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Vom Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit
Fast alles, was wir zu zweit machen, können wir auch allein: die Welt bereisen, aufwendig kochen, frische Blumen kaufen. Warum fühlt es sich dann oft komisch an? Leben wir etwa nur für andere? Oder macht es unsere Erlebnisse wertvoller, wenn wir sie mit jemandem teilen können?
Marie Luise Ritter nimmt ihre Leser:innen mit an verlassene Strände und in belebte Straßen, erzählt von fernen Orten und einsamen Abenden in ihrer Wohnung. Und vom Glück, ganz bei sich selbst zu Hause zu sein. Dieses Buch ist ein Ausbruch aus gesellschaftlichen Rastern, ein großes »Ja« zu Mut und Eigenständigkeit.
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Disclaimer:Zum Schutz der Privatsphäre wurden einige Details und Namen verändert. Ich benutze die weibliche und männliche Form abwechselnd. Und noch eine kurze Triggerwarnung: In Kapitel 7 erzähle ich sehr intensiv von meiner eigenen Covid-Erkrankung.
Für meine Schwester, für immer der wichtigste Mensch in meinem Leben. Danke, dass es dich gibt.
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe
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Cover & Impressum
Vorwort
1 Ein Abschied und ein Anfang
2 Allein in Porto, Portugal
3 Gern allein?
4 Ein unfreiwilliger Trip allein – Edinburgh, Schottland
5 Aarhus, München, Sommer
6 Ein verpasster Flug und vier neue Freundinnen auf Ibiza
7 Einsamkeit
8 Allein wohnen
9 Weit weg – nach Cancún, Mexiko
10 Die Verbindung zu mir
11 Ich brauche niemanden
12 Antigua, Guatemala, Eduardo
13 Kein Empfang
14 Satt an Leben
15 Augustsonntage in Berlin
16 Ein Sommer für mich
17 Himbeeren
18 Die große Dreißig
19 Drei Perspektiven
20 Startschwierigkeiten
21 Zu faul zu gehen
22 Bereichernde Begegnungen
23 Alles kommt und geht in Wellen
24 Leben in meinem eigenen Rhythmus
25 Allein auf der Flucht
26 Hauthunger
27 Die Kinder-Frage
28 Weiterziehen
29 Opa
30 1600 Kilometer
31 Die Küchentischtheorie
32 Barcelona
Nachwort
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
»Wenn du so weitermachst, wirst du mal alleine enden«, sagte meine Mutter regelmäßig zu mir. Zum Beispiel damals, als ich mit sechzehn eine Beziehung, die sich falsch anfühlte, beendete, mich aufmüpfig benahm oder nicht mit einem Großonkel dritten Grades tanzen wollte. Manchmal müsse man »einfach mal da durch«, meinte sie.
Irgendwo »enden«, so bedrohlich, als handelte es sich bei mir um eine am Straßenrand liegen gelassene Eidechse, die dort langsam in der Hitze verendete. (Ich sitze gerade in einem Café in Nicaragua, der Vergleich ist naheliegend.) Meine ganze Kindheit und Jugend über wurde dieses Schreckensszenario des Alleinseins vor mir in den Himmel gemalt. Allein zu sein und niemanden zu finden war anscheinend das, was man tunlichst vermeiden sollte. Und so, wie ich war, selbstbestimmt und mit einem klaren Willen, würde mich wohl niemand wollen. Ich war vor allem von allem zu viel.
»Alles, was du brauchst, ist längst in dir drin«, kritzelte ich vor zwei Sommern mit einem schweren Füllfederhalter auf kratziges Papier. Fast automatisch signierte ich diesen Satz in mein vorheriges Buch über die Liebe. Es war Ende Juli, und ich schwitzte, während sich meine Arme mit möglichst viel Abstand über die reinen Seiten bewegten. Bei insgesamt 700 Büchern verschrieb ich mich nur ein einziges Mal. Ich wechselte zwischen ein paar wenigen Sätzen ab. »Glaub an die Liebe, aber vor allem immer an dich«, war ebenso darunter. Die Vorstellung, wie jemand das Buch aufschlug, diesen Satz las, vielleicht lächeln musste und dieses Gefühl für die kommenden Seiten behielt, gefiel mir. Jemand, der oder die vielleicht an ein eigenes Problem dachte, bemerkte: Stimmt, die Antwort ist in mir. Alles, was ich signierte, sollte sagen: Du hast alles. Zweifele niemals an dir, denn so wie du bist, ist alles genau richtig. Die Sätze sollten das positive Gegenstück zu Einsamkeit, Zweifeln und fehlender Bestätigung von außen sein, Mut machen, vielleicht. Sie sollten bedeuten: Du brauchst niemanden im Außen, wenn du, in deinem Inneren, dich hast.
Hier in Nicaragua, während die Hitze mir die Gedanken wegsengt, bleibt diese eine Überlegung offen, wie ein noch nicht geschlossener Tab. Ist das tatsächlich so? Haben wir alles schon in uns? Und was heißt das für unsere Gesellschaft, für uns und für das »… wirst du mal alleine enden«, das vor uns schwebt? Ist das dann vielleicht gar nicht so schlimm?
Ich hatte nie wirklich über das Alleinsein nachgedacht. Selbst wenn ich manchmal tagelang niemanden sah, etwa, weil ich mich in meine Uniaufgaben vertiefte oder Liebeskummer hatte (und davon nicht gerade wenig), bemerkte ich es nicht wirklich. Es war für mich völlig normal, mit mir selbst gerne Zeit zu verbringen. Und damit meine ich: zu Hause. In meinen eigenen vier Wänden. Ich bestellte Essen, türmte Kissen und Decken um mich, als würde ich in einer Burg leben, oder lag in der Badewanne, bis das Wasser eiskalt war. In meinen vier Wänden fühlte ich mich sicher. Wenn niemand Zeit hatte, blieb ich eben zu Hause. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, mal allein ins Kino zu gehen, in ein Restaurant, oder – um Gottes willen – sogar allein auf eine Reise. Urlaube waren für mich etwas Besonderes, Erinnerungen und Qualitätszeit mit Freundinnen oder einem damaligen Partner. Sie allein zu verbringen kam für mich nie infrage.
