Vom Ende der Nacht - Claire Daverley - E-Book
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Vom Ende der Nacht E-Book

Claire Daverley

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Beschreibung

Die aufwühlende und zugleich zärtliche Geschichte zweier Menschen, die nicht anders können als sich immer und immer wieder anzuziehen. Will und Rosie gehören schon jetzt zu den unvergesslichen Liebespaaren der Weltliteratur – ihre Geschichte wird Sie vom Schlafen abhalten.
Will und Rosie. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein, und doch verlieben sie sich ineinander: verstohlene Blicke, Sonnenuntergänge am Lagerfeuer, Gespräche bis spät in die Nacht. Sie sind kurz davor, etwas Wunderbares zu beginnen. Bis eines Tages ihre Welt zerbricht.
Auch wenn die Jahre vergehen, finden sie immer wieder zueinander und können das, was hätte sein können, nicht ganz loslassen.
"Vom Ende der Nacht" erzählt von unmittelbarer Nähe, verpassten Chancen, den vielen Lieben, die wir im Laufe unseres Lebens haben - und der einen, zu der wir immer wieder zurückkehren.

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Das ist das Cover des Buches »Vom Ende der Nac ht« von Claire Daverley

Über das Buch

Die aufwühlende und zugleich zärtliche Geschichte zweier Menschen, die nicht anders können als sich immer und immer wieder anzuziehen. Will und Rosie gehören schon jetzt zu den unvergesslichen Liebespaaren der Weltliteratur — ihre Geschichte wird Sie vom Schlafen abhalten.Will und Rosie. Sie könnten gegensätzlicher nicht sein, und doch verlieben sie sich ineinander: verstohlene Blicke, Sonnenuntergänge am Lagerfeuer, Gespräche bis spät in die Nacht. Sie sind kurz davor, etwas Wunderbares zu beginnen. Bis eines Tages ihre Welt zerbricht.Auch wenn die Jahre vergehen, finden sie immer wieder zueinander und können das, was hätte sein können, nicht ganz loslassen.»Vom Ende der Nacht« erzählt von unmittelbarer Nähe, verpassten Chancen, den vielen Lieben, die wir im Laufe unseres Lebens haben — und der einen, zu der wir immer wieder zurückkehren.

Claire Daverley

Vom Ende der Nacht

Roman

Aus dem Englischen von Margarita Ruppel

hanserblau

Natürlich für Clive

»Ich wünschte, ich hätte alles auf der Welt mit dir gemacht.«

F. Scott Fitzgerald, Der große Gatsby, 2013

Ihre Leben brechen in einer Dienstagnacht auseinander.

Darauf fixiert sich ihre Mutter im grellen Licht des Krankenhausflurs, in ihrer atemlosen und noch nicht zur Trauer bereiten Verdrängung. Die abgewetzten Fliesen sind grau, durch die Jalousien lugt der scharlachrote Himmel. Der Morgen dämmert allmählich, und Rosie steht an der Fensterscheibe und spürt, wie eine Hälfte von ihr sich an einen Ort zurückzieht, von dem sie nicht wusste, dass er existiert.

»Aber es ist Dienstag«, sagt ihre Mutter zum Arzt. »Er geht dienstags nicht aus.«

Der Arzt ist freundlich und routiniert, legt ihrer Mutter eine Hand auf den Ellbogen, und Rosie fällt auf, wie gepflegt seine Fingernägel sind, so glatt, rund und sauber. Sie hätte selbst gern solche Fingernägel. Sie möchte so freundlich, gütig und einfühlsam sein wie dieser Arzt. Sie möchte in der Lage sein, ihre Mutter am Ellbogen zu berühren, sie nach Hause zu geleiten, sobald diese Nachricht, diese entsetzliche, unerträgliche Nachricht, irgendwie eingesickert und angekommen ist.

Doch natürlich werden Jahre vergehen, bis sich irgendetwas wieder wie zu Hause anfühlt, und Rosie weiß es. Sie weiß es genau in diesem Augenblick, in dem sie auf die Hände des Arztes, auf seine akkurat geknöpften Manschetten blickt. Nichts wird sich je wieder wie vorher auf eine Art richtig anfühlen. Nichts kann je wieder normal, unbeschwert oder alltäglich sein, auch wenn Dienstag ist, auch wenn sie in drei Stunden Musikunterricht hat, auch wenn sie noch immer seine Schlüssel in ihrer Jackentasche hat.

Sie denkt an all seine Fingerabdrücke, die sich darauf befinden.

Sie hofft, dass er nichts spürte, als er fiel.

Davor

Eins

Norfolk 2008

Will bemerkt, dass Rosie Winters etwas Besonderes an sich hat, als er ihr nachts am Lagerfeuer begegnet.

Als er ihr erzählt, dass seine Mutter ihn verlassen hat.

Sie sitzen nebeneinander vor dem Feuer, das in die Novemberdunkelheit aufsteigt — als Teil einer zersplitterten Gruppe von Zwölftklässlern. Fingerlose Handschuhe, Bierdosen. Hinter den Pinien in der Ferne die Brandung. Er weiß kaum etwas über Rosie, außer dass sie auf dieselbe Schule gehen und ein paar gemeinsame Freunde haben, aber heute Abend unterhalten sie sich. Ein wenig.

Zuerst nur Smalltalk. Belanglosigkeiten. Bis sein Freund Josh — ihr Zwillingsbruder — eine Bemerkung über ihre Eltern macht und Rosie vor dem knisternden Lagerfeuer kaum hörbar lacht, und ehe er sich versieht, erzählt er ihr, dass er seine eigene Mutter kaum kennt. Noch nie hat er es laut ausgesprochen. Meistens übergeht er den Moment, senkt nur den Kopf, lässt ihn verstreichen. Doch plötzlich erzählt er es ihr, diesem Mädchen mit den Splissspitzen, den ungezähmten Augenbrauen und den blassen, schmalen Händen. Dass seine Mutter ihn vor Jahren verließ, als er morgens vor der Schule eine Zeichentricksendung schaute.

Sie sieht ihn an, während er das erzählt. In ihren Augen spiegeln sich die Flammen. Ihr Gesicht zeigt weder Mitleid noch Neugier, weder ein Stirnrunzeln noch zuckende Mundwinkel, was er erwartet hätte, wenn ihm Zeit geblieben wäre, über ihre Reaktion nachzudenken.

»Was glaubst du, wo sie ist?«, fragt sie ihn nach einem Augenblick.

Er hält inne. Schaut zum Himmel auf, der sich in Lücken zwischen den Bäumen öffnet. Der Feuerrauch kräuselt sich empor, und dort sind Sterne, einer größer und heller als die anderen. Ein Planet vielleicht, oder ein Mond.

»Keine Ahnung«, sagt er zu ihr. »Irgendwo.«

Und Rosie Winters wiederholt das Wort, als dächte sie ernsthaft darüber nach. Als fragte sie sich, wie dieses Irgendwo wohl aussah.

Es ist Winter, und der Wind schneidet durch den Wald, doch sie bleiben draußen. Besser als zu Hause im Warmen, aber gelangweilt vor dem Fernseher zu sitzen.

Das hier, wie ihre Haut vom Feuerschein orangerot gefärbt wird, ist neu für sie.

Es setzt etwas in Brand.

Sie reden den ganzen Abend lang, ihre Knie berühren sich fast. Sie sagen nicht viel, doch er hat sich selbst noch nie so aufmerksam erlebt, so sehnsüchtig nach einem weiteren Satz, so überrascht von ihrer Wortwahl. Die anderen verschwinden allmählich paarweise, um einander hinter den Bäumen zu berühren, im Sand zu fummeln oder sich mitternächtliche Nudeln und Pommes frites in ölbeflecktem Papier zu holen. Nur er, Rosie, Josh und zwei weitere bleiben. Einer von ihnen holt eine Gitarre hervor und spielt neben dem erlöschenden Feuer. Will beobachtet die rotglühende Baumrinde, die grauweiße Ascheschicht.

Es ist nur noch Glut übrig, als Rosie zu singen anfängt.

Ihr Bruder bittet sie darum. Zuerst ermutigt er sie, dann fleht er sie an, bis sie mit einem kleinen Kopfnicken nachgibt.

Der Wind hat sich gelegt. Ohne das Feuer ist die Luft wie Glas, kalt und starr. Und als sie singt, ist es ein Sound, wie Will ihn noch nie gehört hat. So chorisch, strahlend und rein.

Sie lauschen ihr, bis das Feuer erstirbt und ihre Hände taub sind, und gehen dann auseinander. Will zieht seinen Helm auf, verschließt ihn unter seinem Kinn, lässt sein Motorrad mit einem Tritt an und denkt, dass dies eine einmalige, erinnerungswürdige Nacht bleiben wird, in der er mit der Schwester eines Freundes gesprochen und diese ein seltsames Lied gesungen hat, nichts weiter.

Doch ihre Stimme hält ihn wach in dieser Nacht.

Und erneut in der nächsten.

Am Wochenende steht er spät auf, zieht einen Hoodie über und versucht, sein schwelendes Bedürfnis nach einer Zigarette zu unterdrücken, als er in Socken die Treppe hinunterstapft. Dave empfängt ihn an der untersten Stufe, legt die Pfoten an seine Knie, und Will krault ihm den borstigen Kopf, bevor der Hund zurück ins Wohnzimmer huscht. Dave verbringt seine Tage zusammengekauert in Großvaters altem Sessel. Als würde er auf dessen Rückkehr warten, denkt Will. In der Küche brät seine Großmutter Bacon. Es riecht nach heißem Öl und Bratfett, nach Salz, Schweinefleisch und Toast. Sie trillert, als er zur Tür reinkommt.

