Von den guten Werken - Martin Luther - E-Book

Von den guten Werken E-Book

Martin Luther

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Beschreibung

Martin Luthers Schrift "Von den guten Werken" aus dem Jahr 1520 stellt die erste evangelische Ethik überhaupt dar. Sie trug – auf Deutsch verfasst – maßgeblich dazu bei, dass Luthers Anliegen allgemein bekannt und von engagierten Lai:innen aufgegriffen wurden. Theologisch informiert übernahmen sie als mündige Christ:innen in Kirche und Gesellschaft Verantwortung. Luther zeigt in seiner Schrift, wie eine christliche Lebensführung aus dem evangelischen Glauben heraus praktisch aussehen und gelingen kann. Für Christ:innen eine zentrale Frage – damals wie heute. Neben dem Luthertext in verständlicher Sprache erhalten Leser:innen eine praktisch-theologische Einordnung in Luthers Überlegungen und ihre Bedeutung für heute.

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Peter Zimmerling (Hg.)

Martin Luther

Von den guten Werken

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei,Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Luther-Porträt: © OpenClipart-Vectors/Pixabay; Schrift: Martin Luther, Von den gutten wercken (Augsburg, S. Otmar), 1521. Holzschnitt-Titelbordüre von Hans Weiditz.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99362-1

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Entstehung, Anlass und Eigenart der Schrift

Die erste evangelische Ethik

Gliederung der Schrift

Das 1. Gebot: der Glaube, »Werkmeister und Hauptmann« gegenüber allen anderen Werken

Radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und guten Werken | Umstürzende Neudefinition des Inhalts der guten Werke | Schöpferischer Umgang mit Leiden und Schwierigkeiten | Der Glaube als Erfüllung des Gebots | Das gute Werk als Übung des Glaubens | Der Mensch ist zugleich Sünder und Gerechter

Die guten Werke nach dem 2. Gebot: Gott loben, die eigene Ehre meiden und geistlichem Missbrauch widerstehen

Auslegung des 3. Gebots »Du sollst den Feiertag heiligen!«: Abendmahlsempfang, Predigt, Gebet, Stille und Leiden

Die vier Werke des 4. Gebots »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«

Die Werke des 5. bis 8. Gebots

Bedeutung für heute

Martin Luther: Sermon von den guten Werken

Einleitung

Was gute Werke sind: Nur die von Gott selbst gebotenen sind gut.

Vom ersten guten Werk

Vom Glauben als dem Grundwerk des Christen. | Von der Auswirkung des Glaubens im Leben. | Vom inneren Wesen des Glaubens. | Von den Stufen des Glaubens und von der Erziehung zu ihm.

Vom zweiten guten Werk

Überleitung vom ersten Gebot zu den folgenden Geboten. | Das erste Werk des zweiten Gebots ist: Gott allein in allem ehren. | Das zweite Werk des zweiten Gebots ist: Eigne Ehrung meiden. | Das dritte Werk des zweiten Gebots ist: Gottes Namen anrufen. | Das vierte Werk des zweiten Gebots ist: Gottes Namen gegen allen Missbrauch schützen.

Vom dritten Gebot

Einleitung: Das dritte Gebot im Zusammenhang der ersten »Tafel«. | Das erste Werk des dritten Gebots: Die gottesdienstliche Feier in Messe undPredigt. | Die rechte Übung des Gebets, wie sie im Glauben geschieht. | Die Bedrohung des Gebets durch den Blick auf unsre Unwürdigkeit. | Die Wichtigkeit der gottesdienstlichen Fürbitte der Gemeinde. | Die geistlichen Schäden als Hauptgegenstand der Fürbitte. | Das zweite Werk des dritten Gebots: Das Wesen des geistlichen Feierns für Gottes Werk in uns. | Die Übung im ›geistlichen Feiern‹ durch Kampf mit dem Fleisch. | Die Übung im ›geistlichen Feiern‹ durch das, was uns andere tun. | Rückblick auf die ersten drei Gebote.

Vom vierten Gebot (Das erste Gebot der zweiten Tafel Mose)

Vorbemerkung. | Das erste Werk des vierten Gebots: Die Pflichten der Kinder zur rechten Ehrung ihrer Eltern. | Die Verantwortung der Eltern für die Erziehung der Kinder. | Das zweite Werk des vierten Gebots: Die Zustände auf dem Gebiet der kirchlichen Obrigkeit. | Die Forderung einer Reformation der kirchlichen Gewalt. | Das dritte Werk des vierten Gebots: Der Anspruch der weltlichen Obrigkeit auf unsern Gehorsam. | Der Missbrauch der obrigkeitlichen Gewalt. | Die der weltlichen Obrigkeit jetzt gestellten Aufgaben. | Das vierte Werk des vierten Gebots: Die Pflicht von Gesinde und Herrschaft. | Schlusszusammenfassung.

