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Warum die Konzentration auf das Wesentliche die Lösung für die größten Probleme unserer Zeit bietet
Unsere Gesellschaft steckt in einer Krise des Überangebots und der permanenten Beschleunigung. Für Bestsellerautor, Neurowissenschaftler, Mediziner und Glücksforscher Tobias Esch ist es spätestens nach Corona an der Zeit, das sinnentleerte Streben nach Mehr infrage zu stellen – wir müssen von der sich unablässig steigernden Dichte, von haltlosem Konsum und damit einhergehender (Selbst-)Ausbeutung wegkommen, müssen zurückfinden zu der Reduktion auf das Minimale und einer so wohltuenden wie befreienden »Leere«. Mehr Nichts, weniger Mehr, nach diesem Leitmotiv sollten wir unsere Leben ausrichten! Im Mittelpunkt der von Esch aufgerufenen Debatte steht die Medizin und eine selbstgefällige Suche nach strahlender Gesundheit oder »ewigem Leben« – mit Corona als alarmierendem Stachel im Fleisch. Darüber hinaus wendet sich der Autor allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens zu: Glauben und Achtsamkeit, Politik, Klima, Ökologie und Wirtschaftsstrukturen. Hier attestiert er eine paradox erscheinende Gleichzeitigkeit von ungehemmtem Wachstum einerseits und einer parallel anwachsenden Zahl von Menschen andererseits, die nicht mehr willens sind, so wie bisher mitzumachen, sich das Drama einer aus den Fugen geratenen Welt noch länger anzuschauen. Nur wenn wir uns in sämtlichen Belangen – und nicht nur mit Blick auf individuelle Selfcare-Maßnahmen – wieder auf die Essenz reduzieren, können wir den Weg zurück zu sinnhaftem Lebensglück und Nachhaltigkeit finden.
Das große Debattenbuch jetzt als gekürzte und überarbeitete Neuausgabe im Taschenbuch!
Der Titel ist bereits im Goldmann Verlag als Hardcover erschienen unter dem Titel »Mehr Nichts!«
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Seitenzahl: 378
Buch
Unsere Gesellschaft steckt in einer Krise des Überangebots und der permanenten Beschleunigung. Für Bestsellerautor, Neurowissenschaftler, Mediziner und Glücksforscher Tobias Esch ist es spätestens nach Corona an der Zeit, das sinnentleerte Streben nach Mehr infrage zu stellen. Nur wenn wir uns in sämtlichen Belangen – und nicht nur mit Blick auf individuelle Selfcare-Maßnahmen – wieder auf die Essenz reduzieren, können wir den Weg zurück zu sinnhaftem Lebensglück und Nachhaltigkeit finden.
Autor
Univ.-Prof. Dr. med. Tobias Esch ist Neurowissenschaftler, Gesundheitsforscher und Allgemeinmediziner. Seit vielen Jahren untersucht er, u. a. an der Harvard Medical School und an der Berliner Charité, wie Selbstheilung funktioniert und wie ihre Potenziale innerhalb und außerhalb der etablierten Medizin nachweisbar für die Gesundheit genutzt werden können. Seit 2016 ist er Institutsleiter und Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke, wo er auch die dortige Universitätsambulanz als Aushängeschild und Blaupause einer »Medizin von morgen« gründete. Seine Sachbücher (u. a. »Der Selbstheilungscode« oder »Die bessere Hälfte« zusammen mit Dr. med. Eckart von Hirschhausen) wurden mehrfach ausgezeichnet und erreichten Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten.
Außerdem von Prof. Dr. Tobias Esch im Programm
Der Selbstheilungscode
TOBIASESCH
VONDERKUNSTDESWEGLASSENS
Der Titel ist bereits im Goldmann Verlag unter dem Titel »Mehr Nichts!« erschienen.
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Gekürzte Taschenbuchausgabe November 2023
Copyright © 2021 der Originalausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright ©2023 dieser Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Titel der Originalausgabe: Mehr Nichts!
