Vollendet - Die Wahrheit (Band 4) - Neal Shusterman - E-Book
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Vollendet - Die Wahrheit (Band 4) E-Book

Neal Shusterman

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Beschreibung

Das große Finale der Vollendet-Serie! USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und »umgewandelt«. Sie werden zu kompletten Organspendern. Jetzt sofort. Die Umwandlung ist unumkehrbar und niemand kann ihr entfliehen. Connor und Risa versuchen es trotzdem! Connor und Risa halten das Mittel zur Beendigung der Umwandlung endlich in den Händen. Der Organdrucker druckt passgenau jedes Organ und jedes Körperteil. Dank seiner Technik braucht niemand mehr die Körperteile unerwünschter Teenager. Doch dann wird das einzige Exemplar bei einem Unfall zerstört, und Connor und Risa werden geschnappt. Ihre Flucht und ihre Hoffnung auf ein gemeinsames Leben scheint endgültig ein Ende gefunden zu haben. Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, USA, studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet. In Deutschland liegen bisher seine Serien »Vollendet« und »Scythe« vor. Die »Vollendet-Serie« umfasst folgende Bände: Vollendet – Die Flucht Vollendet – Der Aufstand Vollendet – Die Rache Vollendet – Die Wahrheit Die »Scythe«-Serie umfasst folgende Bände: Scythe – Die Hüter des Todes Scythe – Die Rache der Gerechten Scythe – Das Vermächtnis der Ältesten (erscheint voraussichtlich im Herbst 2019)

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Seitenzahl: 540

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Neal Shusterman

Vollendet – Die Wahrheit

Band 4

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Anne Emmert

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Connor und Risa halten es endlich in den Händen – das Mittel zur Beendigung der Umwandlung. Doch bevor sie richtig begreifen können, dass es nun doch noch Hoffnung für sie gibt wird es bei einem Unfall zerstört. Zu allem Überfluss geraten Connor und Risa in die Hände eines alten Widersachers. Im Angesicht ihrer bevorstehenden Umwandlung gestehen sie sich endlich ihre Liebe. Doch für Connor scheint es keine Aussicht auf ein Leben mit Risa zu geben.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter

www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, USA, studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet. 

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Für meinen Lektor und Freund David Gale

An alle Beamten und Ordnungskräfte der Jugendbehörde:

Vor uns liegt eine wichtige Aufgabe, und wir haben nicht viel Zeit. Eine wachsende Minderheit krimineller Jugendlicher hat sich in den letzten Monaten zu einer massiven Gefahr für die öffentliche Sicherheit entwickelt. Die folgende Richtlinie legt dar, wie mit welchen Gruppen nicht erziehbarer Jugendlicher sowie mit einzelnen Individuen, denen wir hohe Priorität einräumen, nach geltendem Recht zu verfahren ist.

Risikojugendliche

Darunter versteht man Teenager mit kriminellem Hintergrund, deren Eltern sich jedoch, aus welchem Grund auch immer, weigern, die Umwandlungsverfügung zu unterzeichnen. Sie sind wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zu behandeln und dürfen nur zum Zwecke der Selbstverteidigung betäubt werden. Werden sie aufgegriffen, sind sie in ihre Familien zurückzubringen. Beamte sollten diesen Familien vorsichtig nahelegen, eine Teilungslösung ins Auge zu fassen.

Streuner

Nicht erziehbare Teenager, die von zu Hause weggelaufen und zu »Streunern« geworden sind, haben dieselben Rechte wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger. Streuner, die gewalttätig werden, können betäubt werden, sofern ein triftiger Grund vorliegt. Sie werden anschließend in eine Jugendstrafanstalt gebracht, bis die Eltern gefunden und benachrichtigt sind oder bis sich das Gesetz ändert und die Umwandlung auch ohne elterliche Zustimmung möglich ist.

Flüchtige Wandler (EAs)

Für jeden flüchtigen Wandler (auch kurz EA für »eigenmächtig abwesend«) wurde eine Umwandlungsverfügung unterzeichnet, ehe er oder sie geflohen ist oder sich der Festnahme entzogen hat. Das heißt, alle Rechte flüchtiger Wandler sind aufgehoben, bis sie das Alter von siebzehn Jahren erreichen (oder, nach Aufhebung des U-17-Gesetzes, achtzehn). Sie gelten als Ansammlung von Körperteilen und dürfen als solche behandelt werden. Im Falle einer Identifizierung sind sie zu betäuben und in das nächste Ernte-Camp zu bringen. Bei der Festnahme ist darauf zu achten, körperliche Schäden möglichst zu vermeiden, da die in den Wandlern enthaltenden Teile wertvoller sind als ihre Person.

Klatscher

Diese nihilistischen Terroristen mischen sich Sprengstoff ins Blut und sind somit die größte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. Klatscher können jedes Alter haben, doch meist handelt es sich um flüchtige Wandler, Streuner oder Risikojugendliche. Werden Beamte mit einem Klatscher konfrontiert, haben sie auf Distanz zu bleiben und die Gefahr mit keramischer Munition zu neutralisieren, ehe der Klatscher detonieren kann. Keramische Munition schaltet den Klatscher aus, ohne eine Explosion auszulösen.

Die Storchenbrigade

Statistiken belegen zwar, dass Storche (die als Babys auf der Türschwelle fremder Menschen abgelegt wurden) einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Wandler stellen, doch das entschuldigt nicht den mörderischen Amoklauf Mason Starkeys und seiner Storchenbrigade. Diese Übergriffe belegen vielmehr, dass das Umwandlungsprogramm dringend ausgeweitet werden muss. Um Ernte-Camps vor Mason Starkeys skrupellosen Überfällen zu schützen, werden die Sicherheitsmaßnahmen erhöht und der Waffenbestand sämtlicher Ernte-Institutionen vergrößert. Bei einer Begegnung mit der Storchenbrigade greifen Beamte nicht an. Stattdessen ist jede Sichtung dem nächstgelegenen Amt zu melden, damit die gesamte Brigade mit einem Luftangriff ausgeschaltet werden kann.

Connor Lassiter und Risa Ward

Der »Flüchtling von Akron« Connor Lassiter soll zwar angeblich Asyl beim Stamm der Hopi erhalten haben, doch wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass es sich dabei um eine Finte handelt und er sich an einem völlig anderen Ort aufhält. Möglicherweise ist er sogar nach Ohio zurückgekehrt. Ein Beamter, der Lassiter eindeutig identifiziert, hat ihn festzusetzen, tot oder lebendig. Höchstwahrscheinlich ist er mit Risa Ward unterwegs, die vom Proaktiven Bürgerforum, einer der wichtigsten wohltätigen Organisationen des Landes, eine neue Wirbelsäule erhalten, anschließend aber ihre Wohltäter hintergangen und andere Teenager zur Gewalt angestachelt hat.

Levi Jedediah Calder (alias Lev Garrity)

Dieses Zehntopfer, das zum Klatscher wurde, hat gegen die Auflagen seines Hausarrestes verstoßen und versteckt sich nun schon seit mehreren Monaten. Es heißt zwar, eine Klatscherorganisation habe sein Haus in die Luft gesprengt, um ihn zu töten, doch wir gehen davon aus, dass er die Explosion selbst inszeniert hat und nun wieder mit den Klatschern kooperiert.

Camus Comprix

Verbundmenschen fallen zwar nicht in unseren Zuständigkeitsbereich, doch das Proaktive Bürgerforum hat darum gebeten, es besonders nach Risa Wards Verrat in seinen Bemühungen zu unterstützen. Sie sind daher angehalten, über Camus Comprix und Verbundmenschen im Allgemeinen nur positiv zu reden. Dabei ist unerheblich, ob Sie ihn als Menschen betrachten oder nicht.

Teilepiraten

Der Schwarzmarkt für Wandler ist in den letzten Jahren gewachsen. Das hängt unmittelbar damit zusammen, dass es nicht gelingt, flüchtige Wandler festzusetzen und der Umwandlung zuzuführen. Unserer festen Überzeugung nach lässt sich die Zahl flüchtiger Wandler, die uns durch Teilepiraten verlorengehen, durch größere Wachsamkeit und eine bessere Finanzierung senken, und das Schwarzmarktkartell bricht anschließend zusammen.

Das Glücksvolk

Die amerikanischen Glücksvolks-Stämme arbeiten recht offensichtlich gegen die Behörden, besonders die Arápache, die bekanntermaßen flüchtigen Wandlern Asyl gewähren. Dieses sogenannte Pflegeasyl entzieht sich unserer Rechtsprechung, solange sich die EAs auf Stammesgebiet aufhalten. Jeder direkte Konflikt mit dem Glücksvolk ist zu vermeiden, bis die derzeitigen Verträge ungültig werden und wir militärisch eingreifen können.

 

Wir machen große Fortschritte, und eine dauerhafte Lösung für die Gefahren durch gewalttätige Jugendliche ist greifbar. Dank unserer Anstrengungen ist die Anti-Umwandlungs-Front mittlerweile zusammengebrochen. Ich bin fest davon überzeugt, dass im Jugendbereich in Bälde ein angstfreies Leben möglich ist und die Besten und Intelligentesten unserer Jugend gedeihen wie ein sachgerecht geschnittener Baum. Dafür sorgen Sie, die Beamten und Ordnungskräfte der Jugendbehörde. Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz.