Dann starb eine Freundin an Krebs, ohne dass ich damit rechnete, mich verabschieden oder alles zwischen uns wieder geraderücken konnte. Alle paar Jahre erleben wir einschneidende Erlebnisse, die die Zeitrechnung in ein Davor und ein Danach aufteilen. Bei mir war das so ein Moment. Es war Januar. Ich wusste nicht, wohin mit mir, mit meiner Trauer, mit meinen Schuldgefühlen. Mich zog es raus, ich wollte weg, ans Meer. Ich wollte zum ersten Mal weit weg allein sein, mich in mich zurückziehen. An die Zeit vor meiner ersten Reise allein kann ich mich genau erinnern. Es ist die erste Geschichte, die ich euch hier erzählen werde. Es war das erste Mal, dass ich einfach nur mit mir etwas plante, eine ganze Woche lang und ganz bewusst allein. Seither hat sich vieles für mich verändert. Das ist jetzt über vier Jahre her.
Eigentlich all das, was Menschen zu zweit machen, können wir auch allein: die Welt bereisen, aufwendig kochen oder im Restaurant das teuerste Gericht der Karte bestellen. Eigentlich spricht nichts dagegen. Und trotzdem fühlt es sich komisch an, genau das zu tun.
Wir stellen frische Blumen auf den Tisch und räumen die Wohnung besonders dann akribisch auf, wenn Besuch sich ankündigt, holen den guten Kaffee aus dem Schrank, gehen später in dieses neue Restaurant, alles zu zweit. Weil es sich dann »lohnt«. Also – leben wir nur für andere? Und vor allem auf Reisen stellt sich dann noch die nächste Frage: Macht es unsere Erlebnisse wertvoller, wenn wir jemanden haben, mit dem wir sie teilen können? Und demnach alles weniger wertvoll, wenn da gerade niemand ist? Ich glaube, es passiert schnell, dass wir gedanklich in dieses »Wenn ich erst einmal die richtige Person in meinem Leben habe, dann …« geraten. So wie in: »Dann werde ich die Welt bereisen, auch so eine tolle Dachgeschosswohnung beziehen oder mich trauen, mir ein kleines altes Cabrio zu kaufen, um damit zusammen nachmittags zum See rauszufahren.« (Und dann hast du jemanden kennengelernt, und er arbeitet den ganzen Tag, toll, echt!!)
Wenn aber niemand da ist, der deine Träume oder deine Begeisterung für etwas teilt, dich vielleicht ab und zu auch mal mit seinen Ideen mitreißt (»Wollen wir nicht am Wochenende …?«), wie schnell passiert es dann, Träume ad acta zu legen mit dem Gedanken: Ach, na ja, nicht so wichtig. Doch, es ist wichtig! Deine eigene Lebenszeit und das, wofür du brennst, sind wichtig. Das Leben ist kein Wartezimmer, in dem du rumsitzt, bis jemand da ist, der etwas mit dir erleben will.
Denn wenn dieser jemand absagt, du vielleicht mit Urlaubsplänen oder Konzertkarten sitzen gelassen wirst, ist die Enttäuschung groß. Viel zu oft teilen wir unsere Erlebnisse in wertvolle Zeit (zu zweit) und abgewartete Zeit (allein) ein. Nee, Freunde. Das machen wir jetzt nicht mehr.
Es ist natürlich ein Unterschied, ob wir die Wahl haben oder unfreiwillig allein sind, ob wir uns nur zurückziehen oder zurückgelassen werden. Aber so oder so glaube ich: Wir müssen anfangen, nicht nur für Besuch zu leben, nicht nur in Gesellschaft, sondern auch (oder vor allem?) für uns selbst. Es uns nur für uns schön zu machen. Gerne mit sich zu sein schafft einen völlig neuen Zugang zu Erlebnissen mit anderen, davon bin ich überzeugt. Es macht resilienter. Vor allem schafft es eine ganz neue Wertschätzung für eine Zeit, die sich sonst nur wie ein Abwarten anfühlen kann.
»I write about … how you learn to enjoy being with yourself«, erkläre ich, als sich in dem Moment hier im Café in San Juan jemand aus meinem Hostel neben mich setzt und fragt, worüber ich schreibe. Ich sehe auf, blicke in ein fremdes Lächeln, ein neues Gesicht. »Allein, aber nie wirklich allein«, habe ich es auf meiner letzten Reise genannt. »Do you want to tell me more about that? Maybe, when you are done with that chapter? I am by myself, too. I’ll wait for you at the bar.«
Das Thema dieses Buches, dieses »allein sein«, ist eine Reise, die mich durch verschiedene Länder, Gespräche und zu Menschen geführt hat, denen ich in bereits vorhandener oder mitgebrachter Gesellschaft wahrscheinlich nicht begegnet wäre. Es geht um Einsamkeit und das Aushalten von ebendieser, um das Gefühl, richtig nah bei sich selbst zu sein, und um Orte, an denen man sich zu Hause fühlt. Vor allem geht es darum, dass wir das Wort »allein« neu für uns besetzen lernen und ganz klar vom »einsam sein« trennen müssen.
Vielleicht sind wir alle gar nie wirklich allein. Für den Moment sind wir vielleicht einfach nur »für uns«. Und eine alte oder neue Begegnung manchmal nur eine Armlänge, ein Lächeln, ein Hallo in einer anderen Sprache entfernt.
»Ja, darüber schreibe ich gerade. Über all das, was das Thema mit sich bringt. Wie man sich für sich selbst ein richtig schönes Leben macht«, führe ich später weiter aus, als ich mich an die Bar gesetzt habe.