Umschlag: UNO Werbeagentur, München
Redaktion: Regina Carstensen
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
CH ∙ CB
ISBN978-3-641-31212-1V001
www.goldmann-verlag.de
Inhalt
Vorwort
Teil I Mehr oder weniger Medizin
Immer mehr Medizin
Ein wachsender Markt – Der wahre Feind – Wie wollen wir leben? – Voll der Stress – Reicht es für alle? – Was ist das Ziel? – Darf’s ein bisschen weniger sein?
Weniger Medizin?
Das Haus Gottes – Was ist Gesundheit? – Ihre Gesundheit braucht Sie! – Was wir von den Alten lernen können – Ananda – Aristoteles meets Dr. House – Heil-Sein oder: Du musst nicht funktionieren – Weniger Medizin durch Digitalisierung? – Die Medizin neu denken
Teil IIMehr oder weniger Glaube (oder Achtsamkeit)
Die Ökonomisierung des Bewusstseins
Volles Bewusstsein – Zur Mitte finden – Achtsamkeit – Meditation wirkt! – Mit der Welt im Einklang? – Religion (und Achtsamkeit) als Ware – McMindfulness – Gewissenlose Achtsamkeit? – Seelenstyling – Fake-Spiritualität – Wer hat das Problem?
Die reine Leere
Nada Brahma – Nichts ist nicht nichts – Form ist Leere – Nach Hause kommen – Heiligt der Zweck die Mittel? – Keine Angst – Freiheit (Lass los!) – Joy of Missing Out – Ein neues Paradigma
Dank
Personenregister
Sachregister
Anmerkungen
Vorwort
Die Idee für dieses Buch ist über mehrere Jahre entstanden, die Beobachtungen und zentralen Thesen, die ich darlegen werde, stammen aus der Phase »vor Corona«. Und nun drängt sich die Frage auf: Gibt es noch etwas, das ohne Corona gedacht und beschrieben werden kann?
Kritisch werde ich jedenfalls die Rolle der Medizin in heutiger Zeit hinterfragen. Hat nicht Corona, hat nicht die Krise, die wir im Zuge der Ausbreitung des Virus gegenwärtig erleben sowie der massiven Bemühungen, es unter Verzicht auch auf persönliche Freiheiten und lang erkämpfte und für gegeben geglaubte Individualrechte einzudämmen, mehr als deutlich gemacht, wie wichtig und alternativlos die moderne Medizin ist? Und wie wichtig es ist, dass sie jederzeit gerüstet, ja, hochgerüstet ist? Immer einen Schritt voraus und keinesfalls mit veralteten Waffen und mangelhafter Ausrüstung ausgestattet? Oder würde man das Gegenteil von »mehr Medizin« nicht als zynisch abtun müssen, könnte es nicht fatale Folgen haben, tatsächlich und messbar?
Weniger Medizin – kann das zuweilen nicht doch »besser« sein? Obwohl: Sich pandemisch ausbreitende Seuchen und Erkrankungen, sind sie nicht der unmittelbare Beweis dafür, dass dies nicht stimmen kann? Wäre nicht allein eine solche Behauptung ein Spiel mit dem Feuer? Geben uns nicht die Medien tagtäglich zu verstehen, dass wir mehr Medizin, mehr Forschung, mehr Effektivität und letztlich mehr Geld und Personal für diesen Wirtschaftssektor brauchen? Wie kann man da ernsthaft von »weniger« sprechen?
Sollte man dieses Buch also nicht gleich zur Seite legen, weil allein die Frage offensichtlich falsch gestellt ist und damit nicht stimmt, nicht stimmen kann? Man kann es aber auch anders sehen: Die gegenwärtige Aufruhr- und Aufbruchsphase ist ein weiterer Indikator dafür, dass etwas in unserem System grundsätzlich nicht stimmt. Meine Überlegungen könnten durch die Krise noch in ihrer Brisanz unterstrichen werden.
Sie* werden aufgefordert, sich ein eigenes Bild zu machen. Wie gesagt: Der Ausgang ist ungewiss, nicht weniger für mich. Vielleicht habe ich unrecht. Aber vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, meine Ideen in den Raum zu stellen, um Entwicklungen in anderen Bereichen mit in Betracht zu ziehen. Als Denkanstöße. Mehr habe ich gerade nicht zur Hand.