 

HERMAN SHARPLY

MINISTER FÜR JUGENDANGELEGENHEITEN

Teil einsZufluchtsorte der Bestimmung

»If you’re feeling like I feel throw your fist through the ceiling …«

Songtext »Burn it Down« von AWOLNATION

1.Flüchtiger Wandler

Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt. Ein zweites Geschoss zischt unter seiner Armbeuge durch – er sieht es sogar kurz aufblitzen – und schlägt vor ihm mit einem leisen Scheppern in einem Mülleimer ein.

Es regnet. Der Himmel hat sich geöffnet und schüttet ein Spätsommergewitter schon fast biblischen Ausmaßes über ihm aus, doch heute ist das Unwetter sein bester Freund, denn der erbarmungslose Sturzregen behindert die JuPos, die ihm auf den Fersen sind und ihn nun kaum sehen können.

»Wenn du abhaust, machst du alles nur noch schlimmer, Sohn«, ruft einer der JuPos.

Er würde wohl darüber lachen, wenn er nicht völlig außer Atem wäre. Sobald sie ihn schnappen, wird er umgewandelt. Was könnte wohl schlimmer sein? Und warum nennt er ihn »Sohn«? Wie kommt ein JuPo dazu, ihn »Sohn« zu nennen, wo ihn doch die Welt nicht mehr als Menschenkind betrachtet? Für sie ist er ein Objekt. Ein Sack voll Biomasse, erntereif.

Zwei, vielleicht auch drei JuPos sind hinter ihm her. Er wird sich nicht umdrehen, sie zu zählen; wenn man um sein Leben rennt, verzweifelt der Umwandlung zu entgehen versucht, spielt es keine Rolle, ob einer oder zehn oder hundert JuPos hinter einem her sind. Man muss nur schneller rennen.

Eine weitere Betäubungspatrone zischt an ihm vorbei, wenn auch nicht mehr so nah wie die anderen. Die JuPos werden in ihrer Wut schludrig. Gut. Er läuft an einem überquellenden Mülleimer vorbei und wirft ihn um, in der Hoffnung, seine Verfolger auszubremsen. Die Gasse geht scheinbar endlos weiter. Er hatte die Gassen von Detroit nicht dermaßen lang in Erinnerung. Als etwa fünfzig Meter vor ihm endlich das Ende in Sicht kommt, sieht er sich innerlich schon in Freiheit. Er wird aus der Gasse in den Stadtverkehr rennen. Vielleicht verursacht er ja einen Autounfall, genau wie der Flüchtling von Akron. Vielleicht stößt auch er auf ein Zehntopfer, das er als menschlichen Schutzschild benutzen kann. Vielleicht findet er sogar eine wunderschöne Komplizin. Diese Gedanken geben seinem müden Körper wieder Schwung und seinen Schritten Tempo. Die JuPos fallen zurück, und nun glimmt ein Funke in ihm auf, der wichtigste Rohstoff für den flüchtigen Wandler: Hoffnung. Dieser Rohstoff ist knapp unter denen, die angeblich die Summe ihrer Teile nicht wert sind.

Doch da blenden die Silhouetten zweier weiterer JuPos, die das Ende der Gasse blockieren, die Hoffnung wieder aus. Sie haben ihm eine Falle gestellt. Als er sich umdreht, sieht er die anderen hinter ihm näher kommen. Wenn ihm jetzt keine Flügel wachsen, ist alles vorbei.

Da flüstert eine Stimme aus einem dunklen Hintereingang: »Hey, du. Komm her!«

Jemand packt ihn am Arm und zerrt ihn durch die offene Tür, gerade als eine Salve Betäubungsmunition durch die Gasse braust.

Sein geheimnisvoller Retter macht die Tür zu und schließt die JuPos aus. Aber was soll das nützen? Ein Gebäude ist genauso gefährlich wie eine Gasse.

»Komm mit«, sagt der Typ, der ihn gerettet hat. »Hier runter.«

Er führt ihn über eine morsche Treppe in den Keller. Der Wandler hat nun Gelegenheit, seinen Retter in dem trüben Licht zu betrachten. Er scheint drei oder vier Jahre älter zu sein als er, achtzehn, vielleicht auch zwanzig. Er ist blass und dünn, hat dunkles strähniges Haar und dünnen Flaum an den Wangen, der gern ein Bart wäre, die Lücke am Kinn aber nicht füllen kann.

»Keine Angst. Ich bin auch auf der Flucht.«

Das kommt ihm unwahrscheinlich vor, denn dafür wirkt er zu alt. Andererseits sehen Wandler, die ein Jahr oder länger auf der Flucht sind, oft älter aus. Es ist, als tickte die Uhr für sie doppelt so schnell.

Im Keller liegt ein rostiger Kanaldeckel neben einem dunklen Loch mit höchstens dreißig Zentimetern Durchmesser, aus dem ein übler Geruch aufsteigt.

»Runter da!«, sagt der Kerl mit dem strähnigen Haar fröhlich wie der Nikolaus, der sich in einen Kamin schwingt.

»Machst du Witze?«

Von oben hört man, wie mit einem Knall die Tür aufgetreten wird, und plötzlich kommt ihm die Idee mit der Kanalöffnung gar nicht mehr so schlecht vor. Er quetscht sich hinein, muss Hüften und Schultern winden, um durchzukommen. Er fühlt sich, als würde er von einer Schlange verschluckt. Der Kerl mit den strähnigen Haaren steigt hinter ihm ein, zieht den Kanaldeckel auf die Öffnung, Beton schrammt auf Metall. Er schließt die JuPos aus, ohne eine Spur zu hinterlassen.

»Hier unten finden sie uns niemals.« Das sagt sein merkwürdiger Retter mit einer solchen Zuversicht, dass der Wandler ihm glaubt. Der Kerl schaltet eine Taschenlampe an. Sie stehen in einer einen Meter achtzig hohen zylindrischen Hauptabwasserleitung, die nass ist vom Regen des Gewitters, aber ansonsten nicht in Gebrauch zu sein scheint. Es riecht unangenehm, aber nicht so schlimm, wie es von oben den Anschein hatte.

»Na, was denkste?«, fragt der Kerl mit den strähnigen Haaren. »Die Flucht wäre eines Connor Lassiter würdig, was?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Flüchtling von Akron in einen Abwasserkanal klettern würde.«

Der andere knurrt und führt ihn bis an eine Stelle, an der sich der Kanal teilt, und sie klettern in einen Versorgungsgang aus Beton mit Stromleitungen an der Decke und Rohren mit heißem Wasserdampf an der Wand, durch die eine schwüle Atmosphäre herrscht.

»Also, wer bist du?«, fragt der Wandler seinen Retter.

»Heiße Argent«, antwortet der. »Wie Sergeant, nur ohne S.« Er schüttelt dem Wandler die Hand, dreht sich um und führt ihn durch den feuchtwarmen engen Gang. »Hier lang, es ist nicht mehr weit.«

»Nicht weit bis wo?«

»Hab eine ganz nette Bleibe. Warmes Essen, bequemen Schlafplatz.«

»Klingt zu schön, um wahr zu sein.«

»Ja genau!« Argent schenkt ihm ein Lächeln, das fast so schmierig ist wie sein Haar.

»Und was hast du für eine Geschichte? Warum riskierst du deinen Arsch für mich?«

Argent zuckt die Schultern. »Ist kein großes Risiko, wenn du sie erst ausgetrickst hast. Aber ich denk mal, es ist meine Bürgerpflicht. Bin selber vor einer Weile einem Teilepiraten entkommen, jetzt helfe ich anderen, die weniger Glück haben als ich. Das war nicht einfach irgendein Teilepirat, dem ich abgehauen bin: Es war der Ex-JuPo, den Connor Lassiter mit seiner eigenen Knarre betäubt hat. Der wurde gefeuert, und jetzt fängt er Kinder und vertickt sie auf dem Schwarzmarkt.«

Der Wandler kramt in seinem Gedächtnis nach dem Namen.

»Dieser Neilson?«

»Nelson«, korrigiert ihn Argent. »Jasper T. Nelson. Und Connor Lassiter kenn ich auch.«

»Wirklich?«, fragt der Wandler zweifelnd.

»Aber klar doch. Das ist vielleicht ein Volltrottel. Der totale Loser. Ich habe ihn gastfreundlich aufgenommen, genau wie dich jetzt, und er hat mir das hier verpasst.«

Erst jetzt sieht der Wandler die schlimmen Platzwunden auf Argents linker Gesichtshälfte, die noch nicht abgeheilt sind.

»Ich soll dir glauben, dass das der Flüchtling von Akron war?«

Argent nickt. »Klar, als er in meinem Sturmkeller zu Gast war.«

»Aha.« Offensichtlich hat sich der Typ das alles ausgedacht, aber der Wandler fragt nicht weiter nach. Die Hand, die ihn gleich füttern wird, sollte er besser nicht beißen.

»Noch ein bisschen weiter«, sagt Argent. »Magst du Steak?«

»Aber immer.«

Argent deutet auf eine Lücke in der Betonwand. Kühle Luft strömt ein, die ausnahmsweise nicht nach alter Fäulnis riecht, sondern nach frischem Moder. »Nach dir.«

Der Wandler klettert durch und findet sich in einem Keller wieder. Es sind noch andere Leute da, aber sie bewegen sich nicht. Er braucht kurz, bis er begreift, was er da sieht. Drei Teenager liegen geknebelt und gefesselt am Boden.

»He, was zum …«

Doch bevor er den Satz beenden kann, nimmt ihn Argent von hinten brutal in einen Würgegriff, der ihm nicht nur die Luftröhre abdrückt, sondern auch das Blut im Gehirn staut. Das Letzte, was dem Wandler durch den Kopf schießt, ehe er das Bewusstsein verliert, ist die düstere Erkenntnis, dass ihn tatsächlich eine Schlange verschlungen hat.