Vom fünften Gebot

Oberteilung: Ausblick auf das fünfte und die folgenden Gebote. | Das Wesen der im fünften Gebot geforderten Sanftmut. | Die Betätigung des fünften Gebots in der Sanftmut. | Die Grenzen der im fünften Gebot geforderten Sanftmut. | Schluss: Die Kraft der Sanftmut ist der Glaube an Gottes Huld.

Vom sechsten Gebot

Das mit dem sechsten Gebot geforderte Werk der Keuschheit. | Die uns gegebenen Hilfsmittel im Kampf um die Keuschheit. | Die Voraussetzung und der Erfolg des Kampfs um die Keuschheit.

Das siebte Gebot

Das mit dem siebten Gebot geforderte Werk der Mildtätigkeit. | Die Voraussetzung der im siebten Gebot geforderten Mildtätigkeit. | Die Schwierigkeit des im siebten Gebot geforderten Werkes.

Das achte Gebot

Einleitung: Das mit dem achten Gebot geforderte Werk der Wahrheit. | Das Zeugnis für die Wahrheit in zeitlichen, irdischen Dingen. | Das Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums und des Glaubens. | Abschließender Rückblick auf die durch die Gebote geforderten Werke.

Die letzten zwei Gebote

Das Werk des neunten und zehnten Gebots ist der stete Kampf gegen fleischliches Begehren.

Vorwort

Das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 hat Martin Luther und sein Denken in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Schon vorher, am Beginn der Reformationsdekade, hatte ich den Plan gefasst, seine Spiritualität anhand ausgewählter Schriften einem größeren Leserkreis näherzubringen. 2011 erschien in erster Auflage sein berühmter Gebetskurs »Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier«. Nun folgt das zweite Büchlein, die erste reformatorische Ethik überhaupt. Es erscheint, mit einer ausführlichen Einleitung versehen, leicht lesbar in modernem Deutsch.

Ich danke meinen Hilfswissenschaftlern Kevin Hosmann und Michael Klein für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Margitta Berndt (Herrnhut) hat in bewährter Weise die Endkorrektur übernommen. Besonderer Dank gebührt auch Jana Harle für die Betreuung vonseiten des Verlags.

Leipzig, im Frühjahr Peter Zimmerling

EinleitungEntstehung, Anlass und Eigenart der Schrift

Die erste evangelische Ethik

Der 36-jährige Martin Luther hat die Schrift »Sermon von den guten Werken« im Frühjahr 1520 zwischen März und Mai geschrieben.1 Im gleichen Jahr erschien eine Reihe weiterer theologisch wichtiger Schriften von ihm, die grundlegend für die reformatorische Theologie und Kirche waren. Vielleicht am bekanntesten von den drei sog. reformatorischen Hauptschriften2 dieses Jahres ist heute die Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen«. 1520 lebte Luther noch als Mönch mit Habit im Wittenberger Augustinerkloster, wie aus der Unterschrift der Widmung der Schrift »Von den guten Werken« hervorgeht. Durch die 95 Thesen von 1517 in Deutschland und weit darüber hinaus bekannt geworden, rief er die Gegenreaktion der Kurie in Rom wach, die ihn als Ketzer verurteilen wollte. Unmittelbar auf der Bühne der Weltgeschichte, vor Kaiser und Reich, erschien er allerdings erst 1521, ein Jahr nach der Veröffentlichung seiner reformatorischen Hauptschriften, auf dem Reichstag zu Worms, wo er sich weigerte, seine neuen reformatorischen Erkenntnisse zu widerrufen. In der Folge davon wurden seine Schriften in den kommenden Jahren zum Auslöser für die Entstehung evangelischer Kirchen, die von Rom unabhängig waren.

»Von den guten Werken« gehört in die Reihe kürzerer Veröffentlichungen in deutscher Sprache, die Luther für gebildete Laien geschrieben hat. Nicht zuletzt durch seine deutschsprachigen »Broschüren« überschritt der Reformator den Raum der akademischen Theologie. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass seine theologischen Anliegen allgemein bekannt und von interessierten und engagierten Laien aufgegriffen wurden. Die allgemeinverständlichen theologischen Texte in deutscher Sprache waren Teil der praktischen Umsetzung von Luthers Entdeckung des allgemeinen Priestertums. Damit dieses keine theoretische Forderung blieb, mussten Laien theologisch geschult werden, um als mündige Christen in Kirche und Gemeinde Verantwortung übernehmen zu können. Darüber hinaus trugen die Schriften zur praktischen Durchsetzung der Reformation bei. Nachdem sich die Papstkirche Luthers Forderungen verschlossen hatte, setzte er auf die politischen Eliten, auf mündige Laien, als Träger der Reformation.3 Das zeigt sich an der Widmung der Schrift »Von den guten Werken« an Herzog Johann von Sachsen, den Bruder des regierenden Kurfürsten Friedrichs des Weisen. Der Herzog stand dem Anliegen Luthers nahe. Nachdem er 1525 selbst Kurfürst geworden war, wurde die Reformation im Kurfürstentum Sachsen sukzessive durchgesetzt.

