Leahcim - Michael Braun - E-Book

Leahcim E-Book

Michael Braun

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Beschreibung

"Ich spüre, also bin ich." Dies ist der Leitsatz von Leahcim, der auf sein Leben zurückblickt und uns mitnimmt in seine innere Welt der Gefühle und spirituellen Erkenntnisse. In prekäre Verhältnisse hineingeboren, ist sein Leben von Anfang an vor allem eins: Kampf! Mit Hilfe des Spürens in die Welt hinter der Welt, findet er seinen Weg, begleitet von einem Helfer, seinem imaginären "Stein", mit dem er von Zeit zu Zeit in einen Dialog geht. Anhand von mehreren Gleichnissen und Gedichten verdeutlicht der Erzähler das, was das Leben ihn an Weisheit gelehrt hat. Sein Kompass war immer das Spüren, das Lernen und das Lieben dessen, was ist.

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Seitenzahl: 444

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Über dieses Buch

„Ich spüre, also bin ich.“

Dies ist der Leitsatz von Leahcim, der auf sein Leben zurückblickt und uns mitnimmt in seine innere Welt der Gefühle und spirituellen Erkenntnisse. In prekäre Verhältnisse hineingeboren, ist sein Leben von Anfang an vor allem eins: Kampf! Mit Hilfe des Spürens in die Welt hinter der Welt, findet er seinen Weg, begleitet von einem Helfer, seinem imaginären „Stein“, mit dem er von Zeit zu Zeit in einen Dialog geht.

Anhand von mehreren Gleichnissen und Gedichten verdeutlicht der Erzähler das, was das Leben ihn an Weisheit gelehrt hat. Sein Kompass war immer das Spüren, das Lernen und das Lieben dessen, was ist.

Über den Autor

Michael Braun, Jahrgang 1962, lebt mit seiner Familie in Bayern. 2020 hat er seine Kunstwerke (Holzskulpturen) durch einen Bildband und Gedichte der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Michael erkannte, dass tief in ihm Weisheiten schlummern, die aus dem Verborgenen hervordrängten. In diesem Prozess hörte er seiner Seele aufmerksam zu. Immer wieder ging er der Frage nach: „Wer bin ich?“. Daraus entstand schließlich das vorliegende Buch.

Weitere Informationen:

www.holz.jimdosite.com | [email protected]

Instagram: mb.baumwurzeln

Weitere Bücher des Autors:

Holz und Gedichte – Buch 1 (2020)

Danksagung

Ich danke Dir, lieber Leser, dass Du mit mir die Reise beginnst und das Leben von Leahcim betrachtest. Ich wünsche Dir ein spannendes Abenteuer und die Fähigkeit, offen für alles zu sein, damit Du seine Erfahrungen als Deine erkennen kannst, denn wir spiegeln uns in unseren Begegnungen und wir leben alle in einer Welt des Spürens. Wir spüren viele Emotionen wie Liebe und Hass, Freude und Dankbarkeit. Lass uns zusammen den wunderbaren Weg des Spürens gehen, auch wenn er manchmal schmerzlich ist. Öffne Dein Herz und erkenne die Liebe, die uns alle verbindet.

Inhaltsverzeichnis

Der Junge und der Engel des Vertrauens

Wie alles begann

‐ Die Last

Traumgeschichte ‐ Vulkanausbruch

Vatergespräch

Damos

Profunda

Frau Mod

Frau Muutos

Der Elefant im Traum

Gefühlssprossenleiter

Die Frau Afable mit Diam im Wald

Tris

Der Jäger

„Der Mann, der Gott besuchte“

Josef

Wachsen

Parallelwelt

Der Junge und der Engel des Vertrauens

Es war einmal ein sehr schmächtiger Junge, der in einem kleinen Dorf bei seiner Mutter wohnte. Den Vater kannte er nicht, die wenige Male, die er ihn sah, reichten nicht aus, um ihn als Vater zu integrieren. Dieser Junge träumte von einer Familie, in der beide Elternteile in Harmonie zusammenlebten. Gemeinsam mit seinem Vater zu spielen oder gar zu kämpfen, war ihm unmöglich.

Eines Tages erschien ihm eine riesengroße Gestalt. Er erschrak und wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Angst durchströmte seinen Körper, er wollte Schutz bei seinem Vater suchen, doch dieser war nicht da. „Hab keine Angst, mein Junge, ich bin bei dir.“ Der Junge schaute mit zitterndem Körper nach oben und sah einen Engel in einer überdimensionalen Ritterrüstung. „Wer bist du?“, fragte der Junge. „Ich bin der Engel des Vertrauens – und wohne in dir. Wenn du mich rufst, brauchst du keinen Schutz mehr, denn du wirst erkennen, dass Schutz nur eine Begrenzung in dir selbst ist. Hast du Vertrauen zu dir, verschwinden auch die Grenzen und die Welt wird sich dir öffnen.“

Der Junge konnte kaum glauben, was er sah, doch als er aufblickte, um den Engel nochmals genauer zu betrachten, löste sich die Rüstung urplötzlich auf und aus der Gestalt formte sich ein durchsichtiger Edelstein, der im Glanze des Lichtes sämtliche Farben des Regenbogens in sich vereinte. „Ach, wenn ich doch so wie dieser Edelstein glänzen würde“, dachte der Junge bei sich.

Voller Energie ging der Junge nach Hause und umarmte seine Mutter, die gerade dabei war, die Wäsche in der wärmenden Sonne aufzuhängen. „Was ist denn mit dir passiert? Du bist so losgelöst und glücklich.“ Der Junge war nicht sicher, ob er das Erlebte seiner Mutter erzählen sollte. Er entschloss sich, sie einfach nur zu umarmen und zu schweigen. In der Zweisamkeit spürte er, wie sein Herz von selbst aufging. Es fühlte sich an wie ein mächtiger Vorhang, der weit aufgezogen wird. Wind und Licht von außen strömten ins Innere und durchfluteten jeden Winkel, der vorher dunkel gewesen war, mit reinstem goldenem Licht. Angst und Leid verschwanden, Vertrauen in die eigene Kraft wuchs. Er fühlte sich geliebt, wert, auf dieser Welt zu sein. Und er erkannte: Nur über das Spüren bin ich.

Wie alles begann:

Wie der kleine Junge in dieser Geschichte eine innere Welt des Spürens entdeckte, so möchte auch Leahcim seine Reise beginnen und seine Entdeckungen offenbaren.

Anfang und Ende liegen nicht weit voneinander entfernt, letztendlich sind sie ein und dasselbe, nur die Bezeichnung ist anders, denn wo ein Anfang ist, wird auch ein Ende sein.

Wie wäre es, wenn wir symbolisch den Anfang „Eizelle“ und das Ende den „Samen“ nennen? Denn ist es nicht so, dass die Samenzelle des Mannes in der Eizelle der Frau ihren Weg findet? Durch die Verschmelzung beider entsteht eine Einheit, die sich Mensch nennt. Der Samen hat sich vom Mann verabschiedet, als er den Weg zur Einheit begann. Er löste sich in der Eizelle auf, das war sein Ende. Die Frau stellt ihre Eizelle bereit, um ein neues Leben zu kreieren, und dies bildet den Anfang einer großartigen Entwicklung.

Wir lösen uns bereits in der Befruchtung auf, um gemeinsam einen neuen Erfahrungsweg zu gehen, und trotzdem bleiben wir eine Einheit. Auch symbolisiert das Leben einen Kreis. Die Konzeption ist der Beginn, das Ende ist der Tod. Da das Ganze jedoch einen Lebens-Kreis darstellt und dieser in sich geschlossen ist, gibt es keinen Anfang und kein Ende.

Es ist wie auf einer Zirkusaufführung. Dort sind Kinder, die einem Zauberkünstler zusehen, der zwei große Ringe ineinander verwoben hat. Die Ringe haben anscheinend keine Öffnung, um sie auseinanderzubringen. Die Erwachsenen wissen um den Trick, doch die Kinder staunen und sind sehr gespannt, wie der Zauberer die Ringe voneinander lösen wird. Und tatsächlich, nach einigen Minuten und einem überzeugenden Zauberspruch waren die Ringe getrennt, doch eine sichtbare Öffnung gab es nicht. Es ist schön, zu wissen, dass Anfang und Ende nicht existieren, denn dadurch werden unsere inneren Grenzen aufgehoben und wir können uns dem Sein besser zuwenden.

