Von Berlusconi zu Meloni - Michael Braun - E-Book

Von Berlusconi zu Meloni E-Book

Michael Braun

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Beschreibung

Im Jahr 2022 wählte Italien Giorgia Meloni an die Macht. Der große Erfolg der neuen extrem rechten Regierungschefin, die nie ein böses Wort über Mussolini verlor und einen neuen »italienischen Stolz« propagiert, kam keineswegs aus dem Nichts. Der windige Medientycoon und Politiker Silvio Berlusconi bereitete Italien über 30 Jahre einen konsequenten Weg in den Postfaschismus. Die Popularität harter rechter Politiker:innen wuchs und ist bis heute ungebrochen. Wie lässt sich das erklären? Was heißt das für Italiens Demokratie? Wie wirkt sich das auf die Zukunft Europas aus? Als »Underdog« habe sie den Aufstieg geschafft, erklärte Meloni und spielte damit auf ihre radikal rechten Wurzeln an. Doch ein Underdog war sie nie. Allerdings ließ sich ein Großteil der italienischen Wählerinnen und Wähler früher als in anderen westeuropäischen Ländern davon überzeugen, dass das »Establishment« der wahre Gegner sei. In der zweitgrößten Industrienation der EU stagnieren seit Jahren Wirtschaft und Produktivität, die Realeinkommen sinken, junge Menschen verlieren die Perspektive. Bekommt Italien sie mit dem Motto »Gott, Vaterland, Familie!« zurück?

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Seitenzahl: 259

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Für Marina und Céline

Michael Braun

VonBERLUSCONI zu MELONI

Italiens Weg in den Postfaschismus

Über den Autor:

Michael Braun, geb. 1957, promovierter Politikwissenschaftler, lebt seit 1996 in Rom. Er ist Italien-Korrespondent der taz und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Büros Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung. Buchveröffentlichungen: »Italiens politische Zukunft« (1994) und »Mutti. Angela Merkel spiegata agli italiani« (2015).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0685-7 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7058-2 [E-Book]

Copyright © 2024 by

Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Birgit Sell, Köln

Umschlagfotos: © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Gregorio Borgia und

© picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Erster Teil: Italien – die populistische Mutation unter Silvio Berlusconi seit 1994

Kapitel 1: Von Berlusconi zu Meloni – der lange Marsch der italienischen Rechten

Kapitel 2: Vom unternehmerischen Erfolg zum Triumph in der Politik

Kapitel 3: Die goldenen Jahre des Berlusconismus

Kapitel 4: Berlusconis Niedergang zwischen Eurokrise und Sexskandalen

Zweiter Teil: 2013 – das zweite politische Erdbeben nach 1994

Kapitel 5: Die Regierung Monti – wie Krisenbewältigung die Krise verschärft

Kapitel 6: Die Fünf Sterne

Kapitel 7: Die Wutwahlen 2013

Kapitel 8: Die Häutungen der italienischen Linken

Kapitel 9: Die Häutungen der italienischen Rechten

Dritter Teil: Der Dammbruch – vom Triumph der Fünf Sterne zum Aufstieg Giorgia Melonis

Kapitel 10: Italien nach 2018 – ein Land rückt nach rechtsaußen

Vierter Teil: Meloni an der Macht – eine Frau hält Wort

Kapitel 11: Die Außen- und Europapolitik

Kapitel 12: Migrantenabwehr zwischen Realität und Fiktion

Kapitel 13: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Meloni

Kapitel 14: Die autoritäre Versuchung – Giorgia Meloni und die Freiheitsrechte

Kapitel 15: Die entkernte Demokratie – Giorgia Melonis Pläne für den Umbau des Staates

Kapitel 16: »Tiefe Wurzeln gefrieren nicht« – Giorgia Meloni und der (Post-)Faschismus

Kapitel 17: Noch ist Meloni nicht am Ziel

Erster Teil: Italien – die populistische Mutation unter Silvio Berlusconi seit 1994

Kapitel 1: Von Berlusconi zu Meloni – der lange Marsch der italienischen Rechten

Mit strahlendem Lächeln präsentierte sich Giorgia Meloni spät in der Nacht, nachdem die italienischen Bürger am 25. September 2022 ihr neues Parlament gewählt hatten, spreizte Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen, hielt dann ein großes Blatt mit den Worten »Grazie Italia« in die Kameras.

Die 45 Jahre junge Politikerin hatte allen Grund zur Freude. Beim Urnengang hatte ihre Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) allein 26 Prozent der Stimmen eingefahren, war die Rechtsallianz, zu der auch die rechtspopulistische Lega unter Matteo Salvini sowie Silvio Berlusconis Forza Italia gehörten, auf 44 Prozent gekommen, was ihr in beiden Häusern des Parlaments eine stabile Mehrheit von rund 60 Prozent der Sitze eintrug.

Unmittelbar nach Auszählung der Stimmen war somit klar, dass die neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni heißen würde, dass Italien die »rechteste Regierung seit 1945« gewärtigen musste (so Enrico Letta, der damalige Vorsitzende des Partito Democratico), die »erste extrem rechte Regierung seit Mussolini« (Washington Post).

Ein Primat wenigstens konnte die Römerin damit für sich beanspruchen: Sie war die erste Vertreterin einer Partei, deren Wurzeln zurück bis in den Faschismus reichten, die jetzt nach der Macht in einer westeuropäischen Demokratie griff. Noch wenige Jahre zuvor hätte dieses Szenario als völlig unrealistisch gegolten. Die Fratelli d’Italia, erst im Jahr 2012 gegründet, hatten immer bloß einstellige Wahlergebnisse eingefahren, zwei Prozent bei den Parlamentswahlen 2013, vier Prozent bei denen von 2018, schließlich sechs Prozent bei den Europawahlen 2019.