Die Schrift »Von den guten Werken« stellt die erste evangelische Ethik überhaupt dar. Ihr inhaltlicher Anlass war der Vorwurf der kirchlichen und theologischen Gegner Luthers, dass die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott allein aus Gnaden gute Werke überflüssig mache. Wenn der Mensch ohne seine Taten nur aufgrund des Glaubens an Jesus Christus vor Gott bestehen könne, seien diese Taten ja letztlich egal und es bestünde kein Anreiz mehr zu gutem Handeln. Die Ausführungen haben das Ziel, dieses Missverständnis zu überwinden. Luther beantwortet in dem Büchlein die eminent wichtige Frage, wie eine christliche Lebensführung aus dem evangelischen Glauben heraus praktisch aussieht und gelingen kann.

Gliederung der Schrift

Als inhaltlicher Richtschnur des alltäglichen Handelns als Christ, und damit der von Gott erwarteten guten Werke, bedient Luther sich in seiner Schrift – schon neun Jahre vor seinem »Kleinen Katechismus« – der Zehn Gebote. Das Büchlein ist anhand der Zehn Gebote leicht nachvollziehbar gegliedert. Dabei lässt die Länge der einzelnen Abschnitte erkennen, wo die Schwerpunkte der Überlegungen des Reformators liegen. Im Vordergrund steht beherrschend die sog. erste Tafel des Gesetzes (1. bis 3. Gebot), in der es um die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott geht. Daran wird schon deutlich, dass die Gottesbeziehung, d. h. der Glaube, für Luther entscheidenden Einfluss für das menschliche Handeln besitzt.

Nach einer kurzen Einleitung widmet sich der Autor ca. 20 Seiten lang anhand des 1. Gebots »Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst nicht andere Götter haben neben mir« explizit dem Glauben. Er ist das erste und höchste gute Werk, der alle übrigen guten Werke erst möglich macht und ihnen den angemessenen Stellenwert verleiht. Es folgt – in etwa gleicher Länge – die Auslegung des zweiten guten Werks, Gott allein die Ehre zu geben, anhand des 2. Gebots »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen«.4 Noch länger geraten, nämlich ca. 30 Seiten, ist die Auslegung des 3. Gebots, »Du sollst den Feiertag heiligen«. Dass Luther dem Feiertagsgebot einen derart großen Platz einräumt, ist für seine Ethik auch in inhaltlicher Hinsicht bemerkenswert, da es beim Halten des Feiertags ja gerade nicht um das menschliche Handeln, sondern um dessen Unterbrechung geht.

Indem Luther fast zwei Drittel seiner Schrift dem menschlichen Handeln im Zusammenhang mit den Geboten der ersten Tafel des Dekalogs widmet, zeigt er, worin der Schwerpunkt der guten Werke eines Christen liegen soll: Entscheidend für den Christen sind die Werke, die unmittelbar mit seiner Beziehung zu Gott zu tun haben. Gleichzeitig wird damit etwas über die Orientierung der menschlichen Werke überhaupt gesagt: Es gibt für Luther kein gutes Werk, das unabhängig vom Glauben an Gott getan werden könnte!

Die verbleibenden ca. 40 Seiten der Schrift sind – wiederum sehr ungleich – auf die Gebote der zweiten Tafel verteilt, die das menschliche Miteinander zum Thema haben. Über ca. 20 Seiten geht es um die Auslegung des 4. Gebots, »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«. Das 5. Gebot, »Du sollst nicht töten«, das 6. Gebot, »Du sollst nicht ehebrechen«, das 7. Gebot, »Du sollst nicht stehlen« und das 8. Gebot, »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«, legt Luther jeweils auf ca. vier Seiten aus. Die letzten beiden Gebote, »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus«; »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist« sind Luthers Auffassung nach in sich klar und bedürfen deshalb gar keiner Auslegung.

