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»Zuerst bewahre dich selbst im Frieden, dann kannst du auch andere zum Frieden bringen.« – Entstanden im 15. Jahrhundert, dem »Herbst des Mittelalters«, und dessen geistliche Früchte sammelnd, stellt das Buch Von der Nachfolge Christi eine christliche Weisheitslehre dar. Sie zielt zunächst auf das Leben im Kloster. Als schon sehr bald Laien das Buch entdeckten, wurde es zum Klassiker der spirituellen Weltliteratur. Die neue Übersetzung beruht auf der lateinischen Autorenhandschrift und erklärt alles, was heute unverständlich ist. Das Nachwort zeigt, welche Bedeutung das Buch für spätere Leserinnen und Leser hatte, zu denen neben Dietrich Bonhoeffer auch Miss Marple gehört. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 519
Thomas von Kempen
Die Weisheit des mittelalterlichen Klosters
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962013-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014239-4
www.reclam.de
Das geistliche Leben
Das innerliche Leben
Die heilige Kommunion
Das Buch vom inneren Trost
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Die literarische Eigenart der vier Bücher
Der Wortschatz des geistlichen Lebens. Glossar
Leben mit der Nachfolge Christi. Leserstimmen
Literaturhinweise
Nachwort
1 Von der Nachahmung Christi und von der Verachtung allen eitlen Wahns der Welt
2 Von der demütigen Geringschätzung seiner selbst
3 Von der ›Wahrheit‹ als Lehrerin
4 Von der Vorsicht beim Tun und Lassen
5 Vom Lesen der heiligen Schriften
6 Von den ungeordneten Neigungen (Affekten)
7 Vom Meiden des Wahns eitler Zuversicht und Überheblichkeit
8 Vom Vermeiden allzu großer Vertraulichkeit
9 Von Gehorsam und Unterordnung
10 Vom Vermeiden überflüssigen Redens
11 Vom Erlangen des Friedens und vom Eifer für geistlichen Fortschritt
12 Vom Nutzen des Missgeschicks
13 Vom Widerstand gegen Versuchungen und Anfechtungen
14 Vom Vermeiden des leichtfertigen Urteils
15 Von den Werken, die aus Liebe geschehen
16 Vom Ertragen der Fehler anderer Menschen
17 Vom mönchischen Leben
18 Vom Beispiel der heiligen Väter
19 Von den geistlichen Übungen des guten Religiosen
20 Von der Liebe zu Einsamkeit und Schweigen
21 Von der Reue des Herzens
22 Von der Betrachtung des menschlichen Elends
23 Von der Betrachtung des Todes
24 Vom Gericht und von der Bestrafung der Sünder
25 Von der eifrigen Besserung unseres ganzen Lebens
1Wer mir folgt, wandelt nicht in Finsternis, spricht der Herr.
Dieses Wort soll instruieren: / Christi Tun zu imitieren, /
alles Dunkel destruieren / und das Herz illuminieren.
Unser höchstes Streben sei daher:
Jesu Leben meditieren.
2 Christi Lehre überragt alle Lehren der Heiligen. Wer Christi Denkart hätte, ganze verborgene Schätze könnte er [in dessen Lehre] finden! Obgleich sie das Evangelium häufig hören, verspüren viele nur geringes Verlangen [nach diesen Schätzen], weil sie Christi Denkart nicht haben. Wer aber Christi Worte voll und mit Gespür erfassen will, muss sein ganzes Leben nach Christus zu formen trachten.
3 Was nützt es dir, wenn du eine hochgelehrte Disputation über die Dreifaltigkeit schreibst, aber der Demut ermangelst und deshalb der Dreifaltigkeit missfällst? Nein: Hochgelehrte Worte machen weder heilig noch gerecht; allein ein tugendhaftes Leben erwirkt uns Gottes Huld. Was mich betrifft, so will ich lieber Reue empfinden als ihre Definition kennen. Wüsstest du die ganze Bibel auswendig und dazu die [8]Aussprüche aller Philosophen, was nützte dir das alles ohne Liebe zu Gott und ohne seine Gnade?
4Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitler Wahn, außer Gott zu lieben und ihm allein zu dienen. Das ist die höchste Weisheit: durch Verachtung der Welt das Himmelreich zu erstreben. Eitler Wahn ist es daher, vergänglichen Reichtum zu suchen und darauf seine Zuversicht zu bauen. Eitler Wahn auch, auf ehrenvolle Ämter und hohen Stand aus zu sein. Eitler Wahn ist’s, den Gelüsten des Fleisches zu folgen und das zu begehren, wofür man später schwere Pein erleiden muss.