Jetzt aber waren die Fratelli auf 26 Prozent hochgeschnellt – eine Partei, die in ihrem Symbol weiterhin die »Fiamma tricolore« zeigt, jene Flamme in den Farben der italienischen Trikolore, die seit 1946 im Symbol der offen neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano (Movimento Sociale Italiano – Italienische Sozialbewegung) geprangt hatte. Von faschistischen Wurzeln allerdings redete Meloni in ihrem Wahlkampf nie. Und auch die ihr lieben harten rechtspopulistischen Positionen hatte sie bei den zahlreichen Auftritten während ihrer Kampagne kaum hervorholt.

Nur wenige Jahre zuvor hatte sie noch Italiens Austritt aus dem Euro gefordert, und nur ein Jahr vor ihrem Wahlsieg hatte sie in ihrer Autobiographie »Io sono Giorgia« (»Ich bin Giorgia«) gegen die EU gewettert, die bloß »eine undefinierte Entität in den Händen obskurer Bürokraten« sei, »die über die nationalen Identitäten hinweggehen oder sie gleich abschaffen« wolle.

Solche Töne hatte sie im Wahlkampf völlig gestrichen, und ebenso wenig bot sie vollmundige Wahlversprechen, wie sie bei Populisten üblich sind. Stattdessen suchte sie die Bürger ebenso wie das besorgte Ausland mit einem Spagat zu überzeugen, ihrem Auftritt als seriöse Populistin. Tausende kamen zu ihren Kundgebungen im ganzen Land, um dort zu hören, sie werde »keine großen Versprechungen« machen. Nur zwei Dinge sagte sie zu, regelmäßig unter lautem Beifall ihrer Anhänger: Sie werde die erst im Jahr 2019 eingeführte Grundsicherung wieder abschaffen, die bloß »ein vom Staat gezahltes Taschengeld« sei, mit dem »gesunde 25-Jährige« davon abgehalten würden, sich endlich einen Job zu suchen, statt es sich auf dem Sofa bequem zu machen. Und sie werde die »illegale Einwanderung« hart bekämpfen, die Menschen ins Land bringe, die dann »als Dealer und Prostituierte« die Sicherheit in den Städten gefährdeten. Zu diesem rechtspopulistischen Sound passte auch die Polemik gegen »große internationale Finanzspekulanten«, die der Seenotrettung von Flüchtlingen ihr Geld zukommen ließen. Man darf annehmen, dass sie hier an George Soros dachte.

Auch nach ihrem Wahlsieg blieb Meloni auf dieser einmal eingeschlagenen Linie. Die ersten Glückwunschtelegramme kamen von Viktor Orbán, von Marine Le Pen, von der AfD, von der spanischen rechtsextremen Partei Vox. Und während ihre Fratelli d‘Italia bis zur 2024 abgelaufenen Wahlperiode in der EKR-Fraktion des Straßburger Europaparlaments saß, gemeinsam mit der polnischen PiS, mit Vox, mit den Schwedendemokraten, während die Lega ihres Koalitionspartners Matteo Salvini dort zur Fraktion Identität und Demokratie gehörte, an der Seite Marine Le Pens und der AfD, verlor Meloni einen Monat nach dem Wahlsieg in ihrer Regierungserklärung als Ministerpräsidentin kein böses Wort mehr über die EU.

Selbstverständlich werde Italien alle europäischen Verträge einhalten und »die geltenden Regeln respektieren«, ließ sie wissen, auch wenn das Land in Brüssel »erhobenen Hauptes auftreten« wolle.

Und was war mit jener Traditionslinie ihrer Partei, die zurückführt zum Mussolini-Faschismus, jene »tiefen Wurzeln, die nie gefrieren«, wie es unter alten FdI-Kämpen gerne heißt? Treuherzig versicherte Meloni in ihrer Regierungserklärung, sie habe für den Faschismus »nie Nähe oder Sympathie empfunden«, auch wenn sie selbst im Jahr 1992, erst 15 Jahre alt, in den damals noch offen neofaschistischen Movimento Sociale Italiano eingetreten war. Doch Meloni behauptete einfach, sie sei in einer »demokratischen Rechten« aktiv gewesen. Dann beschwerte sie sich, sie komme aus einer politischen Ecke, die »an den Rand der Republik gedrängt wurde«. Dies sei nicht zuletzt die Schuld des »militanten Antifaschismus«, der die »von der demokratischen Rechten immer erwünschte nationale Versöhnung« verhindert habe – gemeint ist die nationale Versöhnung zwischen den antifaschistischen Kräften, die in den Jahren 1943 bis 1945 gegen Mussolini und die deutschen Nazis gekämpft, und den Mussolini-Anhängern, die ihrerseits an der Seite der Deutschen die Partisanen massakriert hatten.

Mit dieser kühnen dialektischen Übung – auf Abstand zum Faschismus zu gehen, dann aber den Antifaschismus aufs Korn zu nehmen und zu behaupten, die »demokratische« Rechte (sprich die Nachfahren der Faschisten) seien ungerechterweise so »an den Rand der Republik gedrängt« worden –, bereitete Meloni den Schlussakkord ihrer Regierungserklärung vor: die Behauptung, sie habe sich dank ihres Wahlsiegs als »Underdog« gegen den herrschenden Politikbetrieb durchgesetzt.