2.Argent

Er kann sein Glück nicht fassen. Er hat auf voller Linie gesiegt. Besser könnte es gar nicht laufen für Argent Skinner, Teilepirat in Ausbildung, der das Gewerbe von Jasper T. Nelson lernt, dem Meister seines Fachs.

Die Umstände, unter denen Argent in Nelsons Dienst kam, waren nicht die rosigsten, aber er hat jedenfalls das Beste daraus gemacht. Er war Nelson so nützlich, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als ihn zu behalten. Der Beweis für Argents Nutzen liegt verschnürt auf der Ladefläche hinter ihm.

Der Kleinlaster hat den anderen Mietwagen ersetzt, den sie auf dem Parkplatz eines Kleinstadtsupermarktes haben stehen lassen. Argent macht sich keine Sorgen, dass man sie wegen solcher Bagatellen festnehmen wird, denn Nelson ist ein wahrer Meister, wenn es darum geht, der sogenannten Justiz zu entkommen und sich unauffällig zu verhalten. Nachdem er so viele Jahre JuPo war, kennt Nelson sämtliche Ermittlungsansätze, sämtliche polizeilichen Abläufe. Er weiß, wie man sauber über die Gesetze hinwegsurft.

Nelson ist Argents neuer Held. Connor Lassiter, das letzte Objekt seiner Heldenverehrung, war eine Enttäuschung. Nun sind Argent und Nelson vereint in ihrem Hass gegen den Flüchtling von Akron, und solch ein Hass kann ebenso stark zusammenschweißen wie Liebe.

Argent dreht sich noch einmal zu den Kids im Laderaum um: Vier sind es, gefesselt und geknebelt, hübsch verpackt und abholbereit. Die Wandler sind alle wach, winden und krümmen sich. Manche weinen lautlos in sich hinein; sie wollen sich Argents Zorn nicht zuziehen, der ihnen schon mehrmals Gewalt angedroht hat. Natürlich ist das nur hohles Geschwätz, denn Nelson lässt nicht zu, dass er ihnen etwas antut.

»Blaue Flecken mindern den Marktwert«, hat Nelson erklärt. »Divan mag kein matschiges Obst. Wahrscheinlich ist er sowieso schon wütend, weil er von mir statt der großen Trophäe nur den Trostpreis bekommt.«

Die große Trophäe, das ist natürlich Connor Lassiter.

Nelson könnte die Wandler betäuben, damit sie still sind, aber das will er nicht. »Ich muss haushalten«, hat er Argent erklärt. »Betäubungsmunition ist teuer.«

Auf Argent scheint das allerdings nicht zuzutreffen. Einmal wollte er nur das Autoradio lauter drehen, und schon verpasste ihm Nelson eine Betäubung. Und das war nicht das erste Mal. Nelson scheint es großes Vergnügen zu bereiten, Argent in die Bewusstlosigkeit zu schicken. »Das ist wie bei einem Affen, dem man mit Elektroschocks beibringt, die Finger von der Banane zu lassen«, hat Nelson gesagt. Der nächste Song im Radio war »Shock the Monkey«. Argent ist überzeugt, dass Nelson übersinnliche Fähigkeiten hat.

Der Sender mit den Vorkriegs-Oldies spielt jetzt Pearl Jam in der Lautstärke, die Nelson mag: gerade so laut, dass man es fast noch hört. Argent muss ständig dem Impuls widerstehen, die ärgerlich leise Musik lauter zu drehen.

Als sich Argent wieder zu den Wandlern umdreht, blickt ihm der letzte Junge, den er gefangen hat, direkt in die Augen. Er hat schroffe Gesichtszüge, aber sanfte bernsteinfarbene Augen, die nicht zu seinem strengen Gesicht passen. Seine Augen flehen Argent um etwas an, aber um was? Freilassung? Gnade? Eine Erklärung, warum es mit ihm so weit gekommen ist?

»Hör auf damit!«, sagt Argent. »Egal, was du willst, du kriegst es sowieso nicht.«

»Ooo«, nuschelt der Wandler durch seinen Knebel.

»Keine Klopausen!«, knurrt Argent. »Du verkneifst es dir schön, bis wir anhalten. Und guck mich nicht mit diesen Welpenaugen an, sonst hau ich sie dir schwarz und blau.« Noch eine leere Drohung, aber das weiß der Kleine ja nicht. Der Junge senkt resigniert den Blick auf den abgewetzten Boden der Ladefläche. Das heitert Argent auf.

»Hey«, sagt Argent. »Witzig, dass wir mit dem Lieferwagen unterwegs sind, was? Wo ihr doch geliefert seid. Kapiert? Geliefert?«

»Kannst du denn keine Sekunde den Schnabel halten?«, fragt Nelson.

»Amüsier mich nur ein bisschen.« Argent findet es befriedigend, mit Leuten zu reden, die nicht antworten können. »Hey! Ich glaube, dem seine Augen könnten dir gefallen. Die sind noch hübscher als die, die du jetzt hast.«

Nach einer unbehaglichen Pause sagt Nelson: »Für mich kommt nur ein Paar Augen in Frage.«

Auch ohne dass Nelson es sagt, weiß Argent, wessen Augen für ihn die höchste Trophäe sind. »Weißt du, eins davon gehört nicht mal ihm«, erklärt Argent. »Connor hat mit dem neuen Arm auch ein neues Auge gekriegt.«

»Das spielt keine Rolle«, faucht Nelson. »Es geht nicht darum, wessen Augen ich bekomme; es geht darum, wem ich die Augen wegnehme.«

»Ja, kapiert. Wenn du durch seine Augen siehst, kann er nicht mehr durchsehen.« Argent grinst. »Außerdem, wer will seine Trophäen schon irgendwo im Regal stehen haben, wenn er sie sich in den Kopf pflanzen kann?«

Nelson erweist ihm nicht einmal die Ehre eines Seufzers. »Ich will deine Stimme nicht mehr hören. Nur weil du so ein Hohlkopf bist, musst du noch lange nicht dauernd hohle Witze reißen.«

»Ach ja? Dieser Hohlkopf hat gerade vier erstklassige Wandler für dich gefangen, damit du sie an deinen Schwarzmarktkumpel verhökern kannst.«

Nelson beugt sich mit der gesunden Gesichtshälfte näher an Argent heran, der Hälfte, die nicht verbrannt wurde, als er bewusstlos in der Sonne von Arizona lag. Das ist über ihren gemeinsamen Hass hinaus noch etwas, das sie zusammenschweißt: Sie haben beide nur ein halbes Gesicht. Wenn man Nelsons linke Hälfte und Argents rechte zusammennimmt, hat man ein ganzes. Das beweist, dass sie als Team zusammengehören.

»Divan ist nicht mein Kumpel!«, knurrt Nelson. »Er ist der weltweit führende Fleischhändler. Er kann sogar mit dem Dah Zey in Birma mithalten. Er ist ein Gentleman, der auf Förmlichkeiten achtet, und wenn du ihm begegnest, wirst du dich gefälligst entsprechend benehmen.«

»Meinetwegen«, sagt Argent. Dann muss er doch nachfragen: »Springt denn dieser Divan-Typ mit seinen Wandlern um wie die im Dah Zey? Ohne Betäubung und so?«

Die Andeutung löst hinter ihnen Stöhnen und unterdrücktes Schluchzen aus. Nelson durchbohrt Argent mit seinem Blick. »Muss ich dich wirklich wieder betäuben, damit du endlich den Mund hältst?«

Argent legt keinen Wert auf die Kopfschmerzen, die einem solchen kleinen Tod folgen, und verschließt die Lippen, entschlossen, erst einmal still zu sein.

Nelson erklärt ihm, dass sie noch nicht fertig sind.

»Wir fangen noch einen Wandler, ehe wir zu Divan fahren«, sagt er. »Wenn ich ihm Lassiter schon nicht liefern kann, will ich wenigstens mit einer vollen Ladung ankommen.« Nelson sieht Argent scharf an. »Ich muss mir sicher sein können, dass du dein Versprechen hältst, wenn wir dort sind.«

Argent schluckt und fühlt sich plötzlich so verschnürt wie die Kids im Laderaum. »Klar. Ein Mann, ein Wort. Ich gebe dir den Code für den Chip in der Sekunde, in der wir die ›Ware‹ entladen.«

Nelson akzeptiert die Antwort mit einem Nicken. »Dir zuliebe wollen wir mal hoffen, dass der Chip deiner Schwester noch funktioniert, und dass sie noch bei Lassiter ist.«

»Ist sie«, erklärt Argent. »Grace ist wie ein Blutegel. Wenn die sich erst mal festgesaugt hat, bräuchte es schon höhere Gewalt, damit sie wieder loslässt.«

»Oder einen Gewehrlauf am Kopf«, sagt Nelson.

Bei dem Gedanken fröstelt es Argent. Klar, er ist wütend auf Grace, weil sie sich gegen ihn auf Connors Seite geschlagen hat, aber würde Connor sie umbringen, um sie loszuwerden? Trotz allem, was passiert ist, bezweifelt Argent doch, dass er der Typ dafür ist. Er denkt aber lieber nicht weiter darüber nach. Und so lässt er seine Gedanken zu angenehmeren Dingen schweifen.

»Hat der Divan-Typ eigentlich Kinder? Vielleicht eine Tochter in meinem Alter?«

Nelson seufzt, zieht seine Betäubungspistole und schießt. Das niedrig dosierte Geschoss bleibt schmerzhaft in Argents Adamsapfel stecken. Argent zieht sich den Pfeil aus dem Hals, der jedoch schon die volle Dosis abgegeben hat.