»Einen schönen Nachmittag«, sagt sie.

»Es ist doch erst zehn.«

»Und du bist nur einmal achtzehn, mein Junge«, sagt sie. »Du solltest Wangenknochen wie diese nicht unter der Bettdecke verstecken.«

»Ich habe mich nicht versteckt.« Er geht zum Küchentisch und gießt sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein.

»Amber war schon schwimmen.« Seine Großmutter steht mit dem Rücken zu ihm. »Und hat die Hälfte ihrer Hausaufgaben erledigt.«

»Schön für Amber«, sagt Will.

Eine kurze Stille tritt ein, die nur vom Zischen des Bacons unterbrochen wird. Die Wintersonne wirft ihren blassen Schein an die Wände. Seine Schwester ist nirgendwo zu sehen. Bestimmt verbarrikadiert in ihrem Zimmer, denkt er, damit beschäftigt, ihre Notizen mit Gelstiften farbig abzustimmen und ihr Leben mit herzförmigen Büroklammern zu organisieren.

»Du siehst müde aus«, sagt seine Großmutter. Er antwortet nicht gleich, nimmt sich zwei Toastdreiecke vom Tisch und geht zur Hintertür.

»Mir geht's gut.« Er drückt die Türklinke herunter. Sie sagt noch etwas, während er schon hinausschlüpft, die Tür hinter sich schließt und auf die Garage zusteuert.

Für einen winzig kleinen Moment hat er ein schlechtes Gewissen.

Er weiß, dass sie eine Weile sauer sein, ihm aber nachher zu Mittag Bacon bringen wird.

Drinnen knipst er die einsame Glühbirne an der Decke an. Es ist ein fensterloser Raum mit Betonboden, ein Radio mit Antenne steht auf der alten Werkbank seines Großvaters. Es riecht nach Sägemehl und Spuren von Diesel. In der Ecke steht ein Werkzeugkoffer, und auf dem Boden liegt ein Stapel ungenutztes Brennholz. Es ist der einzige Ort, an dem sich die Dinge einigermaßen richtig für ihn anfühlen, wo alles seinen Zweck hat und niemand redet, an ihm zweifelt oder Erwartungen an ihn stellt.

Sein neues Motorrad steht auseinandergebaut und unfertig genau dort, wo er es zurückgelassen hat.

Zuerst bleibt er im Eingang stehen, isst seinen trockenen Toast und sucht den Boden nach den Werkzeugen ab, die er braucht. Dann macht er sich an die Arbeit, ohne das Radio einzuschalten. Nur er und das Bike. Er lackiert die Kotflügel, justiert die Scheinwerfer nach. Währenddessen denkt er kaum an das Mädchen von gestern.

Nur ein bisschen.

*

Rosie bleibt länger im Musikraum. Sie wollte eigentlich nur Tonleitern üben und sich nach fünfzehn Minuten wieder verdrücken. Doch es vergeht eine Stunde, und da kommt schon die Putzfrau, ihr Mopp wischt über die Fliesen. Rosie hört sie den Eimer über den Boden schieben, das Platschen des Wassers, und murmelt leise »Scheiße«, bevor sie ihre Notenblätter wegpackt. Sie schaltet das Licht aus und lässt die Holztür hinter sich dumpf ins Schloss fallen. Sie verabschiedet sich von der Putzfrau, die immer nett ist, ihr immer zulächelt, wenn sie sich zu später Stunde auf den Fluren begegnen, als würden sie irgendein Geheimnis miteinander teilen.

Draußen ist es schon dunkel, und die Luft fühlt sich frisch an. Es ist die Art von Kälte, die Schnee ankündigt. Dies ist kein Abend für nackte Beine, zum Rennen unter Neonlicht.

Aber sie hat es ihrer Mutter versprochen, also geht sie ins Fitnessstudio. Sie schlüpft in ihre Trainingskleidung und sprintet auf dem Laufband, jedoch nur halb so lang, wie sie eigentlich sollte, weil sie die Welt um sich herum vergessen hat, sich von der Musik hat einnehmen lassen, weil sie wieder einmal ihre Zeit verschwendet hat.

Der Schweiß zerzaust den Pony und brennt in den Augen, und während ihre Füße auf das Band hämmern, fragt sie sich, warum sie sich immer so viel Mühe gibt. Für wen sie sich so viel Mühe gibt. Warum alles immer so unglaublich wichtig ist.

Nach kurzer Zeit bekommt sie Seitenstiche und hält an, lehnt sich an den Rand, um Luft zu holen. Sie hofft, dass es niemand bemerkt. Dass niemand sie beobachtet. Später hievt sie sich die Tasche wieder über die Schulter, zieht den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und macht sich auf den kurzen Heimweg, die Haare hängen feucht über den Ohren. Über ihr leuchten die verstreuten Sterne, neben ihr ziehen die Autos in einem steten Strom aus Scheinwerfern vorbei. Sie zählt ihre Schritte und fängt immer wieder von vorn an. Die Fugen im Gehweg meidet sie.

Zu Hause angekommen findet sie ihren Zwillingsbruder auf dem Sofa vor.

»Du bist spät«, sagt er, ohne den Blick vom Fernseher zu lösen.

»Nur ein bisschen.« Rosie blickt auf ihr Handgelenk, nur um festzustellen, dass es nackt ist. Schon wieder hat sie ihre Uhr im Musikraum vergessen. Unter Zeitdruck kann sie nicht schreiben.

»Mama wird sauer sein«, sagt Josh, und sie drückt mit der Handfläche auf seinen Kopf, verlässt schnell das Zimmer, bevor er ein Kissen nach ihr werfen kann.

Ihre Mutter ist nicht sauer, sondern abgelenkt. Sie ist am Telefon und hebt den Zeigefinger, das ist ihre typische Art, um Rosie »Hallo« zu sagen, aber gleichzeitig zu signalisieren: »Warte, ich habe gerade etwas Wichtiges zu tun, das verstehst du doch, oder? Du weißt doch, wie die Dinge laufen.«

»Wie war’s in der Schule?«, fragt ihre Mutter, nachdem sie aufgelegt hat. Sie sucht keinen Augenkontakt, dreht sich um und öffnet den Backofen.

»Gut«, sagt Rosie.

»Und im Fitnessstudio?«

»Anstrengend.«

»Das ist gut«, sagt ihre Mutter. »So soll es sein.«

»Hab ich noch Zeit, zu duschen?«

Ihre Mutter dreht sich um, wirft einen Blick auf ihr glänzendes Gesicht und das zerzauste Haar.

»Das will ich doch meinen«, sagt sie. »Du kannst doch nicht so verschwitzt am Esstisch sitzen, nicht wahr, mein Schatz?«

Rosie erwidert ihren Blick einen Moment zu lang. Dann nickt sie und geht die Treppe hoch.

Im Badezimmer dreht sie das Wasser so heiß auf, dass es brennt. Ihre Haut wird puterrot, aber sie bleibt darunter stehen und erträgt es. Zählt nicht die Schritte, sondern die Sekunden. Zieht die Zahlen in die Länge, immer und immer weiter, so wie sie es beständig tut — es ist wie das Blut, das durch ihren Körper strömt, sie kann es nicht aufhalten.

Als sie aus der Dusche steigt, wickelt sie ihr Haar in ein Handtuch und ist dankbar über den Dampf, der ihr Spiegelbild vernebelt. Dann trocknet sie sich ab und geht hinüber in ihr Zimmer, wo Notenblätter auf dem Schreibtisch verstreut liegen und Bücher sich auf den Regalen aneinanderreihen, mit Teeflecken und abgenutzt vom vielen Lesen, Wenden und Herumtragen wie alte Landkarten. Patti Smith. Oliver Sacks. Die Sylvias, sowohl Patterson als auch Plath.

Nachdem sie sich etwas übergezogen hat, lässt sie ihr Verdunklungsrollo herab. Sie bleibt einen Moment stehen, die Hände auf dem Fensterbrett abgestützt. Sie ist hungrig — auf jede erdenkliche Art. Sie stellt sich vor, zur Tür hinauszuspazieren, trotz nasser Haare und des sich ankündigenden Schneefalls, geradewegs ins nächtliche Norfolk.

»Wie war die Schule?«, wiederholt ihre Mutter, sobald alle am Tisch sitzen. Sie hat quadratische Stücke Fertiglasagne auf den Tellern verteilt, reicht sie Rosies Vater und Bruder mit den Worten: »Vorsicht, heiß.« Rosie nimmt ihren Teller mit beiden Händen, ihr Stück ist kleiner als die der anderen.

»Erde an Joshua?«, bohrt ihre Mutter nach. »Wie war dein Tag?«

»Gut«, sagt er mit vollem Mund.

»Rosie?«

»Ich hab meine Geschichtsarbeit abgegeben. Und einen Lateinaufsatz fertig geschrieben.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Ganz okay, denke ich.«

»Gut.«

Eine Minute herrscht Schweigen, Messer knirschen auf den Tellern. Rosie nimmt einen Schluck Wasser. Dann fängt ihre Mutter an, von der Arbeit zu erzählen, etwas über einen Klienten, der vor seiner Frau kuscht und dem Rechtsstreit ausweicht, obwohl sie diesen gewiss für ihn gewinnen könnte. Wieder herrscht Stille. Die Küchenuhr tickt. Béchamelsoße quillt auf die Teller.

»Vielleicht ist es einfach zu viel«, wagt sich Rosie vor.

»Hmm?«

»Für deinen Klienten. Vielleicht tut es schon genug weh, dass seine Ehe so endet. Und er will einfach nur, du weißt schon. Dass es vorbei ist.«

Ihre Mutter schenkt sich Wein nach, spießt mit der Gabel eine Tomate auf.