Leahcim erblickte am 21. Dezember, einem Freitag, kurz vor Mitternacht das Licht der Welt. Draußen war es bitterkalt, laut Wetteraufzeichnungen war in Deutschland dieser Dezember ein extrem kalter Monat und diese Emotion der Kälte spürte auch Leahcim bei seiner Geburt, und noch viele Jahre danach.

Doch ist sein Leben nicht nur kalt gewesen, warme Ströme der Liebe erhitzten sein Herz, was er jedoch erst einige Zeit später erfahren durfte. An seinem Geburtstag haben viele Ereignisse stattgefunden, die mit Sicherheit erwähnt werden wollen, doch diese Art von Auflistung entspricht nicht seinen Naturell und letztendlich ist es auch egal, denn es ist vergangen und hat seine Zeit gehabt.

Ich denke, es ist nur noch eines interessant, nämlich die Tatsache, dass Leahcim an jenem Tag Geburtstag hatte, an dem der alte Maya-Kalender Zyklus endete und ein neues Zeitalter begann. Das Datum 21.12.2012 (Leachim feierte sein 50’zigsten Geburtstag) ist somit ein wichtiges Datum für Veränderung und genau in diesem Prozess befand er sich.

Leahcim wird sich nicht nur deswegen verändern, weil sein Geburtsdatum eine kalendarische Veränderung erfuhr, sondern auch, weil er spürte, dass für ihn die Zeit gekommen war, sein Leben intensiv zu betrachten. Er wird eine Reise unternehmen, die schmerzlich und ohne Filterung durch sein Leben zieht. Er möchte seine ganze Wahrheit erfahren, um somit sein Dasein auf Erden zu verstehen.

Wir alle haben die Sehnsucht zu erfahren, wer wir sind, doch wenn wir der Sehnsucht keine Reflexion unserer Vergangenheit geben, werden wir die Wahrheit nicht finden. Ich werde seine Träume und Geschichten in sein Lebensbuch mit einfließen lassen, weil sie zu seinem Leben gehören und ihn auf der Suche nach seinem Stein immer näherbrachten.

Ich habe mich auch dazu entschlossen, seine Gedichte an den passenden Stellen zu verankern, weil ich glaube, dass diese Gedichte seine Gefühle in verdichteter Form wiedergeben. Oft erkannte Leahcim erst viel später die Zusammenhänge seines Lebens, da der Schmerz „Zeit zur Heilung“ brauchte. Und ich glaube auch, dass die Samen der Vergangenheit die Früchte der Zukunft sind.

Er hatte das Glück, mit 23 Jahren mehrere Sitzungen, die sich Rebirthing nannten, zu erfahren, denn hier konnte er seine eigene Geburt wiedererleben. Deshalb stelle ich dieses Erlebnis der Geburt an den Anfang, um das von ihm Erlebte plastisch zu schildern. Die anderen Sitzungen werde ich später ausführlich beschreiben.

Durch die Technik des zirkulären Atmens, also des Ein- und Ausatmens ohne Pausen, entsteht ein anderer Bewusstseinszustand. Es ist für mich immer wieder spannend, welche herrlichen Alternativen es außerhalb der normalen wissenschaftlichen Techniken noch gibt. Begründer dieser Atemtechnik ist Leonard Orr, der sie durch Selbstversuche entwickelte und als Methode zur Atem- und Bewusstseinsschulung verstand. Häufig wird Rebirthing auch dem Namen entsprechend praktiziert, um durch diese Form des Atmens das eigene Geburtserlebnis ins Bewusstsein zu holen.1

Und genau in diesem Zustand befand Leahcim sich, sogleich spürte er die Nabelschnur um seinen Hals. Eine Enge, die er bisher nicht kannte, das Leben draußen rief ihn, doch es hielt ihn irgendetwas fest. Mit aller Gewalt wollte er nach draußen und presste sich Richtung Ausgang. Doch die Schlinge schnürte bei jedem weiteren Stemmen mehr zu. Irgendwann kam er nach vielem Ziehen und Drücken in die Außenwelt. Er wollte mit offenen Armen und freudigen Klängen willkommen geheißen werden, er war bereit für das Unbekannte.

Nach dem Durchtrennen seiner Verbindung zum Mutterkörper öffnete Leahcim seinen Mund reflexartig, um das Lebenselixier Luft in seine Lungen einströmen zu lassen. Doch es ging nichts. Leahcim war dunkelblau angelaufen, wilde Schläge auf seinen zerbrechlichen Körper, die er durch Ärzte empfing, sowie das Eintauchen seines Körpers in kurze Kaltbäder nützten nichts. Sein Körper, der gerade erst geboren worden war, wollte sich auch gleich wieder verabschieden. Er wurde aus dem Paradies ins eiskalte Wasser geschleudert, das schmerzliche Leid begann bei der ersten Berührung mit der Außenwelt. Er wollte schreien, aber sein Hals war erdrosselt und Leahcim hing leblos an den Beinen über Kopf gehalten umher.

„Du hast die Reise gewählt. Geh, und führ sie zu Ende“, ermahnte ihn eine innere Stimme. Da auf einmal strömte wie ein Wasserfall Luft in seine zarten Lungen. Es durchzuckte seinen ganzen Körper, es war herrlich, Luft in jede Zelle zu atmen, Luft, um zu leben.

Ich spüre, also bin ich!

Er wollte zu seiner Mutter, die Wärme und die paradiesische Geborgenheit nochmals spüren. Doch er wurde erst in irgendeinem Becken „gereinigt“ und nach vielen medizinischen Untersuchungen sogleich in einen Raum verfrachtet, in dem viele andere kleine Babys waren. Er schrie: „Mama, ich möchte zu dir!“, doch niemand verstand ihn. Er schrie lauter und lauter und noch lauter …

Irgendwann schlief er vor Erschöpfung ein, nach wenigen Stunden wachte er wieder auf und schrie abermals, aber niemand hörte ihn. Schwestern kamen nach gefühlt langen Stunden zu Leahcim und gaben ihn teilnahmslos Babyfutter. Sein Körper wurde durch Nahrung gesättigt, doch seine Seele verhungerte. Schließlich wurde er zu seiner Mutter gebracht, er durfte sie erspüren. Auf ihrem warmen Körper verweilen, ihre Streicheleinheiten genießen, ihren zarten Worten lauschen. Leahcim fühlte für wenige Sekunden das Paradies.

Er wollte den Zustand verlängern, doch die Schwester nahm seinen kleinen Körper und transportierte ihn zurück in den Babyausstellungsraum. Sein Schmerz begann wie zuvor. „Mama, ich will zu dir!“ … irgendwann wachte er auf, eine Schwester kam und gab ihn Körpernahrung.

Seine Mutter erzählte ihm als Erwachsener, dass die Schwestern ihn immer den „Admiral“ nannten, da er jedes Mal, wenn er Hunger hatte, so laut schrie, dass alle anderen Kinder auch anfingen zu schreien. In einem hatten die Schwestern recht, Leahcim hatte Hunger, aber er benötigte in den meisten Fällen keine Körpernahrung, sondern Seelennahrung.

Leahcim erinnerte sich an eine Art von vorgeburtlicher Existenz, als er einige Tage in der Säuglingsstation verbracht hatte. Es war eine emotional bewegende Geschichte, die ihm die ersten Zeichen für die Wahrheit im Leben offenbarte. Doch um die Erinnerung zu verstehen, benötigte Leahcim Hilfe in Form von Gegenständen, da die vorgeburtliche Existenz materiefrei ist.

Der Rahmen

Leahcim war in einem dunklen Raum und bewegte sich wie ein kleines rundes Molekül. Dieser Raum war wie ein Bilderrahmen umrandet und außerhalb davon war nur Schwärze. Es war, als ob ein kleiner Rahmen auf eine nicht endende schwarze Wand projiziert wäre.

Er bewegte sich wie eine leichte Feder hin und her. Immer wieder stieß er an diesen Rahmen. Er war alleine und zufrieden, nichts konnte ihn aus der Fassung oder dem Rahmen bringen. Er war im Nichts und der Rahmen schützte ihn vor der unfassbaren Unendlichkeit. Er war in seiner eigenen kleinen, geschützten Welt und lernte nichts mehr dazu.

