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Wie können wir ein sinnerfülltes und bedeutungsvolles Leben führen? Die Bestseller-Autorin und bekannte Meditations-Lehrerin Marie Mannschatz beschreibt in ihrem erzählenden Sachbuch buddhistische Lebenskunst für den Alltag. Anhand vieler Beispiele aus ihrem Leben zeigt sie, wie es gerade in Stress und Hektik gelingen kann, immer wieder das Bestmögliche zu tun – und dadurch zufrieden und erfüllt zu leben. Grundlage dafür sind die zehn buddhistischen Vollkommenheiten, u.a. Geduld, Freigebigkeit, liebevolle Güte, Mitgefühl und Gleichmut. Ehrlich, authentisch und mit einer erfrischenden Prise Selbstironie beschreibt die erfahrene Meditations-Lehrerin, wie sie persönlich mit diesen ethischen Tugenden ihren Alltag bestreitet. Dazu gehören auch das Scheitern, das Nicht-Erreichen des Ideals und vor allem Humor und liebevolle Selbstakzeptanz. Zur besseren Nachvollziehbarkeit buddhistischer Lebensweisheit erzählt sie viele Fallgeschichten ihrer Schülerinnen und Schüler und bietet immer wieder die Möglichkeit zum achtsamen Innehalten und zur Selbstreflexion. Mit Achtsamkeit und dieser klaren ethischen Ausrichtung gelingt eine ehrliche Selbsteinschätzung: Sobald wir beginnen, wirklich achtsam und authentisch zu leben, sehen wir immer klarer, dass alles Vollkommenheit in sich trägt.
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Seitenzahl: 324
Marie Mannschatz
Vollkommen unvollkommen
Zehn Qualitäten, die das Beste in uns zum Vorschein bringen
Knaur e-books
Wie können wir ein sinnerfülltes und bedeutungsvolles Leben führen?
Die Bestseller-Autorin und bekannte Meditations-Lehrerin Marie Mannschatz beschreibt in ihrem erzählenden Sachbuch buddhistische Lebenskunst für den Alltag.
Anhand vieler Beispiele aus ihrem Leben zeigt sie, wie es gerade in Stress und Hektik gelingen kann, immer wieder das Bestmögliche zu tun – und dadurch zufrieden und erfüllt zu leben.
Grundlage dafür sind die zehn buddhistischen Vollkommenheiten, u.a. Geduld, Freigebigkeit, liebevolle Güte, Mitgefühl und Gleichmut.
Ehrlich, authentisch und mit einer erfrischenden Prise Selbstironie beschreibt die erfahrene Meditations-Lehrerin, wie sie persönlich mit diesen ethischen Tugenden ihren Alltag bestreitet. Dazu gehören auch das Scheitern, das Nicht-Erreichen des Ideals und vor allem Humor und liebevolle Selbstakzeptanz.
Mit Achtsamkeit und dieser klaren ethischen Ausrichtung gelingt eine ehrliche Selbsteinschätzung: Sobald wir beginnen, wirklich achtsam und authentisch zu leben, sehen wir immer klarer, dass alles Vollkommenheit in sich trägt.
Unsere Zeit auf diesem Planeten ist begrenzt. Wie möchten wir sie verbringen? Überlassen wir den Lauf unseres Lebens dem Schicksal, dem Zufall, oder möchten wir Einfluss nehmen und unser Leben klug gestalten? Seit mehr als zwei Jahrtausenden wenden sich Menschen an den Buddha und seine Lehre, um Antworten auf die großen Daseinsfragen zu erhalten: Wie kann man glücklich und bewusst leben? Welche Entwicklungsmöglichkeiten habe ich? Wie kann ich innere Freiheit finden? Auch in der heutigen Zeit möchten wir erfahren, wie wir ein Leben im Einklang mit uns selbst und der Welt führen können.
Der Buddha ging von der Vollkommenheit eines jeden Menschen aus. Er war davon überzeugt, dass wir alle ursprüngliches Gutsein in uns tragen. Im Kern sind wir erleuchtete Essenz, reines Licht, absoluter Frieden. Unzerstörbar. Diesen menschlichen Kern verglich der Buddha mit einem Goldklumpen, der seit unzähligen Daseinszyklen bis zur Unkenntlichkeit verkrustet und verborgen in uns schlummert. Den Goldklumpen in uns und anderen zu erkennen, ihn freizulegen und zu polieren, darum geht es in der buddhistischen Lehre.
Der Weg der Meditation gibt uns Mittel und Werkzeuge an die Hand, die Juwelen in uns auszugraben und zum Funkeln zu bringen. Wenn wir bewusst unsere Erkenntnisfähigkeit entwickeln und uns auf das achtsame Erleben des gegenwärtigen Moments einlassen, werden wir täglich neu belohnt. Durch regelmäßige Meditationsübungen entfaltet sich eine umfassende, leuchtende Klarheit in Herz und Geist. Und nicht nur das: Wer sich auf den Weg macht, die kostbarsten Eigenschaften in sich zu entdecken, wird überrascht feststellen, dass sich nach Jahrzehnten des Übens fast nebenher Geisteshaltungen entwickeln, die im Buddhismus als die sogenannten Vollkommenheiten bekannt sind. Sie werden die Paramita genannt. Ihre Zahl variiert – es sind entweder sechs oder zehn. Im vorliegenden Buch wollen wir uns mit den zehn Vollkommenheiten befassen. Das Wort Paramita bedeutet »zum jenseitigen Ufer gelangen«. Mit dem jenseitigen Ufer ist das Land des freien Geistes gemeint, der nicht mehr von Hindernissen, inneren Kämpfen und Verwicklungen belastet ist. Die zehn Vollkommenheiten heißen:
Großzügigkeit
Energie
Entschiedenheit
Wohlwollen
Nichtverletzendes Handeln
Wahrhaftigkeit
Geduld
Weisheit
Gelassenheit
Einfachheit, Loslassen
Wir können die Paramita wie einen Kompass verwenden. Sie geben uns eine Ausrichtung in alltäglichen Konflikten und bereiten den Geist für befreiende Einsicht vor. Sie stimmen uns ein auf ein Leben in Gesundheit, Frieden und Furchtlosigkeit. Die zehn Vollkommenheiten sind innere Eigenschaften, die wir durch bewusstes Üben zum Leuchten bringen können. Jedes Kapitel in diesem Buch ist einer Vollkommenheit gewidmet. Sie überschneiden und durchdringen sich jedoch gegenseitig, sind genau genommen nicht voneinander zu trennen und auch nicht auf eine bestimmte Reihenfolge festgelegt. Es ist wie bei einem dicken Seil, das aus zehn Strängen geknüpft ist – jeder einzelne Strang ist wichtig, um vereinte Tragkraft zu schaffen. Jede einzelne Vollkommenheit möchte erkannt und verstanden werden. In der Verknüpfung aber werden sie mehr, als Worte fassen können. Der Buddha hat einmal gesagt: »Um die Unwissenheit und das Leiden in dieser Welt zu besiegen, habe ich mich über unzählige Zeitalter hinweg in den zehn Vollkommenheiten geübt. Hört mir aufmerksam zu, ich werde euch davon berichten.«
Materielles kann wieder zu nichts zerfallen, aber geistige, charakterliche Vollkommenheiten schenken uns einen inneren Reichtum und grundlegenden Frieden, den uns niemand nehmen kann. Deshalb ist es wirklich lohnend, sich auf die zehn Vollkommenheiten auszurichten. Wenn wir sie auf unserem inneren Weg bewusst erkennen und benennen, werden sie in ihrer Ausprägung und Wirkung vertieft. Sie bringen unsere besten Eigenschaften zum Vorschein und lassen den Goldklumpen in uns glänzen.
