Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung - Jan V. Wirth - E-Book

Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung E-Book

Jan V Wirth

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Beschreibung

Jan V. Wirth und Heiko Kleve plädieren dafür, Lebensführung in den Fokus des professionellen Handelns von Beratung und Therapie zu nehmen. Als Schnittpunkt sozialer und individueller Vorstellungen bietet das Thema Lebensführung den Vorteil, voreilige Zuschreibungen zu verhindern. Probleme der Lebensführung sind in erster Linie diffus, miteinander verknotet oder vermengt. Um sie auf eine sinnstiftende und kreative Weise zu ordnen und zu bearbeiten, vermitteln die Autoren Einsichten, Möglichkeiten des Herangehens und verschiedene Instrumente aus dem Bereich der postmodernen Beratung, aus Gesprächsführung, Therapie und Coaching. Handlungsleitend wirkt die grundlegende Überzeugung, jedes Leben positiv verändern und gestalten zu können. Das Buch vereint in praktischer Zielsetzung philosophische, soziologische und praxisbewährte systemische Verfahren und Tools.

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Leben.Lieben.Arbeiten   SYSTEMISCH BERATEN

Herausgegeben vonJochen Schweitzer undArist von Schlippe

Jan V. Wirth/Heiko Kleve

Von der gespaltenenzur verbundenenLebensführung

Systemische Wege für das alltägliche Leben

Mit 10 Abbildungen und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Chosovi, La Casa Danzante de Praga (»Tančící dům«,Rašínovo nábřeží 80, 120 00 Praha 2; Architekten: Vlado Milunić, Frank Gehry)

Das Bild ist im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-CC BY‐SA 2.5(»Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen – Keine weiteren Einschränkungen«) lizenziert. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/bysa/2.5/deed.de. Das Bild wurde für die Verwendung als Coverbild beschnitten.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6088

ISBN 978-3-647-99927-2

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Vorwort

I Der Kontext

1Einleitung

Spaltung hat »Konjunktur«

An wen richtet sich das Buch?

Wer sind wir, die Autoren?

2Leben führen – eine widersprüchliche Angelegenheit

Wie läuft »Leben führen« ab?

Digitaler werdende Lebensführung der Gesellschaft – Segen und Fluch

Vier Merkmale von Lebensführung

Zentrale Aufgabe der Lebensführung: Widersprüche und Übergänge konstruktiv gestalten

3Menschenbilder, die Sinn machen

Homo Systemicus – ein sinnvolles Menschenbild

Die Grundlagen: Ermöglichen, Gestalten, Verwirklichen

Mehrdeutigkeit erzeugen

Auswahl durch Vielfalt erzeugen

Ambivalenz erzeugen

Interventionsbeispiele

4Im Ermöglichen navigieren

Wissen – berufsethische Prinzipien

Erkennen – ethische Maximen der ermöglichenden Beratung in Anlehnung an Heinz von Foerster

Reflektieren – der professionelle Umgang mit Menschen als psychosozialen Sinnsystemen mit der Systemischen Charta der Menschenrechte (SCM)

Agieren – die vier Arten von Anliegen und Aufträgen sinnhaft bearbeiten

II Die systemische Beratung

5Lebensführung aneignen: Die Familie als (zu viel) schützendes System

Familie ist nötig als Entwicklungsraum, kann aber auch einengen

Psychosoziale Arbeitsaufgabe: Anschluss finden und Unterstützung bieten

6Lebensführung erweitern: Das Erziehungssystem als förderndes bzw. überforderndes System

Schule und Familie – ein Leben zwischen An- und Überforderung

Psychosoziale Arbeitsaufgabe: Stützen und Beteiligen

7Lebensführung relativieren: Die Kultur der Lebensführung am Beispiel der Migration

Migration als kulturell verbundene oder gespaltene Lebensführung

Psychosoziale Arbeitsaufgabe: Einführen von Vielfalt und Perspektivität – mithilfe des Culturagramms

8Lebensführung verändern: Sinn vermehren durch Aufstellungsarbeit

Ein Rahmen für Aufstellungsarbeiten: Das Sechs-Schritte-Ablaufschema

Der Prozess des Aufstellens

Wirklichkeit erweitern und Möglichkeiten vermehren durch Sinn-Aufstellungen

Systematische Erläuterung der Sinn-Aufstellung

Beispielinterventionen für Sinn-Aufstellungen mit Bodenankern

9Lebensführung selbst entscheiden: Möglichkeiten auswählen und entscheiden

Spaltungen auflösen und Positionen verbinden – die Tetralemmaaufstellung

10 Fazit

III Am Ende

Literatur

Die Autoren

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.

Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.

Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.

Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

Wer sich unter dem Titel dieses Buches einen »Ratgeber« vorstellt, wird vom Inhalt enttäuscht sein. Nein, das Wort passt eigentlich nicht. Enttäuscht wird man nicht sein, eher wohl angenehm überrascht. Denn auch wenn der Begriff »Lebensführung« im Titel zu finden ist, wird hier kein Bild vom richtigen Leben präsentiert. Es geht nicht darum, wie man sein Leben optimieren kann, abgesehen davon, dass bei dem Thema Lebensführung ohnehin die Frage ist, wer da eigentlich wen »führt«. Hier wird vielmehr darüber nachgedacht, wie man durch die Komplexität menschlicher Lebens- und Erlebenswelten spielerisch und reflexiv sozusagen »surfen« kann. Es geht darum, die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, die dem Leben innewohnen, zu begrüßen und sie nicht durch vorschnelle Entschiedenheit in die eine oder die andere Richtung aufzulösen. Es geht auch nicht darum, sie nur auszuhalten. Der Reiz des Lebens besteht darin, mit ihnen spielen zu lernen. Die Antwort auf die Komplexität des Lebens besteht hier also nicht darin, dass vereinfachende Regeln angeboten werden. Stattdessen wird Komplexität mit Komplexität beantwortet. Unsere Lebenswelten sind mehrdeutig und ambivalent, ungewiss und unabgeschlossen und so ist es auch mit den vielen möglichen Weisen der Lebensführung. Wenn wir das nicht nur hinnehmen, sondern aktiv bejahen, wird es möglich, im wahrsten Wortsinn lebendig zu sein.

Konsequenterweise können dann hier auch keine Lösungen angeboten werden. Es geht ja gerade darum zu öffnen, nicht zu schließen. Der Türöffner, der hier vorgestellt wird und der in Möglichkeitsräume hineinführt, ist Sinn. Am Schlüsselbund hängen ungewöhnlich klingende Fragen. Fragen sind hier wichtiger als Antworten – und Fragen sind in diesem Buch in Hülle und Fülle zu finden, sehr interessante Fragen. Es geht hierbei um eine besondere Klasse von Fragen, von systemischen Fragen, die die Gedanken auf die Reise schicken können, die neue Möglichkeitsräume öffnen und verfestigte Vorstellungen vom Leben verflüssigen können. Und damit man mit den Fragen nicht allein dasteht, wird Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, auch ein »Kompass« an die Hand gegeben, der bei der Suche nach Antworten Anhaltspunkte bietet.

Die Fragen der Lebensführung sind dabei alles andere als eine Aufforderung zum Rückzug ins Private. Eine »systemische Charta der Menschenrechte« zeigt, welche Konsequenzen es auch im öffentlichen Raum haben kann, Leben nicht als Privatvergnügen anzusehen, sondern die Erschließung von Möglichkeitsräumen als so etwas wie eine Grundbedingung für die menschliche Existenz wie auch für Beratung und Therapie an sich zu sehen. Nahezu folgerichtig ist es dann, auch die Frage danach zu stellen, wie eine verflüssigte Lebensführung unter besonders schwierigen Lebensumständen aussehen kann, etwa im Kontext von Migration und Flucht, und wie Beratung damit umgehen kann.

Nach der Lektüre dieses Buchs, so wage ich vorauszusagen, werden Sie als Leserin/Leser anders auf das eigene Leben schauen als vorher. So wie im Märchen von tausendundeiner Nacht der Geist, der einmal aus der Flasche entwichen war, nicht mehr zurückkonnte, so kann man einmal gestellte Fragen an das eigene Leben nicht einfach wieder rückgängig machen. Auch ein einmal aufgestelltes Bild – etwa das einer Tetralemmaaufstellung – bleibt vor dem inneren Auge auch dann noch bestehen, wenn die »Anker«, die Personen oder Symbole, die sich als Repräsentanten für die eigene Frage zur Verfügung gestellt hatten, bereits wieder entlassen wurden. Innere Bilder und damit Denken und Erleben verändern sich. Lassen Sie sich von diesem Buch einladen, entweder selbst neu auf Ihr Leben zu schauen und Vielfalt aktiv zu bejahen oder Unterstützung dabei zu bekommen, in beratender Position dieses Denken anderen nahezubringen. Ich bin sicher, Sie werden es nicht bereuen.