Irgendwann wurde diese kleine Welt, die ihm so viel Zufriedenheit gab, langweilig und er spürte den Drang, etwas Neues zu erleben. Diesen Gleichklang, der auf einer Seite zwar beruhigend war, ihn auf der anderen Seite jedoch nicht wachsen ließ, wollte er nicht mehr.

Er sprach mit sich selbst und verlangte eine Antwort auf die vielen Fragen, die sich in der Zeit des Alleinseins angesammelt hatten. Leahcim wurde immer unglücklicher und er spürte in sich eine nie dagewesene Wut. Sein Rhythmus beschleunigte sich, immer stärker knallte er als eine Art „Molekülkugel“ an den Innenrahmen. Seine Sehnsucht nach der Außenseite des Rahmens wuchs in astronomischer Geschwindigkeit und durch die Wucht des Aufpralls schmerzte nun auch sein Körper.

„Was ist das für ein eigenartiges Gefühl?“, dachte er sich, denn so etwas hatte Leahcim noch nie erlebt. „Ja, ich bin unachtsam mit mir gewesen, weil ich die Sehnsucht nach „mehr“ hatte“, hörte man ihn denken.

Plötzlich erhellte sich der Raum und er sah andere Körper, die sich innerhalb seines Rahmens und Raums aufhielten. Doch sie bewegten sich nicht, sie schliefen. „Ich war gar nicht alleine“, schoss es ihm durch den Kopf, „ich war einer Illusion erlegen. Ich bin nicht alleine und dachte aber immerzu, ich sei alleine und nur weil ich keine Wahrnehmung davon hatte, glaubte ich das auch. Wie viele Illusionen gibt es noch, die mein begrenzter Verstand nicht erkennen kann?

Mit seinen Augen folgte Leahcim dem Lichtstrahl, der durch den Rahmen hindurch schien. Er spürte Mut und verlangte nach Abenteuern, je wilder, desto besser, denn er war hungrig und wollte erspüren, damit er leben kann.

Eine Stimme sagte ihm: „Der Rahmen ist durchlässig für diejenigen, die gehen wollen, wogegen er für die Menschen, die noch nicht so weit sind, Schutz bietet“. Leahcim erkannte seine Chance und rannte mit aller Kraft gegen den Rahmen, und … hindurch.

Diese Unendlichkeit, die ihm zuteilwurde, als er aus dem Rahmen flog, konnte er nicht verarbeiten, es war einfach unmöglich für ihn.

Leahcim hatte das Gefühl, eine Million Kilometer pro Stunde zu fliegen und dennoch auf dem Fleck zu stehen, soweit kam ihn das Universum vor. Nun verspürte er Angst, in der Unendlichkeit verloren zu gehen. Da hörte er abermals dieselbe wohlwollende Stimme, die sagte:

„Suche dir ein Abenteuer aus, je mehr Leid, desto mehr hast du die Gelegenheit zu spüren, denn Leben bedeutet spüren.“

Er wollte jedoch kein Leid, sondern nur Freude erleben und sagte dies unverdrossen. „Dann geh in deinen Rahmen zurück und verweile dort.“ „Warum sollte ich in meinen langweiligen Rahmen zurückgehen?“ Und die Stimme sprach: „Du sagtest doch, dass du kein Leid möchtest, doch wenn du aus dem Rahmen gehst, gehört das Leid dazu, um zu verstehen. Denn Leid reflektiert die andere Seite der Medaille.

Das Leben ist eine große Schule des Lernens und hält alles für dich bereit. Wähle dir die Dinge, die du lernen möchtest aus, und begebe dich auf die Reise“.

Als er mit dem Aussuchen seiner Lernziele fertig war, wurde Leahcim von einer unsichtbaren Hand gestoppt, die ihm einen Stein mit auf den Weg gab.

„Hör gut auf das, was ich dir jetzt zu sagen habe, denn dies ist die wichtigste Aufgabe in deinem Leben. Es ist deine einzig wahre Aufgabe:

Suche in dir diesen Stein, denn er ist der Schlüssel zu deiner Seele.“

Plötzlich entstand im Nichts ein Sog und zog Leahcim wie Badewasser, das durch den Abfluss fließt, in sein selbstkreiertes Leben über den Weg der Geburt.

So erlebte Leahcim seine Geburt und daraufhin den Traum. Als Erwachsener fragte er seine Mutter nach den Details seiner Geburt und stellte fest, dass all die Dinge, die er beim Rebirthing erlebt hatte, wahr waren.

Nach dem Aufenthalt im Krankenhaus über Weihnachten wurde Leahcim lieblos in sein zukünftiges Zuhause verfrachtet. Es war eine ärmliche Gegend, in der er als jüngstes Kind einer großen Familie aufwuchs.

Ich denke, es ist aufschlussreich nachzuforschen, wo die Wurzeln der Familie liegen. Es sind die Wurzeln in der Vergangenheit, die einem die Möglichkeit geben zu erkennen, wo Stärken und Schwächen, die wir in uns tragen, entstanden sind. Denn wir nehmen oft die Strukturen unserer Ahnen an, ohne zu erkennen, dass diese nicht mit unserer wahren Identität übereinstimmen. Wir meinen, dass wir so oder anders sind, doch ist es oft eine Maske oder ein Verhalten, das wir von unseren Vorfahren unbewusst übernommen haben.

Durch intensive Betrachtung des Stammbaumes von Leahcim ist es mir gelungen, Parallelen in den Lebenslinien von ihm, seinen Eltern und seinen Großeltern zu entdecken.

Sein Opa wollte sein Leben lang Musiker werden, doch der Krieg hatte einen anderen Weg für ihn bestimmt. Da sein Vater während des Krieges starb, musste sein Opa, für seine Mutter und seinen jüngeren Bruder sorgen. Dadurch konnte er sein begonnenes Studium nicht beenden. Nach dem Krieg machte er eine handwerkliche Ausbildung, um Geld zu verdienen, aber nicht um glücklich zu leben.

Als er Leahcims Oma während des Krieges kennenlernte und danach gleich heiratete, war er bereits 36 Jahre und Leahcims Oma 32 Jahre.

Sie kam aus einer sehr behüteten Familie, ihr Vater war Lehrer in zweiter Generation und hatte eine Dorfschule in Pommern geleitet, musste aber wegen des Krieges flüchten und orientierte sich in einem westlich gelegenen Bundesland.

Leahcims Urgroßmutter stammte aus einer feinen wohlhabenden Familie in Pommern und war sehr graziös. Diese Eigenschaft hatte sich die alte Dame bis zum Tode bewahrt, denn sie trug ständig weiße Handschuhe und einen sehr eleganten Hut.

Dadurch brauchte Leahcims Oma, von ihren Eltern unterrichtet, keine Ausbildung oder Studium anstreben, damals war es nicht erforderlich, dass Frauen aus wohlhabendem Hause einen Beruf erlernten.

Zwei Jahre später gebar Leahcims Oma das erste von vier Kindern. Das zweite Kind war ein Junge, dieser wurde leider nicht einmal ein Jahr alt. Der Schmerz und die Trauer für Leahcims Opa war so tief, dass er seine älteste Tochter, die Leahcims Mutter war, anstelle seines geliebten Sohnes hergegeben hätte.

Oft äußerte er gegenüber seiner Tochter seine Ansicht, und bestrafte sie somit, dass ihr Bruder verstorben sei. Seine Tochter war selbst erst vier Jahre alt. Durch diese vermeintliche Schuld, die das kleine Kind auf sich geladen hatte, war eine normale Entwicklung ohne therapeutische Hilfe unmöglich. Zwei weitere Töchter folgten noch – ein weiterer Sohn blieb aus.

Leahcims Mutter erzählte, dass sie nächtelang für ihren Vater Musiknoten schreiben musste, denn seine Passion für die Blasmusik und seine Kompositionen für sie konnte er nicht lassen. Leahcims Oma kümmerte sich kaum um ihre Kinder, sie hielt sich immer bei ihrer Mutter (Urgroßmutter von Leahcim) auf. Oft gab es eine Woche lang nur Eintopf zu essen. Schläge für ordentliche Erziehung waren an der Tagesordnung.

Leahcims Opa starb an den Folgen von Magenkrebs im Alter von 65 Jahren. Eine Aussöhnung mit seinen Kindern hat es nicht gegeben. Leahcims Oma hatte die vielen hunderte Kompositionen, die ihr Mann geschrieben hatte, später dem Altpapierhändler überlassen.

