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»Wenn es kein sinnvolles und zielgerichtetes Tun ist, führt das ständige Beschäftigtsein zur Überforderung. Wir kommen nicht mehr zur Ruhe, begegnen uns selbst nicht mehr. Daher gehört es zur Lebenskunst, mit den Leerzeiten in unserem Leben gut umzugehen, sie auszuhalten und sie als Quelle neuer Energie und neuer Ideen wahrzunehmen. Leerzeiten konfrontieren uns nicht nur mit unserer eigenen Wahrheit. Sie können auch produktive Zeiten sein.« Ein Buch über das Loslassen und das Annehmen der Leere, das Suchen und Finden von Muße und die existenzielle Sehnsucht nach Fülle.
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Seitenzahl: 105
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0550-6
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0565-0
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller
Covermotiv: sulox32/pixabay.de
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
Von der Kunst, Leere in Fülle zu verwandeln
Vier-Türme-Verlag
Der Leere begegnen
In letzter Zeit ist in den Seelsorgegesprächen, die ich führe, ein Thema aufgetaucht, das mich hellhörig gemacht hat: Immer öfter erzählen mir die Menschen, dass sie sich innerlich leer fühlen. Oft erschrecken die Gesprächspartner dann, wenn sie von dieser Leere sprechen. Denn bisher haben sie diese hinter der Fassade eines Menschen verstecken können, der alles im Griff hat, der bei der Arbeit und in der Familie gut »funktioniert«. Jetzt taucht auf einmal das Gefühl der Leere auf. Das löst Erschrecken aus.
Doch nicht nur die Menschen, die sich mir im Gespräch anvertrauen, sind von dieser Leere betroffen. Es sind nur jene, die es schaffen, darüber zu sprechen. Viele andere Betroffenen möchten erst gar nicht damit konfrontiert werden. So decken sie die Leere zu, indem sie sich selbst in ihrem Leben keine Chance geben, dass einmal Leerlauf entsteht. Jede Pause, jede Auszeit, jede Leerzeit wird mit Aktivität oder Informationsbeschaffung gefüllt. Offensichtlich kann man Leerzeiten nur dann genießen, wenn man bereit ist, sich dieser inneren Leere zu stellen, wenn man sie zulässt als etwas, was zu unserem Menschsein gehört.
Das Phänomen der Leere ist mir aber in den letzten Jahren nicht nur in Gesprächen immer wieder begegnet, sondern auch in einer Fortbildung, zu der wir als Team des Recollectiohauses einen Psychologen eingeladen hatten. Er betonte immer wieder, dass wir genau in uns hineinhorchen sollten, was wir gerade fühlen. Die wichtigste Aufgabe der Psychotherapie sah er darin, sich seiner Gefühle bewusst zu werden, nur so könnten sich vor allem die negativen Gefühle wie Angst, Scham, Schuld, aber auch Leere in etwas verwandeln, das uns nicht lähmt, sondern Energie schenkt. Er stellte zudem fest, dass viele Menschen versuchen, diese Leere mit Aktivismus oder mit dem Konsum von Drogen zu verdrängen.
Diese Erfahrung hat mich neugierig gemacht, dem Gefühl der Leere intensiver nachzugehen. Die Fortbildung hat mich zudem angeregt, auch bei mir selbst nachzuschauen, ob ich dieses Gefühl der Leere kenne. Und ich musste mir eingestehen, dass es mir manchmal nicht anders geht. Da entdecke ich bei der Meditation eine Leere, in der ich nichts von Gottes Gegenwart spüre. Oder hinter all den spirituellen und theologischen Gedanken, die ich beim Schreiben entfalte. So habe ich mich bewusst mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und für mich Wege gefunden, damit umzugehen.
Bei meiner Beschäftigung mit dem Begriff stieß ich auf zwei ganz unterschiedliche Formen von Leere. Die eine wird von Psychologen als Gefühlsleere beschrieben, die innere Leere als Ausdruck von Depression. Das versuchen Therapeuten mit ihren Klienten zu bearbeiten, sodass sie einen angemessenen Umgang damit finden können. Diese depressive Leere erleben auch jene, die sich in ihrem geistlichen Leben auf einmal leer fühlen und die Beziehung zu Gott verloren haben. Daneben hat jedoch die Leere noch eine ganz andere spirituelle Bedeutung. Vor allem Menschen, die Zen-Meditation üben, sprechen von der Leere als dem Ziel ihrer Meditation. Sie ist die Voraussetzung dafür, das Göttliche in sich zu spüren. Diese Form der Leere spielt auch in der mystischen Tradition des Christentums eine wesentliche Rolle. Der mittelalterliche Theologe und Philosoph Meister Eckhart spricht immer wieder davon. Seiner Ansicht nach ist sie die Voraussetzung, dass Gott zu uns kommen und wir mit Gott eins werden können.