Gewiss, dass im Jahr 2022 erstmals eine Postfaschistin zur Regierungschefin Italiens wurde, markiert einen Einschnitt in der Geschichte des Landes seit 1945. Doch auch bis zu jener Wende waren Meloni und ihre Fratelli d‘Italia alles andere als Underdogs gewesen. Dies zeigt schon ein kurzer Blick auf ihre Biographie. Schon im Jahr 2006 zieht sie, gerade 29 Jahre alt, ins Abgeordnetenhaus ein, als Kandidatin aufgestellt von Alleanza Nazionale, der Vorläuferpartei der FdI, die seinerzeit – genauso wie heute – in einer Wahlallianz mit Berlusconis Forza Italia und mit der Lega angetreten war. Mehr noch: Kaum im Parlament, wird der vorgebliche Underdog Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses.

Der nächste Karrieresprung erfolgt nur zwei Jahre später, 2008, als sich die Rechtskoalition unter Berlusconi gegen das Mittelinks-Lager durchsetzt: Meloni zieht als Ministerin für Jugend ins Kabinett Berlusconi ein und wird dieses Amt bis zu dessen Rücktritt im Jahr 2011 bekleiden. Statt »am Rand der Republik« war Meloni also mittendrin, ganz so wie ihre Partei. Alleanza Nazionale hatte ihre Ausgrenzung schon 1994 überwunden und seitdem immer wieder Vizeministerpräsidenten, Minister, Staatssekretäre gestellt.

Zu verdanken hatten die Postfaschisten dies dem politischen Erdbeben, das Italiens Parteiensystem in den Jahren 1992 bis 1994 erschüttert hatte – und das mit Silvio Berlusconi einen Protagonisten hervorbrachte, der die nächsten Jahrzehnte des Landes prägen sollte.

Bis 1992 hatte Italien ein unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenes, fest gefügtes Parteiensystem. In dessen Zentrum stand die Democrazia Cristiana (DC), die über Jahrzehnte bei allen Wahlen die relative Mehrheit erreichte, seit 1945 ununterbrochen in allen Regierungen die stärkste Koalitionspartei war und meist auch den Ministerpräsidenten stellte, zuletzt bis 1992 den legendären Giulio Andreotti.

Möglich war dieses Machtmonopol, weil auf der anderen Seite die Opposition vom Partito Comunista Italiano (PCI) beherrscht wurde, der größten kommunistischen Partei Westeuropas, die mit 34 Prozent bei den Wahlen 1976 ihr bestes Ergebnis erreichte. Diese Partei mochte in zahlreichen Kommunen wie zum Beispiel der linken Vorzeigestadt Bologna ebenso wie in zahlreichen Regionen das Sagen haben, doch es lag auf der Hand, dass sie angesichts ihrer Verbindungen zu Moskau in Zeiten des Kalten Krieges in dem NATO-Land Italien nie an die nationale Regierung gelangen konnte, ohne Erschütterungen bis hin zu einem Militärputsch zu provozieren.

Also regierten die Christdemokraten, im Verein mit diversen kleineren Koalitionspartnern, vorneweg der Partito Socialista Italiano (PSI), der seit 1976 von Bettino Craxi geführt wurde, sowie kleinen Mitteparteien wie den Republikanern, den Liberalen und Sozialdemokraten.

Festgefügt, ja eingefroren war dieses Parteiensystem. In ihm galt: Die Christdemokraten regieren immer, die Kommunisten opponieren immer, doch auf der parlamentarischen Ebene sind sie durchaus Gesprächspartner der Regierungsparteien, stellen zum Beispiel von 1979 bis 1992 die Präsidenten des Abgeordnetenhauses.

Völlig ausgegrenzt fand sich dagegen nur eine einzige Partei: der neofaschistische Movimento Sociale Italiano , der weder an parlamentarischen Absprachen beteiligt wurde noch als Koalitionspartner in Kommunen, Provinzen, Regionen in Frage kam. Damals standen die Neofaschisten in der Tat am »Rand der Republik«. Bei den Wahlen 1992 erreichten sie fünf Prozent – und schienen vor weiteren Jahrzehnten der Ausgrenzung und völliger Machtlosigkeit zu stehen.

Doch so fest gefügt dieses Parteiensystem erschien, so fragil sollte es sich erweisen, als zuerst die Staatsanwaltschaft Mailand, dann auch die Justizbehörden zahlreicher anderer Städte im Jahr 1992 mit breit angelegten Korruptionsermittlungen begannen. Binnen weniger Monate fanden sich Dutzende Politiker vor allem der traditionellen Regierungsparteien ebenso wie zahlreiche Unternehmer als Beschuldigte in Ermittlungsverfahren wieder, in denen es immer um das eine ging: um die Vergabe öffentlicher Aufträge gegen die Zahlung üppiger Schmiergelder an Politiker und Parteien als fast flächendeckendes System. »Saubere Hände« hatten die Mailänder Staatsanwälte ihre Verfahren getauft, und die Medien sprachen bald nur noch von »Tangentopoli«, von Italien als einer Schmiergeld-Republik.

Auf äußerst dramatische Weise wurden jedoch nicht nur die politische Korruption zum Thema, sondern auch die Verstrickungen zwischen Politik und Mafia. Im Mai und Juli 1992 brachte die sizilianische Cosa Nostra die beiden Palermitaner Staatsanwälte Giovanni Falcone und Borsellino mit Bombenanschlägen um, denen auch die Begleitschutzkommandos zum Opfer fielen. Eine Schockwelle ging durchs Land, und die Beerdigungen der Anschlagsopfer in Palermo wurden zum wahren Spießrutenlauf für die von der vieltausendköpfigen Trauergemeinde angefeindeten Politiker.