Es war eine künstlerische Schöpfung, die durch Unwissenheit und Gleichgültigkeit aus dem kreativen Topf der Menschheit vernichtet wurde.

Kein Wunder, dass Leahcims Mutter so schnell wie möglich aus ihrem sogenannten Elternhaus fliehen wollte. Mit 16 Jahren lernte sie einen sehr charmanten 20jährigen Mann kennen. Dieser versprach ihr eine heile Welt, behütet, aufgehoben und abgeschnitten von den Wirbelstürmen der Welt da draußen.

Leahcims Mutter war verliebt und suchte ein Fluchtweg, denn es konnte für sie nichts Schlimmeres geben, als das sie schon erlebt hatte. Wenige Monate später heiratete sie Leahcims Vater, doch diese Partnerschaft wurde durch Frustration und Verbitterung schwarz eingefärbt.

Leahcims Vater kam aus einer sehr großen Familie mit zehn Geschwistern. Er war das fünfte Kind und hatte dieselben Eigenschaften wie sein Vater: Er erzählte Dinge, die nicht wahr waren mit einer Überzeugung, die ihm kurzweilig Glauben verschaffte. Er betrog sich und andere, aber viel schlimmer war die Tatsache, dass er die Menschen, mit denen er zusammen war und die ihm vertrauten, verletzte. Einmal schrieb er ein Brief an Leahcims Mutter, dass er seinen Doktor nachgemacht hätte und in einem großen Unternehmen jetzt Vorstand sei. Leahcims Vater hatte einen Hauptschulabschluss, mehr nicht, wie konnte er so dumm sein und solche unrealistischen Dinge behaupten und dann auch noch überzeugt sein, dass andere ihm glauben würden?

Ich weiß nicht, wie viel Leid Leahcims Vater in seiner Kindheit erleben musste und warum er das Muster von seinem Vater übernommen hatte.

Leahcims Mutter ging nachts oft auf die nahegelegenen Kartoffelfelder, um Kartoffeln zu klauen, damit die Familie etwas zu essen hatte, denn Leahcims Vater war auf Reise.

Beide Elternteile waren noch zu unreif, beide kamen sie aus einer zerrütteten Familie, beide hatten sie keine Ziele, beide wollten sie flüchten. Beiden ist es gelungen. Sie hatten auf Traumschlössern ihr Leben gestalten wollen und sind in einer Blechhütte gelandet. Sie wollten beidseitig Selbstwert aufbauen und haben kein Werkzeug gefunden. Sie waren noch unreife Früchte und brauchten Zeit, die sie sich nicht gaben. Sie wollten gemeinsam Liebe spüren und vergaßen, die Seele mit einzubeziehen.

Jeder Mensch hat seine Last zu tragen, wie Leahcims Eltern auch.

Leahcim war noch sehr klein, ein Säugling ohne eine ausgebildete Stimme, der noch nicht sprechen konnte, dennoch hatte er einen Zugang zu seinem Stein. Er konnte zu dieser Zeit mit ihm reden ohne jemals eine Sprache gelernt zu haben.

Er sprach ohne ein Wort und dennoch verstand er alles, was der Stein sagte.

„Leahcim, möchtest du etwas über das Tragen der Lasten unserer Menschheit erfahren?“, vernahm er in sich den Stein.

Oh ja, denn Leahcim wusste, dass er durch solche Gelegenheiten seinem Stein ein Stückchen näherkam. Seine Aufgabe bestand ja darin, seinen Stein und dessen Eigenschaften zu erkennen, von Geburt an.

„Also, du möchtest erfahren, wie das mit unserer Last ist, die wir tagtäglich mit uns herumtragen?“ Neugierig sprach Leahcim: „Klar möchte ich das.“

„Na gut, dann erzähle ich dir mal die Geschichte von der Last.“

1 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Rebirthing

‐ Die Last

Es waren einmal viele Menschen wütend über ihre Last, die sie im Leben tragen mussten. Da erschien ein Engel und sagte: Ihr habt alle große schwere Lasten zu tragen und ihr beneidet die anderen, die nicht so viel tragen müssen. Heute Nacht dürft ihr eure „Rucksäcke der Last“ ablegen und im Morgengrauen dürft ihr euch einen Rucksack der anderen aussuchen.

Alle freuten sich und malten sich das schönste, unbeschwerte Leben aus. Doch der Engel staunte, als er im Morgen grauen die Menschen besuchte. Keiner der Anwesenden hatte seinen Rucksack getauscht. Voller Überraschung flog er, so schnell er konnte, zu Gott, fragte ihn:

„Wie ist das möglich, dass die Menschen kein Interesse hatten die eigene Last mit der Last eines anderen zu tauschen?“ Und Gott sagte: „Der Rucksack gehört zum Leben und wurde von dieser Person gewählt. Wenn sie den Rucksack getauscht hätten, wüssten sie nicht, was ihr Leben ist, da der Mensch im Unterbewussten genau weiß, was seine Last ist. Eine andere unbekannte Last würde ihm nur Angst machen.“

Leahcim vernahm die Worte und prägte sie in seinen Nervenbahnen fest ein, dann verabschiedete sich der Stein wieder tonlos.

Ich vermute, dass Leahcim seinen Rucksack auch behalten hätte, denn die Last und das Leid, die unmittelbar miteinander verknüpft sind, gehören zur großen Erfahrungswelt des Menschen. Außerdem hatte er einen Stein bekommen, den er leider noch nicht sah, aber der wenigstens mit ihm tonlos kommunizierte.

Nach diesem Ereignis entstand bei ihm das Gefühl, dem Stein näher zu sein. Er erkannte, dass sein Leben nun mal aus „Erfahrungen sammeln“ und „daraus lernen“, bestand.

Seine Großeltern väterlicherseits waren faktisch nicht anwesend, Leahcim kannte überhaupt niemanden aus dieser Ahnenreihe, denn sein Vater hatte die Verbindung nicht aufrecht gehalten. Zudem waren all die Onkel, Tanten und seine Oma väterlicherseits, für einige Jahre nach Amerika ausgewandert.

Leahcim besaß zwar eine große Familie väterlicherseits, aber keine der Tanten und Onkel kannte er. Von seiner Mutter hörte er nur immer, dass seine Oma ein herzensguter Mensch gewesen war und die Belastung mit 10 Kindern und einem Mann, ähnlich wie sein Vater, relativ gut bewerkstelligt hatte.

Wieder erschien Leahcim eine Vision, seinen Stein mit Hilfe der Ahnen zu suchen. Er wusste nicht, wie er den Weg über die Ahnen gehen sollte, doch spürte er innerlich, dass irgendwann in seinem Leben diese Auseinandersetzung mit ihnen kommen würde. Seine für mich bedeutendste Ahnin war seine Mutter. Sie war 21 Jahre alt, als sie Leahcim, das vierte Kind, gebar.

Eine Unterstützung durch seinen Vater konnte sie nicht erwarten, denn er reiste in ganz Deutschland herum und kam zur Geburt nur kurz vorbei. Sie war alleine und ohne jede Hilfe und musste in diesem frühen Alter lernen, sich voll und ganz zurückzunehmen, um für die Kinder da zu sein. Als sie das fünfte und letzte Kind gebar, war Leahcim nicht einmal zwei Jahre alt. Fünf Kinder ohne Vater und kein Geld: ein Zustand, aus dem Leahcim auch für sein späteres Leben viel lernen konnte.

In der neuen Wohnung, die mehr eine Behausung als Wohnung war, hing an der Treppenwand folgender Text:

Kinder verlangen nach Nahrung, die den Körper

wachsen lässt.

Kinder verlangen nach Wissen, damit sich der Verstand

entwickelt.

Kinder verlangen nach Liebe, damit die Seele ihr

Zuhause erkennt.

Ich glaube, Leahcim hätte gerne das „Verlangen“ leben wollen, doch hatte das Schicksal es anders mit ihm gemeint.

Wie sollte eine Mutter, gerade einmal 21 Jahre alt, diese Aufgabe und das Verlangen der Kinder alleine tragen können?

Zwei Jahre später bekam Leahcim eine kleine Schwester, die Gabriele hieß. Das süße kleine Wesen hatte ihn nach nur vier Monaten, durch einen irreparablen Herzfehler, wieder verlassen.