Zweifellos: Schon jetzt ist absehbar, dass wir uns in Zukunft stärker Gedanken darüber machen werden, ob jenseits der Medizin nicht auch Aspekte wie ein globales Vernetzen aller Tätigkeiten und damit bedingungslos Voneinander-abhängig-Machen, das Fehlen von Autonomie und Autarkie, die Tatsache, keine Ressourcen mehr in Reserve zu haben, alles »just in time« erledigen und bekommen zu können, die Vorstellung einer völligen Entgrenzung jeglichen wirtschaftlichen Handelns und damit unserer All-Verbundenheit selbst im sozialen Austausch doch sehr deutliche Risse bekommen haben. Und so mehren sich inmitten der Krise jene Stimmen, die die Geschichte von der Kunst des Weglassens in unterschiedlicher Weise, aber letztlich ähnlich klingend erzählen.
Was ist dann hier neu? Oder ist das Buch nur ein weiteres Echo, ein Widerhall, vielleicht geschrieben von einem »Trittbrettfahrer«? Nun, das kann ich nicht entscheiden. Da sind Sie gefragt. Ich hoffe jedoch, Überlegungen und Beobachtungen zu vertiefen, die eine aktuelle Aufgeregtheit und jedweden Aktionismus überdauern. Insofern geht es nicht nur um mehr oder weniger Medizin, sondern auch um Verzicht und Solidarität, um soziale Nähe und soziale Distanz. Das führt weiter zu spirituellen Fragen, zum Glauben, zur Sinnhaftigkeit sowie einer möglicherweise existierenden »tieferen Quelle«.
Lassen Sie sich überraschen.
Das Paradoxon
Schaut man sich die Kosten und Ausgaben im Gesundheitswesen an, deren Entwicklung sowie die Erfolge und Möglichkeiten, die uns die moderne Heilkunde zu bieten scheint, könnte man meinen, dass hier ein geradezu unendliches Wachstum möglich ist. Es scheint denkbar, die Grenze des Lebens noch weiter nach hinten hinauszuschieben, bis schließlich – manch ein Mediziner oder Gesundheitswissenschaftler mag davon träumen – ein Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden wird.
Gleichzeitig ist es jedoch so, dass der Mensch, gerade wenn er älter wird, sich mehr und mehr von der Vorstellung einer ewigen Jugend, einer ewigen Gesundheit und Unversehrtheit emanzipiert. Seine Zufriedenheit und sein Lebensglück hängen immer weniger, folgt man entsprechenden Statistiken, vom Erhalt oder dem Wiedererreichen des ursprünglich gesunden – vermeintlich idealen – Zustands ab. Mehr noch: Gerade das Akzeptieren von Vergänglichkeit und ein Sich-Arrangieren mit dem oft als schicksalhaft erlebten körperlichen Abbau, gekoppelt jedoch an die Fähigkeit, »loslassen« zu können (ohne die Lebensfreude dabei zu verlieren!), wozu auch das Zurücklassen einer naiven Vorstellung vom »ewigen Leben« gehört, scheinen für viele Ältere eine ganz eigene Schönheit und Zufriedenheit in sich zu begründen. Hier mag es um innere Reifungsprozesse, um eine Art innere Freiheit und, vielleicht, Weisheit gehen – trotz nicht zu leugnender äußerer und körperlicher Einschränkungen. Manche Ältere nennen das Lebenserfahrung – und sind dankbar dafür. Die Medizin tritt hier stellenweise in den Hintergrund, Ärzte sind jetzt mehr Begleiter, weniger als Heiler gefragt.
Offensichtlich haben wir es hier mit zwei unterschiedlichen Polen zu tun, man könnte sagen, mit einem Paradoxon: das Dilemma in der Medizin, einerseits mit aller Kraft und allem, was möglich ist, Heilung und Wiederherstellung anzustreben, anstreben zu müssen, während andererseits das Objekt dieser Bemühungen, der individuelle, reifende Mensch, immer weniger – in Bezug auf sein persönliches, subjektives Glück und seine Lebenszufriedenheit – an tatsächliche Heilung und den Erhalt dieses Urzustands glaubt oder sich von ihm gänzlich abhängig macht.