Während die Mailänder Staatsanwälte den Sozialisten-Chef Bettino Craxi in gleich mehreren Verfahren beschuldigten, leitete die Staatsanwaltschaft Palermo ein Verfahren gegen Giulio Andreotti ein, den mächtigsten Christdemokraten des Landes. Ihm wurde nicht weniger als ein geheimer Pakt mit der Cosa Nostra vorgeworfen.

Als wäre dies noch nicht genug, befand sich Italien in jenen Monaten auch wirtschaftlich in schweren Wassern. Nach heftigen Spekulationen gegen die Lira hatte das Land aus dem Europäischen Währungssystem ausscheren und eine massive Abwertung seiner Währung hinnehmen müssen, während im Staatsetat große Löcher klafften. Die im Juni 1992 ins Amt gekommene Regierung unter Giuliano Amato – sie sollte die letzte von den traditionellen Parteien getragene Regierung werden – sah sich gezwungen, einen harten Sparhaushalt zu verabschieden, der zum Beispiel erstmals in der Geschichte des Landes eine Grundsteuer einführte und damit auch die vielen Wohnungsbesitzer im Land traf. Und zugleich führte sie eine Sonderabgabe von 0,6 Prozent auf alle Bankkonten im Land ein, was von den Bürgern als Enteignung wahrgenommen wurde.

Über den alteingesessenen Regierungsparteien braute sich damit der perfekte Sturm zusammen. Im Laufe des Jahres 1993 implodierten die Democrazia Cristiana, der Partito Socialista Italiano und die kleineren Mittepartner förmlich, während sich für das Frühjahr 1994 vorgezogene Neuwahlen abzeichneten. Bei diesen Neuwahlen – so schien es – konnte es nur einen möglichen Wahlsieger geben: die Allianz der Linken unter Führung der früheren Kommunisten. Sie hatten sich schon in direkter Folge des Falls der Berliner Mauer 1989 vom Kommunismus losgesagt und als Partito democratico della sinistra (Partei der demokratischen Linken) neu gegründet. Ihrem Erfolg schien schon deshalb nichts im Wege zu stehen, weil in der Mitte und auf der Rechten mit dem Zusammenbruch der Altparteien ein binnen weniger Monate kaum zu füllendes Vakuum entstanden war.

Für einen Mann vor allem war der sich abzeichnende Wahlsieg der Linken ein wahres Horrorszenario: für Silvio Berlusconi. Der 1936 Geborene hatte seit den 1960e-Jahren aus dem Nichts heraus erst als Bauunternehmer in Mailand reüssiert, um dann seit den späten 1970er-Jahren richtig durchzustarten und Italiens größtes Privat-TV-Imperium zu errichten, mit gleich drei landesweit sendenden Kanälen, die bei den Einschaltquoten fast Kopf an Kopf mit dem Staatssender RAI lagen.

Berlusconi inszenierte sich zeitlebens als Selfmademan, doch für seinen schwindelerregenden Aufstieg war politische Protektion gleich doppelt wichtig. Er, enger Freund des Sozialisten Bettino Craxi, konnte sich auf großzügige Kreditlinien der bis zu den frühen 1990er-Jahren staatlich kontrollierten Großbanken verlassen – und er hatte 1993 rund 4,5 Billionen Lire Schulden angehäuft, die inflationsbereinigt heute rund 4,3 Milliarden Euro entsprächen. Bislang konnte er stets auf eine seinem Konzern freundliche Mediengesetzgebung vertrauen. Doch die Linke kündigte schon an, als Regierung werde sie ein neues Gesetz anstreben, das einem privaten Anbieter den Besitz von höchstens zwei landesweiten Kanälen gestatten würde.

Rückführung der Kreditlinien, dazu ein neues Mediengesetz: Für Berlusconis Holding Fininvest hätte ein solcher doppelter Angriff die sichere Pleite bedeutet. Schlimmer noch: Im Jahr 1993 begannen die Staatsanwälte, auch bei der Fininvest und ihren Tochtergesellschaften anzuklopfen, um dort Korruptionszahlungen an Craxi und andere nachzuspüren.

Berlusconi reagierte mit einem aus der Verzweiflung geborenen Geniestreich: Wenn ihm die politische Protektion wegbrach, musste er sie sich eben selbst verschaffen, so seine Überlegung – mit der Gründung einer von ihm selbst angeführten, neuen Partei, die das von Democrazia Cristiana und Partito Socialista Italiano hinterlassene Vakuum füllen konnte.

So kam Forza Italia in die Welt, binnen Monaten aus dem Boden gestampft. Ihre Gründung verkündete der Medienunternehmer erst am 26. Januar 1994, nur wenige Wochen vor dem Tag der Parlamentswahlen, dem 27. März. Schon dieser Schritt sollte die italienische Parteienlandschaft revolutionieren, zusammen mit der Wahlallianz, die Berlusconi im Vorfeld der Abstimmung schmiedete. Zwei Bündnispartner hatte er im Boot: zum einen die Lega Nord, eine populistische Liste, die, mit rüder Rhetorik gegen das »diebische Rom«, die Interessen der reichen Nordregionen vertrat, und zum anderen jene Schmuddelkinder der Republik, die immer schon im Abseits gestanden hatten: die Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano, die sich kurz vor den Wahlen schnell in Alleanza Nazionale umtauften, um ein wenig Distanz zur bisher gepflegten Tradition zur Schau zu stellen.