Er war noch zu klein, um zu verstehen, doch fühlte er den ganzen Schmerz, den seine geliebte Mutter in sich trug. Stundenlang streichelte Leahcim ihren Arm und wich keinen Schritt von ihrer Seite. Er fragte sie, durch seine Augen: „Mutter, wo ist Gabriele?“ Und sie erzählte ihm, mit ihrem traurigen Blick, und belegter Stimme:

„Gabriele wurde von den Engeln im Himmel abgeholt, schau“, und sie zeigte mit ihrer zittrigen Hand in Richtung des weit geöffneten Wohnzimmerfensters. „Aus diesem Fenster ist sie mit den Engeln hinausgeflogen und kommt nicht mehr zurück.“

Leahcim war betrübt, denn er wollte seine kleine Schwester zurückhaben, nicht nur, weil er sie vermisste, sondern auch, weil seine Mutter so traurig war.

„Mama, ich spring aus dem Fenster und flieg auch zu den Engeln, damit Gabriele wieder bei uns ist“, sprach Leahcim ohne Worte. Da wurde seine Mutter noch bedrückter und weinte so heftig, wie er es nie mehr im Leben bei ihr erlebte. Er fühlte sich schuldig, weil seine Mutter wegen dem, was er wortlos gesagt hatte, noch mehr weinen musste. Nach einer gefühlten Unendlichkeit richtete sich seine Mutter auf und schloss das Fenster. Sie sagte: „Spring bitte nie aus dem Fenster!“ Er sah ihr in die tränennassen Augen, und wusste, dass er das niemals tun würde.

Hier kündigte sich das erste Mal der Tod und die Traurigkeit und zum zweiten Mal das „Verlassen sein“ an. Leahcims innigster Wunsch, im Kleinkindesalter heraufbeschworen, war, niemals alleine zu sterben. Durch die Betrachtung seiner Mutter und ihres Lebens mit ihren Kindern formte sich eine weitere Annäherung zu seinem Stein, den er leider noch immer nicht sah, aber er spürte ihn, doch konnte er nicht sagen, wo er sich befand.

Früh in seiner Kindheit, weitere Jahre nach dem Tod von Gabriele, erlebte er in einer tiefen Trance, die er oft als Kind hatte, Antwort auf folgende Frage:

„Sterben wir allein?“ Es war zwar nicht genau die Frage, sondern „Wo gehen wir hin?“, aber diese Frage ist unmittelbar mit der Frage gekoppelt: „Gibt es nach dem Tod noch etwas anderes?“, denn, wenn er diese Frage stellt, bekommt er auch die Antwort auf die Frage: „Sterben wir allein?“.

Es ist unglaublich, dass ein Kind unter 4 Jahren solche Fragen sich stellt, aber die Seele kennt kein Alter und möchte Antworten auf die Fragen, die im Innersten brennen, egal in welchem Alter.

Leahcim saß gedankenverloren in seinem Kinderzimmer und befand sich in einem Zustand von – halb schlafen und doch wach sein –. In diesem Moment lief er frei von Gedanken auf einem wunderschönen Waldweg. Der Tag war erst frisch angebrochen und draußen war es trotz der frühen Stunde mollig warm. Ein herrlicher Tag, um Bäume auszureißen. Er war so freudig und energiegeladen, dass er jeden Baum, der einen bestimmten Umfang hatte, umarmen wollte.

Immer wieder stellte er sich die folgende Frage:

„Kennst du solche Tage, die nur in Glück und Freude eingetaucht sind? Tage, die das Leben so sehen, wie es wirklich ist?“

Als Leahcim den wahrscheinlich zwanzigsten Baum umarmte, durchzuckte ihn etwas, das er bisher so noch nie gespürt hatte. Komischerweise dachte er ans Sterben, obwohl er ein glückliches Gefühl in sich spürte. Keine Schwermut oder Traurigkeit, und auf einmal kam ihm der Gedanke vom Tod in Sinn. Es wurde schwarz um Leahcim und er hatte das Gefühl, er sei in einer anderen Welt.

„Du willst wissen, wo du hingehst?“, fragte ihn eine Stimme, die irgendwie von überall herkam. Leahcim erschrak und presste seine Augen ganz fest zusammen, um aus dieser Situation nicht herausgeschleudert zu werden. Er wollte diese Chance, dass seine Frage beantwortet wird, auf jeden Fall wahrnehmen.

Mit geöffneten Augen wäre ihm dies nicht möglich gewesen. Mit mutiger Stimme sagte Leahcim: „Ja – Ja, ich will“, denn er wusste, ich bin bereit, egal was kommt, der Zeitpunkt für diese Wahrheit ist jetzt.

So wie die Stimme überall zu hören war, so floss auch aus dem Nichts eine Farbenansammlung in allen erdenklichen Nuancen im Raum. Soweit das innere Auge reicht, kamen bunte Farbtücher, die wie Schlangen aussahen, zu ihm geflogen. Auf einmal wickelten sich diese Tücher rechts und links um seine Arme und Beine, und trugen ihn schwebend nach oben.

In ferner Weite sah er ein helles, weißes Licht. Dort angekommen, wurde er von Gabriele mit einem zutiefst berührenden Blick in ihren ausgebreiteten Armen empfangen. Doch es war nicht nur Gabriele dort, es waren auch unglaublich viele für ihn fremde Menschen, die Leahcim herzlich begrüßten.

Das Gefühl, nicht alleine zu sein, wenn man geht, und zu wissen, dass es einen Ort des „Treffens“ gibt, machte Leahcim sehr glücklich. Gabriele sagte zum Abschied zu ihm: „Achte auf deinen Stein, er wird dir bald begegnen.“

Leahcim öffnete die Augen und wusste nach diesem Erlebnis, wohin seine Reise am Ende des Lebens gehen würde. Die Angst, im Sterben alleine zu sein, bekam Flügel und flog den Himmel hinauf, bis nur noch ein kleiner Punkt zu sehen war. Da hatte er die Gewissheit, dass er niemals alleine ist, oder jemals alleine war, und er hatte wieder einen Hinweis bekommen, seinen Stein zu suchen, indem er aufmerksam mit dem Blick auf das Wesentliche durchs Leben gehen solle.

Durch den Tod seiner Schwester wuchs in den Jahren danach eine große Eigenschaft in ihm heran, die er erst viele Jahre später erkannte:

Leider hat Leahcim dabei nicht gemerkt, dass er die Fähigkeit Emotionen, Gedanken, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale eines anderen Menschen oder eines Tieres unglaublich gut einzuschätzen hatte, aber seine eigenen Gefühle unter Verschluss hielt. Dieser Zustand sollte ihm, im weiteren Verlauf seines Lebens, Nachteile bringen.

Durch die Suche seines Steins im Außen, vergaß er eine andere Blickrichtung einzunehmen, denn er konzentrierte sich zu sehr nach außen und übersah das Innere.

Doch eine äußerst wertvolle Hilfe, seinem Stein ein weiteres Stück näher im Innern zu kommen, stellte die Tragödie mit seinem sechs Jahre alten Bruder dar. Beide, Leahcim war gerade viereinhalb Jahre alt, waren auf einem Schotterweg Richtung Müllhalde gelaufen, die Sonne meinte es gut mit ihnen und wärmte beider Haut. Sie waren bereit, Abenteuer und Neugierde auszuleben.

Am Müllplatz angekommen, suchten sie nach Schätzen, die sie in eine materiell bessere Welt bringen sollte. Beide durchstöberten mit dem Stock unterschiedliche Hügel, um etwas Brauchbares zu finden. Leider hatten sie überhaupt kein Glück und waren enttäuscht, nichts gefunden zu haben, sie sahen sich an und wollten gerade gehen, als sie einen sehr interessanten Hügel entdeckten, der qualmte. Ohne ein Wort rannten beide zur dampfenden Stelle. Leahcims großer Bruder, der schneller lief, machte einen riesengroßen Sprung direkt auf den Hügel.