»Das wird dir vom Lohn abgezogen«, sagt Nelson, ein Witz, denn er gibt Argent kein Geld. Er hat klargestellt, dass Argent eine Art unbezahltes Praktikum absolviert. Aber das ist schon okay so. Sogar die Betäubung ist okay. Denn das Leben meint es gut mit Argent Skinner.

Als er in den Betäubungsschlaf abdriftet, tröstet er sich mit der festen Gewissheit, dass auch Connor Lassiter bald zu Boden gehen wird. Aber anders als Argent wird Connor nie wieder aufstehen.

3.Connor

In einer staubigen Ecke des vollgestopften Antiquitätenladens in einem älteren Viertel von Akron, Ohio, wartet Connor Lassiter gespannt darauf, dass sich vor seinen Augen der Lauf der Welt verändert.

»Es muss hier irgendwo sein.« Sonia wühlt in einem Haufen veralteter elektronischer Geräte. Ob die alte Frau Geburt und Tod all dieser technischen Apparate miterlebt hat?

»Kann ich helfen?«, fragt Risa.

»Ich bin kein Pflegefall!«, erwidert Sonia.

Bei dem Gedanken, dass sie nun gleich den Gegenstand zu Gesicht bekommen, von dem die gesamte Zukunft abhängt, wird es Connor fast schwindelig. Die Zukunft der Umwandlung hängt davon ab. Die Zukunft der Jugendbehörde, die Leute wie ihn eisern im Griff hat. Er sieht Risa an, die wie er ungeduldig wartet. Unsere Zukunft, denkt er. Bisher fiel es ihm schwer, sich ein Morgen vorzustellen, wo es doch in seinem Leben immer nur darum geht, das Heute zu überstehen.

Grace Skinner, die neben Risa sitzt, knetet so intensiv die Hände, als wollte sie Funken schlagen. »Ist er größer als ein Brotkasten?«, fragt Grace.

»Das siehst du noch früh genug«, sagt Sonia.

Connor hat noch nie einen Brotkasten gesehen, aber da die Frage nach der Größe eines Brotkastens zu dem Spiel »Zwanzig Fragen« gehört, weiß er Bescheid. Er kann sich gerade noch davon abhalten, selbst die Hände zu wringen, während er darauf harrt, dass das Gerät endlich auftaucht.

Als Sonia begann, ihnen die Geschichte ihres Mannes zu erzählen, hoffte Connor bestenfalls auf ein paar neue Informationen. Ihn interessierte, warum das Proaktive Bürgerforum so viel Angst nicht nur vor dem Mann selbst hatte, sondern sogar vor der Erinnerung an ihn. Janson und Sonia Rheinschild, Träger des Nobelpreises für Medizin, wurden aus der Geschichte getilgt. Connor dachte, Sonia könnte einiges erklären. Aber das hat er nicht erwartet!

»Stellt euch vor, ihr erfindet einen Drucker, der lebende menschliche Organe produzieren kann«, sagte Sonia, nachdem sie ihnen von den Enttäuschungen erzählt hatte, die ihrem Mann am Ende das Leben genommen hatten. »Ihr verkauft das Patent an den landesweit größten Hersteller medizinischer Geräte … und der nimmt eure Arbeit … und begräbt sie. Nimmt eure Pläne und verbrennt sie. Zerstört die Prototypen und verhindert, dass jemals jemand erfährt, dass es diese Technik überhaupt gibt!«

Die Wut, die ihre Stimme zittern ließ, machte Sonia größer, als sie in Wirklichkeit war, und mächtiger als sie alle zusammen.

»Die Firma lässt die Lösung zum Problem der Umwandlung verschwinden, weil zu viele Leute zu viel investiert haben. Damit alles … genau so … bleibt … wie es ist.«

Es war Grace, die »minderbemittelte« Grace, die begriff, wohin das führte.

»Aber stellen wir uns vor, es wäre noch ein Organdrucker übrig«, sagt Grace. »In einem Antiquitätenladen.«

Dieser Gedanke schien alle Luft aus dem Raum zu saugen. Connor keuchte, und Risa griff nach seiner Hand, als kämpfe sie gegen ein Schwindelgefühl an.

Endlich kramt Sonia einen Karton heraus, der genauso groß ist, wie sich Connor einen Brotkasten vorgestellt hat. Er räumt einen kleinen Kirschholztisch frei, und sie stellt den Karton vorsichtig drauf.

»Du kannst ihn rausnehmen.« Sonia ist von der Anstrengung ein bisschen außer Atem.

Connor fasst in den Karton, legt die Hände um den dunklen Gegenstand, hebt ihn heraus und setzt ihn auf den Tisch.

»Das soll es sein?« Grace kann ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Das ist doch nur ein Drucker.«

»Genau«, sagt Sonia mit selbstzufriedenem Stolz. »Weltbewegende technische Neuerungen haben keinen Schnickschnack. Der kommt später dazu.«

Der Organdrucker ist klein, aber überraschend schwer, vollgepackt mit Elektronik, zugeschnitten auf seine speziellen Zwecke. Außen ist er metallisch grau und, wie Grace bereits angemerkt hat, absolut unscheinbar. Er sieht aus wie die gewöhnlichen Drucker, die vor Connors Geburt hergestellt wurden, und auch der Karton stammt wahrscheinlich von einem Standarddrucker.

»Wie so oft auf dieser Welt«, sagt Sonia, »kommt es darauf an, was drin ist.«

»Lass ihn mal laufen«, bittet Grace, die vor Spannung buchstäblich auf ihrem Stuhl auf und ab hüpft. »Lass ihn mal ein Auge drucken oder so etwas.«

»Geht nicht. Die Patrone muss mit pluripotenten Stammzellen gefüllt werden«, erklärt Sonia. »Darüber hinaus weiß ich nicht viel. Ich habe keinen blassen Dunst, wie das Ding funktioniert; meine Stärke war die Neurobiologie, nicht die Elektronik. Janson hat ihn gebaut.«

»Dann müssen wir ihn zurückentwickeln«, sagt Risa. »Damit man ihn nachbauen kann.«

Der kleine Prototyp hat ein Ausgabefach, das groß genug wäre für das von Grace gewünschte Auge, doch die Technologie ließe sich natürlich auch auf größere Maschinen übertragen. Bei der bloßen Vorstellung schießen Connor alle möglichen Gedanken durch den Kopf. »Wenn jedes Krankenhaus für seine Patienten Organe und Gewebe drucken kann, bricht das ganze Umwandlungssystem zusammen!«

Sonia lehnt sich bedächtig zurück und schüttelt den Kopf. »So einfach wird das nicht werden«, sagt sie. »So einfach ist das nie.« Sie sieht einem nach dem anderen in die Augen, während sie spricht, damit die drei verinnerlichen, was sie ihnen zu sagen hat.

»Es gibt nicht die eine Sache, die der Umwandlung ein Ende setzt«, erklärt sie. »Nur wenn vieles gleichzeitig geschieht, genau auf die richtige Art und Weise, genau zum richtigen Zeitpunkt, und die Gesellschaft an ihr Gewissen erinnert, wird sich etwas verändern.« Sanft tätschelt sie den Organdrucker. »All die Jahre hatte ich Angst davor, ihn herauszuholen, denn wenn sie den hier zerstören, bleibt nichts mehr. Die Technologie stirbt mit der Maschine. Aber ich glaube, jetzt ist die Zeit reif. Wenn wir ihn jetzt in die Welt bringen, werden nicht alle Probleme mit einem Schlag gelöst, aber es könnte andere Ereignisse in Gang setzen.«

Sie gibt Connor mit ihrem Stock einen Stoß, der ihm einen blauen Fleck beschert. »So wahr mir Gott helfe: Ich glaube, ihr seid die Richtigen, das in die Hand zu nehmen. Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt.«

WAHLWERBUNG

Sie kennen mich nicht, aber Sie kennen meine Geschichte oder jedenfalls eine sehr ähnliche. Meine Tochter wurde von einem Sechzehnjährigen auf einer Spritztour totgefahren. Hinterher erfuhr ich, dass dieser Junge schon dreimal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und wieder freigelassen worden war. Jetzt ist er wieder in Haft, und vermutlich wird ihm nach Erwachsenenstrafrecht der Prozess gemacht, aber das bringt mir meine Tochter nicht zurück. Es hätte überhaupt nicht dazu kommen dürfen, dass er ein Auto stiehlt. Aber trotz seiner kriminellen Vergangenheit und seiner Neigung zu waghalsigem und gewalttätigem Verhalten weigerten sich seine Eltern, ihn umwandeln zu lassen. Das Volksbegehren »Marcella«, nach meiner Tochter benannt, wird dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht. Wenn die Wählerinnen und Wähler diesem Volksbegehren zustimmen, werden nicht erziehbare Teenager im umwandlungsfähigen Alter nach dem dritten Vergehen automatisch und verpflichtend der Umwandlung zugeführt. Bitte stimmen Sie in dem Volksbegehren »Marcella« mit Ja. Sind wir das unseren Kindern nicht schuldig?

 

Finanziert von »Elternkoalition für ein sicheres Morgen«

Connor trägt das geheimnisvolle Gerät schnell ins Hinterzimmer. Er hatte schon immer ein Händchen für Technik, aber diesmal wagt er es nicht einmal, das Gehäuse zu öffnen, aus Angst, irreparable Schäden herbeizuführen.