Diese beiden Konzeptionen scheinen sich völlig zu widersprechen. Doch wenn wir die psychische Leere genauer anschauen und mit unserem Bewusstsein in sie hineingehen, so werden wir entdecken, dass auch diese Leere letztlich eine große Sehnsucht nach Fülle ist, nach Transzendenz. Unterhalb der Leere entdecken wir eine tiefe Sehnsucht nach etwas, das größer ist als wir selbst und das unsere Leere zu erfüllen vermag. Die innere Leere lädt uns ein, unser Ego loszulassen und uns in das Geheimnis Gottes hineinfallen zu lassen.
Die Leerzeiten in unserem Alltag werden nur dann für uns zum Segen, wenn wir bereit sind, uns der inneren Leere zu stellen. Wenn es um Psychohygiene und geistige Gesundheit geht, wissen Experten auf diesem Gebiet inzwischen, dass Leerzeiten für uns notwendig sind, nicht nur zur Erholung und für ein ausbalanciertes Leben, sondern auch für unsere Kreativität. Gerade in Zeiten, in denen wir uns nicht mit schwierigen Problemen beschäftigen müssen, sondern einfach einmal nichts tun und den Gedanken freien Lauf lassen können, entstehen oft neue Ideen. Wir finden auf einmal Lösungen für Probleme, um die wir lange Zeit mit unseren Gedanken gekreist sind, häufig ohne Ergebnis. Die Leere, die wir in diesen Momenten spüren, wird dann zu einer Quelle von Kreativität, aber eben nur, wenn wir das Gefühl der Leere zulassen und es nicht sofort mit irgendwelchen Aktivitäten oder Informationen zudecken.
Im Gespräch mit anderen höre ich oft von einer großen Sehnsucht nach einer solchen »Auszeit«. Manche verstehen darunter eine längere Zeit, in der sie aus dem Beruf aussteigen möchten, einen mehrmonatigen Urlaub oder einen mehrwöchigen Pilgerweg. Für andere ist eine Auszeit auch schon die alltägliche Pause, die wir uns gönnen. Sie haben das Gefühl, dass sie den Alltag nur bewältigen können, indem sie sich immer wieder eine solche gönnen. Das kann eine Meditation sein, das kann ein längerer Spaziergang sein oder auch eine kurze Pause mitten in der Arbeit. Viele genießen ihre Auszeit. Ob kurze oder längere Pause: Sie kommen darin zur Ruhe. Sie lassen einfach die Seele baumeln und stellen sich vor: Jetzt muss ich einmal gar nichts tun. Ich muss nicht über etwas nachdenken. Ich darf einfach sein. Ich sorge mich nicht um die Zukunft, sondern ich lasse mich ganz auf diesen gegenwärtigen Augenblick ein. Wenn ich mich dann wieder auf die Arbeit einlasse, fühle ich mich innerlich erfrischt.
Auch auf dem spirituellen Weg gibt es Leerzeiten, die man sich bewusst gönnt, etwa bei Exerzitien oder bei einem Klosteraufenthalt oder auch während des Tages, feste Rituale, die man sich setzt, um aus dem Alltagstrott auszubrechen. Als ich noch in der Jugendarbeit tätig war, schickten wir die Jugendlichen bei Einkehrtagen oft nach draußen zu einem sogenannten Wüstentag. Sie sollten dabei nichts mitnehmen, das sie ablenken könnte, auch kein Buch. Heute würde man dazusagen: auch kein Handy oder nur dann, wenn es in den Flugmodus geschalten ist und nur im Notfall benutzt wird. Für viele Jugendliche war das eine Wohltat, für andere jedoch eine Qual. Denn nicht jeder kann die Auszeit und die kleinen Pausen des Alltags genießen. Manche haben Angst davor, denn in dieser Zeit ist man mit sich selbst konfrontiert, mit der eigenen inneren Wahrheit. Es könnte in mir der Gedanke auftauchen, dass mein Leben nicht stimmt, dass ich an meiner Wahrheit vorbeilebe. Vielleicht kommen auch alte Verletzungen hoch oder Schuldgefühle. Und manche erleben dann eine innere Leere.
Heute werden in spirituellen Bildungshäusern solche Wüstentage angeboten. Auch dabei gibt es wenig Programm, nur ein kurzer Impuls am Morgen. Des Weiteren sollen sich die Teilnehmenden einfach Zeit nehmen, auf dem Zimmer zu bleiben und dem nachzugehen, was ihnen dann begegnet oder aus ihrem Inneren aufsteigt. Eine Alternative an solchen Tagen ist, zu wandern und sich dabei frei zu gehen von all den Sorgen und Problemen, die einen im Alltag beschäftigen.
Es müssen nicht immer Wüstentage sein, die wir uns gönnen. Aber Leerzeiten, in denen wir nicht aktiv mit irgendetwas beschäftigt sind, tun uns auch im Alltag gut. Dabei werden wir immer wieder mit unserer eigenen Wahrheit konfrontiert.