Ganz gleich, ob wir uns im ersten Drittel oder in der Reifephase unseres Lebens befinden, die zehn Vollkommenheiten geben uns einen Maßstab, um unser Verhalten und unsere Erkenntnisfähigkeit einzuschätzen. Unser Bemühen um radikale Akzeptanz und charakterliche Vervollkommnung kann so kontinuierlich ausgelotet werden.
Da ich seit Jahrzehnten Vipassana- und Metta-Meditation praktiziere, möchte ich in diesem Buch auch schauen, ob und wie die zehn Vollkommenheiten meinen Geist und mein Leben geprägt haben, um zu verdeutlichen, wie viel diese Geisteshaltungen bei uns allen bewirken können. Was hat sich durch all die Jahre intensiver Meditationspraxis verändert? Habe ich gelernt, meine eigene Unvollkommenheit zu akzeptieren und meinen Frieden damit zu finden?
Dieses Buch gewährt einen Einblick in den Garten meines Geistes. Wie bei uns allen gibt es darin Beete, die viel Sonnenlicht und gute Bewässerung empfangen haben, und Hügel, die weit hinten am Rand liegen, im Schatten alter Bäume, unter denen Efeu und Unkraut wuchern. Der ganze Garten gehört zu mir. Auch das trockene Gestrüpp, das schon seit Jahren darauf wartet, weggeräumt zu werden, und die unordentlichen Ecken, über die ich – getreu meinen Gewohnheiten – so gerne hinwegschaue. Der Garten ist vollkommen unvollkommen. Weiträumig. An vielen Stellen einladend und von Licht durchflutet, aber auch feucht und muffig.
Gibt es zwei völlig identische Gärten auf der Welt? Ich glaube nicht. Wenn ich jedoch einen Garten anlegen will, schenkt mir der Blick in die Gärten anderer Ideen und Motivation für meine eigene Gartengestaltung. In diesem Sinne möchte ich anhand meiner eigenen Erfahrungen – und auch der Erfahrungen anderer – vermitteln, was es bedeutet, den Garten unseres Geistes zu kultivieren, einen geistigen Weg zu wählen und sich auf kontinuierliches Üben einzulassen.
Mein Weg ist nicht nur buddhistisch geprägt. Ich habe von wunderbaren Meistern verschiedenster Schulen, von Indianer-Schamanen und Therapeuten gelernt. Über ganze Lebensphasen hinweg wurde ich stark von Fritz Perls, Wilhelm Reich und Frieda Goralewski beeinflusst. Sie alle haben mir dazu verholfen, das Verständnis der zehn Vollkommenheiten zu entwickeln, das ich in diesem Buch zum Ausdruck bringe. Ich hoffe, dass meine Leserinnen und Leser im inneren Dialog mit diesem Buch dazu inspiriert werden, ihr eigenes Bewusstsein mithilfe der Vollkommenheiten zu schärfen und ihre eigene Unvollkommenheit liebevoll zu umarmen.
Gib, gib, gib – was haben wir von Erfahrung, Wissen oder Talent, wenn wir all das nicht verschenken? Von Geschichten, wenn wir sie nicht anderen erzählen? Von Reichtum, wenn wir ihn nicht teilen? Ich will mit nichts davon beerdigt werden! Nur im Geben verbinde ich mich mit anderen, mit der Welt und dem Göttlichen.
Isabel Allende
Die zehn Vollkommenheiten (Paramita) sind kreisförmig angeordnet. Sie beginnen und enden mit Großzügigkeit, die ihren höchsten Ausdruck darin findet, dass zwischen Geber und Empfänger kein Unterschied gesehen wird. Großzügiges Geben ist ein Ausdruck der Fähigkeit, loslassen zu können. Großzügigkeit (Dana) umfasst auch die Bereitschaft, fürsorglich die Hand auszustrecken und dem anderen entgegenzukommen, wenn es um Meinungen und Ansichten, um vermeintliches Recht und Unrecht geht. Die Kunst des Gebens zeigt sich in Mitgefühl und Dankbarkeit, in der Bereitschaft, zu verzeihen und zu dienen, in Pflege und Fürsorge. Immer wieder wird durch die Freude des Gebens die Verbindung zum Besten in uns und anderen hergestellt.
Es gibt Zeiten im Leben, in denen alles wie am Schnürchen läuft. Die Kontoeingänge sind höher als die Abbuchungen. Die Sonne verschwindet nur hinter den Wolken, wenn wir schlafen. Völlig Unbekannte behandeln uns wie ihre liebsten Familienmitglieder. Hunde wedeln im Vorübergehen mit dem Schwanz, wenn sie uns sehen, und die Blüten am Wegesrand neigen grüßend ihre Köpfe. Die besten Gelegenheiten fallen uns in den Schoß – wir müssen sie nur noch ergreifen.