Berlusconi gelang das Unmögliche. Mit seiner eigenen Partei Forza Italia gewann er 21 Prozent, mit der Rechtsallianz eroberte er die Mehrheit im Parlament und sollte im Mai 1994 seine erste Regierung bilden. Als Eintagsfliege ordneten ihn damals viele politische Beobachter ein, als einen, der ebenso wenig in der Politik überdauern werde wie seine Retortenpartei. Doch das Gegenteil trat ein. Zwar scheiterte seine erste Regierung schon im Dezember 1994, doch Italiens Politik erlebte eine bleibende Veränderung. Auf den Trümmern der alten Parteienlandschaft entstand ein neues politisches Gefüge. Rechts der Mitte etablierte sich, bis heute, die Allianz der Forza Italia, der Lega sowie der Postfaschisten, damals Alleanza Nazionale, heute Fratelli d’Italia. Damit waren die Postfaschisten, vorher ausgegrenzt, mit einem Schlag zu vollwertigen Mitspielern der italienischen Politik geworden, die ganz selbstverständlich auf allen Ebenen, vom Stadtbezirksrat bis zur nationalen Regierung, immer wieder an der Macht beteiligt waren.

Und Giorgia Meloni, die 1992 als 15-Jährige in die Jugendorganisation des Movimento Sociale Italiano eingetreten war, konnte schon 1994 ihrem Dasein als Underdog Adieu sagen, dank Silvio Berlusconi, der zu ihrem Wegbereiter wurde.

Kapitel 2: Vom unternehmerischen Erfolg zum Triumph in der Politik

Der Unternehmer

Die Bewunderer ebenso wie die Kritiker Silvio Berlusconis dürften sich in wenigstens einem Punkt einig sein: Er verstand es immer, Gelegenheiten beim Schopf zu packen, ob in seiner Karriere als Unternehmer oder, ab 1994, bei seinem fulminanten Einstieg in die Politik, der ihn binnen vier Monaten ins Amt des Ministerpräsidenten führen sollte.

Gerade 25 Jahre war er alt, als er 1961 sein erstes Bauunternehmen gründete. Er selbst hatte kein Geld, doch sein Vater arbeitete als leitender Angestellter in einer kleinen Mailänder Privatbank, der Banca Rasini, die zu ihren Kunden auch Cosa-Nostra-Bosse wie Totò Riina oder Bernardo Provenzano zählte. Woher genau Berlusconis Kapital stammte, ist bis heute unbekannt – doch schon 1963 schob er in der vor den Toren Mailands gelegenen Gemeinde Brugherio ein Großprojekt an, errichtete dort ein komplettes Viertel für 4.000 Einwohner. Der Zeitpunkt war perfekt gewählt. Italien erlebte in den frühen 1960er-Jahren einen wahren Boom, das »miracolo economico«, das »Wirtschaftswunder«.

Wenige Jahre später legte der junge Unternehmer nach und stampfte, wiederum vor den Toren Mailands, die Trabantenstadt »Milano 2« aus dem Boden, angelegt für 6.000 Menschen. Wie gehabt blieben die Investoren anonym, getarnt hinter eine Schweizer Finanzierungsgesellschaft. Beim Bau von Milano 2 gelingt Berlusconi ein Meisterstück. Er erreicht, dass die Einflugschneise des Flughafens Mailand-Linate, die über das neue Viertel führt, verlegt wird. Schon damals pflegte er intensive Kontakte in die Politik und half – so der oft geäußerte Verdacht – mit großzügigen Zahlungen nach.

Von 1975 an erhöht Berlusconi Zug um Zug das Kapital seiner Unternehmen – und zahlt die Summen oft cash am Bankschalter ein. Nach heutigem Wert rund 300 Millionen Euro sind so auf seine Konten geflossen, und auch der Banca d’Italia gelang es in späteren Ermittlungen nicht, deren Herkunft zu ermitteln. Mehrere Kronzeugen aus den Reihen der Cosa Nostra behaupteten, Mafiabosse aus Palermo gehörten zu den Geldgebern.

Dies konnte nie bewiesen werden. Bewiesen ist hingegen, dass der Immobilienunternehmer in den Jahren 1973 bis 1975 den Mafiaboss Vittorio Mangano zu Hause in seiner Villa beschäftigte, angeblich als »Stallknecht«, in Wirklichkeit jedoch wohl als Bodyguard in Zeiten, in denen reiche Italiener immer wieder Opfer von Entführungen wurden.

Den Kontakt zwischen Berlusconi und Mangano hatte Marcello Dell’Utri vermittelt, aus Palermo stammender enger Mitarbeiter, Freund, Weggefährte Berlusconis. Dell’Utri sollte Jahre später als Unterstützer der Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt werden.

Zunächst aber begleitete Dell’Utri den Einstieg des Bauunternehmers ins TV-Geschäft. Der begann 1978 ganz bescheiden, mit einer Kabelfernsehgesellschaft, »Telemilano«, für die Bewohner der Trabantenstadt Milano 2. Doch nur zwei Jahre später holt Berlusconi zum großen Schlag aus, nimmt Italiens berühmtesten Showmaster, der bisher für den Staatssender RAI tätig gewesen war, mit einem luxuriösen Angebot unter Vertrag, schafft ein Netzwerk von 50 Lokalsendern, die von 1980 an unter dem Namen Canale 5 ein nationales Programm ausstrahlen.