Das 1. Gebot: der Glaube, »Werkmeister und Hauptmann« gegenüber allen anderen Werken

Radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und guten Werken

Durch die reformatorische Entdeckung Luthers, dass der Mensch sich Gottes Gnade durch Werke weder verdienen kann noch zu verdienen braucht, ändert sich die Verhältnisbestimmung von Glaube und guten Werken gegenüber der populären spätmittelalterlichen Frömmigkeit radikal: Gott hat sich in Jesus Christus dem Menschen ohne Vorbedingungen bzw. Vorleistungen gnädig zugewandt. Damit verlieren die guten Werke ihre Funktion auf dem Weg zur Erlangung des Heils. Sie werden nicht länger als Eintrittskarte in den Himmel benötigt. Wie Luther drastisch schreibt: Es wird ihnen »der Kopf abgeschlagen« (Kap. 2.). An ihre Stelle tritt der Glaube – und zwar explizit der Glaube an Jesus Christus, weil dieser es war, der nach Gottes Willen durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen dem Menschen den Weg zum Himmel nach dem Sündenfall wieder eröffnet hat. In diesem Sinne wird der Glaube zum eigentlichen, zum einzigen und vornehmsten, guten Werk. Mit den Worten Luthers: »Das erste und höchste, alleredelste gute Werk ist der Glaube an Christus« (2.).

Daraus ergibt sich automatisch die Frage nach der verbleibenden Funktion und dem neuen Stellenwert der guten Werke. Die Gegner warfen Luther vor, dass er mit seiner Lehre, dass die guten Werke im Hinblick auf die Konstitution des Gottesverhältnisses keine Rolle mehr spielten, die guten Werke als solche diskreditieren würde. Sie verstanden Luthers reformatorische Grunderkenntnis irrtümlicherweise so, dass der evangelische Glaube Menschen von den guten Werken überhaupt dispensiere. Stattdessen ist Luther der Überzeugung, dass erst der Glaube Menschen zu guten Werken befähige. In der gegnerischen Polemik ist aus der reformatorischen Freiheit zu guten Werken die Freiheit von guten Werken geworden. Demgegenüber liegt in Luthers Überzeugung, dass der Glaube an die in Jesus Christus erschienene Gnade Gottes den Menschen zum Tun der guten Werke erst freisetzt, sogar die eigentliche Pointe seiner Ethik: die guten Werke folgen dem Glauben nach. Sie fließen automatisch aus der überwältigenden Erfahrung der unverdienten, geschenkhaften Gnade Gottes: »Und wie dieses Gebot [das 1.] das allererste, höchste, beste ist, aus welchem die anderen alle fließen, in ihm gehen und nach ihm gerichtet und gemessen werden, so ist auch sein Werk (das ist der Glaube oder Zuversicht zu Gottes Huld zu aller Zeit) das allererste, höchste, beste, aus welchem alle anderen fließen, gehen, bleiben, gerichtet und gemessen werden müssen« (9.).

Umstürzende Neudefinition des Inhalts der guten Werke

Unmittelbar mit der veränderten Bedeutung der guten Werke für das Christsein ist ihre inhaltliche Neudefinition verbunden. In der spätmittelalterlichen Kirche galten die asketische Lebensweise von Mönchen und Nonnen, die Gelübde im Zusammenhang mit Bittgebeten, das Stiften von Messen, die Wallfahrten, das Einhalten der kirchlichen Feiertage und der Fastenzeiten, der Ablasserwerb, das Bauen und Ausschmücken von Kirchen etc. als die geistlichen und damit eigentlich guten und Gott wohlgefälligen Werke. Luther brach radikal mit dieser Auffassung: Zum einen entlarvte er diese Art guter Werke als nicht von Gott geboten, sondern lediglich von Menschen ersonnen. Zum anderen stellte er das Verhalten im Alltag, d. h. die Alltagswerke, als die eigentliche Bewährungsprobe des Christseins heraus. Indem Luther das, was traditionell unter guten Werken verstanden wurde, für überflüssig, ja für den Glauben und die Beziehung des Menschen zu Gott sogar als schädlich erklärte, beging er einen heftigen Affront gegen Wertvorstellungen, die in der spätmittelalterlichen Gesellschaft weit verbreitet waren. Mönchsgelübde, Ablässe, Messstiftungen, Wallfahrten etc. verloren gewissermaßen über Nacht ihren Wert. Verständlich, dass nicht nur viele kirchliche Funktionäre, sondern auch viele Laien, die ihr Vermögen in die sogenannten guten Werke investiert hatten, Luthers Erkenntnisse vehement ablehnten. Wir werden allerdings sehen, dass Luther der Askese einen neuen, allerdings begrenzten Stellenwert für das Handeln im Glauben zuweist.