Doch was dann geschah, ließ Leahcim auf der Stelle erstarren. Er sah seinen Bruder „brennen“, seine Schuhe fingen Feuer und brannten lichterloh. Kein Wort, kein Weinen, kein Schreien nur Stille durchzog den Ort. Doch dann bewegte er sich, wie in Zeitlupe kam er zu Leahcim gelaufen. Leahcim schrie „zieh die Schuhe aus“, aber er hörte nichts. Sein Bruder musste handeln und riss ihm einfach die Schuhe vom Fuß. Wie durch ein Wunder konnte sein Bruder, trotz der extremen Verbrennungen, den Weg zurücklaufen. An einer Stelle des Weges befand sich eine Wasserpfütze, dort drängte Leahcim ihn dazu, seine glühenden Füße einzutauchen.

Zu Hause angekommen wurde sein Bruder ins Krankenhaus gefahren. Die Ärzte wollten ihm seine beiden Füße amputieren, seine Mutter ließ es nicht zu. Die Ärzte sagten: „Er wird sterben, wenn wir nicht amputieren“. Seine Mutter aber sagte: „Lieber sterben als ohne Beine auf dieser Welt zu leben.“

Es war schwer für die Mutter, sich zu entscheiden, ob das Kind leben oder sterben sollte.

Ich glaube, dass wir keine Berechtigung haben zu entscheiden, ob jemand gehen darf oder nicht. Aber wie ist es mit einem kleinen Jungen, der durch verlorene Füße keine Integration in unserer Gesellschaft erfahren kann? Wie fühlt sich die Mutter bei dieser schwerwiegenden Entscheidung? „Füße ab oder das Kind stirbt?“ Wer sagt, dass die Ärzte immer recht haben? Mit ihrer Annahme, dass das Kind sterben würde, wenn die Füße dranbleiben, haben sie da recht? Können wir überhaupt diese Entscheidung über unseren Verstand lösen? Ist es nicht besser, die Entscheidung über unser Herz zu fällen? Doch, wie finden wir den Zugang über unser Herz, wenn der Stress, eine richtige Entscheidung zu finden, so enorm groß ist?

Drei Tage lag sein Bruder auf der Intensivstation, drei Tage, die jeder von ihnen als Hölle empfand. Am vierten Tag erholte er sich und die Ärzte nahmen aufwendige Hauttransplantationen vor. Es wurden Hautpartien von den Oberschenkeln zu den Füßen übertragen. Beide Beine und Füße waren mit hässlichen, großen, vertikalen Narben, die teilweise 8 cm breit und 25 cm lang sind, überzogen. Sie sind so sichtbar hässlich, dass sich sein Bruder bis zum erwachsenen Alter nur bedeckt zeigen wollte, keine kurzen Hosen trug und auch kein Schwimmen im Freibad oder See unternehmen wollte.

Wie ist es möglich, in diesem Alter, unschuldig und rein, vom Schicksal solche Narben zu bekommen? Durch ein solches Ereignis verschiebt sich der Lebensweg in eine andere Richtung. Wie stark muss ein Mensch sein, um mit dieser Wunde zu überleben?

Wenn Wunden sichtbar werden, verstößt uns die Gesellschaft.

Es sind nicht die körperlichen Schmerzen, die uns langfristig schwächen, es sind die emotionalen Schmerzen, die uns beugen oder gar zerbrechen lassen.

Trotz der Dramatik mussten beide viele Jahre später lachen, denn die Transplantation von Oberschenkelhaut zum Fuß hatte die Eigenschaft, dass unter seinen Füßen Haare wuchsen und das sah wirklich lustig aus. Sein Bruder hat dieses Ereignis als seines angenommen und stellt sich nicht mehr die Frage: Warum? Sondern WOZU?

Sein Bruder nahm die Lebenskrise auch als Chance an, in ihr zu wachsen. Mit der Frage „Warum?“ begab er sich in Selbstmitleid, bei der Frage „Wozu?“ war sein Bruder bereit, die Essenz aus der Tragik zu erfragen und womöglich zu erkennen, um sich dann zu heilen.

„Leahcim“, hörte er seinen Stein flüstern: „Glaube mir, ich weiß, dass dies sich manchmal anhört, wie theoretisches Geschwätz, aber wenn du bereit bist, mit ehrlicher Absicht dein Herz zu öffnen, wirst du erkennen, dass im reinen Herzen die Wahrheit liegt.“

Durch diese Tragödie und ihrer tiefen Erkenntnis, Entscheidungen im richtigen Moment zu treffen, hörte und spürte Leahcim das erste Mal seinen Stein im Körper. Nun hatte er die Gewissheit, dass es tatsächlich einen Stein gab. Er wusste zwar noch nicht, wie er aussah oder wo genau er sich im Körper befand, aber Leahcim spürte ihn und das machte ihn ein wenig zufriedener. Leahcim gab seinem Körper durch diese Tragödie eine Möglichkeit, seinen angesammelten Schmerz teilweise loszulassen. Denn wenige Monate später bekam Leahcim eine schwere Krankheit, er hatte eine Hirnhautentzündung und musste viele Wochen stationär im Krankenhaus untergebracht werden. Diese Krankheit ist eine Entzündung der bindegewebigen Hüllen, die das Gehirn umgeben. Gerade Kinder und Menschen mit einer geschwächten Abwehrreaktion, die Leahcim ohne Zweifel durch den Vorfall besaß, sind besonders gefährdet.

Die Problematik war, dass er an einer Hirnhautentzündung sterben konnte. Er war sehr geschwächt und hatte extreme Kopfschmerzen, so dass Leahcim kein Licht oder irgendein Geräusch ertragen konnte. Des Öfteren bekam er am Morgen eine riesige lange Spritze an seine Wirbel gesetzt, dort wurde ihm Rückenmarksflüssigkeit abgenommen, als Nachweis der Infektion und des Erregers in der Gehirnflüssigkeit.

Leahcim lag wieder über Weihnachten im Krankenhaus, für ein Kind in diesem Alter, das noch an den Weihnachtmann glaubt, war diese Situation unerträglich. Eine Krankheit kann dazu dienen, die seelische Belastung zu minimieren oder gar aufzulösen.

Sein Kopf schien zu explodieren und er begann, im Delirium von einer Explosion und brennenden Häusern zu träumen.

Ich denke, dass Leahcim die Aufbereitung seiner zuvor erlebten Schicksale durch Träume therapierte, soweit es ihm möglich war. Denn Träume waren und sind in seinem Leben immer eine Möglichkeit gewesen, Erlebtes zu verarbeiten, um danach gestärkt aus dem Drama hervorzugehen, außerdem gaben sie ihm die dringenden Informationen, die er brauchte, um seinen Stein zu finden. Und tatsächlich, im Laufe seines Lebens sah er immer klarer, und Leahcim erkannte, dass der Stein einen viel größeren Schatz verbarg, einen Schatz, den man mit Worten nicht beschreiben kann.

Traumgeschichte ‐ Vulkanausbruch

Ein Berg sprengte seine Spitze davon und ein Asche- und Lavaregen prallte auf die Erde nieder. Die dort lebenden Einwohner blickten mit Tränen in den Augen in eine nicht mehr zukunftssichere Welt. Viele Stunden danach hörte man noch die Menschen fragen:

„Oh – Gott, was hast du getan?“ Sie sahen Haus und Hof brennen. Andere wiederum blieben apathisch auf einem Fleck stehen und spürten nicht einmal, wie Gesteinsbrocken aus Lava dicht über ihre Häupter hinwegflogen. Oder, es war ihnen egal, weil das Leid keinen Raum für Leben zuließ.

„Die Welt ist grausam!“, betete ein sehr alter Herr mit einem langen weißen Bart und zittrigen Händen. „Warum hast Du all das Leid und Verderben über uns gebracht? Waren wir Dir nicht immer gute und hilfsbereite Diener? Gingen wir nicht immer sonntags in die Kirche? Hatten wir unsere Kinder nicht anständig zum religiösen Glauben erzogen? Oh, Du da oben, der Du immer Friede und Gerechtigkeit predigst, von Treue, Freundschaft mit Tier und Natur und auch von Liebe, haben wir Dir nicht alles gegeben, was Du wolltest? Wir sind keine Götter, wir sind nur zerbrechliche Menschen und haben den einen oder anderen Fehler gemacht. Aber deswegen gleich einen ganzen Berg explodieren zu lassen, an dem sich hunderte Menschen angesiedelt haben?

Du sprichst von Treue, wir waren Dir treu und haben Dich geliebt und nun dieses! Mein Gott, warum?“ Und aus des Mannes Augen flossen abermals Tränen von Bitterkeit und Enttäuschung.