Auch andere Unternehmer warfen sich damals auf das Privat-TV-Business, schoben die Sender Italia 1 und Rete 4 an. Doch ihnen ging schnell die Luft aus, und in den Jahren 1982 bis 1984 übernahm Berlusconi beide Networks, verfügt so über gleich drei nationale Sender. Dass er durchhielt, während die anderen aufgaben, dürfte sich auch seinen weit besseren Kontakten zu Politik und Banken verdanken. Berlusconi war 1978 Mitglied der geheimen Freimaurerloge P2 geworden, die nicht nur den Abwehrkampf gegen die »kommunistische Gefahr« organisierte, sondern auch ein hervorragender Ort zur Pflege von Geschäftsbeziehungen war, waren doch in ihr auch diverse leitende Manager der damals noch staatlichen italienischen Großbanken vertreten.

Um Kredit vorneweg von den beiden Banken BNL und Credito Italiano musste sich der Unternehmer jedenfalls keine Sorgen machen, und zugleich pflegte er seine Freundschaft zu dem Sozialistenchef Bettino Craxi, der ihm als Trauzeuge ebenso wie als Taufpate einer seiner Töchter zur Verfügung stand. Wichtiger aber war wohl, dass Craxi – damals Ministerpräsident – im Jahr 1984 seine schützende Hand über den Freund hielt. Damals hatten mehrere Richter verfügt, dass Berlusconis drei Sender umgehend die Ausstrahlung ihrer Programme einstellen müssten, da nach dem Gesetz neben der staatlichen RAI bloß lokale TV-Sender rechtens waren. Craxi antwortete umgehend mit einem Regierungsdekret, das diese Urteile außer Kraft setzte. Und wenige Jahre später verabschiedete die Regierungskoalition ein Mediengesetz, das einem einzigen Anbieter – sprich Berlusconi – den Besitz von gleich drei landesweiten Privatsendern gestattete. Dieser Akt Craxis war wohl kein reiner Freundschaftsdienst. Berlusconi jedenfalls revanchierte sich 1991 mit der Zahlung eines Schmiergelds von 23 Milliarden Lire (das wären heute rund 25 Millionen Euro) an Bettino Craxi.

Als das Gesetz kam, hatte der TV-Magnat Italiens Fernsehlandschaft schon gründlich revolutioniert, hatte mit seinen eher seichten Programmen – von Shows mit leicht bekleideten Mädchen und Serien wie Dallas oder Denver bis zu den Schlümpfen – erfolgreich den Ton gesetzt. Statt TV-Pluralismus gab es nur die RAI einerseits und Berlusconis Kanäle andererseits, die rund 90 Prozent der Zuschauer auf sich vereinigten.

Damit war Berlusconi endgültig zur öffentlichen Figur geworden, ja auch zum Sinnbild des Unternehmers, dem alles gelang. Und er machte weiter, kaufte 1986 den Fußballclub AC Mailand und führte auch ihn schnell wieder an die italienische und europäische Spitze. Auf dem Medienmarkt mischte er weiter mit, übernahm 1989 mit Mondadori den größten italienischen Buch- und Zeitschriftenverlag, zu dessen Imperium auch die bis dato linksliberale Tageszeitung La Repubblica sowie die beiden wichtigsten politischen Wochenzeitschriften des Landes gehörten.

Als der damalige Mehrheitseigner von Mondadori verkaufte, hatte Berlusconi eigentlich gar keinen Zugriff: Die Eigentümerverträge des Verlags sahen ein Vorkaufsrecht für den Minderheitseigner Carlo De Benedetti vor. Doch als De Benedetti vor Gericht klagte, verlor er den Prozess – und Berlusconi hatte gezeigt, dass er nicht nur zupackend, sondern in der Wahl seiner Mittel auch wenig zimperlich war. Jedenfalls wurden der urteilende Richter ebenso wie Berlusconis Rechtsanwalt später verurteilt, weil das Urteil per Bestechung gekauft war, per Bestechung aus den Schwarzgeldfonds der Berlusconi-Holding Fininvest.

Berlusconi aber kam straffrei davon, wegen Verjährung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Und mehr noch: In einem Schlichtungsverfahren hatte er sich dazu herbeigelassen, Carlo De Benedetti die Tageszeitung La Repubblica zu überlassen, während er selbst den Verlag Mondadori behielt. Erst im Jahr 2013 sollte er dann in einem Zivilverfahren zur Zahlung von 494 Millionen Euro Schadensersatz an De Benedetti verurteilt werden.

Doch erst einmal war der Unternehmer in den 1980er-Jahren weiterhin vor allem mit einem befasst: mit Expansion. So kaufte er im Jahr 1988 die Standa, eine der größten Supermarktketten des Landes, und stieg mit 50 Prozent in eine Finanzberatungsgesellschaft ein, aus der später die Banca Mediolanum werden sollte.

Ein König Midas war der Allroundunternehmer so in den Augen der Italiener geworden, einer, dem alles zu Gold wurde, was er anfasste, und ein Kerl, der es – so auch die Selbstinszenierung – zu einem der reichsten Männer des Landes gebracht hatte, auch wenn er nicht, wie etwa Gianni Agnelli, aus altem Geldadel stammte: ein Selfmademan eben, der allerdings gern vergessen machte, dass mysteriöse Kapitalgeber ebenso wie politische Paten ihm diesen Erfolg überhaupt erst ermöglicht hatten. Ein Selfmademan zudem, der Millionen Italienern gute Laune bescherte, ob mit seinen völlig auf Unterhaltung getakteten TV-Programmen, mit den Starkickern vom AC Mailand, der schon 1988 italienischer und 1989 Europameister wurde, oder auch beim Einkaufserlebnis im Standa-Supermarkt.

