft an die Heiligenlegenden des Mittelalters. Als geschichtlich gesichert ist etwa folgendes anzusehen:
Pythagoras ward um 580 auf der Insel Samos geboren, die damals bereits einen hohen Grad von Kultur, namentlich auch in der Technik (Heratempel, Tunnelbohrungen) erreicht hatte, und bereicherte überdies sein Wissen auf den mannigfachsten Gebieten durch Studien und Reisen. Sein Gegner Heraklit wirft ihm »Vielwisserei« vor. In der Kraft seiner Mannesjahre wanderte er, vielleicht um sich der Tyrannis des Polykrates zu entziehen, nachdem unteritalienischen Kroton aus und gründete dort einen Verein oder Orden, der sich mit den Formen des damaligen Mysterienwesens umgab. Die religiöse Bewegung, die um diese Zeit durch die gesamte griechische Welt ging und die auf eine Wiedergeburt der Volksreligion abzielte, suchte er, indem er sie mit wissenschaftlichen Bestrebungen verquickte, auch in die höheren Gesellschaftsschichten einzuführen. Die Geweihten verpflichteten sich zu einer ernsten sittlichreligiösen Lebensführung. Offenbar im Anschluß an dorische Stammesart, galten Mäßigkeit, Einfachheit, Abhärtung, Gesundheit des Leibes und der Seele, unbedingte Treue gegen Götter, Eltern, Freunde und Gesetz, sowie eine weitgehende Selbstbeherrschung und Unterordnung als die Haupttugenden des »pythagoreischen Lebens«. Tägliche Selbstprüfung war jedem Mitgliede auferlegt: Was tat ich? Worin fehlte ich? In theoretischer Beziehung war besonders Beschäftigung mit Musik und Mathematik vorgeschrieben. Vielleicht war die Entdeckung der Tonintervalle auf der gespannten Saite, die Pythagoras zugeschrieben wird, der erste Anlaß zu der mathematischen Spekulation, die dann alle Schranken der Besonnenheit durchbrach. Das religiöse Hauptdogma war die Lehre von der Seelenwanderung und der Vergeltung nach dem Tode.
Der Bund der Pythagoreer – ihr enger Freundeszusammenhang ist bekannt – gewann bald politische Bedeutung in ganz Unteritalien: er wurde der Mittelpunkt der aristokratischen Partei, die den volkstümlichen Bestrebungen mit rücksichtsloser Schroffheit entgegentrat. Es kam vielfach zu Reibereien mit den von dem Bunde Ausgeschlossenen, insbesondere der demokratischen. Partei. Parteikämpfe dieser Art veranlaßten den greisen Pythagoras, noch in hohem Alter nach dem benachbarten Metapont auszuwandern, wo er um 500 gestorben sein soll. Noch längere Zeit behielten die Pythagoreer einen bedeutenden Einfluß in den Städten Großgriechenlands, bis um 440 (?) die Verbrennung des pythagoreischen Vereinshauses zu Kroton das Signal zu einer allgemeinen Verfolgung desselben gab, infolge deren viele umkamen, andere nach Griechenland hinüberflüchteten, um dort nunmehr in rein theoretischer Weise des Meisters Lehren zu verbreiten. Als der bedeutendste dieser jüngeren, selbständigeren Pythagoreer, die nicht mehr so ängstlich auf des Meisters Worte schwuren (autos epha!), erscheint Philolaos, der ähnlich Archimedes Theorie und Praxis verband und sich mit Lysis in Theben niederließ. Seine Schüler waren die in Platos Phädo erwähnten Simmias und Kebes; Lysis wurde der Lehrer des jungen Epaminondas. Zu Platos Zeit erscheint übrigens wieder ein Pythagoreer (Archytas) an der Spitze des mächtigen. Gemeinwesens von Tarent. Bald nach ihm scheint die pythagoreische Lehre ausgestorben zu sein, um erst ein halbes Jahrtausend später in neuem Gewände wieder zu erstehen (s. unten § 47).
2. Die pythagoreische Lehre.
Das Wenige, was wir von der pythagoreischen Lehre mit einiger Sicherheit wissen, ist uns nicht als Lehre des Meisters selbst, sondern erst durch die Fragmente des eben genannten Philolaos (herausgegeben und bearbeitet von Boeckh, Berlin 1819, ein Teil derselben ist unecht) überliefert. Einige Gelehrte (Brandis, Windelband) haben daher den Pythagoras selbst von der pythagoreischen Philosophie unterschieden und letztere erst an späterer Stelle, unmittelbar vor den Sophisten, abgehandelt; sie berufen sich dabei auch auf Aristoteles (Metaphysik, I, 5), der in der Tat nur von den »sogenannten Pythagoreern« spricht. Da indessen über diese Verschiedenheit nichts Sicheres auszumachen ist, so behandeln wir die nach Pythagoras benannte Philosophie schon an dieser Stelle, zumal da keine der folgenden Lehren mit voller Sicherheit von ihr berücksichtigt erscheint.