»Lass uns nicht über seine Beweggründe spekulieren, Rosemary«, sagt sie. Josh fängt Rosies Blick ein, fragt sie still, warum sie sich die Mühe macht, und sie senkt ihren Blick auf den Tisch herab. Ihr Vater löst ein Kreuzworträtsel.

Als ihre Mutter mit dem Abräumen beginnt, schiebt Josh die Reste seiner Lasagne auf Rosies Teller, sie isst sie schnell auf und steht auf, um zu helfen, dabei streift sie seine Schulter mit ihrer.

Eine Sache unter Geschwistern, oder unter Zwillingen.

Sie kennt den Unterschied nicht.

Und während sie die Salatschüssel ausspült, hebt eine neue Melodie an. Wie Vogelgesang früh am Morgen, diese ersten, vorsichtigen Töne, die niemand zu hören bekommt. Sie nimmt es kaum wahr, als Josh erwähnt, dass er morgen mit Will White aus seinem Matheleistungskurs lernen will, denn sie versucht, die Noten nicht aus dem Sinn zu verlieren.

Sie wiederholt sie immer wieder, damit sie ihr nicht entfallen können.

Früh am nächsten Morgen ruft Marley an.

Rosie ist schon wach und hebt beim zweiten Klingeln ab.

»Du bist ja schon auf«, sagt Marley.

»Konnte nicht schlafen«, antwortet Rosie. Einen Moment lang wünscht sie sich, dass ihre Freundin nachfragen würde, weshalb. Dass es auffallen oder jemanden kümmern würde.

»Ich dachte, wir könnten heute Abend was zusammen machen«, sagt Marley stattdessen. Rosie meint, das wäre schön, aber sie müsse noch lernen.

»Na und? Ich muss auch lernen. Wir könnten sogar zusammen lernen. Stell dir das mal vor.«

Rosie dreht sich im Bett um. Das Morgenlicht scheint blass durch die Vorhänge wie eingetauchte Farben in milchigem Wasser.

»Das sagst du jetzt«, erwidert sie, »aber am Ende machst du einen Film an, und wir lernen gar nicht.«

»Darauf läuft es wohl hinaus.« Rosie hört das Grinsen in Marleys Stimme, so vertraut und leicht spöttisch.

»Ich könnte eine Pause gebrauchen«, lenkt sie ein und nimmt den Telefonhörer von der einen in die andere Hand. Auf den Innenflächen sind Tintenflecke vom nächtlichen Songwriting, all das Durchgestrichene und all die Riff-Skizzen.

»Gut!«, sagt Marley. »Wie wär’s, wenn wir uns dieses Wochenende sehen? Ein bisschen Spaß am Samstagabend, oder etwas ähnlich Tragisches.«

»Warum ist das tragisch?«

»Weil wir siebzehn sind, Rosie. Wir sollten keine Samstage als Ausrede brauchen, um uns zu sehen oder auszugehen oder etwas ansatzweise Aufregendes zu tun.«

»Wir gehen aus! Haben wir doch neulich erst gemacht.«

»Ja, und alles, was ich davon hatte, war eine Portion Fritten und ein Kuss, der nach Tic Tacs schmeckte.«

Rosie schnaubt. Sie hört, wie ihre Mutter sich für die Arbeit fertig macht, das Brummen der Kaffeemaschine unten in der Küche.

»Mit wem hast du geknutscht?«

»Frag nicht«, sagt Marley.

»Na schön. Nächste Woche ist es eh wieder ein Neuer.«

»Rosemary Winters, nennst du mich leicht zu haben?«

»Würde ich so etwas jemals tun?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber nur, weil du eine prüde Jungfrau bist, eine Vanilla Virgin.«

»Guter Name für einen Nagellack.«

»Das stimmt, nicht wahr?« Und Marley entfährt eine ihrer gewaltigen Lachsalven, sodass Rosie ihren Kopf vom Telefon weghalten muss. »Diesen Samstag also. Ich besorge einen Berg Popcorn und eine Packung dieser Oma-Bonbons, auf die du so stehst.«

»Werther’s sind keine Oma-Bonbons.«

»Und wir können uns alle Leo-Szenen so oft anschauen, wie wir wollen. Oder die mit Patrick Swayze. Ich finde, in unserem Leben fehlt es an erotischer Töpferei.«

»Marl!«

»Was?«

»Erotische Töpferei?«

»Es muss ja nicht Töpferei sein. Ein bisschen Dry Humping zu Solomon Burke. Sex auf dem Tisch zu Berlioz.«

»Ich lege jetzt auf.«

»Langweilerin.«

»Wir sehen uns Samstag.«

»Ich wusste, mit Berlioz krieg ich dich«, sagt Marley.

Auf dem Schulweg denkt Rosie darüber nach, was Marley gesagt hat. Josh ist schon los zum Basketballtraining, sie hat ihren Mantel gegen die Kälte bis unters Kinn gezogen. Sie ist Jungfrau, und sie ist prüde. Sie wäre gern anders. Aber es ist ihr nicht wichtig genug, sich zu ändern, sie ist nun mal ein braves Mädchen.

Sie hatte noch nie einen Freund. Sie hat einmal jemanden geküsst, oder wurde vielmehr geküsst, und zwar schlecht, auf der Hausparty einer Freundin gegen die Badezimmertür gepresst. Die Klinke bohrte sich in ihr Steißbein, und der Typ schmeckte nach altem Kaugummi.

Sie war noch nie betrunken, hat sich noch nie rausgeschlichen, noch nie eine Zigarette geraucht, ihre Eltern angelogen oder auch nur vor ihnen geflucht, obwohl sie sich nicht einmal sicher ist, ob es ihnen auffallen oder sie stören würde.

Aber für all das ist noch Zeit, beschließt sie, als sie vom Bordstein die Straße quert. Siebzehn ist erst der Anfang. Sie wird hart arbeiten, alles tun, was nötig ist, und irgendwann wird sie ein gutes, richtiges und erfülltes Leben führen, voller Musik und Poesie, Wein und Sex und lebensverändernden Erfahrungen, die länger als drei Minuten dauern und keine blauen Flecken auf ihrem Rücken hinterlassen.

Das ist ihr Plan.

Sie muss erneut über die Straße, einmal, zweimal, dreimal, um den schmalen Seitenstreifen ohne Fußweg auszuweichen, sie tippt mehrfach mit dem Fuß auf den Gehweg, bis sie es endlich schafft, damit aufzuhören, und da setzt der Schneefall ein. Zunächst nur ganz leicht, wie feiner Regen. Er klebt an ihren Ärmeln wie Salz.

Zwei

Josh sagt zu ihm, er kapiere es nicht. Sie brüten beide über ihren Mathebüchern, während draußen vor dem Klassenfenster Schnee durch die Luft wirbelt.

Der Leistungskurs besteht nur aus ihnen beiden, aus ihrem Jahrgang hat ihn sonst niemand belegt. Sie kannten sich schon vorher, hatten im Laufe der Schulzeit ein paar Fächer zusammen, doch erst jetzt in ihrem Abschlussjahr denkt Will, dass sie sich gegenseitig wohl als Freunde bezeichnen würden. Seine anderen Kumpels sind eher Pausenbekanntschaften. Sie stellen ihm weder Fragen, noch scheinen sie auch nur das geringste Interesse an seinem Leben zu haben, was ihm gut in den Kram passt. Josh hingegen ist anders.

»Und was ist deine erste Wahl?«, hatte Josh ihn in der ersten Stunde gefragt.

»In Bezug auf was?«, fragte Will zurück, und Josh sagte: »Uni.« Also musste er erklären, dass er nicht studieren wollte.

Josh schaute von seinem Arbeitsblatt auf.

»Komm schon«, sagte er, und Will fragte: »Komm schon, was?«

»Du bist doch echt schlau.«

»Danke.«

»Im Ernst. Wenn du dich richtig reinhängen würdest, könntest du es überall reinschaffen.«

»Und was, wenn ich nicht will?«, fragte Will, und Josh sah ihn mit gerunzelter Nase an, als würde er nicht verstehen, was das bedeuten sollte.

Jetzt starren sie jedoch unverwandt auf eine Seite mit Hyperbelfunktionen und hoffen, dass sie irgendeinen Sinn darin erkennen, bevor die Stunde um ist. Ihr Lehrer, Mr Brookman, ist schon gegangen. Er nutzt ihren Kurs ziemlich oft als Ausrede für eine verlängerte Pause im Lehrerzimmer, und Will ist das nur recht.

»Lass uns Schluss machen für heute«, sagt Will.

Josh lehnt sich zurück, kippt seinen Stuhl auf die Hinterbeine.

»Das geht nicht, Mann. Ich muss das bis zur Probeklausur können.«

»Warum?«, fragt Will und steckt seine Stifte in die Tasche.

»Warum was?«

»Warum musst du es bis zur Probeklausur können? Du brauchst es erst für die richtige im Frühling. Bis dahin ist noch ewig Zeit.«

»Die Probeklausuren zählen.« Josh kippelt noch immer. »Für die vorläufigen Zusagen und so.«

»Klar«, sagt Will.

»Willst du wirklich nicht an die Uni?«

»Nope.«

»Was willst du stattdessen tun?«

»Arbeiten«, sagt er und wirft sich die Tasche über die Schulter. »Vielleicht reisen.«

»Das ist cool.«

»Das interessiert mich nicht«, sagt Will, denn er weiß, dass man so über ihn denkt, mit seinem Motorrad, der Schulakte und all dem Mist, in den er sich vor Jahren hat reinziehen lassen. Es ist schon so lange her, aber die Leute erinnern sich an nichts anderes. Wollen nichts anderes sehen.