Arist von Schlippe

I

Der Kontext

1Einleitung

Spaltung hat »Konjunktur«

Vermutlich wird jeder solche oder ähnliche Erfahrungen kennen: die gespaltene Loyalität etwa als Kind in von Scheidung betroffenen Familien oder als Vermittler zu fungieren zwischen unversöhnlichen Positionen. Und in größeren Kontexten kennen wir etwa den Zusammenprall der Kulturen im »Clash of Cultures« (Huntington, 2002) oder die Spaltung von Kirchen im Schisma, die bis heute erkennbar nachwirkt.

Insofern bezeichnen »Spaltungen« Strukturveränderungen, die im sozialen Leben wie auch im Denken und Fühlen nicht zu übersehen sind. Auf der symbolischen Ebene meint die Rede von »Spaltungen« Unterscheidungen, die im Verfestigen begriffen sind. Beides sind Dramen, die bei krisenhaften Problemen nach Entscheidungen rufen: »So oder so, aber die Spalterei muss aufhören!«

Wir schlagen die Gegenrichtung vor: Im Verbinden liegen unseres Erachtens unsere Beratungschancen. Was sich verfestigt hat, kann verflüssigt und verbunden werden. Dadurch wird ein beweglicheres Denken, Fühlen und Handeln möglich.

Unser Ausgangspunkt ist postmodern. Postmodern soll heißen, einen Gemütszustand und eine Arbeitshaltung einzunehmen, die Widersprüche, Unvereinbarkeiten und Dilemmata, also Ambivalenzen, als die Quelle für Veränderungen schlechthin ansehen (Kleve, 1999/2007; Wirth, 2014). Mit diesem Gemütszustand geht außerdem die Annahme einher, dass die uns erkennbar werdende Wirklichkeit nicht natur- oder gottgegeben ist. Sie ist vielmehr das Ergebnis unseres aufeinander bezogenen und gemeinsam konstruierten Handelns, Denkens und Fühlens (Luhmann, 2002/2008).

Was konstruiert wurde, kann auch anders konstruiert werden. Vertrautes und Selbstverständliches rücken in ein neues Licht. Dies geht mit anderen Weisen des Denkens, Fühlens und Handelns einher. Genau das ist die Aufgabe der Beratung: Menschen dabei zu unterstützen, dass sie ihre Welt, in unserem Fall: ihre Lebenssituationen durch andere emotionale, kognitive und aktionale Operationen besser, konstruktiver, lebbarer als bisher gestalten können.

Unsere allgemeinen Handlungsmaximen sind:

–Eindeutige Wirklichkeiten in ihren Begrenzungen zu akzeptieren.

–Wenn wir Mehrdeutigkeiten erkennen, thematisieren wir sie auf positive Weise.

–Indem wir Möglichkeiten beobachten, machen wir mehr davon.

An wen richtet sich das Buch?

Das Buch richtet sich an alle, die ihr Leben selbst, eigenverantwortlich und aktiv führen oder andere dabei unterstützen wollen, dass deren Lebensführung besser als bisher möglich wird. Die berufliche Zielgruppe dieses Buches sind Fachkräfte der Beratung. Sie interessieren sich nicht störungs- oder krankheitsbezogen, sondern entwicklungs- und kompetenzorientiert für Probleme der Lebensführung in der heutigen Gesellschaft, um ihre Beratungsarbeit weiterzuentwickeln. Im privaten Bereich sind vor allem Menschen angesprochen, die ihren Horizont erweitern und über die eingängigen Spalten der Feuilletons und Lebenskunst-Ratgeberliteratur hinausgehen möchten, um ihr eigenes Leben oder das Leben der Familie positiver zu gestalten.

Wer sind wir, die Autoren?

Wir verfügen über praktische wie wissenschaftliche Erfahrungen. Wir beraten, coachen und unterstützen Menschen in unterschiedlichen Bereichen. Unsere kleinen Fallgeschichten haben wir aus unserer Praxisbegleitung von Einzelpersonen, Familien, Teams und von Fachkräften aus ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern gewonnen. Diese haben wir aus Gründen von Anschaulichkeit und Verständlichkeit, aber auch der Anonymisierung, nur mit den nötigsten Details ausgestattet.