»Wir müssen dafür sorgen, dass der Drucker in die richtigen Hände kommt«, sagt Connor. »Wir brauchen jemanden, der weiß, was er damit anstellen muss.«

»Und der nicht so tief in das System verstrickt ist, dass er ihn lieber zerstört, als ihn zu nutzen«, fügt Risa hinzu.

»Dürfte schwierig werden«, sagt Grace.

Sonia kommt humpelnd dazu, als die drei den Drucker anstarren. »Das ist keine religiöse Reliquie«, erklärt sie. »Kriegt euch mal wieder ein.«

»Na ja, irgendwie ist er schon heilig«, sagt Risa.

Sonia wedelt abschätzig mit der Hand. »Technische Geräte sind weder teuflisch noch göttlich. Es hängt immer davon ab, wer sie benutzt.« Sie tippt mit dem Stock auf den alten Überseekoffer, ein Signal dafür, dass sie so langsam in den dunklen Keller hinabsteigen müssen.

Grace schiebt den Koffer zur Seite. Sie keucht. »Was ist da überhaupt drin? Blei?«

Risa blickt Connor an, und Connor weicht ihrem Blick aus. Sie wissen beide, was da drin ist. Aber wahrscheinlich kann sich nicht einmal Risa vorstellen, wie schwer ihm das auf dem Herzen lastet. Viel schwerer als das Gewicht der Briefe in dem Koffer. Wie viele Briefe von wie vielen Jugendlichen das wohl sein mögen?

Als der Koffer zur Seite geräumt ist, rollt Sonia den Teppich zusammen und legt die Falltür frei. Connor öffnet sie.

»Ich schließe jetzt den Laden auf«, sagt Sonia. »Ob es mir schmeckt oder nicht, ich muss mir meinen Lebensunterhalt verdienen, also runter mit euch. Ihr kennt euch ja aus. Seid nicht zu laut und glaubt keine Sekunde, ihr wärt zu clever, euch fangen zu lassen.« Dann deutet sie auf den Drucker. »Und nehmt den mit. Ich will nicht, dass eine neugierige Tussi im Laden herumschnüffelt und ihn hier stehen sieht.«

 

Connor war schon fast zwei Jahre nicht mehr in Sonias Keller. An seinem zweiten Tag als flüchtiger Wandler kam er zum ersten Mal her. Er hatte ein Zehntopfer als Geisel genommen, einen JuPo mit der eigenen Waffe betäubt und unterwegs eine Waise getroffen, die auf dem Weg ins Ernte-Camp aus dem Bus geflohen war. Was für ein schriller Haufen Irrer sie gewesen waren! Manchmal kommt sich Connor immer noch vor wie ein Idiot, aber es hat sich so viel verändert, dass er sich kaum noch an den Rabauken erinnern kann, der er einmal war. Lev, das unschuldige Kind, das sich nach einer Gehirnwäsche die eigene Umwandlung wünschte, ist heute eine alte Seele in einem Körper, der aufgehört hat zu wachsen. Risa, die zunächst einfach nur ums Überleben gekämpft hatte, nahm es im Fernsehen mit dem Proaktiven Bürgerforum auf, nachdem ihr das Rückgrat erst gebrochen und dann gegen ihren Willen durch ein neues ersetzt worden war. Und was Connor angeht: Er übernahm die Leitung des weltweit größten Geheimverstecks für flüchtige Wandler, nur um festzustellen, dass es in Wahrheit gar nicht so geheim war. Die Erinnerung an das Ende des Friedhofs ist noch eine frische Wunde in seiner Seele. Er hatte mit Zähnen und Klauen gegen die Angreifer gekämpft, manche würden wohl sagen, heldenhaft, doch am Ende siegte die Jugendbehörde und schickte Hunderte von flüchtigen Wandlern ins Ernte-Camp.

EAs, genau wie die, die jetzt in Sonias Keller hausen.

Es ist verrückt, aber Connor wird das Gefühl nicht los, dass er an dem Tag, an dem der Friedhof unterging, auch diese Kids im Stich gelassen hat. Als er hinter Risa die Treppe hinuntergeht, überkommt ihn eine Furcht und eine diffuse Scham, die ihn wütend macht. Es gibt nichts, dessen er sich schämen müsste. Was auf dem Friedhof geschah, konnte er nicht beeinflussen. Und dann war da ja auch noch Starkey, der ihn hintergangen hat und mitsamt seinen Storchen mit dem einzigen Fluchtflugzeug entkommen ist. Nein, Connor muss sich nicht schämen. Aber warum kann er den Kids, die im trüben Licht des Kellers vor ihm auftauchen, nicht in die Augen sehen?

»Déjà-vu?«, fragt Risa, als sie ihn tief und zitternd atmen hört.

»So was in der Art.«

Risa, die schon seit ein paar Wochen bei Sonia ist und ihr zur Hand geht, kennt hier unten alle. Sie bahnt Connor einen Weg durch die Kids, die entweder tiefbeeindruckt oder verängstigt auf seine Anwesenheit reagieren. Das derzeitige Alphamännchen, ein großer, sehniger Typ namens Beau, markiert umgehend sein Revier mit den Worten: »Du bist also der Flüchtling von Akron? Ich hätte gedacht, du siehst … fitter aus.«

Connor weiß nicht recht, was er meint, und wahrscheinlich weiß es der Typ auch nicht. Connor könnte sich nun damit vergnügen, Beau mit seinem vermeintlichen Testosteronüberschuss in die Schranken zu weisen, doch er kommt zu dem Schluss, dass es das nicht wert ist.

»Was hast du denn da?«, fragt ein unschuldig wirkender Dreizehnjähriger, der Connor ein bisschen an Lev erinnert, ehe er sich die Haare wachsen ließ und abstumpfte.

»Nur einen alten Drucker«, erwidert Connor. Grace muss kichern, sagt aber kein Wort. Stattdessen macht sie die Runde, stellt sich vor, schüttelt Hände, auch den Kids, die lieber niemandem die Hand geben würden.

»Einen alten Drucker?«, sagt Beau. »Als bräuchten wir hier unten noch mehr Schrott.«

»Ja, na ja, er hat sentimentalen Wert.«

Beau gibt ein überhebliches Ahaa von sich und zieht ab. Connor unterdrückt den Drang, ihm ein Bein zu stellen.

Connor verstaut den Drucker in einem Regal. Wenn er ihm zu viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit schenkt, machen sich die schlaueren Kids ihre Gedanken. Je weniger Menschen im Moment Bescheid wissen, desto besser. Zumindest so lange, bis die ganze Welt davon erfahren darf.

»Das sind gute Kids«, sagt Risa zu Connor. »Natürlich haben sie Probleme, sonst wären sie nicht hier.«

Trotz seiner Liebe zu Risa sträubt sich etwas in Connor. »Ich weiß, wie man mit Wandlern umgeht. Ich mach das schon eine Weile.«

Risa wirft ihm einen durchdringenden Blick zu. »Was ist mit dir?«, fragt sie.

Und obwohl er es auch nicht genau weiß, wandert sein Blick unwillkürlich zu der Haitätowierung auf seinem Arm. Als er das letzte Mal in diesem Keller war, gehörte der Arm Roland. Risa bemerkt es und versteht ihn wie immer besser als er sich selbst.

»Hier unten bekommt man leicht das Gefühl, dass man wieder ganz am Anfang steht, aber das stimmt nicht.«

»Ist mir schon klar«, gibt Connor zu. »Aber das Wissen und das Gefühl sind zweierlei. Und hier kommt … alles Mögliche wieder hoch.«

»Hier?«, fragt sie. »Oder zu Hause?«

»Akron ist nicht mein Zuhause«, ruft er ihr in Erinnerung. »Klar, die Leute nennen mich ›Flüchtling von Akron‹, weil das alles hier passiert ist, aber ich bin nicht von hier.«

Sie schenkt ihm ein sanftes Lächeln, das seinen Frust zumindest ein wenig lindert. »Weißt du, du hast mir nie erzählt, wo du zu Hause warst.«

Er zögert, als würde es näher rücken, wenn er es aussprechen würde. Er weiß nicht so recht, ob er das will. »Columbus«, sagt er schließlich.

Sie überlegt. »Das ist ungefähr eineinhalb Stunden weg von hier, oder?«

»Ungefähr.«

Sie nickt. »Das staatliche Waisenhaus, in dem ich den Großteil meines Lebens verbracht habe, liegt noch viel näher. Und weißt du was? Das ist mir völlig egal.«

Als sie sich umdreht, weiß Connor nicht genau, ob sie ihm mit ihren Worten ihr Mitgefühl ausdrücken wollte, oder ob das eine sanfte Ohrfeige war.

WAHLWERBUNG

Angesichts der vielen verwirrenden Informationen, die durch die Welt geistern, fällt die Entscheidung wirklich schwer. Aber bei der Maßnahme F, »der Präventionsinitiative«, ist alles klar. Die Maßnahme F ist eine einfache Sache. Damit wird eine neue Abteilung der Jugendbehörde finanziert, die Tausende von gefährdeten Kindern unter dreizehn Jahren vor Erreichen des umwandlungsfähigen Alters überwacht, ihnen Beratung, Behandlung und Zukunftsalternativen bereitstellt. Und die Maßnahme F kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler keinen Cent! Sie wird vollständig aus den Einnahmen der Ernte-Camps finanziert.

Kreuzen Sie Ja an für die Maßnahme F. Denn Prävention ist wertvoller als Strafe!