Natürlich gibt es neben all den Höhen auch Tiefen. Wenn ich mich manchmal selbst nicht ertragen kann, wenn ich mich einsam fühle, durcheinander bin oder falsche Entscheidungen treffe. Doch auch das gehört dazu, auch die blöden Erfahrungen. Sie gehören zum Alleinsein und zu meiner Entwicklung dazu und machen im Grunde alles Schöne noch viel schöner.
Ich will nichts auslassen, auch nicht, wie ich aus einem Hostel rückwärts wieder rauslaufe oder am Flughafen sitzen gelassen werde. Wie ich neue Freundinnen finde, Nein sagen lerne und was für mich das Allerschönste am Alleinwohnen ist. Ich schreibe über mentale Gesundheit, Einsamkeit und mein Urvertrauen. Du kannst vermutlich nicht alles, was ich erlebt habe, auf dein Leben beziehen – vielleicht bist du selbst in einer festen Beziehung und willst dir darin nur mehr Raum für dich schaffen. Oder dich reizt es nicht, allein zu reisen und in einer Nacht allein ans Mittelmeer durchzufahren, aber du willst in deiner eigenen Stadt offener auf neue Möglichkeiten zugehen und mal allein ein Konzert besuchen. Egal was du suchst, vielleicht wirst du dich nach dieser Lektüre bestärkt fühlen. Und vielleicht findest du es danach sogar richtig, richtig schön, dann und wann allein zu sein.
Manchmal suchen wir es uns nicht aus, allein zu sein, manchmal ist es ein Zustand, den wir für den Moment nicht ändern können. Und dann ist es doch besser, ihn zu genießen, oder? Um keine Sekunde zu verschwenden. Denk daran: Das Leben ist kein Wartezimmer.
Pack das Buch also ein, setz dich ins nächste Café, leg dich auf den Balkon oder in den Stadtpark (Hände hoch, wer liegt gerade am Strand??), und lass uns zusammen unterwegs sein. Durch dich werden meine Erinnerungen zu Geschichten. Spulen wir vier Jahre zurück.
Wie ich mich zu meiner ersten Reise allein entschied
Schon seit ein paar Monaten spukte mir die Idee im Kopf herum: Urlaub ganz allein. Ein Flugticket, ein Apartment, ein Buch und eine Woche Zeit. So etwas hatte ich noch nie gemacht. Ehrlich gesagt war es mir einfach nie in den Sinn gekommen.
»Au ja, ich komm mit!«, rief eine Freundin, als ich ihr im Dezember von meinen Reiseplänen für den Jahresanfang erzählte.
»Ähm«, entgegnete ich zögerlich. »Eigentlich wollte ich alleine verreisen.« Das reduzierte ihre spontane Vorfreude gen null. »Was willst du denn da alleine? Das ist doch voll … langweilig. Und einsam. Ich würde das nicht machen. Mit wem soll man denn dann seine Erlebnisse teilen?« Sie schaute regelrecht angewidert. Eine gute Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Es war nur ein Gefühl, ein Bedürfnis nach einer Zeit des Für-mich-Seins.
Spaßeshalber sondierte ich die Lage und googelte nach Single-Reisen. Ich war bis dato noch nie ganz allein weg gewesen. Mit Single meinte ich eigentlich allein, dass meine Wortwahl falsch war, merkte ich, als mir »spritzige Trips mit anderen Alleinstehenden zum Kennenlernen« vorgeschlagen wurden. Hoppla. Danke, nein. Alleinstehend war ich zu dem Zeitpunkt gar nicht, sondern in einer Beziehung, und Speeddating war auch nicht mein Ziel. Es gibt ganze Foren, in denen Leute beratschlagen, wo man am besten allein hinfahren sollte, um Menschen kennenzulernen, und in denen vorher schon Kontakte geknüpft werden, um sich in Hostels und Bars mit anderen Alleinreisenden zu verabreden. Klingt spritzig und wild, aber eigentlich wollte ich vorab keine Pläne machen und zumindest bei diesem Trip gerne meine Ruhe. Ich wollte nachdenken. Um meine Freundin trauern. Ich schaffte es nicht mal zu weinen. Ich wollte einfach nur weg.
Ich schloss die gefühlt hundert offenen Tabs, weil mich die Flut an Informationen nur verwirrte. Stattdessen entschied ich, dass ich keinen Rat von Fremden aus dem Internet brauchte, um einfach einen günstigen Flug in eine andere europäische Stadt zu buchen, in der ich ein paar schöne Tage lesen und Museen, Gassen und Straßen zu Fuß entdecken konnte.
Weil es nicht wahnsinnig groß ist, nur dreieinhalb Flugstunden entfernt und am Wasser liegt, und nicht zuletzt, weil die Flüge eigentlich viel zu günstig waren, entschied ich mich für Porto. Ich buchte die zwei Flugtickets, Dienstag hin, Dienstag drauf zurück. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass nur ein langes Wochenende mir nicht ausreichen würde, irgendwo richtig anzukommen.
In den Tagen vor der Reise verfiel ich in eine eigenartige Nervosität. Um Geld zu sparen, hatte ich meine Flüge nur inklusive Handgepäck gebucht, was sich (völlig überraschend) im Januar in Europa nicht als die klügste aller Ideen herausstellte. Am Ende landete eine Art universeller Lagenlook in meinem knallblauen Handgepäckkoffer. Strumpfhose, Kleider, Strickjacken, eine lange Hose, keine Sportsachen. Irgendwie war für kaum etwas Platz, es war eiskalt, und ich wollte doch nicht die ganze Woche in derselben Jeans rumlaufen? Frustriert saß ich am Dienstagmorgen auf dem billigen Koffer, der nicht richtig zuging, und schaute mich in meinem chaotischen Schlafzimmer um, das ich mit an hundert Prozent grenzender Wahrscheinlichkeit genau so zurücklassen würde. Zum ersten Mal fragte ich mich auch, was ich mir bei diesem Trip eigentlich gedacht hatte.