»Kommst du trotzdem nachher noch vorbei?«, fragt Josh.

»Brauchst du mich noch?«

»Auf jeden Fall.« Josh lässt seinen Stuhl wieder auf alle viere zurückfallen. »Ich wohne in Crescent Gardens, du kannst auf der Straße parken. Es ist das weiße Haus mit der blauen Tür.«

Als Will den Schulhof überquert, landen Schneeflocken in seinem Haar. Die Schule sieht aus wie eine Kreidezeichnung, konturenlos und verwischt.

Er denkt nicht wirklich darüber nach, dass er an diesem Abend zu Josh nach Hause fahren wird, um ihm beim Lernen zu helfen. Und dieser zufällig der Bruder des Mädchens ist, an das er ständig denken muss.

Das ist nicht ungewöhnlich für ihn. Er denkt oft an Mädchen. Das Ungewöhnliche ist der Inhalt seiner Gedanken. Sie drehen sich nicht um die weichen, feuchten Stellen an ihr, das Gewicht ihrer Schenkel, die seine umschließen. Nur um ihre Stimme und ihre Augen. Wie intensiv sie zuhörte und alles, was er zu sagen hatte, aufnahm.

»Bist du sicher, dass du zum Abendessen bleiben darfst?«

»Ich bin sicher.«

»Bist du sicher, dass du sicher bist? Du gehst nicht einfach davon aus?«

»Oma, Josh hat gesagt: Komm zum Abendessen.«

»Und du wirst nicht hungrig bleiben?«

»Ich bezweifle, dass sie nichts zu essen dahaben.«

»Du kannst in fremden Häusern nicht wie ein Pferd fressen«, tönt Amber vom Tisch herüber. »So wie hier.«

Sie lässt ihre Füße in den Schulsocken baumeln, während sie etwas in ein Notizbuch kritzelt.

»Danke für den Tipp, Ambs.«

»Das ist unhöflich«, fügt sie mit einer schwungvollen Geste ihres Puschel-besetzten Kulis hinzu.

»Sei um zehn zu Hause«, sagt seine Großmutter.

»Es könnte halb elf werden«, erwidert er. »Kommt drauf an, wie lange Josh braucht, um es zu kapieren.«

»Erzähl mir doch noch mal, wer dieser Josh ist«, bittet seine Großmutter, während sie ihm in den Flur folgt.

Will seufzt, als er sich die Jacke über die Schultern zieht und die Taschen nach dem Handy abklopft.

»Josh Winters«, sagt er. »Er ist der andere Junge in meinem Mathekurs.«

»Leistungskurs«, korrigiert sie ihn.

»Leistungskurs. Und er braucht Hilfe bei einem der Module, also habe ich versprochen, mit ihm zu lernen, wie ich es dir schon erzählt habe. Er isst Fleisch, ist wahrscheinlich Sternzeichen Zwilling und raucht kein Gras. Ich glaube, seine Schuhgröße ist 41, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Ach ja, und er …«

Seine Großmutter schneidet ihm mit einem Hieb ihres Geschirrtuchs das Wort ab. »Also sei um halb elf wieder zu Hause, du Schlaumeier.«

»Ja, ja.« Er schnappt sich ihre Autoschlüssel und schließt die Haustür hinter sich.

Das Haus ist genauso geschnitten wie seins. Eine Doppelhaushälfte, aber mit weißem Anstrich, einem perfekten Rasen und eingetopften Olivenbäumen, ganz anders als der Vorgarten seiner Oma mit den Gartenzwergen und dem wuchernden Gras.

Als Will eintrifft, gibt es von Rosie keine Spur. Oben sind alle Türen geschlossen, und er hat keine Ahnung, welches Zimmer ihr gehören könnte, also verdrängt er den Gedanken und wendet sich der mathematischen Logik zu. So vertraut und beständig wie ein Motor.

Der Abend ist lang. Josh braucht mehrere Stunden, um die Systematik zu verstehen und vier Probeklausurfragen nacheinander richtig zu beantworten. Sie essen am großen Eckschreibtisch in seinem Zimmer zu Abend, nachdem Josh seine Mutter angefleht hat, sie zu entschuldigen — »wir haben es fast geschafft, Mama, bitte«. Es ist beinahe zehn Uhr, als er sich die Augen reibt und sagt, er habe es endlich gerafft.

»Hast ja lang genug gebraucht«, sagt Will, und Josh boxt ihn fest in den Arm.

»Das ist auch echt kompliziert«, sagt Josh.

»Ich hab nie was anderes behauptet.«

»Aber jetzt ergibt alles einen Sinn.« Josh klingt beinahe selig, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnt und die Arme über dem Kopf ausstreckt. Er ist groß und schlaksig, erinnert Will irgendwie an eine Cartoon-Figur. Seine Arme und Beine wirken zu lang für seinen Körper, als müsse der Rest sich noch zurechtwachsen.

»Ich werd diese Prüfung sowas von rocken«, sagt Josh. »Nach Cambridge gehen, und dann Boom.«

»Was soll ›Boom‹ heißen?«

»Keine Ahnung.« Josh lacht. »Einfach nur Boom. Wie sich die Dinge halt so entwickeln, du weißt schon.«

»Ja, schätze schon«, sagt Will, obwohl er absolut keine Ahnung hat, wie sich die Dinge entwickeln werden. Er plant den nächsten Tag, das nächste Wochenende. Das nächste Teil, das er für sein Motorrad braucht.

»Danke fürs Vorbeikommen, Mann«, sagt Josh, nachdem Will seine Sachen zusammengepackt hat. »Können wir das vielleicht mal wiederholen? Du bist besser als der alte Brookman.«

»Das ist auch nicht schwer«, sagt Will. Eigentlich bräuchte es keine weitere Antwort, doch Josh schaut ihn an, als würde er darauf warten, wendet den Blick nicht von seinem Gesicht ab.

»Du kannst nach der Schule in die Werkstatt kommen«, schlägt er vor. »Ich bin mit meinem Holzarbeitsprojekt in Verzug, also bin ich manchmal da. Hauptsächlich mittwochs.«

»Mathe, Matheleistungskurs und Holzarbeit im Werkunterricht.« Josh tickt die Aufzählung an seinen Fingern ab. »Das ist die schrägste Fächerkombi ever.«

Will zuckt mit den Schultern. »Nicht wenn du Bauingenieur werden willst.«

»Willst du das?«

»Oh Gott, nein.«

»Was willst du denn nun machen?«, fragt Josh.

»Es ist schon spät, Kumpel«, sagt Will, weil es die Wahrheit ist und weil er keine Lust auf dieses Thema hat. »Ich mach mich besser auf den Weg.«

Auf dem Treppenabsatz sind die Wände mit Kinderfotos geschmückt, Josh in Latzhosen, Rosie beim Muschelsammeln. Eins von ihr am Klavier. Will fühlt sich seltsam wach, als er Josh die Treppe hinunterfolgt und sich bewusst macht, dass sie irgendwo ganz in der Nähe ist. Er fragt sich, ob er sie sehen, ob sie ihm »Hallo« sagen wird.

Er fragt sich, warum er sich das fragt.

Unten ist alles ruhig, nur das Murmeln des Fernsehers dringt aus dem Wohnzimmer. Als er jedoch seine Schuhe anzieht, zu Josh sagt: »Bis morgen in der Schule«, und die Haustür öffnet, wird er von einer Welt aus Weiß empfangen. Das Auto seiner Oma ist neben dem Bordstein eingekeilt, wie ein Kuchen unter einer dicken Glasurschicht, und der Schnee fällt weiter zu Boden wie Asche.

»Whoa«, sagt Josh, als sie beide durch die offene Tür blinzeln. »Ich glaube, du gehst heute nirgendwo mehr hin.«

Mrs Winters entschuldigt sich ein paar Mal zu oft. Sie sagt, sie habe nicht bemerkt, wie schlimm es geworden sei, die Vorhänge seien zugezogen gewesen. Es tue ihr so leid, dass er die Nacht hier verbringen müsse. Will wird das Gefühl nicht los, dass es ihr mehr um ihretwegen leidtut als um seinetwegen. Ihr Gesicht ist verkniffen, zwei rosa Flecke prangen hoch oben auf ihren Wangen. Sie wirkt irgendwie katzenartig, als sie im Flur herumwirbelt. Sie hat eine gepflegte und scharfkantige Erscheinung und sieht ihn mit vager Missbilligung an, als wüsste sie etwas, was er nicht weiß.

Ihm wird ein Schlafplatz auf dem Sofa bereitet, und Mrs Winters sagt, er solle sich gern am gefilterten Wasser im Kühlschrank bedienen, was impliziert, dass dies das einzige ist, woran er sich bedienen sollte, und er dankt ihr, bevor sie nach oben geht.

»Bequem?«, fragt Josh und boxt in eins der Kissen. Er hat ihm ein T-Shirt geliehen, und Will zieht dafür sein Schulhemd aus. Währenddessen schaut Josh weg, so als wäre er plötzlich ganz fasziniert vom Teppich.

»Alles gut«, sagt Will.

»Cool. Also. Gute Nacht.«

Josh bleibt einen weiteren, zu langen Moment stehen. Scheint noch etwas sagen zu wollen, entscheidet sich aber dagegen und schaltet das Licht beim Verlassen des Zimmers aus. Will hört ihn die Treppe hinaufstapfen, holt dann sein Handy hervor und sieht fünf verpasste Anrufe.