Um diesen Text zu erstellen, brauchten wir das Rad nicht neu zu erfinden, sondern nur das Fahrzeug etwas umzugestalten, die Funktionalität zu verändern und die Reichweite zu erhöhen. Insofern sind wir weniger Schriftsteller gewesen als Schriftumsteller, weniger Erfinder, sondern mehr Verbinder. Wir bewegen uns mit dieser Einsicht im Paradigma der postmodernen Arbeit, die Bekanntes auf neue Weise verbindet, eher Misch- statt Monokulturen, eher Dialoge statt Monologe, statt Probleme eher Wünsche, statt Lösungen eher Entwicklung, insgesamt eher Vielfalt statt Einfalt bevorzugt.

In unserer Schreibweise wollen wir an die Art und Weise anknüpfen, in der wir gemeinsam das Buchprojekt »Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer für systemisches Arbeiten« angegangen sind (Wirth u. Kleve, 2019). Dabei versuchen wir, komplexe praktische und theoretische Zusammenhänge so einfach und klar wie möglich darzustellen.

Im Folgenden stellen wir einige Grundüberlegungen voran, die über Kennzeichen und Zielsetzung von Gesprächsführung, Beratung und Therapie zur Lebensführung aufklären (Kapitel 2). Dies wird verknüpft mit dem systemischen Menschenbild »SEEKER«, dem systemischen Wertekompass »WERA« (Kapitel 4) und der Entfaltung der »Systemischen Charta der Menschenrechte (SCM)«. Darauf folgen mit systemischen Interventionen versehene Erläuterungen zu Entwicklungsaufgaben in der Lebensführung (Kapitel 5 und 6).

Sodann veranschaulichen wir praxisnah drei systemische Verfahren:

–das Culturagramm für die Arbeit mit immigrierten Personen und ihren Familien (Kapitel 7),

–die Sinnaufstellung für die Entwicklung von Möglichkeiten und Fähigkeiten (Kapitel 8),

–das Tetralemma für die Bearbeitung von Entscheidungssituationen (Kapitel 9).

Wir wollen Sie einladen, die Welt aus bisher ungewohnten Blickrichtungen und Perspektiven zu sehen. Dazu sind mitunter zunächst ungewohnte Betrachtungsweisen und theoretische Begriffe erforderlich, die bezwecken, die Welt des praktischen Handelns klarer und zielangemessener sehen zu lernen.

2Leben führen – eine widersprüchliche Angelegenheit

Lebensführung verweist auf Leben, Bewegen, Gestalten. Als Lebewesen ist der Mensch angewiesen auf einen beweglichen Körper, um seine Position im Raum zu verändern. Er ist angewiesen auf sein Bewusstsein, das es ihm erlaubt, sich in der Umwelt zu orientieren und Quellen für sein Überleben zu erkennen bzw. zu sichern. In diesem Wunsch ist er angewiesen auf Möglichkeiten der Teilnahme und Nichtteilnahme an sozialen Zusammenhängen, an menschlichen Beziehungen. Die Kopplung seines Bewusstseins (psychisches System) an soziale Zusammenhänge, an Beziehungen ist hierbei von besonderer Bedeutung. Die Entwicklung von Identität, Mitgefühl, Sprache und Kooperation ist ein aussichtsloses Unterfangen, wenn nicht wiederkehrend und regelmäßig an gemeinsam wertschätzender Kommunikation teilgenommen wird.

Was ist Leben, wie geht Leben? Unsere Antwort lautet: durch das Bewegen. Das Leben eines Individuums ist gekennzeichnet durch die gleichzeitige Aktivität von biologischem, psychischem und sozialem System. Der Mensch lässt sich demnach als ein biopsychosoziales Lebewesen beschreiben. Manchmal geht es nur darum, zu überleben, wie etwa in Zeiten der Not und des Terrors. Zu überleben bedeutet, ein Minimum an eigener Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Ein Leben zu führen bedeutet: über sein Leben sinnhaft zu bestimmen. Dazu braucht es ausgewählte Aspekte der Lebensführung (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Der Person zugeordnete Aspekte der Lebensführung

Häufig steht im Zentrum, sich aufdrängende Probleme zu lösen, den Alltag zu meistern und in der Gegenwart zurechtzukommen. In einem sinnhaften Leben geht es um mehr, um das Andersmögliche. Menschen leben nie nur in der Gegenwart, auch wenn das so scheint.

Als über Sinn verfügende Wesen stehen wir mit einem Fuß in der Wirklichkeit und mit dem anderen Fuß in der Möglichkeit.