Nicht wissen, wohin mit mir
Der Wind pfeift um meine Wohnung und stört meine Gedanken. Dieser Tag zieht sich wie Kaugummi. Es ist elf Uhr morgens, und ich überlege ernsthaft, die ganze Sache abzublasen. Heute Abend um halb acht geht mein Flieger nach Porto. Und ich? Ich habe nichts vorbereitet, auch im Kopf bin ich gar nicht auf Urlaub eingestellt. Ziellos laufe ich durch meine Wohnung und sammele mal hier etwas auf und lege da etwas um. Wirklich einen Plan habe ich nicht, ich bin wie gelähmt vor Überforderung. Meine Wohnung ist doch eigentlich ganz schön, warum verbringe ich die kommende Woche nicht einfach hier? Ehrlicherweise ist letztlich der Gedanke, mich vor meinen Freunden lächerlich zu machen, der größte Antrieb, nicht einfach zu Hause abzuwarten, bis es zu spät für den Flug ist. Ich habe so vielen Leuten stolz davon erzählt, nächste Woche allein Urlaub zu machen. Na ja, gut, wenigstens zum Flughafen will ich fahren, dann können wir ja weitersehen. Ich, nicht wir. Ich. Bin ja allein.
Es ist ein eiskalter Januartag. Wie in Trance packe ich fertig, schließe am späten Nachmittag meine Wohnungstür dreifach ab und gehe auf halber Treppe noch einmal zurück, um zu prüfen, ob sie wirklich zu ist (ist sie überraschenderweise), bringe den Müll runter und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Niemand redet mit mir, außer meine zu lauten Gedanken. Ich spüre weder Aufregung noch Vorfreude. Vielleicht hat man die nur, wenn man zu zweit unterwegs ist und sich gegenseitig hochpushen kann. Und das soll jetzt Urlaub sein? Einmal umsteigen, zwanzig Minuten später am Flughafen. Wie immer Probleme beim Bordkarte Einscannen und »junge Dame, eigentlich nur ein Handgepäck!«. Ich ziehe meinen winzigen Koffer hinter mir her, schultere meinen kleinen Rucksack und lächele sie an. Es ist niemand da, der sehen kann, dass ich der Dame am Schalter einen schönen Tag wünsche und mich bislang echt souverän schlage. Immerhin bin ich noch nicht wieder umgedreht. Das ist doch schon mal was.
Allein am Gate gesessen und auf einen Flug gewartet habe ich selten, wenn, dann beruflich. Mal einen Tag nach München oder nach Zürich. Aber noch nie saß ich hier ohne eine Aufgabe, auf die ich mich noch vorbereiten musste, stattdessen mit zwei Romanen, die ich gerade noch im Flughafenbuchladen gekauft habe. Mutterseelenallein warte ich auf meinen Flieger in die Sonne. Ein Blick auf die Wetter-App, und mir wird klar, dass nicht einmal das stimmt: Sieben Tage Regen und zwölf Grad in Porto. Okay, zugegeben, wir haben Januar. Aber dennoch. Zwölf Grad und Regen? Es ist doch Portugal, ist es da nicht immer schön? Nicht, dass ich mich darüber nicht vorher informiert hätte, aber als optimistischer Typ hoffte ich doch auf ein spontanes Wetterwunder. Ich werde ein bisschen bockig und überlege drei Minuten lang, wieder nach Hause zu fahren. Zum wahrscheinlich siebzehnten Mal heute und während das Boarding schon läuft. Wenn niemand da ist, der mit einem verabredet ist, fällt es gar nicht auf, wenn man den eigenen Urlaub einfach schwänzt.
Dann komme ich mir dämlich vor. Weil ich mich aufführe wie ein undankbares, trotziges Kleinkind (ja, habe ich selbst gemerkt). Weil ich das hier schon immer einmal machen wollte. Weil es gebucht und bezahlt ist. Weil ich zu Hause auch nur traurig im Bett liegen und Grey’s Anatomy gucken würde. Und weil ich allen von meinem Abenteuer »alleine Urlaub machen« berichtet habe. Da wäre kneifen jetzt ziemlich blöd. Und wenn es mir nicht gefällt, liege ich eben dort im Bett und gucke Grey’s Anatomy. Vielleicht ja doch irgendwo in der Sonne (da kommt der Optimismus wieder durch). Oder eben bei zwölf Grad, wenn es sein muss, besser, als minus sieben in Hamburg. Mit einem Kaffee. Diese Vorstellung macht mich äußerst zufrieden.
Es kommt mir alles unwirklich vor. Unwirklich, dass ich in einem Flugzeug sitze. Unwirklich, dass ich gerade allein in den Urlaub fliege. Unwirklich, dass wir im Landeanflug auf Porto sind. Ich habe die ganze Zeit diese Watte im Kopf, wenn der Druck von außen so auf den Kopf drückt und ihn so matt, träge und schwer macht, dass es nicht möglich ist, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fühle mich und meine Umgebung ab, meine warme, brennende Haut, meine schweren Augenlider, die gleichmäßigen Klappergeräusche des Flugzeuges, das schwere Atmen eines Passagiers hinter mir, meine Bleifüße, die in meinen Schuhen kleben.
Mein Zimmer ist kleiner, als es online angezeigt war, und ich fühle mich veräppelt, als ich mich um halb zwölf mit einer inzwischen kalten Pizza im Karton neben mir auf das Einzelbett fallen lasse. Es knarzt. Ich liege in einem dunklen Loch mit niedrigen Decken. Traurig schließe ich die Augen. Was mache ich hier?
Der erste Morgen allein in Portugal. Außer mit der Kellnerin vorhin im Frühstückscafé habe ich heute noch mit niemandem gesprochen. »The tapioka pancakes please and a latte macchiato with almond milk.« Sonst nichts. Die Wörter drehen in meinem Mund Achterbahn, wollen raus, ich bin kurz davor, Selbstgespräche zu führen. Also schicke ich eine sechsminütige Sprachnachricht an meine Freundin Diana, nur um mal zu reden. Ich erzähle ihr fröhlich von meinem Hinterhofausblick, wie schön Porto ist, von Steinfliesen und den Menschen hier. Das aufzunehmen tut gut.