Eitler Wahn: der Wunsch nach langem Leben, / ohne auf Tugend achtzugeben.
Eitler Wahn ist es, das gegenwärtige Leben allein im Blick zu haben und auf das künftige nicht zu achten. Eitler Wahn, das zu lieben, was mit aller Schnelligkeit entschwindet – statt dorthin zu eilen, wo ewig Freude herrscht.
5 Bedenke oft das Sprichwort: »Das Auge wird vom Sehn nicht satt, das Ohr vom Hören niemals matt.« Trachte also danach, das Herz von der Liebe zum Sichtbaren zu lösen und dich dem Unsichtbaren zuzuwenden. Denn wer nur den [äußeren] Sinnen folgt, befleckt sein Gewissen und verliert Gottes Gnade.
6 »Jeder Mensch ist von Natur aus wissbegierig« [Aristoteles], doch was nützt Wissen ohne Gottesfurcht? Ein einfacher Mann vom Land, der Gott in Demut dient, steht wirklich besser da als ein stolzer Philosoph, der, unbekümmert um seine [9]Seele, den Lauf der Gestirne studiert. Wer sich selbst recht erkennt, macht sich klein und verliert die Freude am Beifall. Hätte ich alle Kenntnis der Welt, hätte aber die Liebe [zu Gott] nicht – was hülfe es mir vor Gott, der mich richten wird nach meinem Tun?
7 Lass ab von allzu großer Wissbegier – sie verwirrt und führt in die Irre.
Beachtung sucht der Gelehrte und den Ruf eines Weisen.
Doch das meiste Wissen bringt der Seele wenig oder gar keinen Nutzen. Und sehr unverständig ist, wer nach anderem trachtet als nach dem, was seinem Heile dient. Der Worte Überzahl sättigt die Seele nicht, doch ein frommes Leben erquickt den Geist, und ein reines Gewissen gewährt großes Gottvertrauen.
8 Je mehr und gründlicher dein Wissen, desto strenger wirst du gerichtet werden, besonders wenn dein Leben nicht gerade heilig war. Überhebe dich also nicht wegen einer Kunst oder Wissenschaft, sondern fürchte Gott wegen der dir verliehenen Kenntnisse. Scheint es dir, als wüsstest du vieles und verstündest es gut, so bedenke: Es gibt weit mehr, was du nicht weißt. Sei nicht hochmütig, sondern gestehe deine Unwissenheit ein. Weshalb willst du Vorrang vor anderen beanspruchen, wo es doch recht viele gibt, die gelehrter sind als du, vertrauter mit der Bibel? Willst du etwas mit Nutzen verstehen und lernen, dann
liebe es, unbekannt zu sein und ohne Beachtung.
Die beste Lehre, die steht hier: / Erkenn dich selbst, halt nichts von dir!
[10]Von sich selbst nichts halten, von anderen immer gut und edel denken: Das ist große Weisheit und Vollkommenheit.
Von der Sünde kann einer nicht lassen,
du siehst’s und kannst’s nicht fassen.
Doch meine nicht, du seist ihm überlegen –
kannst du denn stets die Tugend pflegen?
Alle sind wir anfällig für Sünde, aber keinen sollst du für anfälliger halten als dich selbst.
9 Glücklich, wen die ›Wahrheit‹ belehrt, ohne den Schmuck
bildlicher Rede! Wie’s ist, sagt doch das einfache Wort.
Denn unser Meinen und unsere Sinne täuschen uns beständig, und man sieht nicht sehr weit.
Was nützt der ganze Wortschwall über verborgene und dunkle Dinge, deren Unkenntnis uns im Gericht dereinst nicht vorgeworfen werden wird? Das Nützliche und Notwendige lassen wir beiseite und wenden uns dem Seltsamen und Schädlichen zu – wie töricht! Augen haben wir und sehen nicht. Was gehen uns [die Begriffe] »die Gattung« und »die Art« an?
10 Spricht zu dir das ewge ›Wort‹,
ist der Wust der Lehren fort.
Aus dem Einen, dem ›Wort‹, ist alles geworden,
und alles bezeugt das Eine.
Das Eine ist der Anfang,
der auch zu uns spricht.
Niemand hat ohne dasselbe Einsicht
[11]und rechtes Urteil.
