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Unterwegssein als Lebensmodell: Für Henry David Thoreau, den Autor von Walden und Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, stellt das tägliche Umherstreifen durch die Natur eine Art Überlebensstrategie dar, real wie auch übertragen Spazieren als Versuch, das Unbehagen gegenüber der Gesellschaft zu überwinden.
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Seitenzahl: 63
Henry David Thoreau
Vom Spazieren
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Diogenes
Ich möchte zugunsten der Natur sprechen, zugunsten absoluter Freiheit und Wildheit – im Gegensatz zur Freiheit und Kultur im bürgerlichen Sinne –, und ich möchte den Menschen als untrennbaren Teil der Natur und nicht als Mitglied der Gesellschaft betrachten. Ich möchte einen extremen Standpunkt einnehmen, und zwar mit Entschiedenheit, denn Verfechter der Zivilisation gibt es bereits genug: den Pfarrer und das Schulkomitee und alle anderen.
Im Laufe meines Lebens habe ich nur ein oder zwei Menschen kennengelernt, die die Kunst des Gehens, will sagen die Kunst des Spazierens beherrschten und sozusagen eine natürliche Begabung für das Pilgern1 besaßen, ein Wort, das sinnigerweise auf das kirchenlateinische pelegrinus (der ins Heilige Land wallfahrende Fremde) zurückgeht. Wer, obgleich er sich diesen Anschein gibt, bei seinen Spaziergängen nie ins Heilige Land gewallfahrtet ist, ist nicht mehr als ein Herumtreiber und Vagabund; doch wer auszieht, um die Heiligkeit des Landes zu suchen, ist ein Pilger in dem guten Sinne, den ich meine. Manche argumentieren, das Wort »pilgern« bedeute ursprünglich »fremd sein«, »nicht daheim sein« – was, ins Positive gewendet, hieße, dass ein solcher Mensch, der kein Zuhause hat, überall zu Hause ist. Dies nämlich ist das Geheimnis des erfolgreichen Pilgerns. Wer immer still zu Hause hockt, kann dennoch der größte Vagabund sein; der Pilger dagegen, den ich meine, vagabundiert ebenso wenig wie ein mäandernder Fluss, der doch fortwährend emsig bestrebt ist, den kürzesten Weg zum Meer zu nehmen. Ich ziehe allerdings die erste Ableitung vor, die auch tatsächlich die wahrscheinlichere ist. Denn jeder Spaziergang ist eine Art Kreuzzug, zu dem uns ein Peter von Amiens aufgerufen hat; es ist der Versuch, hinauszugehen und dieses heilige Land aus der Hand der Ungläubigen zu befreien.
Wir sind recht kleinmütige Kreuzritter – das gilt auch für die Spaziergänger heutiger Tage, die sich auf keine unbeirrt unternommenen endlosen Reisen begeben. Unsere Expeditionen sind bloß Streifzüge, und abends kehren wir an den vertrauten Herd zurück, von dem wir aufgebrochen sind. Bei solchen Landpartien verbringen wir die Hälfte der Zeit lediglich damit, unsere Schritte zurückzuverfolgen. Vielleicht sollten wir noch den kürzesten Spaziergang im Geist eines unendlichen Abenteuers angehen, als wollten wir nie zurückkehren, als wären wir entschlossen, einzig unser einbalsamiertes Herz als Reliquie in unser verwaistes Königreich zurückzusenden. Wer bereit ist, Mutter und Vater, Bruder und Schwester, Weib, Kind und Freunde zu verlassen und nie wiederzusehen, wer alle Schulden bezahlt, ein Testament aufgesetzt sowie alle Angelegenheiten geregelt hat, wer also ein freier Mann ist, der ist gerüstet für einen Spaziergang.
Um auf meine eigenen Erfahrungen zu sprechen zu kommen: Mein Begleiter und ich – denn gelegentlich habe ich einen Begleiter – gefallen uns in der Vorstellung, wir seien Vertreter eines neuen oder vielmehr recht alten Standes, nicht der Reiter oder Ritter, sondern der Spaziergänger, eines, wie ich glaube, noch älteren und ehrbareren Standes. Der heldenhafte Geist, der einst den Ritter beseelte, scheint heute den Wanderer ergriffen und sich in ihm festgesetzt zu haben: vom fahrenden Ritter zum fahrenden Spaziergänger. Er gehört zu einer Art viertem Stand, jenseits von Kirche, Obrigkeit und gemeinem Volk.