Ich hätte mit der Frau neben mir im Café reden können. Wir saßen beide an Einzeltischen im Zenith, den Blick geradeaus zur Fensterfront. Ich las mein Buch, sie blätterte hektisch durch die Karte. Nachdem sie mit hörbarem Akzent bestellt hatte (keine Beurteilung an dieser Stelle, ich bin selbst der größte Alman, wenn ich versuche, Englisch zu sprechen, was mich nicht davon abhält, also immer munter raus damit), sah ich, wie sie ihr iPad öffnete, auf »Postfächer« klickte, und begann »Guten Morgen …« zu tippen. Sie sprach eindeutig meine Sprache. Ich lächelte ihr zu. Aber ich sagte nichts, und die englische Sophie-Kinsella-Ausgabe, die ich mithatte, verriet mich auch nicht. Ich fühlte mich wie eine Geheimagentin.
Allein frühstücken ist leicht. Man trinkt seinen Kaffee, genießt die Sonne, liest sein Buch – ja, der Morgen ist eine Tageszeit, die man ganz gut und ohne aufzufallen allein verbringen kann. Im Café arbeiten und schreiben ist gemeinhin gesellschaftlich akzeptiert. Aber abends, wie beschäftigt man sich da? Liest man abends auch bei Pasta und Wein? In den meisten Restaurants wird es dafür zu dunkel sein. Starrt man andere Leute an? Soll ich die Kellnerin in ein Gespräch verwickeln oder mich bei anderen Leuten an den Tisch setzen und so tun, als würde ich sie kennen, um dann in ihre perplexen Gesichter zu gucken, während sie Blicke austauschen und grübeln, wer ich noch mal war? Ich entscheide mich dagegen, auch wenn mich die Vorstellung amüsiert.
Mein Abendessen hole ich mir stattdessen vom Büffet im Dos Sabores. Ich habe keine Lust, irgendwo zu sitzen, ich möchte das machen, was ich in Hamburg auch mache, wenn ich einen merkwürdigen ersten Tag einer Woche hatte: Essen bestellen und mich wie ein Burrito in einer Decke auf meine Couch kuscheln, bis nur noch der Kopf rausguckt. Am Lieferservice auf Portugiesisch scheitere ich. Also steige ich in meine Boots und stiefele los. Das Restaurant ist leer, ich bin früh dran, es ist erst halb sieben. Der portugiesische Tagesrhythmus scheint wie der spanische so ganz anders als meiner zu sein. Wenn die Menschen hier ins Restaurant gehen, gehe ich ins Bett. Die Kellnerin ist erfreut über meinen Anblick. Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich jedoch zu leicht geknickt, als ich ihr eröffne, dass ich etwas zum Mitnehmen abholen möchte. Mit meiner Lasagne verkrieche ich mich wieder im Bett und klappe zufrieden den Laptop auf.
Dann der Downer: Grey’s Anatomy gucken geht hier gar nicht. Amazon Prime hat offenbar keine Lizenz für das Abspielen in Portugal. Ich lade mir verschiedene VPNs, diese Programme, die deine eigene IP und deinen Ort verstecken und vorgaukeln, du wärst in Deutschland – aber: nichts. Als absolute Technikniete kriege ich meine Lieblingsserie einfachnicht zum Laufen. Dabei scheint es mir gerade unerlässlich zu wissen, wie es weitergeht zu Beginn der siebten Staffel. Was ist mit Derek? Kommt Izzie zurück? So viele Fragen, keine Antworten.
Ich habe plötzlich Heimweh. Nach meinem Hund, der bei meinem Partner ist. Nach meinem eigenen Bett. Der Unordnung in meiner Küche. Den dreckigen Fenstern, die sich offenbaren, wenn die Sonne reinscheint. Der indischen Nachbarin mit dem fiesen Hund, die mich ignoriert, seit ich sie einmal völlig unbefangen gefragt habe, wie alt sie bei ihrer wirklich beeindruckenden Biografie aus mehreren Doktortiteln und Abschlüssen eigentlich ist. (Habe es dann gegoogelt. Sie ist 42.)
Der Regen prasselt unaufhörlich an meine Fensterscheibe (Hamburg, bist du’s??). Immer wieder hasten meine Finger online auf die Flüge-Seite und suchen nach einem Rückflug. Ich fühle mich wie eine Süchtige, die sich selbst den Alkohol verbietet, und murmele immer wieder: Ich. Muss. Da. Durch. Ich. Muss. Da. Durch. Ich bleibe jetzt hier. Passende Flüge gibt es (zum Glück?) keine, außer mit zweimal umsteigen für 250 Euro. So dringend ist meine Not dann doch nicht. Und: Ich muss da durch.
Am zweiten Morgen traue ich mich nachmittags endlich, den Vermieter anzurufen und mein düsteres Mietapartment gegen ein größeres oben im Dachgeschoss umzutauschen. Schon geht es mir besser. Ich habe mich im ersten einfach nicht wohlgefühlt, jetzt habe ich das Gefühl, ich kann wieder frei atmen, und genieße das Licht, das durch die Dachfenster fällt. Es trifft nicht nur aufs Reisen zu: Fühlst du dich irgendwo wohl, verändert das alles. Statt auf eine einen Meter entfernte Hausfassade und eine Gasse, in die kaum Licht fällt, zu schauen, blicke ich jetzt über die Dächer dieser schönen Stadt, sehe den Kirchturm unter dem wolkenverhangenen Himmel und die angrenzenden Dachterrassen. Von hier oben fühlt sich das Leben in Porto ganz anders an, es ist fast, als hätte ich einen neuen Weitblick gewonnen, der mir vorher gefehlt hat. Einen Blick, mit dessen Hilfe ich auch über meinen eigenen Tellerrand schauen kann.