Spannen wir den Bogen noch größer.
Wir erleben in unserer Gesellschaft nicht nur in der Medizin ein Dilemma, wo eine generelle Ausgabenexplosion – beschleunigt etwa durch moderne Krebstherapien und ihre immensen Kosten, begleitet von einem ständig bedrohlicher werdenden Fachkräftemangel – Zeichen einer Überhitzung, eines möglichen »Aus-dem-Ruder-Laufens« ist. Vor allem zeigt es aber die Tatsache an, dass das theoretisch und individuell Machbare nicht immer mit dem praktisch Durchsetzbaren (und Bezahlbaren) sowie dem »allgemein« Gewollten deckungsgleich erscheint.
Das Dilemma finden wir heute vielerorts, fast scheint es, als hätten sich möglichst viele gesellschaftlich und »systemrelevante« Bereiche verabredet, um nahezu gleichzeitig am gleichen Problem zu erkranken: Eine Polarität zwischen dem Möglichen und dem Machbaren, auch zwischen einem objektivierbaren (notwendigen?) Wachstum im Außen und der subjektiven Freiheit des Einzelnen darin – inklusive einer Emanzipation oder bewussten Abkehr von genau jenem Wachstumsdiktat – , sehen wir (neben der Medizin) in zahlreichen volkswirtschaftlichen Entwicklungen, ebenso im Konsumverhalten einer immer größer werdenden Zahl von Menschen: Entschleunigung und Rückzug anstelle von ungebremstem und mechanischem Wachstum, Slow Food statt Fast Food, Regionalität statt globale Märkte, Konsumbegrenzung statt XXL, Wiederverwertung statt Wegwerfmentalität, Klimaneutralität und Nachhaltigkeit statt Ressourcenverschwendung, Gemeinwohlökonomie statt Raubtierkapitalismus.
Zugleich und in Analogie erkennen wir ähnliche Trends im religiösen Kontext, wo die Zahl der Konfessionslosen steigt, gerade in den urbanen Räumen und Ballungsgebieten. Eine große »Abkehr« setzt derzeit ein: Die Zahl der bekennend Gläubigen nimmt ab. Parallel dazu wächst die Gruppe der »spirituellen Atheisten«, also derer, die kein formales Glaubensbekenntnis unterschreiben, jedoch nach Sinn und etwas »Höherem« suchen – etwas, das über sie hinausweist und transzendent oder größer erscheint.
Und auch hier, teilt man diese Gruppe weiter auf, ist erneut eine Polarität erkennbar: Da gibt es Menschen, die sich auf einem inneren Erkenntnisweg, einem tiefen Einsichtsprozess befinden, der aufwendig ist, anstrengend, und sich ergebnisoffen gestaltet, der sich stark disruptiv auf den individuellen Lebensweg und die Beziehungen zur Außenwelt auswirken kann. Und dann ist da die zunehmende Schar derer, die Meditation und Achtsamkeit (Mindfulness) als Mittel zur Stressbewältigung betreiben, als schnelle Hilfe in schwierigen Zeiten oder zur Verbesserung der eigenen Konzentration und Leistungsfähigkeit. Bestimmte Nuancen und Übergänge nicht ausgeschlossen, auch die verschiedenen Motive schließen sich nicht gänzlich aus. Wenn aber bei der Achtsamkeit primär die Performance im Fokus steht, das optimale Erfüllen einer erwarteten Funktion und Leistung, dann ist das etwas anderes als der eher gegenteilig ausgerichtete Prozess einer inneren Einkehr und – womöglich – Emanzipation von jener äußerlichen Funktionalität und Ergebnisorientierung.
Phänomene von »McMindfulness« oder »Mindfulness-to-go«, wie man sie provokativ bezeichnen könnte, finden wir ebenso in neuen geisteswissenschaftlichen Strömungen oder mancher Gegenwartsphilosophie, in Teilen der Psychologie, wo nicht selten unter Verwendung von Begriffen wie »Bewusstsein« oder »Integralität« oder im Versprechen eines »Transhumanismus« die Optimierung, letztlich die Ökonomisierung von Geist und Bewusstsein in Aussicht gestellt werden. Die schöne neue Welt von morgen?