Es sind Zeiten der Gnade, der grenzenlosen Großzügigkeit, die es in jedem Leben gibt. Sie erfreuen uns manchmal einen Tag lang oder erhellen auch eine ganze Lebensphase. Solche wunderbaren Zeiten werden uns geschenkt. Wir können kein Recht darauf erheben, aber wir können unsere Empfangsbereitschaft sensibilisieren, indem wir der Großzügigkeit mehr Aufmerksamkeit widmen und nach Gelegenheiten zum Geben Ausschau halten. In einer Studie der University of British Columbia in Vancouver erhielten Studenten morgens einen Betrag von fünf oder 20 Dollar. Eine Gruppe sollte das Geld für sich selbst ausgeben, die andere Gruppe konnte anderen ein Geschenk dafür kaufen oder das Geld spenden. Eindeutig zeigte sich, dass diejenigen, die das Geld für andere ausgegeben hatten, am Ende des Tages zufriedener und glücklicher waren als jene, die für sich selbst etwas gekauft hatten, ganz unabhängig von der Höhe des eingesetzten Betrags.
Großzügigkeit hat eine zutiefst entspannende Wirkung. So wie die Sonnenwärme Eis zum Schmelzen bringt, so löst der Impuls zum Geben unser inneres Festhalten. Großzügigkeit stimmt uns zufrieden und heilt die Furcht vor dem Loslassen. Ohne Loslassen können wir nicht glücklich werden. Daher spielt die Kunst des Loslassens eine zentrale Rolle im Leben und auch in den zehn Vollkommenheiten. Wir werden sie aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachten und immer besser verstehen, was mit dem Loslassen gemeint ist. An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass Großzügigkeit und Loslassen siamesische Zwillinge sind, die nicht voneinander getrennt werden können.
Kein Wunder, dass der Buddha in vielen Lehrreden die Großzügigkeit als tragende Säule auf dem Weg zur inneren Befreiung gepriesen hat. Im Geben fühlen wir uns stark. Wir entspannen uns und können das Loslassen dadurch auch körperlich erfahren, ganz spontan, ohne großes Nachdenken, ohne eine Belohnung zu erwarten. Kaum geben wir etwas hin, fließt uns schon etwas zu, das wir weder berechnen noch voraussagen können. Die Kraft des Gebens hat etwas Magisches, Geheimnisvolles. Manche Menschen versuchen ein Leben lang, dieses Geheimnis zu ergründen. Und je näher sie ihm kommen, umso herausragender wird ihre Großzügigkeit.
Als junge Meditationslehrerin habe ich einmal im Spirit-Rock-Meditationszentrum erlebt, wie die Teilnehmerin eines vierwöchigen Schweigekurses – sie hatte schon jahrzehntelange Meditationserfahrung – die Kunst des Loslassens übte. Am Anfang des Kurses kam sie auf mich zu und sagte: »Wenn du magst, kannst du in den kommenden Wochen mein Auto fahren. Es steht jetzt ja nur auf dem Parkplatz herum, weil ich beim Meditieren den Wagen nicht benutze.«
Erfreut nahm ich die Autoschlüssel an.
Zum Glück fügte sie noch hinzu: »Das Auto ist gerade erst eine Woche alt und gut versichert. Ich bin Rechtsanwältin. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, genieße es einfach!«
Ich ging gleich zum Parkplatz und staunte nicht schlecht, als sich das neue Auto als ein goldener Lexus mit weißen Ledersitzen entpuppte. Die Anwältin hatte sich einen Traum erfüllt und teilte ihn nun mit mir. Das war für mich kaum fassbar, und es dauerte eine Weile, bis ich diese Luxuskarosse entspannt über die sechsspurige kalifornische Autobahn steuern konnte.
Großzügigkeit zeigt sich in unendlich vielen Variationen. Jemand hält mir die Tür auf, lässt mich zuerst eintreten. Ich bedanke mich mit einem Lächeln. Für den Bruchteil einer Sekunde ist in unseren Herzen ein Licht aufgegangen. Höflichkeit im Alltag empfinden wir oft als großzügig. Beim Autofahren gibt es viele Gelegenheiten, das eigene Repertoire zu erweitern. Geduldig warten, auch wenn man selbst die Vorfahrt hat, oder jemandem einen Parkplatz freiwillig überlassen – schon fühlt man sich selbst als Held des Tages. Auf unübersichtlichen oder kurvenreichen Strecken habe ich mir angewöhnt, in eine Haltebucht zu fahren und nachfolgende schnellere Wagen vorbeizulassen. Wenn ich das in Kalifornien mache, bedanken sich manche Autofahrer mit einem kurzen Antippen der Bremsleuchten. In Schweden blinken sie kurz nacheinander rechts/links, und in Deutschland winken charmante Zeitgenossen gern mit der Hand ein Dankeschön.
Eine bemerkenswerte Form von Großzügigkeit habe ich einmal in den Siebzigerjahren erfahren, als ich aus Versehen bei der Abreise aus Berlin den großen Schlüsselbund eines guten Freundes in der Handtasche behielt – ein Desaster am Sonntagnachmittag. Ich saß bereits im Zug, als ich es entdeckte. Nirgends gab es einen Zwischenhalt, bei dem ich aussteigen und umkehren konnte. Drei Stunden steckte ich im Zug fest, dachte fieberhaft nach und malte mir aus, wie wütend und verzweifelt mein Freund wäre, denn am nächsten Morgen war er als Verantwortlicher für eine große Baustelle dringend auf diese Schlüssel angewiesen. Handys gab es damals noch nicht und somit auch keine Möglichkeit, sich zu beraten.