Ich verfüge nun über zwei kleine Zimmer sowie eine große Dachterrasse, und die Küchenzeile ist nicht mehr in Reichweite vom Bett, sondern befindet sich neben einer großen, gemütlichen Couch. Dieses Apartment mag vielleicht etwas dekadent für mich allein sein, der Extrabetrag schmerzt auch ganz schön im Geldbeutel, aber so glücklich, wie es mich augenblicklich macht, ist es mir das wert. Wohnen ist so wichtig, vor allem, wenn man eine ganze Woche irgendwo allein verbringt, ist meine erste Erkenntnis. Es gibt niemanden, mit dem man sich gemeinsam über den Krach, die unfreundlichen Nachbarn, die dünnen Wände oder die Kälte im Zimmer aufregen kann, niemanden, zu dem man sagen kann: Rufst du beim Vermieter an? Weil man selbst sich nicht traut. Es ist das schöne Außen, was mir Stabilität gibt, weil in meinem Inneren gerade so viel Unsicherheit herrscht.
Ich laufe beschwingt durch die Altstadt und schicke Freunden Sprachnachrichten, wenn mir nach reden ist. Den Großteil des Tages weiß ich aber immer noch nicht, wohin mit mir. Ich hätte viel zu tun, möchte die Stadt erkunden, ein Buch schreiben, in meinem E-Mail-Postfach wartet Arbeit auf mich, ich kann die Cafés erkunden und habe zwei Bücher zum Lesen mit. Aber was ich die meiste Zeit des Tages fühle, ist Langeweile. Genervt von mir selbst beschließe ich, meinen Tagen hier Struktur zu geben, und plane meine Reise deswegen nun doch durch. Einen Tag will ich ins Museum, einen anderen ans Meer, will die Flower Street sehen und über den Fluss nach Gaia. Vielleicht habe ich am Wochenende sogar mal das Bedürfnis, mich in eine Bar zu setzen oder in einen Club zu gehen. Die laute Straße, in der sich mein Apartment befindet, ist gepflastert mit Möglichkeiten. Die Shoppingstraße ist nicht weit, die berühmte Bücherei, die schönsten studentischen und veganen Cafés, alles ist in meiner Nähe. Ein paar Möwen kreisen über der Dachterrasse, und das erste Mal, seit ich hier bin, bricht die Sonne durch die Wolkendecke und beleuchtet die umliegenden Dächer und Hausfassaden in warmen Farben. Porto macht es einem eigentlich leicht, sich wohlzufühlen. Mit der schlechten Laune der ersten zwei Tage ist jetzt Schluss. (Falls es für dich normal ist, irgendwo allein hinzureisen, wirst du spätestens an dieser Stelle hochgradig von mir genervt sein. Glaub mir: Ich war es auch.)
Ich habe noch vier Tage. Ganz allein mit mir. Ich stelle mich meiner eigenen Herausforderung, wiederhole ich wie in einem motivierenden PEP-Talk seit zwei Stunden in meinem Kopf. Ich habe jetzt eine Unterkunft, die mir zusagt, einen Balkon, auf dem ich meinen morgendlichen Kaffee genießen kann, heute ist gutes Wetter. Der Tag ist noch nicht rum. Ich schnüre meine Boots und gehe los.
Am nächsten Morgen wache ich von den Sonnenstrahlen auf, die meine Nasenspitze kitzeln, und sehe mich in meinem Apartment um. Ich fühle mich mit einem Mal ganz bei mir. Als wäre ich mitten in einer Meditation. Als hätte ich mich eingefunden in den Rhythmus dieser Stadt. Ich bin genau im richtigen Moment am richtigen Ort. Wehmütig schließe ich noch einmal meine Augen. Ich denke oft darüber nach, dass wir die guten Momente nicht erkennen, wenn sie da sind, sondern meist erst im Nachhinein. Jahre später fällt uns auf: »Mensch, war das ein guter Urlaub«, »Die Wohnung damals, das war wirklich die schönste, in der ich je gewohnt habe« oder »Meine Studienzeit war die beste Zeit in meinem Leben«. Ohne in dem Moment, in dem wir mittendrin stecken, zu realisieren, dass das hier gerade die beste Zeit ist. Im Auslandssemester in Schweden habe ich mich so unwohl und unverstanden gefühlt, wie am falschen Platz in der Welt, unheimlich einsam in all dieser Dunkelheit und bei minus siebzehn Grad – heute glaube ich, dass keine Zeit mich so geprägt hat wie diese. Dass es besonders wichtig war, die Dunkelheit und Einsamkeit durchlebt zu haben. Es ist eigentlich verrückt, dass uns solche Erkenntnisse erst hinterher kommen. Könnten wir das Leben nicht viel mehr genießen, wenn wir genau das schon in der jeweiligen Situation erkennen würden? Genau so versuche ich, die Woche Porto ab heute zu sehen: Balsam für die Seele. Eine erzwungene Auszeit. Eine Zeit, auf die ich zurücksehen und mir denken werde: Mann, wie frei ich war.
Als ich um halb acht auf die zweite, noch höhere Dachterrasse steige, um mir bei Eiseskälte den Sonnenaufgang anzusehen, laufen mir vor Freude Tränen die Wangen runter, ohne dass ich es groß bemerke. Mein Gesicht wird immer nasser, während ich meinen Schal enger ziehe und die Kapuze meines Hoodies über meinen Kopf schiebe. Es hat vier Grad, ich bin nur auf Socken, mein Gesicht ist klatschnass, meine Haare sind zerzaust, während die Farben am Himmel von Dunkelblau und Lila zu einem brennenden Rot wechseln, immer oranger werden, bis es kurz darauf hell ist. Als wäre nie etwas gewesen.