»Tut mir leid«, sagt er, sobald seine Großmutter abhebt. »Ich wusste nicht, dass es so heftig schneit.«

»Ich nehme an, dass du dableibst?«

»Jap. Auf dem Sofa.«

»Benimm dich ja gut, William.«

»Tu ich immer, Gran.«

Stille tritt ein. Er betrachtet den Schein der Straßenlaterne, der verschwommen durch die Lamellen der Jalousie dringt.

»Du weißt, was ich meine«, sagt sie. »Keine krummen Dinger.«

»Gute Nacht, Gran«, sagt er und legt auf.

*

Rosie kann nicht einschlafen. Sie hat kurz vor dem Schlafengehen noch gelernt, und jetzt dreht sich alles in ihrem Kopf, lauter Namen und Fakten, die sie nicht vergessen kann, nicht vergessen darf. Nach einer Stunde setzt sie sich auf. Liest ein paar Dinge nach. Beschließt, dass ihr Mund trocken ist und sie ein Glas Wasser braucht.

Sie tappt im Dunkeln die Treppe hinunter und erschreckt sich, als sie einen Jungen an ihrem Küchentisch sitzen sieht. Will White, der Typ vom Lagerfeuer. Der unnahbare, nachdenkliche Junge aus der Schule, mit dem sie vor jenem Abend kein Wort gesprochen hatte.

»Sorry«, sagt sie, obwohl es ihr Zuhause und er derjenige ist, der sie erschreckt hat. Er hebt seinen Blick ganz langsam von seinem Handy, das Licht des Displays spiegelt sich in seinen Augen.

»Wofür?«, fragt er.

»Ich wusste nicht, dass du hier bist«, sagt sie.

»Es ist wegen des Schnees. Deine Mum hat gesagt, ich könnte bleiben.«

»Ich weiß«, sagt sie. »Ich wusste, dass du hier bist. Ich habe es nur vergessen.«

Er hebt sein Kinn, als wolle er sie besser sehen. Ihr wird deutlich bewusst, dass sie barfuß ist. Dass sie einen verblassten rosa Pyjama trägt, für den sie vermutlich viel zu alt ist. Doch dann fällt ihr ein, dass es dunkel ist und er wohl kaum so genau hinschauen wird auf ihre Füße oder ihre Kleidung. Oder überhaupt auf sie.

»Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen«, sagt sie, ohne den entschuldigenden Tonfall in ihrer Stimme ablegen zu können.

»Da ist gefiltertes Wasser im Kühlschrank«, sagt er.

»Das hat dir meine Mum gesagt, nicht wahr?«

»Hat sie.«

»Weiß der Himmel, warum wir nicht einfach Wasser aus der Leitung trinken können wie alle anderen.«

»Na ja, du könntest schon«, sagt er.

Sie hält an der Kühlschranktür inne und wirft ihm einen Blick zu. Sie kann im Dunkeln nicht eindeutig erkennen, ob er lächelt, glaubt es aber in seiner Stimme zu hören. Ein wenig neckisch vielleicht, das ist neu für sie. Genauso wie die ganze Nacht lang am Feuer mit ihm zu sprechen.

»Na gut«, sagt sie. »Das mach ich.«

Also geht sie zum Wasserhahn, füllt ihr Glas und nimmt einen Schluck. Hinter der Scheibe des Küchenfensters liegt der Garten unter dem Schnee versunken. So wunderhübsch, denkt sie. So perfekt und unberührt, so schnell wieder vorbei.

»Und?«, fragt Will.

»Und was?«

»Das Wasser? Wie ist es?«

Oh. Sie wirft einen Blick in ihr Glas. »Absolut vergleichbar.«

Darüber lacht er so leise, dass es bloßes Atmen sein könnte, und etwas steigt in ihr auf und fährt durch sie hindurch.

Seit jener Nacht hat sie ein- oder zweimal an ihn gedacht. Es war seltsam, dass er ihr kaum von der Seite wich, und es machte sie verlegen, dass sein Blick immerzu auf sie gerichtet blieb, selbst wenn sie wegschaute.

Sie hatte Will White immer für distanziert und abweisend gehalten, trotz seiner Beliebtheit und seiner langen Reihe an Freundinnen. Goldbraunes Haar, graue, unergründliche Augen. Es kommt ihr lachhaft vor, dass solche Leute wirklich existieren, wie in den Filmen, mit denen sie und Marley ihre Wochenenden zubringen. Und doch ist er hier und schaut sie wieder an, mitten in ihrer Küche.

»Na dann, gute Nacht«, sagt sie und wendet sich zur Tür.

»Rosie«, sagt er.

Ihr Name in seinem Mund.

»Ja?«

Er hat sein Handy weggelegt, das Display leuchtet noch auf dem Tisch. Es vertieft die Schatten in seinem Gesicht, die Ringe unter seinen Augen.

»Ich weiß nicht, was ich sagen wollte«, sagt er.

Sie neigt den Kopf.

»Ich wollte etwas sagen«, korrigiert er sich. »Aber ich weiß nicht mehr, was.«

»Okay.«

»Schlaf gut, schätze ich.«

»Ich schlafe nie gut«, erzählt sie ihm, weil sie glaubt, ehrlich sein zu müssen, und weil er sich merkwürdig verhält, sie ihm also im Gegenzug womöglich ihr merkwürdiges, ehrlichstes Ich zeigen kann.

»Ich auch nicht«, sagt er. »Zumindest nicht bei anderen Leuten.«

Sie blicken einander an. Der Schnee wirft ein silbrig sanftes Licht. Der Kühlschrank haucht sein leises, kaum hörbares Brummen.

»Hast du Hunger?«, fragt sie.

»Immer.« Er lehnt sich zurück, und aus irgendeinem Grund fällt ihr in diesem Moment ein, dass er Raucher und unbestreitbar attraktiv ist. Zwei Gründe, um dieses Gespräch sofort zu beenden, ihn wieder seinem Handy und seiner schlaflosen Nacht zu überlassen. Am nächsten Morgen steht eine Probeklausur an. Sie sollte versuchen, etwas Schlaf zu bekommen. Ihre Mutter würde diese späte Stunde nicht gutheißen, geschweige denn ihn.

Sie füllt zwei Schüsseln mit Cornflakes.

Sie reden bis in die frühen Morgenstunden. Rosie hat das Licht über dem Herd eingeschaltet, es taucht die Küche in goldenes Licht. Die Fußbodenheizung wärmt die Fliesen und ihre nackten Fußsohlen.

Sie essen Cornflakes mit kalter Milch, und sie beobachtet, wie ihm welche übers Kinn läuft, wodurch er weniger einschüchternd wirkt, vor allem da er es nicht einmal bemerkt. Schließlich sagt sie es ihm mit einem kleinen Lachen, er wischt die Milch mit seinem Handrücken weg und sagt: »Wie peinlich.« Als sie ihn fragt, weshalb, zuckt er nur die Schultern und grinst mit seinen spitzen Eckzähnen.

Er hält sich nicht mit Oberflächlichem auf. Fragt sie nicht nach der Schule oder den Fächern oder wie es ist, ein Zwilling zu sein. Er fragt sie geradeheraus, warum sie schlecht schläft, und das ist das Entscheidende. Das fängt sie ein und platziert ihn so in ihrer Sphäre, dass sie nicht darauf vorbereitet ist.

»Ich mache mir einfach Sorgen um Dinge«, sagt sie. »Manchmal.«

»Was für Dinge?«, fragt er, und sie antwortet: »Dummes Zeug.« Und er sagt: »Sicher nicht, wenn es dich wachhält.«

»Ganz gewöhnliche Dinge«, sagt sie. »Die Schule. Die Noten. Das Leben.«

»Was ja ein und dasselbe ist, klar«, sagt er, und sie fragt sich, ob er sich über sie lustig macht.

»Wie schon gesagt, es ist dumm.«

»Habe ich das gesagt?«

Sie erwidert nichts.

»Uns wird beigebracht, dass wir uns um all das einen riesen Kopf machen müssen«, sagt Will. »Als würde jede Entscheidung, die wir treffen, einen ganz bestimmten Weg vorgeben.«

»Und du glaubst das nicht?«

»Nope. Ich glaube, wir haben alle einen Weg, aber er hängt nicht von unseren Entscheidungen ab. Dieser Weg führt sowieso immer zum selben Ziel.«

Sie schlürft die Milch von ihrem Löffel. Sie schmeckt süß von den Cornflakes, erinnert sie an spätabendliche Lernsessions und die Frühbetreuung in der Grundschule, all die Jahre, in denen sie um fünf Uhr aufstehen musste, damit ihre Mutter es pünktlich zur Arbeit schaffte.

»Was meinst du damit?«, fragt sie.

»Was glaubst du, was ich meine?«

Sie lässt seine Gegenfrage in der Luft schweben, sieht, wie seine Augenbrauen sich ganz leicht heben.

»Tod«, sagt sie.

»Genau.«

Will lehnt sich nach vorn, als wäre das keine große Sache, was es auch vermutlich nicht ist, wenn man siebzehn ist. Wenn es so weit weg, so unwahrscheinlich ist.

»Ich glaube, dass wir mit jedem Tag ein bisschen sterben«, sagt er. »Also können wir genauso gut tun, was wir wollen, bevor es so weit ist.«

Er schaut sie beim Reden an, und sie senkt ihren Blick auf den Tisch herab. Unter ihrer Schüssel hat sich eine Sichel aus Milch gebildet. Sie zieht mit dem Finger eine Linie hindurch.

»Das ist irgendwie makaber«, sagt sie. Er zuckt mit den Schultern und meint, das sei wahr.

»Und was willst du tun?«, fragt sie ihn, ohne hinzuzufügen, bevor du stirbst, obwohl sie es denkt.