Auf der anderen Seite gab es mindestens ebenso viele Laien, aber auch Kleriker, Mönche und Nonnen, die Luthers reformatorische Erkenntnisse als Befreiungsschlag erlebten. Indem er den gewöhnlichen Alltagswerken geistliche Qualität zuerkannte und ihnen den Charakter guter Werke zusprach, wurde das Christsein auch im normalen Berufs- und Familienalltag ohne Einschränkung lebbar (3.). Mehr noch: Nicht länger das Kloster mit seiner Klausur, sondern Beruf und Familie wurden zu den zentralen Orten gelebten Glaubens. Evangelische Spiritualität wurde alltagsverträglich! Die religiösen Eliten verloren ihre Sonderstellung. Fortan hatte jeder Mensch einen »Beruf« – und nicht länger bloß Mönche, Nonnen und Priester. Luther gelang es deutlich zu machen, dass jeder Christ im Alltag »fröhlich und frei« nach dem Willen Gottes leben kann (6.). Ziel der reformatorischen Ethik war, dass jeder Mensch Gott »umsonst« diente (6.) – aus Lust und Liebe, zweckfrei, um seiner selbst willen, ohne auf eine himmlische Belohnung zu schielen.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Neudefinition der guten Werke den Laien von kirchlicher Bevormundung und Gängelung freimachte. Er brauchte keinen theologischen bzw. spirituellen Fachmann mehr, der ihm sagte, welche Werke vor Gott (besonders) wohlgefällig seien. Alles, was ihm vor die Hände kam, d. h. die ganz gewöhnlichen Alltagsaufgaben, konnte er im Bewusstsein erledigen, damit Gott zu dienen und ihm zu gefallen (5.). Das führte zu einer vorher nicht gekannten Demokratisierung des Glaubens und zum Verschwinden besonderer religiöser Eliten.

Schöpferischer Umgang mit Leiden und Schwierigkeiten

Aus der Neudefinition des Glaubens als Hauptwerk folgte für Luther nicht nur, dass die guten Werke für die Beziehung des Menschen zu Gott keine Rolle mehr spielen. Es kam gleichzeitig zu einer Relativierung der Bedeutung menschlicher Werke im Hinblick auf das Menschsein. Die Werke waren dafür nicht länger konstitutiv. Indem die Identität des Menschen nicht mehr mit der eigenen Leistung begründet wurde, verlor das menschliche Tun seinen identitätsstiftenden Charakter. Das gab Luther die Freiheit, dem, was dem Menschen von außen widerfuhr – auch Leiden, Feindschaft und allen nur denkbaren Schwierigkeiten –, einen ganz neuen Stellenwert zuzusprechen.

Der Reformator ist überzeugt, dass die im Vertrauen auf Gott ertragenen Leiden unendlich viel wertvoller sind als alle im Glauben vollbrachten eigenen Leistungen (7.). Auch Leiden und Schwierigkeiten brauchen einen Christen daher nicht an Gottes Wohlgefallen irremachen. Im Gegenteil: gerade Leiden, Nöte und Schwierigkeiten sind eine Chance, um die beglückende Nähe Gottes zu erfahren. »Siehe, Er steht hinter der Wand und sieht durch die Fenster. Das ist so viel wie: Unter den Leiden, die uns gleich von Ihm scheiden wie eine Wand, ja eine Mauer, steht Er verborgen und sieht doch auf mich und lässt mich nicht. Denn Er steht und ist bereit zu helfen in Gnaden und durch die Fenster des dunklen Glaubens lässt Er sich sehen« (7.).

Gott setzt sich eine Maske auf, verbirgt seine wahren Absichten und Gefühle, spielt mit dem Menschen Versteck, wenn er ihm nahekommen will. Leiden – was es auch sei: Nöte, Krankheiten, unüberwindbare Sünden – scheinen den Menschen zwar von Gott zu trennen. Sie stellen den Glauben an Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit radikal in Frage. In Wirklichkeit sind sie aber Gottes Mittel, um dem Menschen zu begegnen. Gerade dann, wenn Menschen meinen, dass Gott sich von ihnen abgewandt habe, ist er ihnen besonders nahe. Luther zitiert als Schriftbeleg Klgl 3,31 ff: »Er verwirft die Menschen, aber er tut es nicht aus der Absicht des Herzens« (7.). D. h. nicht von Herzen lässt Gott Menschen in Unglück fallen. Der seelsorgliche Gewinn von Luthers Überzeugung für den Glauben ist enorm: Jeder Christ kann in der Gewissheit leben, es immer und überall mit dem liebenden Gott zu tun zu haben – was auch immer ihm widerfährt.