Ein paar Stunden später sitze ich unten am Douro und schließe die Augen. Möwen kreischen über mir. Der Fluss rauscht. Hier am Ufer bin ich umringt von Menschen, die in den umliegenden Cafés die Sonne genießen und sich bei dreizehn Grad aus ihren Jacken schälen. Ich beobachte die tuckernden Schiffe, das verdrängte Flusswasser, wie es sich teilt und die aufgewirbelten Wogen sich nach ein paar Sekunden hinter dem Schiff wieder glätten. Die Wasseroberfläche glitzert so, dass es in den Augen blendet. Ich sitze und atme einfach nur und taste im Geiste die Sonnenflecken auf meinem Gesicht ab. Ich kriege schnell Sommersprossen, alles auf meinem Gesicht kribbelt. Im Januar. Wie schön ist das?
Abends bin ich das erste Mal diese Woche noch nach neunzehn Uhr unterwegs. Die letzten Tage habe ich spät gefrühstückt, mittags gesnackt, früh zu Abend gegessen und war spätestens um halb sieben im Apartment. Es gab höchstens noch einen Abstecher zum Supermarkt für Wasser, Tomaten und Maiswaffeln. Das war’s.
Heute traue ich mich mal, abends auszugehen. Ich laufe wieder runter zum Fluss und setze mich auf einen der Außenplätze des Café do Cais. Draußen sitzen erscheint mir einfacher, als sich allein an einen Tisch in einem vollen Lokal zu zwängen, da nehme ich die Kälte lieber in Kauf. Hier werden allerdings nur Snacks statt der vollen Karte serviert. Ich widerstehe dem Drang, den jungen Kellner am Kragen zu mir heranzuziehen und zu zischen: »Kasimir. Ich reise allein. Das ist eh schon schwierig genug. Also lass mich doch bitte essen, wo und was ich will.« Stattdessen säusele ich, »Snacks are fine«, und nehme das verkürzte Menü entgegen. Es gibt Pommes und Bier, ich lese und betrachte in meinen Denkpausen die angestrahlte Brücke über Porto. Inzwischen ist mir eiskalt, meine Finger zittern. Ich ziehe meinen Poncho enger, tunke meine Pommes in die Knoblauchsoße, aber ich bleibe.
»Wow, ich wünschte, ich hätte deinen Mut!«, lese ich, als ich später mit tauben Händen meine Nachrichten durchgehe. Wie ich hier so sitze, bei sieben Grad und mit pommesfettverschmierten Fingern, muss ich herzlich und laut losprusten. Es ist schön hier, keine Frage. Und ich habe eine gute Zeit. Aber mutig fühle ich mich ganz und gar nicht.
Die alte Holzbahn rattert und quietscht, als sie sich am nächsten Mittag schwerfällig wieder in Bewegung setzt. Das Wasser des Douro zieht am Fenster an mir vorbei. Porto liegt ein Stück den Fluss entlang im Landesinneren, zum Atlantik raus sind es keine zwanzig Minuten. Die Tram füllt sich und hält, fährt wieder an, manchmal direkt am Wasser entlang, dann so nah an der ersten Häuserreihe, dass ich die Häuser berühren könnte, würde ich meine Hände ausstrecken. Um ihr Aussteigen anzukündigen, zieht die ältere Frau neben mir an einer Leine, die um die Klingel und durch den Wagen gespannt ist. Ich bleibe bis zur Endstation auf den roten Polstern sitzen.
Die Atlantikküste vor Foz ist von riesigen Felsen durchzogen. Surfer gibt es hier keine. Ich laufe durch den Sand, weiche einigen Wellen aus, lese ein paar Seiten auf hoch gelegenen Steinen und setze mich dann in eines der im Januar komplett leeren Restaurants. Ich bestelle Pasta und Portwein, und weil der mir nicht schmeckt, später auch noch ein Bier und dann ein zweites. Ich betrachte die Wellen, wie sie sich hier brechen und wieder aufrollen, die Felsen bedecken und wieder freigeben. Möwenkreischen und Wellenrauschen sind alles, was ich höre. Ich sitze, denke und verliere meinen Blick in den Wellen. Kein gesprochenes Wort stört die Stille, und in meine Gedanken kehrt eine tiefe Ruhe ein. Ich bin einfach nur bei mir. Ich denke an meine Freundin, an unsere gemeinsame Zeit, die zu kurz war, und was ich ihr alles noch sagen würde, wenn ich könnte. Erst als es langsam dunkel wird, packe ich zusammen.
Es tut gut, hier allein zu sein. Es gibt mir die Möglichkeit, die Knoten in meinem Kopf mit etwas Abstand zu betrachten und für ein paar Tage einfach mal gar nichts zu tun. Einfach nur zu sein. Es gibt wohl nicht den einen, den richtigen Weg zu trauern. Klar ist nur, dass man ohne diese Person zurückbleibt, allein weiterleben muss. Die ganze Rückfahrt in der Tram schreibe ich mit dem aufgeschlagenen Notizbuch auf meinen Knien meine Gedanken einfach raus.
Es ist mein letzter ganzer Tag in Porto, dabei bin ich doch gerade erst angekommen. Plötzlich habe ich das Gefühl, meine Woche vertrödelt zu haben. Ich habe noch ein Ticket für eine Schifffahrt auf dem Douro offen und wollte in Gaia durch Weinstöcke spazieren. Ich habe zwar zwei Bücher ausgelesen, habe viele schöne Cafés entdeckt, meine Akkus aufgeladen, nachgedacht und mich vom emotionalen Stress des letzten Jahres erholt. Aber sonst habe ich nicht viel gemacht. Die meiste Zeit habe ich auf dem Dach die Sonne genossen.
So eine Dachterrasse ist etwas Feines: Sie lässt einen klarer sehen, ich fühle mich nicht so erdrückt von den engen Gassen hier, von den Häuserfronten, die bedrohlich in die Höhe aufeinander zuzuwachsen scheinen, von den Gesprächen, die keinen Ausweg zulassen, und allem Negativen, das mich runterzieht. Hier oben fühle ich mich wie befreit, so wie sonst nur im Flugzeug, über den Wolken, weit weg von Problemen, Sorgen und Handyempfang. Hier ist alles ganz weit entfernt, nur die Sonne und ich, über mir der Himmel und zu meinen Füßen die Dächer der Stadt.