Schließlich hatte ich die rettende Idee. Bei der Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof lief ich sogleich zum nächsten Zug Richtung Berlin. Dort klopfte ich heftig bei dem abfahrbereiten Lokführer an die Windschutzscheibe, schilderte ihm mein Missgeschick und bat ihn, den Schlüsselbund mitzunehmen: »Mein Freund steht dann bei der Ankunft am Bahnhof Zoo und nimmt Ihnen die Schlüssel wieder ab.«
Der gute Mann ließ sich von mir überzeugen. Am Sonntagabend, sieben Stunden nach der Entführung, war der Schlüsselbund wieder in Berlin, und die Bauarbeiten für das Café-Restaurant konnten zum Wochenbeginn ungehindert fortgesetzt werden.
Schon mein erster Kontakt mit den Lehren des Buddha in jungen Jahren inspirierte mich, bewusst Großzügigkeit zu üben. Ich wollte diese Chance zu intensiver Praxis bei jeder Gelegenheit nutzen. Als Heranwachsende und junge Erwachsene war ich eher knauserig und aufrechnend. Wenn wir in den Semesterferien zu viert im Urlaub waren, rechnete ich genau nach, wer zu welchem Preis Lebensmittel eingekauft hatte oder im Lokal welches Gericht und welches Getränk bezahlen musste. Ich fragte mich fortwährend: Wenn ich etwas gebe, bekomme ich dann auch etwas dafür? Wird man mir dankbar sein, mich schätzen für meine Großzügigkeit? Und vor lauter Nachdenken darüber versäumte ich die Gelegenheit zum Geben.
Heute vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht ermuntere, großzügig zu denken und zu handeln. Ich sage mir, alles ist vergänglich. Ich kann ohnehin nichts mit ins Grab nehmen, also übe ich mich lieber schon jetzt im Loslassen. Wenn ich nicht gebefreudig bin, fühle ich mich unwohl in meiner Haut, eingeklemmt in meinen berechnenden Gedanken, meinem sturen Wenn und Aber. Die Freude am Geben zu üben und zu erleben, wie ich allmählich daran wachse, berührt mich besonders, wenn ich spontanen Impulsen folgen kann.
Eine seltsame Erinnerung an eine kleine Aufmerksamkeit kommt mir da in den Sinn. Ich stand im ICE, mit meinem Koffer bereit zum Aussteigen, während der Zug sich gemächlich zum Hamburger Hauptbahnhof einfädelte. Aus dem Bordbistro trat ein Schrank von einem Mann, stärker schwankend als der Waggon. Er lehnte sich wartend an die Abteilwand neben dem verschlossenen WC. Lederkluft, geschorener Kopf, am Schädelrand ein Kranz langer schwarzer Haare, zu einem kargen Zopf gebunden, am ganzen Körper Tätowierungen, eine in die Wange geritzte dicke rote Narbe in X-Form. In seinen braun gebrannten Bizeps hatte er tatsächlich mit Nadel und schwarzem Faden das Schlagwort »Xtreme« eingestickt. Gut gelaunt sprach ich ihn an: »Ich glaube, diese Toilette ist kaputt, die nächste ist dort am Ende des Waggons, die auf der anderen Seite funktioniert auch nicht.«
Er murmelte ein höchst verdutztes »Danke schön! Das ist ja nett!«, ging ein paar Schritte rückwärts, ließ mich währenddessen nicht aus den Augen. Auf dem ganzen Weg durch den Wagen blickte er sich immer wieder nach mir um, als hätte ich ihn mit einem seltenen Geschenk beglückt.
Durch die Großzügigkeitsübung habe ich gelernt, dass es unendlich vielschichtige Formen des Gebens gibt. Es geht dabei zwar nicht in erster Linie um Materielles, aber auch das kommt vor, wie in der folgenden Anekdote:
Alfred Nobel, der Stifter des Nobelpreises, beschäftigte in seiner Pariser Wohnung eine junge Köchin, die ihm eines Tages ankündigte, dass sie heiraten werde. Auf die Frage, was sie sich denn zur Hochzeit wünschte, antwortete sie: »So viel, wie Monsieur Nobel an einem Tag verdient.« Es sprach sich herum, dass Alfred Nobel mehrere Tage zu rechnen hatte, bis er der Glücklichen mit den Worten »versprochen ist versprochen« 40000 Francs als Hochzeitsgeschenk überreichte!
Man kann auch freigiebig sein mit Lob und Anerkennung, mit Zeit und Aufmerksamkeit, mit Freude am Schenken und der Bereitschaft, zu verzeihen. Man kann dem unbekannten Nachbarn im Konzert einen Hustenbonbon reichen, den Briefkasten für die verreisten Freunde leeren und ihre Katze füttern oder einfach nur mit offenem Herzen zuhören und antworten. Manche wägen ab: Soll ich das geben, was jemand anderes sich von Herzen wünscht, oder ist es wichtiger, dabei zu beachten, was angemessen und hilfreich ist? Geben wir aus einem Gefühl der Pflicht, der Notwendigkeit, oder kann unser Geben ein Ausdruck innerer Freiheit und Bereitschaft zum Loslassen sein? Der Buddha war überzeugt: »Wenn ihr – so wie ich – die Kraft der Großzügigkeit kennen würdet, könntet ihr nicht ein einziges Mahl vorübergehen lassen, ohne etwas davon zu teilen.«
Es gibt auch Formen der Großzügigkeit, die eine echte Herausforderung darstellen. Wie oft ringen Eltern mit der Entscheidung, ob sie ihren Kindern, die gerade erst den Führerschein gemacht haben, ihr Auto überlassen können. Oder sie fragen sich, ob sie erlauben sollen, dass eine Party in ihrem Haus gefeiert wird, während sie selbst im Urlaub sind. Das Abwägen zwischen Verantwortung und Großzügigkeit ist eine schwierige Aufgabe, für die es keine allgemeingültigen Regeln gibt. Die Grenzen sind von Person zu Person ganz unterschiedlich. Was dem einen kinderleicht erscheint, ist für die andere schon eine besondere Herausforderung.
Im Spirit-Rock-Meditationszentrum in Kalifornien gibt es einen reich bestückten Geschenke-Shop mit Büchern, CDs, Buddha-Figuren, Kaschmirschals und vielerlei mehr. Das Besondere daran ist, dass niemand dort bedient oder kassiert. Jeder kann den bereitliegenden Taschenrechner nutzen, um den Endpreis auszurechnen. Dann steckt man den Scheck oder das Bargeld in einen Briefkasten. Keine Kontrolle. Keine kleinlichen Befürchtungen. Auch kein Wechselgeld. Stattdessen glatte Summen und umfassendes Vertrauen. Es hat sich schon seit vielen Jahren so bewährt.