 

Finanziert von der »Koalition Sonniger Tag«

In Sonias Keller lässt sich schwer sagen, ob die Nacht schon angebrochen ist. Hoch oben in der hintersten Ecke des Raums gibt es ein kleines Fenster, das jedoch hinter einem Berg von Gerümpel verschwindet, und man muss schon genau hinsehen, um das Licht auszumachen, das durch das trübe Milchglas dringt. Die wenigen Uhren in dem Gerümpel funktionieren nicht, ebenso wenig wie der Fernseher. Und auch die zwölf Kids im Keller haben keine Uhr. Die haben sie entweder gegen Essen eingetauscht, bevor sie bei Sonia landeten, oder sie haben ihre Smartphones als Uhr verwendet und besaßen daher nie eine. Da Smartphones aber geortet werden können, sind sie das Erste, was ein kluger EA loswird. Connor war am ersten Abend seiner Flucht nicht so klug. Er wurde über sein Handy geortet und um Haaresbreite geschnappt. Danach hat er schnell gelernt.

Während alle darauf warten, dass Sonia ihnen das Abendessen bringt, für das es keinen vorhersehbaren Zeitplan gibt, erzählt Grace den anderen von den Geschehnissen des Vorabends. Als sie merkt, dass die meisten Kids ihr gebannt zuhören, kommt sie richtig in Fahrt.

»Wir sind also da oben im Haus dieser Dame, und ich sehe mitten in der Nacht so ein Sonderkommando in Schwarz über den Rasen schleichen«, sagt sie. »Garantiert waren die zum Töten ausgebildet. Hände als tödliche Waffen, so was in der Art.« Connor findet ihre Ausschmückungen peinlich. Wenn sie es das nächste Mal erzählt, landet ein Hubschrauber im Garten.

»Ich hör sie flüstern und schnappe ein paar Worte auf, und da wird mir plötzlich klar, dass sie nicht hinter Connor oder Risa oder mir her sind. Nein, sie haben es auf Camus Comprix abgesehen! Den wollen sie schnappen, und dabei wissen sie gar nicht, dass wir anderen auch da sind!« Sie legt eine dramatische Pause ein. »Plötzlich brechen sie durch die Hintertür ein, und ich sage zu Cam, er ist erledigt, aber wir anderen nicht unbedingt. Ich schiebe Risa unters Bett und quetsche mich neben sie, und Connor legt sich mit dem Gesicht nach unten hin und stellt sich schlafend. Und als sie ins Zimmer stürmen, betäuben sie Connor und merken nicht mal, dass sie sich den Flüchtling von Akron durch die Lappen haben gehen lassen. Und das nur, weil ich es ausgeknobelt habe!«

Einige der Kids scheinen Zweifel zu haben, und Connor fühlt sich genötigt, Grace’ Geschichte zu bestätigen. Ehre, wem Ehre gebührt. »Das stimmt«, sagt er. »Wenn Grace uns das nicht alles erklärt hätte, hätte ich gegen die gekämpft, und wahrscheinlich hätten sie mich erkannt und mitgenommen.«

»Aber warte mal«, sagt Jack, der Lev ähnlich sieht. »Warum sollte er sich mitnehmen lassen, ohne euch vorher zu verpfeifen? Ich meine, ihr seid ein Riesenfang. Wahrscheinlich hätte er einen Deal machen können oder so was.«

Grace grinst viel zu breit, und Connor weiß schon, was gleich kommt. Nun wünschte er, sie hätte nie mit der Geschichte angefangen.

»Weil Camus Comprix in Risa verliebt ist!«

Grace lässt die Worte wirken. Connors Blick wandert reflexhaft zu Risa, die ihn nicht erwidert.

»Das kapier ich nicht«, sagt ein anderer Junge. »Das ganze Medientheater, dass die beiden ein Paar waren, das war doch erlogen, dachte ich.«

Grace’ Grinsen wird keinen Millimeter schmaler. »Nicht für Cam …«

Risa setzt der Sache schließlich ein Ende. »Grace, es reicht. Okay?«

Grace fällt ein wenig in sich zusammen, denn sie merkt, dass ihr großer Auftritt vorüber ist. »Jedenfalls«, sagt sie ein bisschen weniger dramatisch, »ist das so passiert. Cam haben sie geschnappt, uns nicht.«

»Wow«, sagt Jack, »wer hätte gedacht, dass ein Verbundmensch so was wie ein Held sein kann?«

»Held?«

Alle drehen sich zu Beau um, der abseits saß und so tat, als hörte er nicht zu. »Wie viele Dutzend Kids wie wir waren nötig, um einen wie den herzustellen? An dem ist nichts ›Heldenhaftes‹.«

Connor kann sich nicht verkneifen zu sagen: »Da bin ich voll und ganz deiner Meinung.«

Beau nickt Connor zu. Er und der Flüchtling von Akron haben doch etwas gemein.

WAHLWERBUNG

Fallen Sie nicht auf Maßnahme F herein!

Anhänger der sogenannten Präventionsinitiative behaupten, ihnen gehe es ausschließlich darum, gefährdete Kinder zu schützen. Aber lesen Sie das Kleingedruckte! Die Maßnahme F bevollmächtigt die Jugendbehörde, nicht erziehbare Kinder aufzuspüren und, sobald sie dreizehn werden, umzuwandeln, und das völlig legal, sobald das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte in Kraft tritt.

Die Maßnahme G dagegen gibt der Jugendbehörde finanzielle Anreize, flüchtige Wandler einzufangen, die bereits bewiesen haben, dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft sind.

Nein für F! Ja für G! Treffen Sie die vernünftige Wahl!

 

Finanziert von der »Allianz für eine EA-freie Nation«

Als sich alle schlafen legen, breitet Connor in derselben halbprivaten Nische, in der Risa schon beim ersten Mal geschlafen hat, seinen Schlafsack neben ihrem aus. Der Schlafplatz liegt ein wenig abseits von den anderen, und Connor verrückt ein großes Bücherregal, um noch ein bisschen mehr Privatsphäre zu schaffen. Risa beobachtet ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, beim Bau des abgeschiedenen Nestes. Connor holt tief und erwartungsvoll Luft. Bilden in dieser Nacht die Sterne ihrer Beziehung eine gemeinsame Konstellation? Er hat es sich schon so lange ausgemalt. Ob es Risa genauso geht? Connor legt sich zögernd neben sie. »Wie in alten Zeiten«, sagt er.

»Ja, aber als wir das letzte Mal hier waren, haben wir nur so getan, als wären wir ein Paar, um mir Roland vom Hals zu schaffen.«

Er streichelt ihr sanft die Wange mit Rolands Fingern. »Und doch fasst dich seine Hand jetzt an.«

»Nicht überall«, sagt sie verschmitzt. Dann rollt sie sich zur Seite, schnappt sich aber den übergriffigen Arm und legt ihn wie eine Decke um sich, so dass sie eng in Löffelchenstellung nebeneinanderliegen, seine Brust an ihrem Rücken. Es liegt Spannung in der Luft, alles ist möglich. Nichts kann sie zurückhalten. Oder doch:

»Ich muss dauernd an Cam denken«, sagt Risa. »Dass er sich für uns geopfert hat.«

Connor zieht sie mit dem transplantierten Arm näher an sich heran. Er wünschte, er könnte seinen eigenen Arm nehmen, aber dafür liegt er falsch. »Cam ist der Letzte, an den ich jetzt denke.«

»Aber nach allem, was er für uns getan hat, finde ich, er verdient … unsere Anerkennung.«

»Meine hat er«, sagt Connor grinsend, auch wenn sie das nicht sehen kann. »Genau gesagt, salutiere ich gerade voller Ehrfurcht vor ihm. Merkst du das nicht?«

»Haha.«

In der Stille spürt er in dem Arm, mit dem er sie hält, ihren Herzschlag. Er spürt ihren Herzschlag in der Brust, die er gegen ihren Rücken presst. Es ist fast mehr, als er ertragen kann. Er könnte Cam verfluchen dafür, dass er immer noch zwischen ihnen ist, egal, wie eng sie beieinanderliegen. »Was schulden wir ihm denn? Ewige Zurückhaltung?«

»Nein«, sagt Risa. »Nur … ein wenig Bedenkzeit.«

Connor sagt eine Weile gar nichts. Seine Enttäuschung hat unzählige Schichten, aber könnte sich dazwischen vielleicht sogar ein wenig Erleichterung verbergen? Er fügt sich in die Einsicht, dass es heute Nacht nicht geschehen wird, und verschiebt seine Hoffnung und sein Begehren in eine Zukunft, die nah genug ist, um sie gerade noch wahrzunehmen, aber doch so weit weg, dass sie ihn nicht quält.

»Na gut«, sagt er. »Diese Nacht ist für Cam. Lass uns bedenken, bis uns die Köpfe rauchen.«

Sie kichert leise, und sie stimmen sich still auf die Nacht ein. Körperwärme und Herzschläge bis zum Morgengrauen.

 

Connor erinnert sich nicht an seine Träume, nur an das dumpfe Gefühl, dass er welche hatte, und dass sie intensiv waren. Keine Albträume, da ist er sich sicher. Es waren Träume der Erfüllung und der Macht, denn beides spürt er noch, als das schwache diffuse Licht des Morgens auf das winzige Kellerfenster hinter ihnen trifft.

Einzuschlafen und wieder aufzuwachen, im Arm das einzige Mädchen, das er jemals wirklich geliebt hat …

Zu wissen, dass sie beide ein Gerät in ihrem Besitz haben, das so mächtig ist wie ein Raketensprengkopf …

Sich unbesiegbar zu fühlen, wenn auch nur für einen flüchtigen Moment …

Das alles reicht aus, um die Welt anzuhalten und sie entgegengesetzt wieder in Gang zu setzen. Zumindest kommt es Connor so vor. Bislang hat er sich an einer vagen Hoffnung festgeklammert, doch nun nimmt diese Hoffnung Gestalt an.