»Das werd ich schon noch rauskriegen«, sagt Will.

Rosie nickt, ihre Fingerkuppe nass von der Milch.

»Und was willst du, Rosie Winters?«

Sie erwidert seinen Blick. Er lächelt wieder, aber nur ein wenig. Seine Mundwinkel zeigen nach oben, seine Augen sind sanft, wie kleine Lämpchen im Halbdunkel. Dass er ihren Nachnamen ausspricht, wirkt entweder aggressiv oder liebevoll, sie kann es nicht genau sagen.

»Ich will all die Dinge, die ich deiner Meinung nach nicht wollen sollte«, sagt sie. »Gut in der Schule sein. Gute Noten bekommen, ein gutes Leben führen. All das.«

»Du glaubst, diese Dinge werden dir ein gutes Leben verschaffen?«, fragt Will.

»Ich glaube, sie werden mir dabei helfen, die Dinge zu bekommen, die ich für ein gutes Leben brauche«, sagt sie.

Er hält ihrem Blick stand. Widerspricht nicht und stellt keine weiteren Fragen.

Sie senkt ihren Löffel, beobachtet das Kräuseln der Milch.

*

Es ist schon halb vier Uhr morgens, als sie sagt: »Meine Güte, ist es spät.« Woraufhin Wills Blick zur Mikrowellenuhr wandert, und er sagt: »Genau genommen ist es früh.«

»Ich sollte gehen«, sagt sie und steht auf. Sie spült die Schüsseln aus, und Will beobachtet sie dabei. Ihre dunkle Mähne fällt ihr über die Schultern. Er kann ihre Fußknöchel sehen, so blass unter ihrer Pyjamahose.

Er will nicht an ihr interessiert sein. Hat weder Zeit noch Lust dazu, wo sie doch bald zur Uni geht. Wo sie doch Joshs Schwester ist. Wo sie doch zu begehrenswert werden könnte, was er jetzt schon vorausahnt.

»Dieses Lied, das du gesungen hast«, sagt er etwas lauter, um das laufende Wasser zu übertönen.

»Was ist damit?« Sie dreht den Wasserhahn zu und stellt die Schüsseln kopfüber zum Trocknen hin. Er will ihr sagen, dass es wunderschön war. Dass ihre Stimme, dass sie wunderschön ist. Aber das ist so weit entfernt von dem, was er normalerweise sagen würde, so gewagt, es auch nur zu denken.

»Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«

»Wie ein Ohrwurm«, sagt sie. Sie steht mit dem Rücken zur Spüle, lehnt an der Küchenzeile. Sieht ihn an, mit diesen Augen.

»Was ist ein Ohrwurm?«

»Wenn dir ein Lied immer und immer wieder durch den Kopf geht. Ich habe das manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann. Als würde mein Hirn in einer Schleife festhängen.«

Will denkt darüber nach und sagt dann, es sei schöner als das.

Sie schenkt ihm ein verhaltenes Lächeln, das nur aus Lippen, nicht aus Zähnen besteht. Er fragt sich, was sie wohl sagen würde, wenn er jetzt aufstehen und seinen Mund auf ihren pressen würde.

»Ich geh ins Bett«, erklärt sie.

»Dann gute Nacht«, sagt er.

Sie regt sich nicht. Und er auch nicht.

»Es war schön, mit dir zu reden«, sagt er.

»So förmlich«, sagt sie noch immer mit diesem verhaltenen Lächeln und verlässt ihn dann leichten Schrittes die Treppe hinauf. Er bleibt noch eine Weile im honigwarmen Schein des Herdlichts sitzen. Noch so viele Stunden bis zum Sonnenaufgang.

Er stellt sich schlafend, als Josh ihm am Morgen auf die Beine springt.

»Raus aus den Federn«, sagt er und haut ihm mit der Faust in die Seite. Will grummelt, obwohl er froh ist, dass der Tag anbricht, dass er aufstehen, nach Koffein suchen und womöglich wieder mit Rosie sprechen kann.

»Frühstück?«, bietet Josh an.

»Ist der Schnee weg?«

»Besser als das«, sagt Josh. »Wir haben schneefrei, Kumpel.«

»Echt?«

»Echt! Keine Schule. Preise den Herrn, oder welche Gottheit du auch immer anbetest oder auch nicht anbetest.«

»Ich weiß nicht, wie du es schaffst, nicht ständig gegen Wände geschubst zu werden«, sagt Will, als er sich aufsetzt und mit einer Hand die Schläfen massiert. Der Schlafmangel und das zu grelle Weiß der Tapete lassen den Raum sich drehen.

»Ich hab wohl einfach Glück«, sagt Josh. »Und bin liebenswert.«

»So kann man es auch nennen«, sagt Will und stöhnt, als ihn ein Ellbogen in die Rippen trifft.

»Pancakes«, verkündet Josh. »Magst du Pancakes?«

»Denke schon.«

»Weißt du, was ich so an dir mag, Will?«, sagt Josh, als er vom Sofa aufspringt. »Deinen grenzenlosen Enthusiasmus.«

Will zeigt ihm den Finger, während er sich noch immer den Kopf reibt. Doch als er aufschaut, ist Josh weg, und seine Zwillingsschwester steht in der Tür. Das Haar fällt ihr offen über die Schultern, und sie hält eine Tasse in den Händen.

»Ich dachte mir, du möchtest vielleicht einen Kaffee?«

»Himmel, ja«, sagt er, steht auf und nimmt die Tasse entgegen, verbrennt sich die Zunge beim Trinken. Plötzlich ist er sich seiner Bettfrisur bewusst. Krümel von den Cornflakes stecken ihm zwischen den Zähnen, und er kann seinen teerartigen Atem schmecken.

»Ich wusste nicht, ob du Milch willst?«

»Schwarz ist gut, danke.«

»Hast du es noch geschafft, einzuschlafen?«, fragt sie. Er fragt sich, ob das mehrdeutig gemeint ist und sie wissen will, ob er wach gelegen und an sie gedacht hat.

»Irgendwann schon«, sagt er.

Eine mehrdeutige Antwort.

Rosie verschränkt die Arme, als wäre ihr kalt, obwohl er kurz vor Morgengrauen gehört hat, wie die Heizung angesprungen ist, das Wasser in den Rohren gegluckert hat. Jetzt sieht er, dass sie blaue Augen hat. Volle, dunkle Augenbrauen, die zu ihrer wilden Mähne passen. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als Josh den Kopf aus der Küche streckt.

»Rosie«, sagt er. »Wir haben keine Butter.«

»Dann nimm Öl«, sagt sie.

»Wo ist das? Im Kühlschrank?«

Sie schüttelt den Kopf, sagt, es sei im Schrank, und Will sieht den liebevollen Zug in ihrem Gesicht, als sie sich ihrem Zwillingsbruder zuwendet.

Amber schaut er nie so an, selbst wenn sie gut miteinander auskommen. Er behält den Kaffee im Mund, bevor er ihn hinunterschluckt, er ist bitter und noch zu heiß.

»Willst du spazieren gehen?«, fragt er sie, bevor er auch nur darüber nachdenken kann.

Rosie dreht sich wieder zu ihm um.

»Jetzt?«, fragt sie.

»Oder vielleicht nach dem Frühstück.«

Was passiert hier gerade?, fragt er sich und sieht ihr an, dass sie sich dasselbe fragt. Ihre Augenbrauen ziehen sich zusam-men, und sie saugt ihre Unterlippe ein. Bloß einen Augenblick, dann nimmt ihr Gesicht wieder einen neutralen Ausdruck an.

»Vielleicht«, sagt sie.

Dann geht sie in die Küche und lässt ihn allein dort stehen, neben seinem zerwühlten Bettzeug, in T-Shirt und Boxershorts, in denen er nicht geschlafen hat. Er hört sie sprechen, Pfannen klirren, Schubladen rausziehen. Es sind Geräusche der Routine, der Vertrautheit. In seinem eigenen Zuhause hat er sich von diesen Dingen distanziert, verbringt die meiste Zeit in der Garage.

Als er angezogen zu ihnen stößt, rührt Rosie gerade den Teig, und Josh sucht die Schränke nach Honig und Sirup ab.

»Jeder schulfreie Tag sollte mit einem Zuckerschock starten«, sagt Josh, als er die Zutaten auf den Tisch knallt. Rosie schöpft den Teig wortlos in die Pfanne.

»Die hier ist von schulfreien Tagen gestresst.« Josh nickt in ihre Richtung.

»Ich bin nicht gestresst«, sagt Rosie.

»Sie hätte heute eine Probeklausur in Geschichte gehabt«, erzählt er Will. »Und sie würde jetzt lieber in der Schule sitzen und die Klausur schreiben, als hier mit uns Pfannkuchen zu essen.«

»Nein, würde ich nicht. So vergehen bloß mehr Tage, in denen ich alles wieder vergessen kann, das ist alles.«

Unter ihren Augen wendet sie den ersten Pfannkuchen auf seine ungebratene Seite. Die Küche riecht nach Pflanzenöl und Eidotter, die Fenster sind von der Hitze beschlagen. Will bietet seine Hilfe an, weil es sich falsch anfühlt, sie das Essen für alle zubereiten zu lassen, und zu seiner Überraschung tritt sie zur Seite. Er schöpft Teig und wendet, während sie ein paar Erdbeeren aus dem Kühlschrank in Scheiben schneidet und eine kleine Schüssel mit Zucker füllt. Er versucht, nicht darauf zu achten, wie sie eine Erdbeere hineintaucht und die Zuckerkristalle mit ihrem Mund aufsaugt.