Wenn wir uns krampfhaft bemühen, das Erworbene festzuhalten, zu versichern und durch Mauern zu schützen, dann fällt es uns wahrscheinlich schwerer, großzügig zu sein. Großzügigkeit ist immer ein Dialog mit unseren persönlichen Grenzen. Mal öffnen sie sich spielend leicht, dann wieder sind sie fest verschlossen, und wir führen lange, verbissene Selbstgespräche, bis wir endlich loslassen können.
Und was bedeutet es erst, einen Fremden in der eigenen Wohnung aufzunehmen, Vermögen zu verschenken, eine Niere zu spenden oder sein Leben zur Rettung eines anderen einzusetzen!
»Ich gebe niemandem etwas, ich tue alles für mich selbst«, soll Gandhi gesagt haben. Dabei war ihm sicher bewusst, dass jeder Akt des Gebens, sei er auch noch so klein, um ein Vielfaches auf den Gebenden zurückwirkt. Doch es braucht auch die Bereitschaft, die Rückwirkung zu empfangen. Wahrhaftige Offenheit zielt nicht nur in eine Richtung. Auch der Gebende muss bereit sein, zu empfangen, und sich im Annehmen üben.
Es schmerzt mich, wenn ich nicht loslassen kann. Dann brauche ich Mitgefühl für mich selbst, für die Seite in mir, die verbohrt ist, die an Vorstellungen haftet. Mitgefühl für die Trotzige in mir, die es anders haben will, als es ist. Wenn ich merke, dass meine Stimmung sich verdüstert, wenn mir eng ums Herz wird, dann spüre ich in mich hinein und ermuntere mich, zum einen nach Gelegenheiten zum Geben zu suchen, zum anderen aber auch großzügiger mit mir selbst zu sein. Ich sage mir dann: Stell all deine Antennen auf Empfang. Hör das Vogelkonzert! Schau dir das Spiel des Lichtes an. Gönn dir Atemraum und Bewegungslust. Schenk dir Muße. All diese Freuden sind kostenlos und verleihen dem Alltag Qualität und Bedeutung. Wie verhindere ich es heute wieder, großzügig mit mir selbst zu sein?
Die Antwort auf diese Frage führt mich zu Hindernissen, die ich abbauen möchte. Ich spüre Anspannung im Körper, presse den Kiefer fest zusammen. Meine zu hohen Erwartungen fühlen sich an wie ein Korsett, mit dem ich mich einenge. Dadurch wird mir klar, dass ich an diesem Tag nicht alles schaffen kann, was ich mir aufgeladen habe. Ich überdenke noch einmal meine Prioritäten und sortiere aus, was nicht unbedingt nötig ist. Ich muss es nicht perfekt machen, muss mir nicht den Tag mit Verpflichtungen vollstopfen. Dadurch, dass ich in den Körper hineinspüre, merke ich, ob es mir gelingt, die Anforderungen loszulassen. Bewege ich mich jetzt entspannter? Lasse ich den Kiefer locker? Die Freiheit vom Müssen möchte körperlich tief empfunden werden. Ich kann mir Pausen gönnen. Innehalten. Mich über das, was ich geschafft habe, freuen. Wenn ich mir selbst Zeit und Aufmerksamkeit schenke, wird meine Lust am Teilen und Geben spürbar aktiviert. Ja, ich entspanne mich. Der Raum um mich herum öffnet sich. Freude blitzt auf. Am Abend, vor dem Einschlafen, erinnere ich mich daran. Was konnte ich heute geben, was habe ich heute losgelassen?
Der Buddha hat der anonymen Großzügigkeit besonderen Wert beigemessen, weil sich darin zeigt, dass keine strategischen Überlegungen im Vordergrund stehen. Keine Berechnung in Bezug auf den Dank, der uns zusteht. Keine direkt erlebte Mitfreude, wenn der Empfänger unserer Gabe staunt. Es geht einfach nur um das Loslassen im Gegensatz zum Festhalten und Klammern. Vielen macht es ganz besondere Freude, anonym zu geben: Einer Nachbarin einen Blumenstrauß vor die Tür stellen. Am Nikolaustag einen unbekannten Schuh füllen. Einem Kollegen etwas auf den Schreibtisch legen, was seinen Tag erhellt. Ausschau halten nach zufälligen Freundlichkeiten, die man verschenken könnte. Weil wir eher mit dem Gegenteil rechnen, mit Hindernissen, die Reibung und Verzögerung in unseren Tagesablauf bringen, wiegt unerwartete Freundlichkeit doppelt. Auch die Folgen des Gebens hat der Buddha benannt:
Man ist vielen Menschen angenehm und lieb, man trägt zur geistigen Förderung anderer bei, ein guter Ruf geht dem Gebenden voraus. Und der Buddha war überzeugt: Gebefreudige treten in der Öffentlichkeit sicher und unbefangen auf, weil sie sich durch diese innere Haltung stark und entspannt fühlen.
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich bereits erwähnt, dass wohl viele von uns Lebensphasen kennen, in denen uns überraschende Großzügigkeit beschert wird. Für mich war das 28. Lebensjahr solch eine unfassbar glückliche Zeit, die mein Leben für immer geprägt hat. Damals erfuhr ich ein Ausmaß an Großzügigkeit, das mir bis dahin noch nicht begegnet war.
Ich wohnte in einer quirligen WG in einer großen Hamburger Altbauwohnung mit weitem Blick über Dächer und Grünanlagen. Zu Weihnachten kam Robert K. Hall, der Begründer der kleinen körpertherapeutischen LOMI-Schule, zu Besuch aus San Francisco. Noch heute spüre ich den Blitz, der mich traf, als ich ihn beim Öffnen der Haustür zum ersten Mal sah. Wir umarmten uns innig, so als hätten wir uns nach langer Suche endlich gefunden. Eine lebenslange Freundschaft und Liebe nahm ihren Anfang.