Auch die Digitalisierung reiht sich hier problemlos ein, wo einerseits Informationsdemokratie, Transparenz, Grenzenlosigkeit und Vernetzung alles möglich erscheinen lassen, nicht weniger als einen vermeintlich »besseren« Menschen oder offenere Gesellschaften. Andererseits sind Überforderung durch fehlende Informationshygiene, eine Einschränkung von Intimität und Privatheit oder die Erosion ganzer Demokratien (etwa durch ständige Falschmeldungen im Netz) zu einem manifesten Problem und zu einer Bedrohung unserer Zukunft geworden. Nicht zu vergessen: Internetsucht und Burn-out, verbunden mit einem Sich-Verlieren im digitalen Raum, sind neue Krankheiten in einer globalisierten Welt.
Nicht alles, was digital »kann«, ist gut. Doch wer vermag und will den Zug noch lenken, ihn verlangsamen oder gar stoppen? Genau das Gegenteil findet gerade statt.
Ähnliches gilt für die gegenwärtige Klimadebatte, die uns dringend zur Entschleunigung mahnt, dabei das Problem durch technischen Fortschritt, ein schnelleres Aufrüsten sowie mehr Nachhaltigkeitsindustrien in den Griff bekommen möchte. Ist das nicht irgendwie paradox? Gerade in diesem Sektor ist eine atemberaubende Beschleunigung auszumachen, eine Tendenz zum »Höher, Schneller, Weiter« mit großer Anziehungskraft und enormen Zuwachsraten. Umweltschutz ist hip. Zeitgleich werden beim CO2-Ausstoß weltweit die höchsten Werte seit Aufzeichnungsbeginn registriert. Wie passt das zusammen?
Ökologie ist wieder in Mode. Mehr als je zuvor scheint grün gefragt. Auch philosophische Betrachtungen zu vermeintlich grünen Alltagsthemen erreichen die Mitte, den Mainstream. Philosophen wie Richard David Precht, Ariadne von Schirach, Markus Gabriel oder Wilhelm Schmid (und Robert Habeck!) erzielen mit ihren Büchern und Wortmeldungen zuweilen Kultstatus. Sogar unter Hipstern.
Immer wieder treffen wir auf das gleiche Muster, auf sich scheinbar polar gegenüberstehende Bewegungen: Messbare Größen zeigen an, dass sich »alles« zu beschleunigen scheint. Menschen wünschen sich jedoch das genaue Gegenteil vom vermeintlich Gegenwärtigen, träumen mehr von einer alternativen, einer ganz anderen Welt. Entschleunigung wird gesucht und auch gebraucht.
Dieser Ruf nach einem Weglassen verbindet wie ein roter Faden viele gesellschaftliche Aspekte: Ein Trend demaskiert sich als gemeinsamer Nenner in unterschiedlichen Lebensbereichen und im öffentlichen Diskurs. So ist es nur konsequent, eine primär auf Verwertung abzielende Logik der Ausnutzung von Ressourcen (das Dogma des fortwährenden Wachstums und der reinen Nutzenorientierung) verstärkt mit dem Thema Leere (statt Fülle) zu kontrastieren. Mit Innenraum anstelle von Außenraum. Dieses Denken ist heute alles andere als politisch links. Das ist die neue Mitte.
Ich verfolge die Idee, die beschriebenen Polaritäten in einigen Bereichen exemplarisch genauer zu untersuchen. Und vielleicht punktuell zusammenzuführen. Den Schwerpunkt werde ich als Mediziner dabei – kaum verwunderlich – auf die Medizin und den Glauben legen (Spiritualität, Achtsamkeit, Buddhismus), werde aber ebenso einige ökonomische und ökologische Aspekte näher betrachten sowie die eine oder andere philosophische Stimme zu Wort kommen lassen.
Letztlich geht es um das Aufdecken von möglichen Schnittmengen und gemeinsamen Mustern, die ein größeres Bild erkennen lassen, eine offensichtliche Bewegung hin zu einer Kunst des Weglassens.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form. Es sind jedoch immer alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung gemeint. Die verkürzte Sprachform ist wertfrei.
Teil I Mehr oder weniger Medizin