Ich beschließe, den letzten Tag noch mehr in mich aufzusaugen als die Tage zuvor, und schalte dafür mein Handy aus. Kein Kontakt zur Außenwelt, kein Teilhaben am Leben von anderen, hier ein Like für ein Foto, da ein Abhören einer Sprachnachricht. Nur mein Leben, mein Hier und Jetzt. Meine Kamera ist aufgeladen und bereit, meinen Tag für mich und für später einzufangen. Ich gehe auf der Rua das Flores frühstücken und buche mir anschließend einen Local, einen Guide, der mit mir eine private Fototour macht. Wir laufen über die Brücke, hoch auf ein Militärmonument, wieder zurück, die Gassen entlang, runter zum Fluss, auf die nächste Aussichtsplattform, kommen an Cafés vorbei, und André besteht darauf, mir einen Kaffee auszugeben.
Ich habe die ganze Woche noch nicht so viel geredet wie in den letzten drei Stunden. Faszinierend finde ich, dass man sich seinem Gegenüber auf Reisen immer irgendwie anpasst – sein Englisch ist gebrochen, ich versuche, genauso zu reden, damit er mich versteht. Bruchstückhaft und nur Hauptsätze. Es macht Spaß, wir lachen, fachsimpeln über Kameras und Touristen. Ich mag André. Für die drei Stunden möchte er nur zwanzig Euro, er macht immer nur private Touren. Ich finde es überhaupt nicht angemessen und gebe ihm anschließend weitere dreißig als »Tip«. Am Abend bin ich bei über 20 000 Schritten. Mein Rücken schmerzt, mein Nacken könnte eine Massage vertragen, und ich verziehe mich glücklich unter eine heiße Dusche.
»Mit wem soll man denn dann seine Erlebnisse teilen?«, hatte ich die Frage meiner Freundin wieder im Kopf. Ich wusste jetzt meine Antwort. Ich würde ihr erzählen, welch unheimliche Kraft es haben kann, wenn Erinnerungen nur einem selbst gehören. Meine Zeit in Portugal werde ich für immer ganz für mich haben. Konnte man sich einsam, aber glücklich fühlen? Als das Wasser auf mich herabprasselt, kommen mir, fast unbemerkt, die Tränen.
Wie wir uns besser kennenlernen
Zurück aus Portugal bestellte ich mir einige Bücher über das Alleinreisen. Viele davon hatten Frauen mittleren Alters geschrieben, alleinstehend, erfolgreich, die meist nach Kündigung oder Scheidung (oder beidem) die Welt auf eigene Faust bereisten. Jedes der Bücher feuerte ich nach rund sechzig Seiten in die nächste Ecke (sehr dramatisch) und bei nächster Gelegenheit auf das »Zu verschenken«-Regal im Erdgeschoss unseres Hausflures. Die Bücher strotzten nur so vor Selbstbewusstsein. Mich schüchterten sie einfach ein. Ich dachte an mich, wie ich draußen vor Restaurants in der Kälte gebibbert hatte oder vor Sonnenuntergang zurück in meinem Apartment gewesen war. Ich konnte mich nicht mit der in den Büchern dargestellten Selbstverständlichkeit des Alleinreisens identifizieren. Mir waren sie unsympathisch. An den Büchern war nichts falsch, das muss ich mir im Nachhinein eingestehen – es war meine Unsicherheit, die sich in ihnen spiegelte, die mir zeigte, wie anders sich so ein Trip für andere Frauen gestaltete. Das waren Gefühle und Erlebnisse, zu denen ich einfach keinen Zugang hatte, um die ich sie vielleicht beneidete. Ich hatte selbst viele Bekannte, die vom Alleinreisen schwärmten, aber für mich war es gar nicht so leicht. Ich musste mich eingrooven und bei vielem echt überwinden.
Ich wollte ein ehrliches Buch lesen, in dem Menschen mir erzählen, dass sie zwischendurch auch mal alles scheiße fanden. Dass ihnen die Tränen kommen, während sie das Gesicht an die kalte Fensterscheibe der Straßenbahn lehnen. Dass sie, statt das Beste aus der Stadt zu machen und wirklich viel zu sehen, einfach nur stundenlang orientierungslos durch die Gegend wandern, ohne danach zu wissen, wo sie eigentlich gewesen sind. Oder sich im Hotelzimmer verstecken. Vielleicht bin ich auch einfach nur ein Weichei. Aber dann möchte ich bitte von anderen Weicheiern lesen und nicht von selbst ernannten Gurus für alles. Ich setze mich hin und beginne, die ersten Zeilen hiervon zu tippen. Und schreibe alles runter, was sich in meinem Kopf befindet.
Ich führte zu dieser Zeit eine Fernbeziehung. Die Wochenenden verbrachten wir zusammen, unter der Woche arbeitete ich dafür lang. Allein auszugehen fühlte sich für mich komisch an und war deswegen nie etwas, was ich überhaupt in Erwägung zog. So, als würde ich keinen Tisch im Restaurant besetzen dürfen, weil die eben für Doppelbelegungen gemacht sind. Ich bildete mir ein, dass mich alle anderen anstarren und über mich nachdenken würden. Und überhaupt wusste ich auch gar nicht, was ich in einem schicken Restaurant mit mir allein anfangen sollte. Draußen, am Wasser, kam es mir passender vor, nebenbei mein Buch zu lesen. Ich teilte mir die Welt in »hier fühlte ich mich allein wohl« und »hier nicht« ein. Aber woher kam dieses Unwohlsein? War allein zu sein in manchen Situationen kein normaler Zustand? Warum war es so etwas Ungewöhnliches? Woher kam unser Wunsch nach Zweisamkeit und Begleitung?
Ende der Leseprobe