Wir haben festgestellt, dass wir diese edle Kunst hierorts beinahe allein ausüben, obgleich die meisten in meiner Stadt, sofern man ihren Behauptungen Glauben schenken kann, manchmal nur zu gern spazieren gehen würden wie ich, nur dass sie dazu nicht imstande sind. Kein Reichtum vermag die erforderliche Muße und Unabhängigkeit zu erkaufen, die in diesem Metier das Kapital darstellen. Beides wird einem nur durch die Gnade Gottes zuteil. Um ein Wanderer zu sein, braucht man eine Berufung direkt vom Himmel. Man muss in die Familie der Spaziergänger hineingeboren werden. Ambulator nascitur, non fit.2 Einige in meiner Stadt können sich zwar noch an vor zehn Jahren unternommene Spaziergänge erinnern und haben mir diese beschrieben; sie hatten dabei das Glück, sich für eine halbe Stunde im Wald zu verirren. Doch ich weiß sehr wohl, dass sie seither nicht mehr von der Landstraße abgewichen sind, auch wenn sie auf mancherlei Art vorgeben, zum auserwählten Stand der Spaziergänger zu gehören. Zweifellos fühlten sie sich für einen Augenblick auf eine höhere Stufe gehoben, wie durch die Erinnerung an ein früheres Leben, in dem selbst Menschen wie sie Waldhüter oder Gesetzlose waren.
Als er eines schönen Morgens
In den grünen Wald trat,
Hörte er das leise Zwitschern
vieler muntrer Vögel.
Es ist lange her, sagt Robin,
Dass ich zuletzt hier war,
Um bei einem stolzen Hirsch
Mein Jagdglück zu versuchen.3
Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahre, indem ich täglich mindestens vier, gewöhnlich jedoch mehr Stunden damit verbringe, absolut frei von allen Forderungen der Welt durch den Wald und über Hügel und Felder zu schlendern. Und an was, so wird man mich gewiss fragen, denke ich dabei? Zuweilen denke ich dabei daran, dass die Handwerker und Ladenbesitzer nicht nur die Vormittage, sondern auch die Nachmittage in ihren Werkstätten und Läden verbringen, viele von ihnen auch noch mit gekreuzten Beinen – als wären Beine nicht zum Stehen und Gehen, sondern zum Sitzen gemacht –, und dann finde ich, diesen Menschen gebühre eine gewisse Anerkennung, weil sie ihrem Leben nicht schon längst ein Ende gemacht haben.
Ich kann keinen Tag in meinem Zimmer verbringen, ohne Rost anzusetzen, und zuweilen, wenn ich mich um vier Uhr nachmittags, gewissermaßen um die elfte Stunde, zu einem Spaziergang fortgestohlen habe, zu spät, um das Tagwerk noch zu retten, da die Schatten der Nacht sich bereits mit dem Licht des Tages mischen, habe ich ein Gefühl, als hätte ich eine Sünde begangen, für die ich büßen muss. Und doch bin ich, wie ich gestehe, verblüfft über das Beharrungsvermögen und vor allem die moralische Gefühllosigkeit meiner Nachbarn, die sich Wochen und Monate, ja ganze Jahre von früh bis spät in Büros und Werkstätten einschließen. Ich weiß nicht, aus welchem Stoff die gemacht sind, die um drei Uhr nachmittags dasitzen, als wäre es drei Uhr morgens. Bonaparte hat von der Tapferkeit um drei Uhr morgens gesprochen, doch die ist nichts im Vergleich zu der Tapferkeit, die man braucht, um sich um drei Uhr nachmittags frohen Mutes an die Belagerung der eigenen Person zu machen, mit der man bereits den ganzen Vormittag verbracht hat, und eine Garnison auszuhungern, der man sich eigentlich verbunden fühlt. Ich frage mich, warum in den Straßen meiner Stadt um diese Zeit – sagen wir zwischen vier und fünf Uhr nachmittags, wenn es für die Morgenzeitung zu spät und für die Abendzeitung zu früh ist – keine große Explosion zu hören ist, welche die unzähligen althergebrachten, zahmen Gedanken und Vorstellungen in alle vier Winde zerstreut, um sie auszulüften, wodurch das Übel kuriert wäre.
Ich weiß nicht, wie die Frauen, die doch noch viel mehr als die Männer an das Haus gebunden sind, das durchstehen; jedoch habe ich Grund zu der Annahme, dass sie keineswegs stehen. Wenn wir an einem frühen Sommernachmittag den Staub des Städtchens vom Saum unserer Kleider schütteln und eilig an den eine Atmosphäre stiller Ruhe verströmenden Häusern mit stilechten dorischen oder gotischen Fassaden vorbeigehen, flüstert mein Begleiter mir zu, die Bewohner lägen um diese Zeit vermutlich allesamt im Bett. Dann weiß ich die Schönheit und Herrlichkeit der Architektur zu würdigen, die selbst nie nach innen gerichtet ist, sondern sich stolz erhebt und über die Schlummernden wacht.