Robert K. Hall lud mich ein, nach Kalifornien zu kommen, um dort meine gestalttherapeutische Ausbildung zu vertiefen. Ich wollte Körpertherapie studieren und das Leben im sagenumwobenen Hippieland kennenlernen. Kurz vor der Abreise, im Juni 1978, plante ich für all meine Hamburger Freunde ein Abschiedsfest. Mein persönlicher Besitz – Bücher, Kleidung … – war in Kisten auf dem Dachboden verstaut. Ein Ohrwurm von Scott MacKenzie schallte damals aus allen Lautsprechern und ließ mich nicht mehr los: »If you’re going to San Francisco, be sure to wear flowers in your hair.« Das Leben war ein Tanz, und ich schwebte in all meinem Glück nur noch über das Hamburger Pflaster, direkt in ein großes Kamerageschäft. Ich hatte den Wunsch, auf meinem Abschiedsfest alle Freunde mit einer Polaroid-Kamera abzulichten. Im Schaufenster des Fotoladens, den ich noch nie zuvor betreten hatte, glänzte ein Modell der neuen SX 70, das ich mir damals aber nicht leisten konnte, denn ich musste all mein Erspartes für die kommende Zeit in den USA zusammenhalten.
Ich bat einen Verkäufer, mir dieses Modell zu zeigen, nahm es in die Hand und bewunderte die feine Lederverkleidung. »Die hätte ich zu gerne – aber …« Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Worte ich fand, um den Verkäufer zu überzeugen, mir diese Kamera über das Wochenende auszuleihen, einfach so, kostenlos. Er ließ sich von mir verzaubern und überreichte mir das wertvolle Stück, ohne sich meinen Namen und meine Adresse zu notieren. Er meinte nur: »Ich vertraue Ihnen vollkommen.« Kaum war das Geschäft Montagfrüh wieder geöffnet, brachte ich die Kamera mit einem strahlenden Dankeschön zurück. Welch ein Beschenktwerden!
In diesem ersten Jahr in Kalifornien ließ Robert K. Hall mich und meinen Partner Jörg mit grenzenloser Großzügigkeit an seinem ebenso ungewöhnlichen wie luxuriösen Hippieleben teilhaben. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn Großzügigkeit wurde mir nicht in die Wiege gelegt.
Hatte ich in der Schule, in meiner Kindheit und Jugend überhaupt Erfahrungen mit Großzügigkeit gemacht? Die Eltern einer Schulfreundin nahmen mich einmal drei Wochen lang mit zum Zelten an die Ostsee. Sie hatten sechs Kinder und behandelten mich ganz selbstverständlich wie ihr siebtes Kind. Wenn sie mir ebenso wie den anderen ein Eis in die Hand drückten, staunte ich.
Als ich mich zum ersten Mal verliebte und die Eltern meines Freundes mich ohne Zögern in ihre Familie miteinbezogen, war ich ebenfalls völlig verwundert. Mit der Liebe kam eine andere Schwingung in mein Leben, eine Form von Genuss und Lebensfreude, die mir neu war und die ich mir selbst kaum zugestand. Vor dem Hintergrund der Großzügigkeit, die mir begegnete, öffnete ich mich zunehmend und spürte eine tiefe Dankbarkeit, denn ich hatte ja nach meinem eigenen Empfinden nichts Besonderes dafür getan.
Der indische Heilige Ramakrishna hat einmal gesagt: »Die Winde der Gnade wehen immer – wir müssen nur unsere Segel setzen.« In meinem bemerkenswerten 28. Lebensjahr wurde ich in Großzügigkeit gebadet und habe zum ersten Mal in intensiver Meditation erfahren, wie ich die Segel setzen konnte.
Durch Robert K. Hall begegnete ich im privaten Umfeld dem damals noch sehr jungen, aber schon recht bekannten Jack Kornfield. Er hatte gerade sein erstes Buch veröffentlicht – »Living Buddhist Masters«. Mit sanfter Beharrlichkeit lotste Jack mich in mein erstes langes Meditationsretreat.
Mein Leben nahm durch den intensiven Einstieg in die Vipassana-Meditation eine radikale Wende. Ich lernte, Herz und Geist für meinen inneren Reichtum zu öffnen. Dass mich mein Schicksal mit Robert K. Hall und Jack Kornfield in Kontakt brachte, erfüllt mich bis zum heutigen Tag mit tiefer Dankbarkeit. Sie haben etwas in mir gesehen, das mir selbst noch verborgen war, nach dem ich mich aber sehr sehnte. Sie machten mich auf den Goldklumpen in mir aufmerksam, reichten mir geistiges Werkzeug und ermutigten mich, es wirkungsvoll anzuwenden. Bis zum heutigen Tag genieße ich die Folgen dieser weichenstellenden Begegnungen.
Dankbarkeit ist die Schwester der Großzügigkeit. Sie wirkt wie eine Brille, die uns einen klugen Blick auf die Welt ermöglicht. Die Welt ändert sich nicht, aber wir sehen sie mit anderen Augen, wenn wir all die vielen Momente erkennen, in denen uns das Leben beschenkt. Wenn wir offen und empfänglich sind, können wir nicht gleichzeitig verkrampft festhalten. Wir fühlen uns eher wie ein Baby an der Mutterbrust, das ganz natürlich genährt wird und sich dabei sicher und geborgen fühlt. Dieses Erleben – ohne eigenes Dazutun genährt zu werden – führt zur Entspannung und weckt unsere Großzügigkeit. Wir fühlen uns beschenkt und möchten mit anderen teilen, was wir selbst als so wohltuend erleben. Dankbarkeit aktiviert Herzenskräfte und gleicht schwierige Gefühle aus. Sie ist nicht einfach nur plattes positives Denken, sondern heilt von der Wurzel her. Albert Einstein hat einmal gesagt: »Jeden Tag erinnere ich mich hundert Mal daran, dass mein inneres und äußeres Leben von der Arbeit anderer, lebender und bereits verstorbener Menschen abhängt und dass ich mich bemühen muss, im gleichen Maße zu geben, wie ich empfangen habe und immer noch empfange.« Ähnlich verlaufen die Betrachtungen der Schüler in der japanischen Naikan-Meditation. Sie fragen sich: Was habe ich erhalten? Was habe ich gegeben? Welche Probleme und Schwierigkeiten habe ich bereitet? Wir rufen durch diese Fragen einen anderen Kontext ins Bewusstsein – nicht die Mangelsituationen der Kindheit, in denen wir etwas vermisst haben, sondern die, in denen wir bekommen haben, was wir brauchten.