In Connors Leben gab es bislang nichts, was er als perfekt bezeichnen würde, aber dieser Augenblick, in dem sein Arm taub ist, weil er ihn die ganze Nacht um Risa geschlungen hat, in dem ihm der Duft ihres Haares in der Nase liegt, dieser Augenblick ist so perfekt, wie er es sich nur vorstellen kann. Sogar der Hai scheint zu lächeln.

Solche Momente sind jedoch nie von Dauer.

Bald wachen auch alle anderen auf. Beau schiebt das Regal zur Seite, das ihnen ein wenig Privatsphäre beschert hat, weil es angeblich den Weg ins Badezimmer versperrt, und der Tag beginnt. Die Kids hier unten haben sich an die Routine gewöhnt, tun, was sie eben so zu tun haben, als wäre nichts geschehen. Doch das stimmt nicht. Sie wissen es nur noch nicht. Die Welt wurde soeben auf den Kopf gestellt, oder genauer gesagt wurde sie wieder auf die Füße gestellt, nachdem sie so lange Zeit kopfgestanden hatte.

In wenigen Minuten wird sich mit einem Bums die Falltür öffnen, und Sonia wird mit dem Frühstück kommen und rufen, dass ihr »zum Teufel mal jemand helfen« soll.

»Warum gehst du nicht und hilfst ihr?«, fragt ihn Risa sanft, weil sie weiß, dass nur eine Aufgabe Connor von ihr loseisen kann.

Sonia hat genügend Lebensmittel dabei, um eine Armee abzufüttern. Beau, Connor und Grace, die heute offensiv hilfsbereit ist, bringen die Vorräte nach unten. Als Connor das dritte Mal nach oben geht, gibt es nichts mehr zu tragen.

Heute wurde der Überseekoffer so zur Seite geschoben, dass er einen kleinen Kunststoffpapierkorb einklemmt, der ihm in die Quere kam.

Der Reisekoffer beschäftigt Connor schon seit seiner Ankunft, auch wenn er es bislang nicht gewagt hat, den Inhalt anzusprechen. Als Connor sich umschaut, sieht er, dass Sonia den Laden verlassen hat, um einen Parkplatz für ihren Kombi zu suchen.

Er ist allein mit dem Koffer.

Unfähig, sich seiner Anziehungskraft zu entziehen, kniet er davor nieder. Es ist schwer, das alte Ding. Bestimmt eine Antiquität. Alte Reiseaufkleber schmücken ihn, wie eingelassen in das uralte Leder. Connor vermag nicht zu sagen, ob der Überseekoffer wirklich an all den Orten gewesen ist oder ob die Aufkleber erst zum Schmuck hinzukamen, als es mit den Reisen vorbei war und aus dem Koffer ein Möbelstück geworden war.

Connor wagt nicht, ihn zu öffnen, aber er weiß ja, was sich darin befindet.

Briefe.

Hunderte von Briefen.

Jeder wurde von einem der EAs verfasst, die in Sonias Keller Unterschlupf gefunden haben. Die meisten haben an ihre Eltern geschrieben. Es sind Briefe voller Kummer, Enttäuschung, Wut und der gellenden Frage: »Warum?« Warum habt Ihr das getan? Wie konntet Ihr? Wann ist alles dermaßen aus dem Ruder gelaufen? Selbst die staatlichen Mündel, die von der Institution, die sie aufzog, nicht geliebt, sondern nur toleriert wurden, hatten jemandem etwas zu sagen.

Connor fragt sich, ob Sonia seinen Brief losgeschickt hat, oder ob er noch da drin ist, begraben unter den anderen wütenden Stimmen. Was würde er seinen Eltern jetzt wohl sagen? Wäre es etwas anderes als das, was er geschrieben hat? Sein Brief begann mit den Worten, dass er sie hasste dafür, was sie getan hatten, doch als er zum Ende kam, war er in Tränen aufgelöst und schrieb ihnen, dass er sie trotzdem liebte. So viel Verwirrung. So viel Unsicherheit. Allein das Verfassen des Briefes half ihm zu verstehen … half ihm, sich selbst ein bisschen besser zu verstehen. Sonia hatte ihm an jenem Tag ein Geschenk gemacht, und zwar, dass sie ihn den Brief schreiben ließ, nicht, dass sie ihn abschickte. Trotzdem …

»Ich würde dich ja bitten, mir den Koffer wieder zurückzuschieben, aber davor müsstest du auf der anderen Seite der Falltür sein.« Sonia hebt den Stock und deutet auf die steile Kellertreppe.

»Stimmt. Ich gehe ja! Verschon mich mit deinem Viehtreiber.«

Diesmal versetzt sie ihm keinen Schlag, sondern, als er nach unten geht, einen sanften Stups auf den Hinterkopf, damit er sich noch einmal zu ihr umdreht.

»Sei gut zu ihr, Connor«, sagt Sonia sanft. »Und lass dich nicht von Beau provozieren. Er spielt nur gern den großen Macker.«

»Keine Sorge.«

Er geht nach unten, und sie schließt die Falltür über ihm. Ihn durchzuckt eine Erinnerung ohne Worte oder Bilder, eher wie das Aufwallen eines Gefühls, an die Zeit vor zwei Jahren, als er das erste Mal dort unten eingesperrt war. In die Unbesiegbarkeit, die er beim Aufwachen verspürte, mischt sich nun das kalte Konzentrat dieser Erinnerung.

Risa behandelt auf ihrer kleinen Unfallstation ein Mädchen, das eine geschwollene, leicht blutige Lippe hat. »Ich hab mir beim Schlafen auf die Lippe gebissen, na und?« Das Mädchen geht sofort in die Defensive. »Ich habe Albträume, na und?«

Als sie versorgt ist, nimmt Connor im Behandlungsstuhl Platz. »Doktor, ich habe ein Problem mit meiner Zunge«, sagt er.

»Was denn für eins?«, fragt Risa vorsichtig.

»Ich krieg sie nicht aus dem Ohr meiner Freundin.«

Sie bedenkt ihn mit dem besten Oh-bitte-Blick, den er je gesehen hat, und sagt: »Ich rufe die JuPos, die schneiden sie raus. Das löst das Problem bestimmt.«

»Und so bekommt eine andere arme Seele ein hochtalentiertes Sinnesorgan.«

Sie lässt ihm das letzte Wort und mustert ihn.

»Erzähl mir von Lev«, sagt sie schließlich.

Als das Gespräch die spielerische Ebene verlässt, kommt er sofort wieder herunter.

»Was denn?«, fragt Connor.

»Du hast gesagt, du warst eine Weile mit ihm zusammen. Wie ist er jetzt denn so?«

Connor zuckt die Schultern, als wäre dazu nichts zu sagen. »Anders.«

»Gut anders oder schlecht anders?«

»Na ja, als du ihn das letzte Mal gesehen hast, plante er gerade, sich in die Luft zu sprengen. Dagegen ist alles eine Verbesserung.«

Ein Junge kommt, weil er einen Splitter im Finger hat, doch als er die beiden zusammen sieht, kehrt er um und kümmert sich selbst darum.

Connor kann dem Gespräch nicht ausweichen und erzählt daher Risa, was er weiß. »Lev hat seit dem Ernte-Camp viel durchgemacht. Das weißt du ja, oder? Klatscher haben versucht, ihn umzubringen. Und dieses Arschloch Nelson hat ihn sich geschnappt, aber er ist ihm entwischt.«

»Nelson?« Risa ist wie vom Schlag getroffen. »Der JuPo, den du betäubt hast?«

»Er ist kein JuPo mehr. Der ist jetzt Teilepirat und völlig durchgeknallt noch dazu. Er hat es auf Lev und mich abgesehen. Auf dich wahrscheinlich auch, wenn er dich finden kann.«

»Na toll«, sagt Risa, »noch einer auf der Liste von Leuten, die mich am liebsten tot sehen würden.«

Mit dem Schreckgespenst Nelson im Hinterkopf empfindet es Connor geradezu als Erleichterung, wieder auf Lev zurückzukommen. »Jedenfalls ist Lev kein bisschen gewachsen, nur die Haare. Mir gefällt das nicht. Die gehen schon über die Schultern.«

»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagt Risa.

»Tu das nicht«, erwidert Connor. »In dem Arápache-Reservat ist er sicher. Da kann er die Gespräche führen, die man im Glücksvolk eben so führt.«

»Allzu glücklich scheinst du aber nicht darüber zu sein.«

Connor seufzt. Bevor Connor und Grace das Reservat verließen, faselte Lev dauernd davon, dass er die Arápache dazu bringen wolle, sich gegen die Umwandlung aufzulehnen. Als ob sie das jemals tun würden. Irgendwie ist er immer noch so naiv wie an dem Tag, an dem ihn Connor davor rettete, sich zu opfern. »Er sagt, er will gegen die Umwandlung kämpfen, aber wie soll das gehen in diesem abgelegenen Reservat? Ich glaube, er will sich nur irgendwo verstecken, wo es sicher ist.«

»Na ja, wenn er Frieden gefunden hat, freue ich mich für ihn, und das solltest du auch.«

»Stimmt schon«, gibt Connor zu. »Vielleicht bin ich ja auch nur neidisch.«

Risa lächelt. »Du wüsstest doch gar nicht, was du mit Frieden anfangen solltest, wenn du ihn hättest.«

Connor lächelt zurück. »Ich wüsste genau, was ich tun würde.« Dann beugt er sich ganz nah zu ihr, als wollte er ihr etwas zuflüstern, und sie beugt sich vor, um es zu hören, doch da steckt er ihr die Zunge in die Ohrmuschel, mit einer Präzision, die ihm eine Ohrfeige beschert. Wenn er dachte, er könnte sie damit vom Thema abbringen, hatte er sich getäuscht.