Viele werden das aus eigener Erfahrung bestätigen können: Wenn im Leben alles gut geht, alles wie am Schnürchen läuft, wird der Glaube leicht zur Routine, das Gebet zur lästigen Pflichterfüllung bzw. schläft schließlich ganz ein. Völlig anders, wenn plötzlich nichts mehr gelingt. Wenn sich alles gegen einen verschworen hat. Wenn eine Hiobsbotschaft auf die nächste folgt. Ausgerechnet in solchen Situationen haben viele Menschen die Erfahrung gemacht: Leiden und Schwierigkeiten haben ihren Glauben vertieft und das Vertrauen auf Gott wachsen lassen.

Der Glaube als Erfüllung des Gebots

Der Glaube stellt für Luther die Erfüllung des 1. Gebotes dar. Zwar noch nicht mit der prägnanten Formulierung des Großen Katechismus – »Woran du aber dein Herz hängst, das ist dein Gott« –, aber sachlich entsprechend, hält er in der Schrift »Von den guten Werken« fest: »dieweil ich allein Gott bin, sollst du auf mich allein deine ganze Zuversicht, Vertrauen und Glauben setzen und auf niemand anders« (9.). Indem Luther aus dem Verbot ein Gebot macht, interpretiert er es neu. Seine Auslegung besteht in der Entfaltung dessen, was durch das Verbot indirekt vom Menschen positiv gefordert wird. Das Verbot, andere Götter zu verehren, bedeutet im Umkehrschluss, ausschließlich auf Gott und seine Güte und Liebe zu vertrauen: in allem Tun, genauso wie in allem Leiden (10.) – im aktiven Handeln genauso wie im passiven Dulden. Gute Werke, die diesen Namen zu Recht tragen, sind im Glauben verrichtete Werke. Denn nur im Glauben ist der Mensch in der Lage, in Wahrheit gute Werke allein zur Ehre Gottes zu tun. Und nur im Glauben ist es möglich, Leiden und Widerwärtigkeiten als von Gott geschickt zu erkennen und zu ertragen. Nur derjenige, der Gott von Herzen vertraut, kann auch in Schwierigkeiten an Gottes Güte festhalten. Darum ist der Glaube »Werkmeister und Hauptmann« gegenüber allen anderen Werken (13.).

Das gute Werk als Übung des Glaubens

Für Luther beinhaltet der Glaube auch ein pädagogisches Moment. Im Gegensatz zu der scheinbar unausrottbaren Meinung, dass der Glaube den Menschen passiv mache, geht er davon aus, dass der Glaube einen höchst aktiven Vorgang darstellt. Unverzichtbare Basics des Glaubens sind Übung und Tun. Das aktive Handeln bzw. die Reaktion auf von außen auferlegte Schwierigkeiten sind das natürliche Übungsfeld des Glaubens.

Der Reformator geht davon aus, dass es vier unterschiedliche Formen des Glaubens und entsprechend vier unterschiedliche Gruppen von Gläubigen gibt: Gläubige, die freiwillig das Richtige tun; Gläubige, die die Freiheit missbrauchen und faul werden; böse Menschen, die allzeit bereit sind, zu sündigen; Anfänger im Glauben, die zum Glauben ermutigt werden müssen (14.). In der christlichen Gemeinde stehen sich »Schwachgläubige« und »Hartköpfige« gegenüber. Die verschiedenen Gruppen von Gläubigen müssen auf unterschiedliche, je eigene Weise im Glauben und dem daraus folgenden Handeln unterrichtet werden (15.).

Der Mensch ist zugleich Sünder und Gerechter

Luther denkt in großen Paradoxien. Charakteristisch für sein Denken ist, dass die Paradoxien nicht auf einer höheren Ebene aufgelöst werden können, sondern gerade in ihrer Paradoxität die Wahrheit zur Sprache bringen. Darin unterscheidet Luther sich von einem dialektischen Denker, dass er nicht eine über These und Antithese hinausführende Synthese gewinnen will. Mit der Deutung des Christen als simul peccator et iustus, als Sünder und Gerechter zugleich, hat Luther bereits in seiner Römerbriefvorlesung von 1514/15 die entscheidende Formel gefunden,5 um sowohl das bleibende Sündersein als auch das Gerechtfertigtsein des Menschen vor Gott durch den Glauben zum Ausdruck zu bringen. Es ist gerade diese Spannung, die das Wesen des Christseins bis an das Lebensende eines Menschen ausmacht.