a) Grundprinzip. Die archê, das Grundprinzip der Pythagoreer, ist die Zahl: also nicht mehr ein sinnlicher Stoff, sondern ein Gedankending. Als Ausgangspunkt ihrer Zahlenspekulation haben wir uns mit Aristoteles ihre eifrige und ernste Beschäftigung mit Mathematik zu denken. »Sie beschäftigten sich zuerst mit der Mathematik, förderten sie, und, in ihr auferzogen, hielten sie die mathematischen Prinzipien (archas) für die Prinzipien alles Seienden... Und in den Zahlen die Eigenschaften und Gründe der Harmonie erblickend, da ihnen das andere seiner ganzen Natur nach den Zahlen nachgebildet erschien, die Zahlen aber als das Erste in der ganzen Natur, so faßten sie die Elemente der Zahlen als die Elemente aller Dinge auf und das ganze Weltall als Harmonie und Zahl« (Aristot. a. a. O.). In dem Studium der Mathematik, vor allem des arithmetischen Teiles der, selben, waren sie der unbedingten Gewißheit inne geworden, die dieser Wissenschaft eigen ist. »Nichts von Lug nimmt die Natur der Zahl, die Harmonie besitzt, in sich auf,« sagt Philolaos, denn »Lug ist der Natur unversöhnlicher Feind, die Wahrheit aber eigen und angeboren dem Geschlechte der Zahl«. »Ohne sie läßt sich nichts erfassen noch erkennen.« Eine glänzende Bestätigung dieser mathematischen Gesetzlichkeit ergab sich ihnen bei ihren musikalischen und astronomischen Studien. So meinten sie denn, erfüllt von der neuen Entdeckung, die ganze Natur, ja das geistige Leben müsse sich, wie ein Rechenexempel, in Zahlen begreifen lassen.
b) Durchführung des Prinzips. So leiteten sie aus dem Gegensatz der geraden und ungeraden Zahl einen solchen des Unbegrenzten und Begrenzenden ab. Letzteres Prinzip stellen die Ungeraden dar, da sie der Zweiteilung eine Grenze setzen. Dieser Gegensatz des Begrenzenden und Unbegrenzten nun gehe, so Spannen sie allmählich ihre Lehre weiter aus, durch die ganze Natur hindurch. Denn »kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und belehrend über jegliches Zweifelhafte und Unbekannte. Denn niemandem wäre das Geringste von den Dingen weder an sich noch in ihren Verhältnissen zueinander offenbar, wenn nicht Zahl wäre und ihre Wesenheit. So aber macht sie, der Seele es anpassend, alles der Wahrnehmung erkennbar... scheidend jegliche Verhältnisse der Dinge, der unbegrenzten wie der begrenzenden5.« Als Mittelglied zwischen der Zahl und der Natur galt ihnen das Symbol der Geometrie, das Winkelmaß (der Gnomon). – Aber nicht bloß in der Natur, auch auf allen menschlichen Gebieten, namentlich dem künstlerischen, waltet die Zahl. »So kannst du denn nicht bloß in den dämonischen und göttlichen Dingen, sondern auch in allen menschlichen Werken und Worten die Natur der Zahl und ihre Kraft überall walten sehen, sowie auch in allen technischen Künsten und in der Musik.« Eine Tafel von 10 Gegensätzen, die von einigen (wahrscheinlich Jüngeren) Pythagoreern aufgestellt wurde, gibt einen Begriff davon, wie man sich die Parallelen zu jenem Urgegensatz dachte, wobei das Erstgenannte jedesmal als das Begrenzende, Bestimmende, mithin Vollkommenere galt.
1. Grenze – Unbegrenztes.
2. Ungerades – Gerades (von Zahlen).
3. Eines – Vielheit.
4. Rechtes – Linkes.
5. Männliches – Weibliches.
6. Ruhendes – Bewegtes.
7. Geradliniges – Krummes.
8. Licht – Finsternis.
9. Gutes – Böses.
10. Quadrat – Rechtecke6
Aus solchen Gegensätzen besteht die Welt. Aber wie in der erzeugenden Eins, der ungerad-geraden Urzahl, die Gegensätze zusammenfließen, so sind auch die Gegensätze des Weltalls verbunden zu einer »Ordnung«; die Bezeichnung Kosmos haben anscheinend die Pythagoreer zuerst dem All verliehen. Ihr Band bildet die Harmonie, zugleich der physikalische Ausdruck der Gesetzmäßigkeit.