»Ich vermisse Lev«, sagt sie. »Er ist wie ein Bruder. Ich hatte nie einen Bruder, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«

»Ich habe einen Bruder«, erzählt ihr Connor. Er weiß nicht, warum er das gesagt hat. Mit Risa hat er noch nie über ihn gesprochen. Sein Leben vor der Umwandlungsverfügung kommt ihm irgendwie wie ein Tabu vor. Es ist, als würde man Geister beschwören.

»Er ist ein paar Jahre jünger als du, stimmt’s?«, fragt Risa.

»Drei Jahre.«

»Genau, jetzt weiß ich es wieder«, sagt sie, was ihn überrascht. Aber eigentlich sollte ihn gar nichts überraschen. Das Leben des berühmt-berüchtigten Flüchtlings von Akron wurde seit dem Tag, an dem er entkam, von den Medien haarklein auseinandergenommen.

»Wie heißt er noch mal?«, fragt Risa.

»Lucas«, erwidert Connor, und mit der Erwähnung des Namens überschwemmt ihn völlig unvorbereitet eine riesige Welle an Gefühlen. Er spürt Bedauern, aber auch Verbitterung, weil Lucas das Kind war, das die Eltern Connor vorgezogen haben. Aber er darf nicht vergessen, dass nicht sein Bruder daran schuld war.

»Vermisst du ihn?«, fragt Risa.

Connor zuckt unsicher mit den Schultern. »Er war eine Nervensäge.«

Risa grinst. »Das beantwortet nicht meine Frage.«

Connor sieht ihr in die Augen, die so wunderschön grün sind und so tief und ausdrucksvoll, als wäre es ihre natürliche Farbe.

»Ja«, gibt Connor zu. »Manchmal.« Ehe Connors Eltern ihn abschrieben, wurde er ständig mit Lucas verglichen. Schulnoten, sportliche Erfolge – da spielte es keine Rolle, dass Connor Lucas jede Sportart beigebracht hatte. Doch während Connor nie die Geduld aufbrachte, eine ganze Saison lang in einem Team zu bleiben, war Lucas immer der Beste, zur anhaltenden Freude seiner Eltern. Und je heller Lucas’ Stern strahlte, desto schwächer leuchtete Connors.

»Ich will echt nicht darüber reden«, sagt Connor. Und damit schließt er sein altes Leben und die Erinnerungen an seine Familie einfach weg, genau wie den Brief, der in Sonias Überseekoffer eingeschlossen ist.

4.Lev

Von Frieden kann bei Lev keine Rede sein.

Wieder ist er in den Wipfeln der Bäume unterwegs, zu nachtschlafender Zeit, auch wenn der Wald hellwach zu sein scheint. Das Blätterdach breitet sich im blauen Flutlicht des Mondes vor ihm aus wie ein aquamarinfarbenes Wolkenmeer.

Er folgt wieder dem Kinkajou, dem Wickelbären, einem affenartigen Wesen mit riesigen Augen. Total süß, aber richtig gefährlich. Lev weiß jetzt, dass er seinem eigenen Tiergeist nachjagt. Der Wickelbär springt vor ihm her über die höchsten Äste des dichten Regenwalds und lockt Lev, etwas zu folgen, das sein Schicksal sein könnte, wenn auch nicht so unabänderlich und unentrinnbar wie das Schicksal. Eher etwas, das er wahr machen könnte.

Er träumt oft von dem Wickelbären und seiner Verfolgungsjagd durch den Wald. Der Wald ist für ihn ein schicksalhafter Schutzraum, der ihn nährt und stärkt. Er ruft ihm in Erinnerung, dass hinter seinem schmerzvollen Tun ein erstrebenswertes Ziel steht.

Die Träume sind erstaunlich lebendig, und er erinnert sich hinterher jedes Mal daran. Das ist an und für sich schon ein Geschenk, für das er dankbar ist. Nicht nur die Leuchtkraft dessen, was er sieht, macht diese Träume so lebendig, dass er sie geradezu mit den Händen greifen kann, sondern auch das Zirpen, Kreischen und Singen der Nachtlebewesen um ihn herum. Der Duft der Bäume und des Bodens tief unter ihm, so erdig und gleichzeitig überirdisch. Die Zweige, die seine Hände, Füße, den Schwanz streifen. Ja, den Schwanz, denn er hat den Wickelbären jetzt eingeholt. Er hat sich in seinen Tiergeist verwandelt und ist dadurch vollständig geworden.

Er weiß schon, was als Nächstes kommt. Der Waldrand, der Weltenrand. Aber diesmal ist etwas anders. Ein Gefühl wallt in ihm auf. Eine Vorahnung, aus seinem Leben allzu vertraut, aber hier bisher unbekannt.

Mit einer Brise weht ein beißender Geruch heran. Brandgeruch. Das beruhigende blaue Licht um ihn herum verfärbt sich erst lavendelfarben, dann kastanienbraun. Als er sich umdreht, sieht er hinter sich in der Ferne einen Waldbrand, der sich zu einer Feuerwand aufbaut. Er ist vielleicht noch eine Meile weit weg, verschlingt aber die Bäume in beängstigender Geschwindigkeit.

Aus den Geräuschen des Lebens werden Warnrufe und Entsetzensschreie. Vögel flattern panisch in den Himmel, gehen aber in Flammen auf, ehe sie entkommen können. Lev kehrt der sich nähernden Feuersbrunst den Rücken zu und springt von Ast zu Ast, um zu entkommen. Vor ihm tauchen genau dort, wo er sie braucht, immer neue Äste auf, und er könnte dem Feuer entfliehen, wenn das Blätterdach endlos wäre. Ist es aber nicht.

Viel zu früh gelangt er an die Stelle, wo der Wald an einer Klippe endet, die in bodenloses Vergessen abfällt, vor ihm der Himmel und, wie es scheint, knapp außer Reichweite der Mond.

Hol ihn runter, Lev.

Er kann es schaffen! Wenn er hoch genug springt, kann er die Krallen hineinschlagen und den Mond vom Himmel ziehen. Und wenn er zur Erde stürzt, wird die Druckwelle den Brand ausblasen wie eine Kerze.

Lev sammelt allen Mut, während er die glühende Hitze bereits im Rücken spürt. Er muss vertrauen, darf nicht versagen. Als er schon selbst brennt, springt er in den Himmel und packt zu seiner eigenen Überraschung den Mond … doch seine Krallen dringen nicht tief genug ein. Lev rutscht ab und fällt, während hinter ihm das Feuer die letzten Reste des Waldes verschlingt. Er stürzt aus dieser Welt in einen unfertigen Winkel des Universums, in den bislang noch nicht einmal Träume gelangt sind.

 

Levs Zähne klappern unkontrolliert, und er wird von Zuckungen geschüttelt.

»Spielst du heute Nacht wieder die Kastagnetten, kleiner Bruder?«, sagt eine Gestalt, die sich über ihn beugt. Ehe sein Kopf wieder Ordnung in Zeit und Raum bringt, denkt er, es sei eine seiner älteren Schwestern, er sei zu Hause, als viel jüngeres, viel unschuldigeres Kind. Doch das kann nicht stimmen. Seine Schwestern haben ihn wie der Rest der Familie verstoßen. Neben ihm steht seine Arápache-Schwester Una.

»Wenn ich die Klimaanlage ausschalten könnte, würde ich es sofort tun, aber wie alles in diesem miesen iMotel läuft die automatisch, und der Temperaturregler glaubt wohl, wir hätten fünfunddreißig Grad Außentemperatur.«

Lev ist es zu kalt, als dass er etwas sagen könnte. Er presst die Zähne zusammen, damit sie nicht mehr klappern, allerdings nur mit mäßigem Erfolg.

Una hebt die Decke auf, die auf den Boden gefallen ist, deckt ihn damit zu und legt die Tagesdecke obendrüber.

»Danke«, stößt er fiepsend aus.

»Ist das nur die Kälte, oder hast du Fieber?«, fragt sie und legt ihm die Hand auf die Stirn. Seit fast zwei Jahren hat niemand mehr seine Stirn gefühlt, um zu prüfen, ob er Fieber hat. Das spült eine Welle unerwünschter Gefühle in ihm hoch, die er selbst nicht einordnen kann.

»Nein, kein Fieber. Dir ist nur kalt.«

»Danke«, sagt er noch mal. »Es geht mir schon besser.«

Das Zähneklappern wird immer mal wieder unterbrochen und hört schließlich auf, nun, da die Decken seine Körperwärme halten. Er wundert sich, wie weit sein Traum von der echten Welt entfernt war, wie aus der glühenden Hitze der Flammen so schnell die Kälte eines Motels an einer Straße im Nirgendwo werden konnte. Aber sind Hitze und Kälte nicht auch zwei Seiten einer Medaille? Beide Extreme sind tödlich. Lev schließt die Augen und versucht zu schlafen, denn sein Körper sollte in den Tagen, die vor ihm liegen, möglichst ausgeruht sein.

 

Am nächsten Morgen weckt ihn das Geräusch einer sich schließenden Tür. Er denkt zunächst, dass Una weggegangen ist. Aber nein, sie war weg und kommt schon wieder zurück.

»Guten Morgen«, sagt sie.