Luther geht in seelsorglich feiner Weise auf die Frage ein, die sich jedem Christen über kurz oder lang stellt, wenn er erkennen muss, dass er weiterhin sündigt: »wie kann ich mit Sicherheit erwarten, dass alle meine Werke Gott gefällig sind, so ich doch zuweilen falle, zu viel rede, esse, trinke, schlafe oder je sonst über die Schnur haue, was mir zu vermeiden nicht möglich ist« (16.). Der Reformator antwortet mit dem Hinweis auf den Glauben: Er als das vornehmste Werk vor allen anderen, der alle anderen Werke erst gut werden lässt, bewirkt, dass ich trotz meiner täglichen (!) Sünde darauf vertrauen kann, dass Gott mir meine Sünde vergibt. Und indem ich das glaube, sind meine Sünden tatsächlich von Gott vergeben: »Denn eben deshalb ist er das höchste Werk, dass er auch bleibt und die täglichen Sünden tilgt, dadurch dass er nicht zweifelt, Gott sei dir so geneigt, dass er solchem täglichen Fall und der Gebrechlichkeit durch die Finger sieht« (16.). Luther geht sogar noch einen Schritt weiter und schließt den – wie er schreibt, bei einem Christen gar nicht oder nur selten vorkommenden – »tödlichen Fall«, d. h. die Todsünde, in die Vergebungsbereitschaft Gottes ein, unter der Bedingung, dass der Sünder glaubt und nicht zweifelt, dass Gott ihm vergibt.

Alles hängt für den Reformator an der Erkenntnis, dass die menschlichen Werke insgesamt nicht gut sind um ihrer selbst willen – »nicht aus ihrer Natur« –, sondern um des Glaubens willen, der sich auf Gottes Vergebung verlässt (16.). Dieser Glaube besitzt seinen Ankerpunkt in der durch Jesus Christus erwirkten Versöhnung des Menschen mit Gott (17.). Der Reformator formuliert drastisch: »Darum fängt der Glaube nicht bei den Werken an; sie machen ihn auch nicht, sondern er muss aus Blut, Wunden und Sterben Christi quellen und fließen« (17.).

Die guten Werke nach dem 2. Gebot: Gott loben, die eigene Ehre meiden und geistlichem Missbrauch widerstehen

In Luthers Näherbestimmung der guten Werke nach dem 2. Gebot wird die gleiche Struktur erkennbar, die wir schon bei seiner Auslegung des 1. Gebots als Grundvertrauen in Gottes Gottsein beobachtet haben. Luther fragt nach dem Gebot im Verbot. Das Verbot, Gottes Namen unnütz zu gebrauchen, enthält gleichzeitig ein positives Gebot. Ja, das Verbot wird erst dadurch erfüllt, dass es die positiven Wirkungen, die guten Werke, im Glaubenden freisetzt: »Doch will das nicht genug sein [nämlich Gottes Namen nicht unnütz zu gebrauchen], sondern es wird darunter auch geboten, wir sollen seinen Namen ehren, anrufen, preisen, predigen und loben« (19.). Luther leitet aus dem 2. Gebot konkret vier gute Werke ab: »Gott in allen seinen Wohltaten zu loben« (21.); eigene zeitliche Ehre und Lob zu fliehen und zu meiden (21.); »Gottes Namen in aller Not anzurufen« (25.); allen falschen Lehren und allem Missbrauch geistlicher Gewalt Widerstand zu leisten (31.).

Die Dankbarkeit über Gottes Liebe, die sich für den Reformator primär in seiner unerschöpflichen Vergebungsbereitschaft zeigt, führt zum Lob Gottes. So wird die reformatorische Erkenntnis von der Rechtfertigung allein aus Gnaden zur Inspirationsquelle für das neue Lied, in dessen Gefolge sich die lutherische Spiritualität als Gesangbuchspiritualität entfaltete. Letztlich liegt an dieser Stelle auch die Quelle des neuen reformatorischen Gottesdienstverständnisses, das in der sog. Torgauer Formel prägnanten Ausdruck gefunden hat. Luther sagte in seiner Predigt anlässlich der Einweihung der ersten neu erbauten evangelischen Kirche, der Schlosskirche zu Torgau an der Elbe, am 5. Oktober 1544: »Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dies neue Haus einsegnen und unserem Herrn Jesus Christus weihen. Das gebührt nicht mir allein, sondern ihr sollt auch zugleich mit angreifen, auf dass dieses neue Haus dahin gerichtet werde, dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.«6 Das Wesen des evangelischen Gottesdienstes besteht demnach in nichts anderem als der Anrede Gottes an den Menschen in der Predigt und in dessen Antwort in Gebet und Lobgesang.

Luther drängt darauf, dass das Lob Gottes, egal ob mündlich oder schriftlich, nicht bloß äußerlich, sondern von Herzen erfolgen soll: »Denn Gottes Namen zu nennen und seine Ehre aufs Papier und an die Wände zu schreiben, ist leicht geschehen, aber ihn gründlich loben und segnen in seinen Wohltaten und getrost anrufen in allen Anstößen, das sind fürwahr die allerseltensten, höchsten Werke nächst dem Glauben« (20.). Daran wird einmal mehr die Verinnerlichung und damit verbundene Intensivierung deutlich, die die Gottesbeziehung durch den reformatorisch verstandenen Glauben erfuhr.