Dankbarkeit ist ein Geisteszustand, der aus dem Wissen von Verbundenheit und Eingebundensein erwächst. Sie führt uns in den gegenwärtigen Augenblick, macht uns wach und präsent und öffnet den Herzgeist für vorbehaltloses Wohlwollen. Im tibetischen Buddhismus heißt es, dass Praktizierende umso glücklicher werden, je mehr sie das Wohl von anderen in den Mittelpunkt stellen.
Die buddhistische Psychologie hat im Unterschied zur westlichen Psychologie schon immer die Entwicklung der positiven Eigenschaften des Menschen betont. So wird im tibetischen Buddhismus seit mehr als tausend Jahren erforscht, wie wir negative Geisteszustände in positive verwandeln können. Kein Wunder, dass es in der tibetischen Kultur viele Methoden zum Kultivieren positiver Emotionen gibt. Ein reichhaltiges Instrumentarium an Geistestechniken ist darauf ausgerichtet, Körper, Gedanken und Gefühle so weit in Einklang zu bringen, dass dadurch das Beste im Menschen zutage gefördert wird.
Mit einer ganz einfachen Übung können auch wir Loslassen und Empfangen, Großzügigkeit und Dankbarkeit üben. Kinder lieben diese Übung, man kann sie wunderbar mit der ganzen Familie ausprobieren:
Alle setzen sich im Schneidersitz zusammen auf den Boden im großen Kreis hin. Beide Hände ruhen offen und empfangsbereit auf den Knien, die Augen sind sanft geschlossen. Jeder nimmt sich erst einmal Zeit, für ein paar Minuten so auf dem Boden sitzend anzukommen, Körper und Atem zu spüren. Dann erhalten alle eine Kartoffel. Man spürt das Gewicht der Kartoffel, tastet die Oberfläche forschend ab und gibt dann – weiterhin mit geschlossenen Augen – die Kartoffel von der einen in die andere Hand, von links nach rechts, von rechts nach links, stetig wiederholend, jeder im eigenen Tempo, eher langsamer als zu schnell, denn es soll ja Zeit zum Spüren bleiben. Wie erlebt die eine Hand das Loslassen, wie die andere das Empfangen? Was bedeutet es, dann wieder das Empfangene loslassen zu müssen? Darüber kann man sich nach Ablauf der Übungszeit, die mit Kindern je nach Alter und Aufmerksamkeitsspanne vielleicht zehn Minuten dauert, gemeinsam austauschen. Aber auch als Erwachsene können wir es einmal ganz für uns allein ausprobieren, dann auch besser über längere Zeit, begleitet von den Worten »ich lasse los«. Können wir das Loslassen körperlich empfinden?
Dankbarkeit zeigt schnell Ergebnisse, weil ihre positive Kraft uns inspiriert, zum Wohl anderer beizutragen, und das wiederum wirkt auf uns selbst zurück. Der Buddha hat es etwa so formuliert: »Scheut euch nicht, verdienstvoll zu wirken, denn verdienstvolles Wirken ist ein anderes Wort für Glücklichsein.«
Großzügigkeit ist eine Form des verdienstvollen Wirkens. Sie wird bestärkt durch Dankbarkeit. Beide Qualitäten machen uns aufnahmebereit für die besten Lebensenergien. Dankbarkeit wirkt wie ein guter Appetit. Die tollsten Speisen können vor uns stehen, aber wenn der Appetit fehlt, essen wir sie nicht. Sie nähren uns nicht. Wenn wir Dankbarkeit spüren, können wir das Beste vom Leben annehmen und auch weiterreichen.
Verpasste Dankbarkeit, versäumte Wertschätzung – das ist, als würden wir echte Perlen aus dem Fenster werfen, denn Wertschätzung ist Dankbarkeit in Aktion. Mit Wertschätzung können wir Berge bewegen. Auch wenn wir selbst von anderen Wertschätzung erfahren, lassen wir unsere Widerstände und Vorbehalte los, wir öffnen uns für eine Begegnung. Deshalb ist es sehr unterstützend, ein Gespräch mit Wertschätzung zu beginnen und genau zu benennen, wie und womit andere uns Gutes tun. Im Gespräch können wir auf vielfältige Weise geben und empfangen. Es beginnt damit, dass wir uns Zeit nehmen, ungestört zuzuhören. Den anderen ausreden lassen, nachfragen, verstehen wollen. Das Gehörte noch einmal wiederholen: Ist es das, was du meinst? Wenn ich etwas richtig verstanden habe, kann ich mit Bedacht antworten, sodass mein Gegenüber sich durch das, was ich sage, gesehen und genährt fühlt. Wir können im Gespräch dafür sorgen, dass andere uns Zutrauen schenken, indem wir anderen deutlich machen, dass wir sie nicht verletzen wollen und dass sie von uns nichts zu fürchten haben. »In Gegenwart eines vollkommen vertrauenerweckenden Menschen kommt der Geist zur Ruhe«, hat der Buddha einmal gesagt.
Wie dankbar sind wir, wenn wir solche Begegnungen haben! Und wie angenehm ist es, diese Dankbarkeit durch Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen und wohltuende Gespräche nicht als selbstverständlich anzunehmen, sondern das Geschenk darin anzuerkennen. »Das Gespräch mit dir gestern Abend hat mir so gutgetan – ich konnte danach wunderbar schlafen.«
Mit solch einer sanften Einleitung wird ein Dialog sicher für beide Seiten gewinnbringend verlaufen.
Die Grundessenz der Großzügigkeit ist Loslassen. Und wie sollten wir Loslassen und innere Befreiung ohne Vergebung erfahren? In jedem menschlichen Dasein gibt es Verletzungen, ebenso wie die Suche nach Heilung. Nur das Vergeben erschließt uns den Weg in eine von den Wunden der Vergangenheit unbelastete Zukunft. Neben Großzügigkeit und Dankbarkeit gehört auch Vergebung zu dem großen Dreigestirn am Himmel eines offenen Herzgeistes.