„Meine Frau, die ich heute an diesem grausamen Tag zu unserer goldenen Hochzeit überraschen wollte – ist tot. Sie lag schon mehrere Monate gefesselt im Bett und musste gepflegt werden, aber sie verbrennen zu sehen, vor meinen Augen, das war zu viel für mich. Was übrig bleibt, ist nur noch Asche und meine Erinnerung an gemeinsame Zeiten.“

Und aus seinen Augen flossen abermals Tränen, Tränen voller Schmerz, Tränen voller Hilflosigkeit.

Der alte Mann erhob sich von der eingestürzten Mauer, die er als Sitzplatz vorgefunden hatte und einst sein Haus gewesen war. Seine Beine waren weich, zu weich, um Halt zu geben. Er brauchte eine Weile, um in ihnen Leben und Kraft zu spüren, damit sie seinen Körper trugen. Langsam schritt er durch die stark beschädigte Straße, rechts und links Verwüstung. Die Einwohner, die von den Lavamassen verschont geblieben waren, konnten selbstständig, ohne dass sie von weiteren gefährlichen Trümmern zu Tode geschlagen wurden, fliehen.

Gerade als der Mann in einem bunkerähnlichen Gebäude Schutz suchen wollte, sah er ein Kind, nein, es war kleiner, es war ein Säugling, vielleicht erst drei Monate alt. Langsam und mit tiefem Atem beugte er sich zum Säugling und streckte seine Arme aus, damit er das kleine Bündel aus den Trümmern ziehen konnte.

Ganz zart und mit offenen Augen blickte der Säugling dem alten Mann ins Gesicht. Durch diesen tiefen Blick, den nur ein Säugling in dieser unbefleckten Reinheit aufweist, strahlten die blauen alten Augen, nach kurzer Zeit, eine seltsame funkelnde Wärme aus. Der alte Mann dachte in diesem Augenblick der vollkommenen Liebe nicht mehr an sein tragisches Unglück, es schien so, als würde von dem Säugling etwas schon immer Dagewesenes ausgehen.

Die Bitterkeit, die den alten Mann zuvor mit aller Gewalt in die Fesseln genommen hatte, war wie von Zauberhand weggefegt. Was war das für ein liebliches, warmes Geschöpf, das er in den Händen trug? Ihm war auch nicht bekannt, dass er dieses Kind jemals gesehen hatte, obwohl er in diesem kleinen Seelendorf jede Geburt oder jeden Zuzug mitbekam. Wer war dieses Geschöpf? Diese Frage beschäftigte ihn immer mehr. Lange blieb der Mann, in seiner Körperhaltung stehen, ohne sich zu rühren. Er bemerkte nicht einmal, wie das schreckliche Getöse langsam zur Ruhe kam. Es wurde schon dunkel, aber die Winternacht hatte eine unerträgliche Hitze durch die ausströmende Lava. Der Mann bekam enorme Schwierigkeiten, die durch feine Staubpartikel kontaminierte Luft ohne Hustenreiz einzuatmen. Irgendwie fühlte er sich weit weg, doch durch ein sanftes Schreien kam er aus seiner Apathie zurück. „Was hast du denn?“, sprach er zum Baby. Wie ein Blitz schoss es dem Mann durch den Kopf – natürlich, du hast Hunger und Durst, aber woher soll ich dir etwas holen, es ist doch alles vernichtet?

Er ging die Straßen entlang mit dem Baby im Arm, dicht an seine Brust gepresst, damit es nicht von irgendwelchen äußeren Einflüssen zu Schaden kam. Nach ein paar Metern entdeckte der Mann ein dunkles, flackerndes Licht in einem fast unbeschädigten Haus. Wie bei so vielen anderen Häusern stand auch dieses mit einem aufwendig gestalteten Vorgarten inmitten der Ortschaft. Die Blumen und Sträucher in diesem Vorgarten hatten keinerlei Schaden davongetragen, es schien so, als hätte eine große Käseglocke dieses Haus verschont. Er ging geradewegs auf das Haus zu, ohne sich zu überzeugen, ob die Türklinke heiß war oder nicht, griff nach dieser und öffnete sie mit der noch freien Hand. Auch im Haus sah man keinerlei Zerstörung, sogar der CD-Player gab wunderbare Klänge von sich. Es war sehr warm im Wohnzimmer, der alte Mann ließ sich geschwächt mit dem Baby im Arm in einen riesengroßen Ohrensessel fallen. Mittlerweile hatte auch das Baby aufgehört zu weinen. Der alte Mann nutzte die Zeit, um eine Weile einfach nur zu sein. Nach wenigen Minuten stand er auf und ging in die nahegelegene Küche. „Was für ein Glück“, dachte er sich, als er noch etwas zu essen im Kühlschrank fand. Neben der Spüle, in der dreckiges Geschirr gestapelt war, strich er für sich mit unruhigen Händen ein mit Käse belegtes Brot. Er spürte jedoch keinen Hunger, er wusste auch nicht, warum er sich das Brot gestrichen hatte. Vielleicht war es auch nur eine momentane Geistesabwesenheit, die ihn dazu trieb.

Kaum dachte er an seinen Schmerz, spürte er die Versteinerung in seinem Körper wieder und sie überfiel ihn so intensiv, dass er nicht atmen konnte. Da auf einmal sprach das Baby zu ihm:

„Ich bin dein Schutz, sieh mich an. Deine Schmerzen über diesen großen Verlust wirst du nicht auf einmal verlieren, du benötigst Zeit. Ich bin der Schutz, der dir hilft, das Leid von einer anderen Richtung aus zu betrachten. Deine Frau, mit der du ein ganzes Leben lang zusammen warst, wurde dir heute genommen. Sie ist an deiner Stelle gegangen. Wäre es dir lieber, dass du gegangen wärest?

„Nein“, antwortete der Mann. „Meine Frau war gebunden ans Bett, sie musste gepflegt werden und sie hätte den Schmerz des Verlustes nicht ertragen, das wäre furchtbar für sie gewesen.“

Das Baby schaute liebevoll in die Augen des Mannes. Auf einmal verstand der Mann, er wusste, dass er dieses Leid leichter tragen konnte als seine geliebte Frau. Der Schmerz war zwar noch da, aber er wusste nun, wozu er das Leid auf sich nahm. Und er war froh, dass seine Frau vor ihm gestorben war, ihm wurde auch klar, dass in diesem hohen Alter eh einer von ihnen beiden irgendwann demnächst gegangen wäre. Und nun erkannte er auch das Baby, es war sein inneres Kind, das ihn aus seinem zerstörten Haus wegzog, um den Schmerz erträglicher zu machen.

Es führte ihn in ein anderes sicheres Haus und gab ihm etwas zu essen.

Leahcim wachte auf, schaute sich in seinem Krankenzimmer um und entdeckte an der Wand hängend einen Engel aus Holz. Er fühlte sich in diesem Moment geborgen und hatte die Gewissheit, dass er irgendetwas in sich trägt, das ihn schützt, ja, vielleicht war es sein eigenes inneres Kind.

Leahcim brauchte nur einen Zugang, damit er sich von innen her betrachten konnte. Aber wo findet man den Zugang zu sich selbst? Es gibt ja keine Straße mit Namen, die den Zugang zeigt. Diese Art von Zugang war für Leahcim noch ein unbekannter Weg.

Es war ein Weg, der erst einmal Ruhe benötigte und zwar Ruhe in sich selbst. Damit die Feinheiten, die Körper und Geist senden, wahrgenommen werden können.

Sobald Leahcim etwas Feines, ja schon fast Filigranes wahrgenommen hatte, war es für ihn entscheidend, dieses Wahrgenommene innen zu verfolgen, um eine Erkenntnis zu bekommen.

Leahcim hatte begriffen, dass der Stein nur durch Inneneinsicht gefunden werden kann. Er wusste nun, es gibt jemanden oder etwas, mit dem man reden kann. Dies probierte er gleich aus.

Leahcim fragte sein Innerstes, wo sein Stein sei, er erwartete eine Antwort und war enttäuscht, nichts zu hören. Irgendwie hatte er noch nicht den Schlüssel zur Kommunikation gefunden. Er war so nahe dran und es schmerzte ihn, keinen Erfolg zu haben, doch er tröstete sich mit der Gewissheit, dass das Leben mehrere Chancen bot und er glaubte fest daran, eine dieser weiteren Chancen wahrzunehmen. Durch sein bewegtes Leben machte sich tatsächlich eine zweite Tür der Erkenntnis auf.