Als Zweites betont Luther, dass Gott zu ehren einschließt, die eigene Ehre und das Eigenlob unter allen Umständen zu meiden. Grund dafür ist die »Subtilität« dieser Sünde (21.). Während Totschlag und Ehebruch klar als Sünden erkennbar sind, ist das Streben nach Ruhm und Ehre viel schwerer als solche zu entlarven. In Wirklichkeit sind Ehrsucht und Eigenlob jedoch wesentlich schwerere Sünden, weil sie Gottes Gottsein infrage stellen: Sie nehmen Gott, der allein geehrt sein will, die Ehre. Luther weist darauf hin, dass derjenige, der aus Furcht oder um eigener Ehre willen Gutes tut, seinen Lohn schon dahin hat (22.). Stattdessen nennt er vier berechtigte Antriebe, um Gutes zu tun: das Gebot Gottes, die Furcht Gottes, Gottes Wohlgefallen und Glaube und Liebe zu Gott.

Wie schwer, ja unmöglich es für den Menschen ist, von der Sünde der Ehrsucht und des Eigenlobs aus eigener Kraft loszukommen, zeigt sich für Luther darin, dass Gott selbst Christen häufig in schwere Sünden fallen lässt, um sie vom »großen Laster der eitlen Ehre und Namen« freizumachen (24.). Gott gebraucht eine Sünde zur Arznei der anderen: »Gott muss gleichsam mit anderen schweren Sünden dieser Sünde wehren, damit sein heiliger Name allein in Ehren bleibe« (24.).

Zur Erfüllung des 2. Gebot gehört drittens, Gott in allen Nöten anzurufen. In diesem Zusammenhang fällt eine der am schwersten zu verstehenden Bemerkungen Luthers überhaupt: »Ist das doch die gefährlichste Art der Anfechtung, wenn keine Anfechtung da ist […]« (25.). Wie kommt der Reformator zu dieser Behauptung? Er ist der Meinung, dass der Mensch Gott nur zu leicht vergisst, wenn es ihm gut geht. Auch die erfahrenen Wohltaten rechnet er dann eher der eigenen Leistung zu, anstatt Gott dafür zu danken. Luther weist als Begründung für seine Ansicht auf die Geschichte Israels hin. Immer dann, wenn es dem Volk gut ging und es in Frieden lebte, vergaß es seinen Gott (Ri 3,1 f.). Erst die Besetzung durch ausländische Mächte und Hungersnöte führten zu einer Rückbesinnung auf Gott.

Schließlich umfasst die Aufforderung des 2. Gebots, Gott zu ehren, für Luther sowohl den Widerstand gegen falsche Lehren als auch gegen den Missbrauch geistlicher Gewalt (31.). Auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen der jungen reformatorischen Bewegung mit den Altgläubigen bekam diese Auslegung auch politische Brisanz. 1520 war ja noch in keiner Weise absehbar, ob die Reformation Bestand haben oder wie viele andere spätmittelalterliche Reformbewegungen unterdrückt und ausgelöscht werden würde. Es gehörte daher beträchtlicher Mut dazu, sich gegen die machtvolle römische Kirche zu wenden. Luther weist nüchtern darauf hin, dass »der größte Teil« der Theologenschaft weiterhin dem alten Glauben anhing. Zu Recht erinnert er an das Vorbild der alttestamentlichen Propheten und des Apostels Paulus, die in ihrer Zeit auch gegen die überwältigende Mehrheit von Klerus und Machthabenden an der von ihnen als richtig erkannten Erkenntnis Gottes festhielten und sogar bereit waren, für ihre Überzeugung mit dem Leben einzutreten: »Es wird aber Blut kosten, und die in der heiligen Märtyrer Gut sitzen und mit ihrem Blut gewonnen sind, müssen wiederum selber Märtyrer machen« (31.).

Auslegung des 3. Gebots »Du sollst den Feiertag heiligen!«: Abendmahlsempfang, Predigt, Gebet, Stille und Leiden

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Luthers Auslegung des 3. Gebots als Anleitung zu einer gottesdienstlichen Lebensführung. Während die Überlegungen zu Abendmahlsempfang und Predigt kürzer gehalten sind, stellen diejenigen zum Gebet eine Art Kompendium des Gebets, ja, im Grunde eine kleine Theologie und Schule des reformatorischen Gebets dar.