In menschlichen Beziehungen kommt es immer wieder zu Verletzungen.
Wir tun einander durch unser Denken, Reden und Handeln weh. Wir erfüllen Verpflichtungen und Erwartungen nicht, nutzen andere aus und missachten ihre Gefühle. Wir plaudern Geheimnisse aus, die uns jemand anvertraut hat, wir lügen und betrügen. Manchmal haben wir auch einfach nur eine verletzend andere Meinung. Jedes Unrecht, jede Grenzverletzung reißt eine Wunde auf. In Gesprächen mit Kursteilnehmerinnen erfahre ich unablässig, wie oft Menschen sich missverstanden und verletzt fühlen und keinen Weg finden, den damit verbundenen Schmerz zu heilen. Manche tragen ihr Leid Jahrzehnte mit sich herum, so wie diese Teilnehmerin, die mir berichtete:
»Vor zwanzig Jahren haben wir geheiratet, weil ich ein Kind erwartete. Er hat mich und meine beiden Kinder aus erster Ehe großzügig versorgt. Ich kümmere mich seit eh und je um den Haushalt. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus. Lieber heute als morgen würde ich ihn verlassen, doch ich weiß nicht, wovon ich leben könnte. Ich traue mir nicht zu, meinen Lebensunterhalt allein zu bestreiten. Jeden Tag weine ich deshalb und ziehe mich immer tiefer in mein Schneckenhaus zurück. Und das alles nur, weil er mich mit einer anderen betrogen hat, als ich schwanger war. Das habe ich nie verwunden. Seitdem besteht keine innere Verbindung mehr zwischen uns. Ich kann und will ihm nicht vergeben.«
Wir haben alle schon einmal erlebt, wie unangenehm es ist, Groll gegen jemanden zu hegen und Vorwürfe immer wieder aufzuwärmen. Das kann ein ganzes Leben überschatten, so wie bei der Kursteilnehmerin. Neurophysiologen fanden heraus, dass seelische und körperliche Verletzungen einander in unserer Erinnerung gleichkommen – sie werden im selben Bereich im Gehirn abgespeichert. Seelische Wunden schmerzen genauso wie körperliche Wunden. In der Kindheit erlittene Verletzungen wirken bis zum heutigen Tag nach. Es gelingt uns zwar, vieles davon im Unterbewusstsein zu vergraben, doch die Verwundung macht sich bemerkbar, sobald wir damit in Kontakt kommen – wenn wir in der Gegenwart eine vergleichbare Erfahrung machen, lebt das Vergangene wieder auf, es wird aktualisiert, möchte sich durch Bewusstwerdung befreien.
Nur wenn wir lernen zu vergeben, können die Wunden der Vergangenheit ausheilen. Wobei von vornherein klar sein muss, dass wir uns in keiner Weise zum Vergeben drängen sollten. Vergebung ist ein Prozess, der Geduld (eine weitere Vollkommenheit, die im siebten Kapitel ausführlich erläutert wird) erfordert und stets eine ganz eigene Dynamik entfaltet.
Doch selbst wenn wir vergeben möchten, spielen die eigenen Gefühle nicht unbedingt mit. Wohin mit den Rachegefühlen? Muss man sich wieder ganz öffnen für die Person, der man vergibt? Gibt man damit nicht seinen inneren Schutz auf? In Anbetracht der erfahrenen Verletzungen gilt es zu unterscheiden: zwischen Vergeben und Entschuldigen auf der einen Seite und stillschweigendem Nachgeben auf der anderen, denn das heilt die Verletzungen nicht, sondern wischt sie einfach beiseite, um sie so schnell wie möglich zu vergessen. Solchermaßen verdrängend, lässt man sich zwar wieder auf den Kontakt ein, doch im Herzen bleibt der Stachel sitzen und führt zu Vergiftung und Verbitterung, wie es eine Freundin von mir erfahren hat:
Seit vielen Jahren verweigert sie den Kontakt mit ihrem älteren Bruder. Es kam im Geschwisterkreis gleich nach der Beerdigung der Mutter zu einer heftigen Auseinandersetzung über Erbschaftsfragen. Obwohl sich alle drei Schwestern durch das Verhalten des Bruders tief verletzt fühlten, besteht nur meine Freundin darauf, er müsse sich erst einmal formell und aus eigenem Antrieb bei ihr entschuldigen, bevor sie wieder mit ihm reden möchte. Die anderen beiden Schwestern haben nach einer Kontaktpause den Austausch mit dem Bruder wiederaufgenommen, wenn auch deutlich reduziert. Sie tragen ihm sein Verhalten immer noch nach und haben ihm nicht verziehen. Sie haben – dem äußeren Frieden zuliebe – stillschweigend nachgegeben. Sie geben vor, sich wieder mit ihm zu verstehen, aber der Gedanke an die erfahrene Verletzung schmerzt immer noch und verhindert einen unbeschwerten, offenherzigen Kontakt. Meine Freundin empfindet das als unehrlich und sagt: »Ich möchte mich nicht selbst verbiegen. Statt stillschweigend einzulenken, verzichte ich lieber darauf, die heile Familie zu spielen. Zum einen ist das unehrlich, und zum anderen muss mein Bruder sich dann nie mit seinem eigenen Verhalten auseinandersetzen. Bei nächster Gelegenheit nimmt er sich vielleicht wieder ähnliche Beleidigungen heraus.« Stillschweigendes Beigeben führt nicht dazu, die Ursachen von Verletzungen zu erkennen, es verhindert unliebsame Wiederholungen nicht. Je aufmerksamer wir – wie meine Freundin – unsere eigenen Grenzen achten, desto weniger besteht die Gefahr, immer wieder auf ähnliche Weise verletzt zu werden. Das Vertrauen in eine Beziehung wird nicht dadurch gestärkt, dass man vergibt, sich öffnet und dann wieder verletzt wird. Klare Grenzen, gesicherte Entfernungen und zeitlicher Abstand helfen der Vergebung.