*

Die Jungs schwirren aus, um zu tun, was Jungs im Schnee eben so tun. Sich zweifellos draußen mit Schneebällen bewerfen, bis ihre Jeans durchnässt und ihre Finger so taub sind, dass sie den Schlüssel nicht mehr in die Haustür stecken können.

Sie versucht, sich historische Fakten einzuprägen, und als das nicht klappt, übt sie stattdessen Tonleitern, aber die gelingen ihr so reibungslos, dass sie binnen einer Stunde gelangweilt ist. Sie denkt an das Frühstück zurück und ist sich sicher, dass Will ihren Blick gesucht hat, doch jetzt bei Tageslicht versteht sie nicht, warum. Weder ist sie interessant, noch kann er an ihr interessiert sein. In der Dunkelheit fühlte sich alles anders an, in der Stille des Schneefalls vor den Fenstern. Als ihre Füße sich unter dem Tisch fast berührten.

Er erzählte ihr, dass er einen Hund namens Dave hat.

Dass er bei seiner Großmutter lebt.

Ihre Gesprächsthemen reichten vom Tod über Gitarren bis hin zu Reiseplänen, von Wills Angst vor Ratten bis hin zu ihrer Aversion gegen Watte. Er erwähnte mit keinem Wort sein Motorrad oder seine Suspendierung von der Schule, und sie traute sich auch nicht, danach zu fragen.

Was ihr nun jedoch nachhängt, was sie ablenkt, ist nichts von alledem, sondern, dass er ihr erzählt hat, ihr Lied gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Ihr Lied. Eins, das sie selbst geschrieben hat, auch wenn er das unmöglich hätte wissen können.

Sie schließt auf dem Spielplatz zu ihnen auf. Kinder in gefütterten Schneeanzügen ziehen Schlitten den kleinen Hügel hinter dem Spielplatz hinauf und hinterlassen mit ihren Stiefeln eine Spur geriffelter Fußabdrücke.

Sie sind bei den Schaukeln. Will sitzt mit ausgestreckten Beinen da. Seine Boots sind aus schwarzem Leder, ebenso wie seine Jacke, auf seinem Haar prangt Schnee. Sie ist ihm schon so nah, dass die Flocken wie Tau aussehen, als Josh ihr in hohem Bogen einen Schneeball an den Kopf wirft.

»Du bist gekommen!«, sagt er, als dieser in einer Schneewolke explodiert. Er springt von seinem Platz beim Holzgerüst hinab, die Ohren knallrosa vor Kälte.

»Nur kurz«, sagt sie, während sie sich den Schnee aus dem Haar klopft. »Ich brauchte mal eine Pause.«

Ihr Bruder fasst sie an den Handgelenken, und seine Handschuhe fühlen sich feucht, reptilienartig an, denn die Handflächen sind mit kleinen Noppen übersät. Rosie hat ihre eigenen Handschuhe vergessen, und die Luft sticht ihre Haut.

»Das ist toll.« Josh drückt einmal kurz, um ihr zu signalisieren, dass er weiß, wie schwer es ihr fällt, Spaß und Schnee dem Lernen vorzuziehen. Sich locker zu machen, wozu er ihr so oft rät. Plötzlich wird ihr ganz warm unter dem Mantel, als sie sich fragt, was er wohl dazu sagen würde, dass sie nicht ihm oder sich selbst zuliebe nach draußen gekommen ist, sondern wegen Will White. Und sie sich nicht einmal sicher ist, warum.

Sie gehen zu Will, lehnen sich ans Holzgerüst und reden eine Weile. Beobachten die spielenden Kinder, einen Hund, der einem Ball übers Feld nachjagt. Josh schmeißt sich auf den Boden und macht einen Schneeengel, während Will ihn dabei beobachtet und Rosie wiederum Will dabei beobachtet. Sie fixiert ihren Blick auf einen Punkt über seinem Kopf, als würde sie zu den Bäumen schauen.

»Ich liebe Schnee«, sagt Josh.

Dabei kreuzen sich Wills und Rosies Blicke, und sie tauschen wortlos etwas aus. Anerkennung, denkt sie, oder Zuneigung für die entwaffnende Aufrichtigkeit — ja die Unschuld — ihres siebzehnjährigen Zwillingsbruders.

»Ich nicht«, sagt Rosie.

»Dann geh nach Hause«, erwidert Josh, und dafür wirft sie ihn nun mit einem Schneeball ab.

»Guter Wurf«, sagt Will, und Rosie lacht auf.

Sie unterhalten sich noch fast eine Stunde lang zu dritt. Josh erzählt von einem Schneemann, den sie einmal gebaut haben, als sie noch jünger waren. Sie hätten nicht gewusst, dass er schmelzen würde. »Du hast geweint«, sagt er zu Rosie. »Ich glaube, das warst du«, erwidert sie, und jetzt ist es an Will, zu lachen, obwohl er die Erinnerung nicht teilt.

Als das Gespräch ins Stocken gerät, sagt Rosie, ihre Hände seien eiskalt.

»Dann steck sie doch in deine Jackentaschen«, schlägt Josh vor. Der Schnee glitzert im blassen Licht der Sonne, die hinter den Wolken hervorkommt.

»Ich glaube, ich gehe einfach nach Hause«, sagt sie.

»Ich komme mit«, sagt Will, ihre Blicke treffen sich kurz, als Josh sie als Spielverderber bezeichnet.

Sie gehen Seite an Seite über den grasgesprenkelten Schnee. Die Bäume am Rande des Felds stehen schwarz und skelettartig, der Schnee von ihren Ästen ist schon weggeschmolzen.

»Er bleibt nie liegen«, sagt Rosie, als sie durch das Tor auf die Straße treten, die mit Streusalz bedeckt ist.

»Gott sei Dank«, sagt Will. »Die Straßen wären der reine Alptraum.«

»Und die Schule würde geschlossen bleiben«, sagt sie.

Schneematsch am Straßenrand. Mehr Streugut unter ihren Schuhen.

»Ich hab noch nie jemanden kennengelernt, der die Schule so sehr liebt wie du«, sagt Will. Das lässt sie erröten, doch er klingt nicht abwertend oder gar amüsiert. Sie ist froh, dass sie jetzt nicht an einem Tisch sitzen, dass er ihr Gesicht nicht sehen kann.

»Tu ich eigentlich gar nicht«, sagt sie. »Ich habe nur gerne einen Plan.«

Will sagt nichts. Sie erreichen eine Kurve und wechseln die Straßenseite, damit sie nicht von einem vorbeifahrenden Fahrzeug erwischt werden. Dann wechseln sie ohne ein Wort der Absprache wieder zurück. Der Schnee tropft von den Bäumen, ein Lied, so unregelmäßig und ohne Takt wie der Regen.

»Das finde ich interessant«, sagt Will zu ihr.

»Okay. Das klingt herablassend.«

Er schaut sie aus den Augenwinkeln an, sie hält ihren Blick starr geradeaus gerichtet.

»So meinte ich das nicht«, sagt er. Der Schnee tropft weiter, und ein vorbeifahrendes Auto wirbelt den Matsch auf.

»Ich meinte nur, das ist gut«, sagt er. »Dass du so bist. Ich weiß auch nicht, wie.«

»Naiv?«, fragt sie, und er schüttelt den Kopf.

»Selbstsicher.«

Josh folgt ihnen in einiger Entfernung. Rosie befällt ein seltsamer, beinahe unwiderstehlicher Drang, Wills Hand zu nehmen, bloß um zu sehen, wie er reagieren würde, um zu sehen, ob sie das hier richtig deutet, was sicherlich nicht der Fall ist. Aber sie kann diesem Gedanken nicht nachgehen, nicht mit ihrem Bruder in Sichtweite hinter ihr.

Sie geht weiter neben Will her. Steckt die Hände in ihre Jackentaschen.

Sie sind fast an der Ecke zu ihrer Straße angekommen, als ein Lastwagen sie beide mit einer Welle aus Spritzwasser überzieht. Es ist eiskalt, ein Schock. Will brüllt, während Rosie nach Luft schnappt. Sie drehen sich einander zu mit weit aufgerissenen Augen und brechen in Gelächter aus.

»Vollidiot«, sagt Will, während Rosie sich das Gesicht abwischt. Ihre Finger sind schon taub, irgendwie ist das Wasser noch kälter.

»Gott, tun mir die Hände weh«, sagt sie, und Will rät ihr, sie unter ihre Achseln zu klemmen, woraufhin sie erwidert: »Was?« In dem Moment hält Will an. Er öffnet den Reißverschluss seiner Jacke, nimmt ihre Hände in seine und legt sie unter seine Arme in die Falten seiner Jacke.

Autos fahren vorbei. Der Schnee verlagert sich unter ihren Füßen. Will tritt näher an Rosie heran, sodass ihre Handflächen an ihn gedrückt sind, seine Hände ruhen noch immer geschlossen auf ihren. Sein Hemd ist klamm, ob vom Spritzwasser oder einem leichten Schweißfilm kann sie nicht sagen. Sie blickt zu ihm auf und betrachtet zum ersten Mal seine langen Wimpern. Sie sind länger als ihre.

»Deine sind auch kalt«, sagt sie, weil ihr Herz ins Stocken gerät und es nichts weiter zu sagen gibt und alles zugleich gefroren ist und schmilzt.

»Das wird helfen«, sagt Will.

Ihre Hände tun noch mehr weh, als das Blut wieder in sie hineinschießt.

Sie spürt das Pulsieren in ihren Fingerspitzen.

Auf seiner Haut.

Drei

Als Will in seiner Einfahrt hält, bleibt er noch eine Weile im Auto sitzen, starrt am Armaturenbrett vorbei nach draußen und grübelt. Insbesondere über die Kurven von Rosies Knöcheln und die Art, wie sie mit dem Löffel isst.