Nach dem Krankenhausaufenthalt und einige Zeit später, Leahcim war bereits fünf Jahre alt, wurde er mit seinen Geschwistern in ein Kinderheim gebracht. Aufgrund der Tatsache, dass seine kinderreiche Familie kein Geld hatte und das Jugendamt der Mutter drohte: „in kriminellen Sozialbauten wohnen zu müssen“, hatte seine Mutter beschlossen, alle ihre Kinder in einem Kinderheim unterzubringen.

Ihre berechtigte Angst, die Kinder in Sozialbauten mit diesem Umfeld von Kriminalität „nicht straffrei aufwachsen zu sehen“, konnte Leahcim verstehen, aber emotional grausam war es doch. Er fragte sich damals und heute noch: Wie hätte er gehandelt? Sollte er seine Mutter verurteilen für die Entscheidung, die eigenen Kinder ins Heim zu bringen? Blieb ihr denn etwas anderes übrig? Seine Mutter hatte keine Ausbildung und somit keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Zudem war es verpönt, alleinerziehend und mit vier Kindern in Deutschland zu leben.

Sie hatte niemanden, denn auch ihre Eltern und die Schwiegereltern waren nicht da, um eine unterstützende Hilfe zu sein. Andere Menschen in dieser Situation verzweifeln manchmal so sehr, dass sie sich für den Freitod entscheiden. Seine Mutter entschied sich für die Kinder und wollte nur das Beste, jedenfalls was für sie möglich war. Sie entschied sich aus vollem Herzen und Leahcim wusste, dass sie durch diese Entscheidung viel Schuld auf ihre Schultern geladen hat. Leahcim verzeihte später als Erwachsener seiner Mutter voll und ganz und wünschte ihr, dass auch sie sich selbst verzeiht, denn wer gibt uns das Recht, einen anderen Menschen zu verurteilen? Doch noch viel schlimmer ist es, einen Menschen zu verurteilen, ohne die Situation zu kennen.

Leahcim machte sich auf die Reise, ohne es zu wollen. Ein Heim für Kinder, eingesperrt und ausgeliefert, er ging ins Ungewisse.

Bis zu dieser Zeit war er ein sehr neugieriger Junge, ständig fragte Leahcim seiner Mutter Löcher in den Bauch, er wollte alles wissen. Nach seiner Krankheit und der Reise ins Heim stellte er keine Fragen mehr. Es war so, als ob die Gehirnhautentzündung seine „Region der Neugierde“ im Gehirn vernichtet hätte und seine Abschiebung ins Heim ihn stumm werden ließ.

Das erste Kinderheim, in dem die Kinder wohnten, hatte keine Trennung von den Geschwistern verlangt, sie durften beieinanderbleiben. Leahcim stellte fest, dass das Haus relativ klein war und die Räume schmutzig und verwohnt waren. Sie wohnten in einem heruntergekommenen alten Gebäude, abgelegen vom Dorf.

Nur wenige Tage nach dem Einzug ins Heim, haben Leahcim und die Mitbewohner mit den Pflegern Blaubeeren gesammelt. Denn der Wald mit den herrlichen Früchten war ganz nah. Der Wald und die Bäume gaben Leahcim damals schon Kraft, um in dieser abenteuerlichen Welt bestehen zu können.

(Die Blaubeeren in diesem Wald gibt es zwischenzeitlich nicht mehr, denn der Mensch hatte Größeres vor und machte Platz für Betonbauten. Wenn der Mensch die Gabe hätte, sich in jedes Lebewesen und in die Pflanzen zu versetzen, würde er die Natur anders behandeln.)

Es waren einige Kinder im Heim untergebracht, doch fühlte sich Leahcim einsam. Er war einsam, denn sein Vater war nicht da. Oft hat sich Leahcim gewünscht, mit seinem Vater in die Natur zu gehen oder einfach mit ihm zusammen etwas zu basteln. Er hatte großes Interesse am Leben und wollte dies seinem Vater anvertrauen, doch Leahcim konnte sich niemanden anvertrauen.

Leahcim hatte bemerkt, wenn er solche Zwiegespräche führte, war es sein Zugang zum Stein, oder bescheidener gesagt, sein Gespür zum Stein war greifbarer. Er hatte die Ahnung, etwas Großes sei in ihm, konnte es aber nicht bestimmen, woher er die Gewissheit nahm.

Es kam ihn in den Sinn: Wahrscheinlich kennen viele das Gefühl in sich, etwas zu spüren, was sehr mächtig ist, aber wir erkennen nicht, was es ist. Es ist was Unerklärbares, Unsagbares und Unglaubliches, aber sehr vertrauensvolles.

Dieses Gefühl der inneren vertrauensvollen Stärke, baute sich von Geschichte zu Geschichte, die er in seinen Träumen und in der Kommunikation mit seinem Stein vernahm, immer stärker auf. Und Leahcim bekam auch eine Ahnung, warum dies so war. Jede Geschichte, die er erfahren hatte, war mindestens mit einer Erkenntnis bestückt und diese Lehre führte Leahcim näher zum Stein.

Jetzt gerade eben, wurde Leahcim wieder von seinem Stein angehalten, eine Geschichte von ihm zu hören.

Leahcim freute sich und hörte gespannt zu, wie der Stein seine Geschichte über das Vatergespräch erzählte. „Es ist eigentlich eine Traumgeschichte, die du im Dialog mit deinem Vater führst, höre gut zu und genieße“, sagte sein Stein und fing an:

Vatergespräch

„Leahcim, bring mir mal das lange helle Brett, es liegt oberhalb der Treppe.“ „Ja, Papi, ich hole es dir gleich, nachdem ich meinen Freund angerufen habe.“ „Leahcim, ich brauche es aber sofort, denn lange kann ich den Schrank nicht mehr so halten.“ „Okay, aber anschließend gehe ich zu meinem Freund Claude. Wo sagtest Du, liegt nochmals das Brett?“ „Oberhalb der Treppe, aber beeil dich.“ „Jetzt habe ich es gesehen, da hast du es!

Sag mal Papi, wie findest du eigentlich Susi?“ „Susi ist ein wirklich nettes Mädchen mit sehr viel Herz.“ „Papi, was heißt eigentlich „sehr viel Herz?“ „Sehr viel Herz hat ein Mensch, wenn er etwas Gutes denkt und tut.“ „Aber Papi, wie erkenne ich, was gut oder schlecht ist?“ „Was Gutes tun, heißt immer etwas tun, was einem anderen Menschen nicht weh tut.“ „Aber Papi, woran merke ich, dass ich einem Menschen nicht weh tue?“ „Das, mein Kind, liegt in deinem Denken, Fühlen und Handeln. Ganz tief in deinem Herz spürst du ein Gefühl, das dir sagt, was du tun sollst.“

„Oh, das kenne ich, ich fühle mich dann so fröhlich und könnte die Welt umarmen.“ „Genau das ist es!“, sprach sein Vater und schaute Leahcim sanft an.

„Warum gibt es denn eigentlich böse Menschen?“, wollte Leahcim wissen.“ „Die, mein Kind, sind von klein auf durch die Umgebung, Eltern und Freunde gelenkt und negativ geformt worden, denn in Wahrheit wird kein Mensch böse geboren. Vielleicht haben diese Menschen den leichteren und bequemeren Weg für sich selbst ausgesucht, denn es ist leichter, jemanden anzubrüllen oder mit den Fäusten zu drohen, als etwas Liebes zu sagen.

Wenn du etwas Liebes sagst, öffnest du dein Herz und bist verwundbar. Oder sie hatten keinen Zugang mehr zu sich selbst und versteinerten ihr Herz.“

„Papi, heißt das, dass die Eltern schuld an dem Guten und Schlechten vom Kind haben?“ „Nein, jeder ist auf die Welt gekommen, um seinen eigenen ausgewählten Weg zu gehen. Und jeder Mensch hat schwere und leichte Etappen in seinem Leben zu meistern, doch oft sind die Menschen zu bequem und nehmen den leichteren Weg zuerst. Doch wissen die Menschen nicht, dass das Leichte letztendlich zum Schweren werden kann.