Der Politiker

Bis in die frühen 1990er-Jahre hatte Berlusconi nie auch nur die geringste Neigung gezeigt, selbst in der Politik aktiv zu werden. Doch als von 1993 an mit dem Zusammenbruch der traditionellen Parteien ein Wahlsieg der Linken drohte, vollzog er einen radikalen Schwenk, nicht zuletzt wohl auch auf Anraten seines bisherigen politischen Protektors Bettino Craxi, der sich auf der Flucht vor mehreren Haftbefehlen nach Tunesien abgesetzt hatte.

Zwei prominente Journalisten bezeugten, er selbst habe erklärt, »wenn ich nicht den Schritt in die Politik tue, lassen sie mich pleitegehen oder schicken mich ins Gefängnis«. Berlusconi reagierte, indem er erneut zum Gründer wurde, diesmal nicht eines weiteren Unternehmens, sondern einer Partei.

Am 26. Januar 1994 wandte er sich in einer Videobotschaft, die von allen Fernsehsendern ausgestrahlt wurde, an die Bürger des Landes. Er sehe sich genötigt, »aufs Feld zu gehen«, erklärte er, »aus Passion für die Freiheit«, aus Angst, Italien könne »den Kommunisten« in die Hände fallen. Diesem Schicksal wolle er sich mit seiner Partei »Forza Italia« entgegenstellen, einer »völlig neuen« Kraft, nicht zuletzt gegen die »Politiker ohne Beruf«, gegen eine »aus unverständlichem Geschwätz bestehende Politik«, nachdem die »alte politische Klasse« unter der Last der Korruptionsermittlungen und der öffentlichen Schulden zusammengebrochen sei. Von ihm hingegen dürften die Wähler »ein neues italienisches Wunder« erwarten.

Zunächst vollbrachte er das Wunder, mit Forza Italia (FI) aus dem Nichts eine neue Partei aus dem Boden zu stampfen und mit ihr genauso die politische Landschaft zu revolutionieren, wie er in den Jahren zuvor mit seinen Kanälen die TV-Landschaft revolutioniert hatte. Kritiker schmähten schnell das neue Geschöpf als »Plastikpartei«, als »Firmenpartei« oder auch als TV-Partei. Und an allen diesen Vorwürfen war etwas dran.

Der Gründer selbst hatte den Namen ausgesucht – nicht weniger als den Schlachtruf der Fans der italienischen Nationalmannschaft (»Italien vor!«). Er hatte das Parteisymbol entworfen, war nach eigener Auskunft an der Komposition der Parteihymne beteiligt. Das wirkte alles in der Tat etwas artifiziell, konnte Forza Italia doch auf keinerlei Tradition zurückgreifen.

Und natürlich war Forza Italia eine »Firmenpartei«. Zum Einsatz kam bei ihrem landesweiten Aufbau vorneweg das dichte Netz der von Berlusconi-Intimus Marcello Dell’Utri geleiteten Fininvest-Tochterfirma Publitalia, deren Vertreter die Werbezeiten auf den Berlusconi-Kanälen verkauften, deshalb mit ihren Büros im ganzen Land vertreten waren und Tausende Unternehmer kannten. Wenn Publitalia-Angestellte nicht gleich selbst als Kandidaten für die anstehenden Parlamentswahlen aufgestellt wurden, oblag ihnen die Auswahl möglicher Kandidaten, die dann in Rom gecastet wurden.

Natürlich war Forza Italia auch eine »TV-Partei«. Dank seiner drei Kanäle hatte Berlusconi ein scharfes Schwert der Propaganda in der Hand, konnte nicht nur Werbespots ohne Ende ausstrahlen. Er konnte auch auf die Hilfe von zahlreichen seiner Showmaster zählen, die im Vorfeld der Wahlen in ihren Sendungen ganz ohne Scheu für Berlusconi trommelten.

Nicht zuletzt entstand Forza Italia zudem als monarchisch geführte Partei, die ohne Kongresse, Delegiertenversammlungen, Vorstandswahlen, ohne demokratische Entscheidungen der Gremien bei der Aufstellung der Kandidaten auskam, denn nur einer traf die Entscheidungen: ihr Gründer und Chef, der »Presidente«. Möglich war dies, weil Italien über kein Parteiengesetz verfügt, das Mindestnormen für das demokratische Innenleben von Parteien festlegt.

Doch nicht nur in der Organisation einer vorneweg auf den charismatischen Anführer zugeschnittenen politischen Kraft erwies sich Berlusconi als radikaler Neuerer, der komplett mit den Traditionen der überkommenen Massenparteien brach. Auch im Ton setzte er gegenüber jenen Kräften, die er beerben wollte, gegenüber den im Untergang befindlichen Christdemokraten und Sozialisten, einen völlig neuen Akzent, der zentrale Motive des Populismus aufnahm.

Vorneweg beschwor Berlusconi immer wieder seine Vergangenheit als Unternehmer, der etwas geleistet hatte, seine Herkunft aus »dem Schützengraben der Arbeit«, als jemand, der sich gegen die »Politikaster ohne erlernten Beruf« stellte: ein klassisches populistisches Motiv, das den Gegensatz zwischen der vorgeblich sauberen Gesellschaft einerseits, der unfähigen und verkommenen Politik andererseits aufspannt. Nicht umsonst sollte er noch Jahre später in einem Facebook-Post kundtun, »ich habe mich nie als Politiker gefühlt, ich bin seit je ein Antipolitiker«.