So beginne ich dieses Buch, indem ich mich zunächst den Leerzeiten und der Muße zuwende. Es geht mir darum, herauszufinden, wie wir uns beides gönnen und wie wir damit umgehen können. Dann werde ich mich den Phänomenen der psychischen Leere und der Leere, wie sie die Mystik beschreibt, widmen, zuerst getrennt und dann in ihrer Beziehung zueinander.
Leerzeiten
Wenn man den Begriff »Leerzeiten« nachschlägt, stößt man auf verschiedene Definitionen. Einmal meint er solche Momente, in denen Maschinen stillstehen, andererseits kann damit die Zeit gemeint sein, zu der der Briefkasten geleert wird. Oder aber er meint das Warten auf den Bus oder die Fahrten zur Arbeit mit der Bahn. Im Zeitmanagement spielt der Begriff ebenfalls eine Rolle. Hier geht es häufig darum, Leerzeiten gezielt zu nutzen, indem man zum Beispiel beim Warten auf den Bus die Zeitung liest oder während der Bahnfahrt seine Online-Überweisungen tätigt.
Doch das ist gerade das Gegenteil von Leerzeiten, die dem Menschen guttun, weil man die Zeit verzweckt und damit wieder füllt. In anderem Zusammenhang wird im Zeitmanagement zwar häufig erkannt, dass Leerzeiten viel kreatives Potenzial bieten, das man zum einen zum Lesen und anderen Formen der Weiterbildung nutzen kann, zum anderen lassen sie eine Offenheit für kreative Lösungen entstehen. Denn in der Leerzeit kann sich das Gehirn erholen und dann tauchen andere, ungewöhnliche, neue Gedanken auf. Doch auch hier werden Leerzeiten verzweckt. Und eigentlich läuft man so ebenfalls vor der Leere davon, die in der Leerzeit auftauchen könnte.
Sich wirklich eine Leerzeit zu gönnen, bedeutet, einmal bewusst nichts zu tun, sich zum Beispiel einfach auf eine Bank zu setzen und den Gedanken und Gefühlen zu überlassen, die in einem auftauchen. Doch viele haben davor Angst, weil sie das Gefühl haben, dann nicht kontrollieren zu können, was passiert. Zum Beispiel, dass Gefühle auftauchen, die sie nicht spüren möchten. Eine Frau sagte mir, sie könne das nicht aushalten, da gerate sie in Panik. Eine andere meinte, sie könne nicht in die Stille gehen, da würde in ihr ein Vulkan ausbrechen. Beide Aussagen zeigen, dass die Frauen Angst haben vor der eigenen Wahrheit. Und in beiden steckt ein negatives Selbstbild: Sie haben Angst, dass in ihnen etwas Chaotisches, Dunkles, ja Schlechtes ist. Davor wollen sie die Augen verschließen. Jesus sagt:
Die Wahrheit wird euch befreien.
Johannes 8,32
Ich kann meine eigene Wahrheit nur aushalten, wenn ich mir erlaube, dass alles in mir sein darf. Ich bewerte das, was in mir ist, nicht, sondern versuche, es zu verstehen. Und ich lasse alles zu. Ich schaue neugierig in mein Inneres und bringe das, was in mir auftaucht, in Beziehung zu Gott. Dann habe ich die Hoffnung, dass alles – auch das Chaotische oder Dunkle oder Böse – in mir verwandelt werden kann.
Von Muße, Müßiggang und Musen
Was ich in diesem Zusammenhang mit Leerzeit meine, das haben die frühen Griechen und Römer »Muße« genannt. Es war für sie etwas Erstrebenswertes und Beglückendes. Das griechische Wort für Muße ist schole. Das kommt vom Verb echein, das »halten« bedeutet. Man könnte schole also als Innehalten deuten. Das deutsche Wort »innehalten« drückt für mich eine wertvolle Erfahrung aus: Ich mache Halt in meinen vielen Aktivitäten, ich halte mich aus, so, wie ich bin, und ich gehe nach innen, um im Inneren die Haltungen zu finden, die mir auch im Äußeren Halt geben. Vom griechischen Wort schole leitet sich das deutsche Wort »Schule« ab. Eigentlich wäre die Schule also der Ort, an dem wir innehalten, um die inneren Werte zu entdecken und uns – wie die Griechen in ihrer Muße – mit dem Sinn oder den Fragen des Lebens zu beschäftigen. Heute wird auch die Schule immer mehr verzweckt, häufig stehen ökonomische Interessen und Fragen der Effizienz im Vordergrund.
Für die Griechen bedeutete Muße zu haben nicht Müßiggang, wie wir es heute oft verstehen, sondern vielmehr die Freiheit von politischen Verpflichtungen. Der Volksmund sagt:
Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Auch Benedikt sorgte in seiner Regel dafür, dass seine Mönche ihre Zeit nicht mit Müßiggang und Geschwätz verbringen, sondern entweder lesen und meditieren oder arbeiten (vgl. Regel Benedikts 48,18), denn:
Müßiggang ist der Seele Feind.
Regel Benedikts 48,1