Er schüttelt den Kopf, lacht ein wenig, weil es so verrückt ist. Dieses Mädchen mit den perfekten Schulnoten und den Elfen-ohren, das er vor dem Lagerfeuer nie auch nur wahrgenommen hatte. Er reibt sich die Augen, beobachtet, wie der Schnee von den Bäumen tropft. Schließlich beschließt er, dass er dringend Schlaf braucht. Als er gerade aussteigen will, klingelt sein Handy. Es ist Darcy, was ihn überrascht. Sie haben seit Wochen nicht miteinander gesprochen.

»William White«, sagt sie, als hätte er sie angerufen.

»Darcy. Hey.«

»Was machst du?«, fragt sie ihn.

»Nicht viel.«

»Hab ich mir gedacht. Weil ja schulfrei ist und so.«

»Jap.«

»Also.«

»Also.«

»Willst du vorbeikommen? Meine Mum ist nicht da.«

Er denkt geschlagene zwei Sekunden darüber nach und antwortet dann, dass er nicht könne.

»Wieso nicht?« Ihre Wut schlägt ihm hart und unvermittelt entgegen. Er seufzt. Es ist ihm egal, dass sie es hört.

»Ich kann einfach nicht, Darce. Ich bin völlig platt.«

»Wieso?«, fragt sie wieder. »Mit wem warst du zusammen?«

»Ich war die ganze Nacht bei einem Freund. Wir haben Mathe gelernt.«

Ihr entfährt ein ungläubiger, spöttischer Laut, tief aus der Kehle, und er fragt sich flüchtig, weshalb alle das Schlimmste von ihm erwarten, wo er doch immer bloß die Wahrheit sagt.

»Fick dich, Will.«

»Aber das wolltest du doch, oder?«, fragt er.

»Was?«

»Mich ficken. Nur deshalb hast du angerufen.«

Sie legt einfach auf, er steigt aus dem Auto. Seine Stiefel platschen in den schmelzenden Schnee.

Er schläft den ganzen Nachmittag hindurch, wacht vom wiederholten Klicken der Ofenzündung auf. Er hat seiner Oma schon vor Monaten versprochen, dass er versuchen würde, sie zu reparieren. Er vermutet, es müsse mit der Feuchtigkeit zu tun haben, denn sobald der Frühling kommt, verschwindet das Geräusch wieder.

Er hievt sich aus dem Bett, duscht und geht in die Küche hinunter, wo seine Großmutter Suppe in Schüsseln schöpft und seine Schwester über ihre Hausaufgaben gebeugt sitzt.

»Er lebt ja noch«, sagt Gran, als er sich hinsetzt und das Besteck verteilt. Es liegt in einem Korb in der Mitte des Tischs, Löffel mit gemusterten Griffen, Messer und Gabeln, um die sich Blätter ranken.

»Ich hab ›Hi‹ gesagt, als ich reingekommen bin«, erinnert er sie.

»Das stimmt«, sagt sie. »Du bist der König der Einsilbigkeit.«

»Was ist Ein-silbrigkeit?«, fragt Amber, ohne den Blick zu heben.

»Silbigkeit«, erklärt Will. »Das bedeutet, der König von allem.«

»Nein, tut es nicht.«

»Wie war deine Nacht?«, fragt seine Großmutter und stellt die Schüsseln auf den Tisch. Über seine hat sie frisch gemahlenen Pfeffer und zerkrümelten Blauschimmelkäse gestreut.

»Hab nicht geschlafen«, sagt er. »Aber Josh hat Mathe kapiert, also hat es was gebracht.«

»Was hast du gegessen?«, fragt sie, denn das ist stets ihre Frage, egal wo oder mit wem er zusammen war. Als sie ihn damals von der Polizeistation abholte, saßen sie neun lange, qualvolle Minuten lang schweigend im Auto, und dann fragte sie, ob er schon zu Abend gegessen hätte.

»Irgendwas mit Aubergine«, sagt Will. »Weiß nicht genau, wir haben in seinem Zimmer gegessen.«

»In seinem Zimmer?«, fragt Amber.

»Leg den Stift hin, Amber«, sagt seine Großmutter. »Iss dein Abendessen.«

»Warum kann ich nicht in meinem Zimmer essen?«

»Weil du deiner alten Großmutter Gesellschaft leisten sollst, darum. Also war alles okay? Keine Zwischenfälle?«

»Alles in Ordnung.«

Will denkt an Rosie, als er das sagt, als er seinen Löffel in die rote Suppe taucht.

»Vielleicht solltest du dir überlegen, Nachhilfe zu geben«, schlägt seine Großmutter vor. Will nimmt noch einen Schluck Suppe, vorsichtig hält er seine Zunge zurück, die vom morgendlichen Kaffee noch wund ist. Vom Kaffee, den Rosie gemacht hat. Ihm in ihren samtweichen Händen hingehalten hat.

»Ich brauche keine Nachhilfe zu geben«, sagt er. »Ich hab die Werkstatt.«

»Das ist aber keine langfristige Perspektive, oder?«

»Nicht schon wieder, Gran.«

»Schon gut, schon gut. Das war nur so ein Gedanke.«

»Ich werde Rechtsanwältin«, sagt Amber. »Miss Brown sagt, ich würde eine gute abgeben.«

»Da bin ich mir sicher«, sagt seine Oma.

»Anwälte sind unehrlich«, sagt Will. »So willst du nicht werden.«

»Wieso erzählst du ihr so was?«

»Weil es stimmt.«

»Nicht alle Anwälte sind unehrlich, Willyum.«

Gran spricht seinen Namen so aus, in zwei Silben, wenn sie angespannt oder übermüdet ist. Am Todestag seines Großvaters heißt er Willyum. Ebenso am Geburtstag seiner Mutter. An jedem Elternabend, bei jeder Zeugnisvergabe, Willyum mit einem Seufzer und verkniffenem Mund.

»Ich könnte Zahnärztin werden«, sagt Amber.

»Viel besser«, pflichtet Will ihr bei und versucht nicht ein-mal, den Sprung zu verstehen. »Aber du musst dich ja noch nicht jetzt entscheiden, Ambs.«

»Doch, muss ich«, sagt sie.

»Wieso das?«

»Für mein Bullet Journal. Es hat ein ganzes Kapitel über Hoffnungen und Träume und darüber, was ich mal werden will, wenn ich groß bin. Ich habe mir meine Goldstifte dafür aufgespart.«

Er blickt sie über seine Schüssel hinweg an.

»Du bist erst zehn.«

»Und dir würde eine Seite aus ihrem Buch nicht schaden«, sagt seine Oma.

»Es ist ein Bullet Journal«, sagt Amber. »Kein Buch.«

Will verkneift sich ein Grinsen, und seine Großmutter lacht, ein sanftes Geräusch wie das Gurren von Tauben, und schneidet Brot auf.

*

Rosie liegt in Marleys Zimmer auf dem Boden neben ihrer Freundin. Über den Fernseher flackert eine Szene, die sie schon zigmal gesehen haben. Sie wickeln Bonbonpapier auf und knuspern Karamellpopcorn, ihre Zähne fühlen sich schon ganz klebrig vom Zucker an.

Als sie dabei zuschauen, wie Jack Rose auf dem Oberdeck anschmachtet, denkt Rosie darüber nach, Marley von Will White und ihrer Begegnung in der Küche zu erzählen. Und davon, als er ihre Hände in seine genommen hat.

Und dann?, würde Marley mit einem Bonbon auf halbem Weg zum Mund fragen.

Und dann … nichts.

Er ließ los und sagte: »Besser?« Rosie nickte, sie liefen durch den Schneematsch auf dem Gehweg zum Haus. Josh holte zu ihnen auf, dankte ihm nochmals für die Mathehilfe. Und dann fuhr Will nach Hause.

Auf dem Bildschirm starrt Leo seine Angebetete noch immer an. Rosie nimmt sich noch ein Bonbon, behält es unter der Zunge.

Es gibt nichts Interessantes zu erzählen, beschließt sie, über ihre nächtliche Begegnung mit einem Jungen, den sie kaum kennt, und einen Moment, in dem er ihre Hände gewärmt hat, weil er Mitleid mit ihr hatte, womöglich ein Spiel spielte, bei dem sie nicht mitmachen wollte.

Was sie jedoch überrascht, ist, dass sie ihn immerzu vor Augen hat, während sie hier mit angezogenen Knien dasitzt und ihre Freundin neben ihr mit dem Popcorn raschelt.

Sie denkt an das Grau seiner Augen.

Stellt sich vor, wie er sie gegen ihre Küchenwand drückt, sein Gesicht ganz nah an ihrem.

Das ist interessant, denkt sie, während Marley gähnt. Das ist neu.

»Ich liebe diese Stelle.« Ihre Freundin setzt sich aufrecht hin, als Rose in ihrem blutroten Kleid übers Deck poltert. »Ich wünschte, unser Leben wäre so dramatisch.«

»Warum um alles in der Welt solltest du das wollen?«

»Ach, du und ich, Rosie. Wir sind solche Schlaftabletten. Ich kann es kaum abwarten, dass das Leben aus mehr als Orchesterproben und vorhersehbaren Zensuren besteht, weißt du?«

Rosie blickt zurück zum Film, sie weiß das, aber es kommt ihr zugleich so vor, als könnte es für sie bereits mehr geben. Als hätte sich etwas geändert. Sie wickelt ein weiteres Bonbon aus, obwohl sie schon Übelkeit und Durst verspürt und die leise Befürchtung hat, dass sie sich die Zähne kaputtmacht.