Doch er begnügte sich nicht damit, jenen Gegensatz zu beschwören. Zugleich machte er sich daran, alte ideologische Gegensätze wiederzubeleben. Seit 1945 war Italiens Parteiensystem von der Frontstellung zwischen den Christdemokraten und ihren Koalitionspartnern einerseits, den Kommunisten andererseits geprägt – doch jene Polarisierung hatte sich in den frühen 1990er- Jahren deutlich abgeschwächt. Der PCI hatte der alten Parteiräson des Kommunismus abgeschworen, nachdem er schon in den vorherigen Jahrzehnten immer weiter auf Distanz zu Moskau gegangen war. Die Nachfolgepartei der Demokratischen Linken stellte sich im Freien Westen auf und wurde Mitglied der Sozialistischen Internationale.

Berlusconi aber tat so, als sei dies alles nicht passiert, er redete weiter von den »Kommunisten«, die nach der Macht griffen, um ein »illiberales« Regime zu errichten, um Unternehmer- ebenso wie Bürgerfreiheiten abzuschaffen. Deren »Sozialneid und Klassenhass« wolle er mit Forza Italia eine Kraft entgegensetzen, die nicht spalte, sondern eine, die im Namen der »Erfordernisse des einfachen Volks« handele.

Auch Versprechen hatte Berlusconi parat. Das »neue italienische Wunder« sollte aus »einer Million neuer Arbeitsplätze« bestehen, aus einer Höchstgrenze bei der Einkommenssteuer von 30 Prozent sowie aus großzügigen Amnestien für Steuerhinterzieher – eine hoch interessante Aussicht in Italien, in dem Land, in dem bei den Selbstständigen Steuerhinterziehung geradezu endemisch war.

Anders als spätere Populisten aber verzichtete Berlusconi darauf, abgesehen von den Kommunisten weitere Feinde ausfindig machen zu wollen und zum Beispiel Kampagnen gegen Migranten zu fahren. Statt des Schlechte-Laune-Populismus, der heute en vogue ist, setzte er vornehmlich auf einen Gute-Laune-Populismus, der dem Wahlvolk verspricht, mit seinem Sieg stehe die beste aller möglichen Welten ins Haus. Und dieses Versprechen griff: Aus dem Stand erzielte Forza Italia bei den Wahlen 21 Prozent, wurde zur stärksten Partei Italiens. Doch eine Mehrheit im Parlament kam nur zustande, weil Berlusconi mit den Noch-Faschisten und der Lega Nord zwei Partner ins Boot geholt hatte.

Die Partner: Schmuddelkinder werden über Nacht Regierungsparteien

Berlusconi hatte nur eine Chance, selbst den Wahlsieg davonzutragen und einen Erfolg der Linken zu verhindern: Es musste ihm gelingen, weitere Allianzpartner rechts der politischen Mitte zu finden. Denn im Urnengang von 1994 kam ein neues Wahlrecht zur Anwendung, das das alte Proporzsystem ersetzte. Nach dem neuen Schema wurden 75 Prozent der Sitze sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat in den Personenwahlkreisen vergeben: Wer die Nase vorn hatte, erhielt das Mandat.

Und links hatte sich schon die »Alleanza dei progressisti« (»Allianz der progressiven Kräfte«) zusammengetan, unter Führung des aus dem PCI hervorgegangenen PDS, die mit diversen anderen Parteien von den Grünen über die »Christlich-Sozialen« hin zu den Nochkommunisten ein breites Bündnis geschmiedet hatte. Diesem Lager etwas entgegenzusetzen, musste Berlusconis Hauptsorge sein. Doch die politische Mitte schied aus. Der kümmerliche Rest der Christdemokraten, der sich in dem Partito Popolare Italiano zusammengefunden hatte, verweigerte sich einem Pakt mit Forza Italia und trat seinerseits mit einem Mittebündnis an.

Damit blieben für Berlusconi und Forza Italia nur die Rechte: die Lega Nord, die in den reichen Regionen des Nordens einen fulminanten Aufstieg erlebte hatte, sowie die Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano (Movimento Sociale Italiano – Italienische Sozialbewegung). Beide waren, wenn auch auf völlig unterschiedliche Weise, bisher als Anti-System-Kräfte aufgetreten, die außerhalb des Verfassungskonsenses standen und sich nicht nur national, sondern auch in Kommunen und Regionen am Rand des politischen Geschehens befanden. Auf der Linken und in der politischen Mitte mochten sie als Schmuddelkinder gelten, doch in den Augen Berlusconis brachten sie – ganz so wie seine eigene Neuschöpfung Forza Italia – einen entscheidenden Pluspunkt mit. Sie konnten gegenüber dem angesichts der Korruptionsskandale in Misskredit geratenen System der traditionellen Parteien für sich beanspruchen, sie seien neue und »unverbrauchte« Kräfte.

In der Tat blickte die Lega Nord auf eine gerade zehnjährige Parteigeschichte zurück. Kein Kamerateam war seinerzeit angerückt, noch nicht einmal ein Lokalreporter war gekommen, als im norditalienischen Varese am 12. April 1984 vier Männer und eine Frau bei einer Notarin zusammenkamen, um eine nagelneue Partei aus der Taufe zu heben: die Lega Lombarda.