Wem alles das Eine ist –
wer alles auf das Eine bezieht
und alles in dem Einen sieht –,
der bleibt im Herzen fest
und ›in Gott‹ im Frieden.
Du ›Wahrheit‹, Gott! Mache mich eins mit dir in beständiger Liebe! Das viele Studieren und Vorlesung-Hören – oft bin ich’s leid. In dir ist alles, was ich will und wünsche. Schweigen sollen alle Lehrer, verstummen alle Geschöpfe vor deinem Angesicht – du selbst, du allein rede zu mir! Je mehr jemand mit dir [Gott] vereinigt ist und innerlich einfältig geworden, desto mehr höhere Dinge begreift er ohne Mühe, weil er von oben das Licht der Erkenntnis empfängt.
11 Ein reiner, einfältiger und gefestigter Geist wird auch bei vielfältigem Wirken nicht zerstreut. Bestrebt, im Innern von aller Eigenliebe frei zu sein, tut er alles zu Gottes Ehre. Was hindert und belästigt dich mehr als die nicht abgetötete Neigung deines Herzens? Bevor er sie äußerlich verrichtet, ordnet der gute und fromme Mensch innerlich seine Werke. Dabei lässt er sich nicht von sündhaften Trieben leiten, sondern zügelt diese nach dem Urteil rechter Vernunft.
Wer hat einen härteren Kampf als jener, der sich selbst zu besiegen trachtet? Das sollte unser Geschäft sein: uns selbst zu überwinden, täglich mehr Macht über uns selbst zu erlangen und so in der Besserung einen Schritt voranzukommen.
[Ende des Einschubs]
[12]12 Selbst was in diesem Leben vollkommen ist, bleibt mit einer gewissen Unvollkommenheit behaftet. Jedes Spiegelbild, das uns zeigt, ist irgendwie trüb. Demütige Erkenntnis deiner selbst ist der Weg, der sicherer zu Gott führt als profunde wissenschaftliche Forschung.
Wissenschaft an sich ist gut und schön, / so auch das einfache Verstehn, / in Gottes Ordnung vorgesehn.
Die Wissenschaft ist nicht zu tadeln, doch stets sind gutes Gewissen und tugendhaftes Leben vorzuziehen. Weil indes gar viele sich mehr des Wissenserwerbs befleißigen als eines rechtschaffenen Lebens, verfallen sie oft dem Irrtum und bringen so gut wie keine Frucht. O wenn sie doch so viel Fleiß auf das Ausrotten der Laster und das Einpflanzen der Tugenden verwendeten wie auf das Erörtern gelehrter Quaestionen! Dann gäbe es nicht so viele Missstände im Volk und kein so großes Chaos in den Klöstern.
13 Man ruft den Tag des Gerichtes aus!
Der Richter fragt nicht: Was hast du gelesen?
Hast schön du geredet mit viel Applaus?
Sondern: Bist du fromm und gut gewesen?
Sag mir: Wo sind jetzt all die Herren Magister, die du gut gekannt hast, als sie noch lebten, die durch Gelehrsamkeit sich hervortaten? Jetzt besitzen andere ihre Pfründe, und ich weiß nicht, ob die Inhaber ihrer Vorgänger noch gedenken. In ihrem Leben schienen sie etwas [Besonderes] zu sein, doch jetzt schweigt man von ihnen. »O wie schnell vergeht die Herrlichkeit der Welt!«
Hätte doch ihr Leben mit ihrer Wissenschaft übereingestimmt! Wie recht hätten sie dann studiert und doziert! Wie [13]viele gehen in der Welt zugrunde durch den Wahn eitler Wissenschaft, nur weil sie sich zu wenig um den Dienst an Gott kümmern! Weil sie lieber groß sein wollen als demütig, scheitern sie in ihrem Denken.
Wahrhaft groß ist, wer sich selbst klein dünkt und die höchste Ehre für nichts achtet. Wahrhaft klug, wer alles Irdische für Unrat hält, damit er Christus gewinne. Und wahrhaft hochgelehrt, wer Gottes Willen tut und den eigenen Willen nicht gelten lässt.
14Nicht trauen darf man jedem Wort und Einfall, sondern soll vorsichtig und behutsam eine Sache vor Gott überlegen.
Leider ist es so: Man glaubt und sagt ständig eher Schlechtes als Gutes über andere – so schwach sind wir. Vollkommene Menschen aber glauben nicht leicht jedem Geschwätz, ist doch, wie sie wissen, der schwache Mensch zum Bösen geneigt und sehr wankelmütig in dem, was er sagt.
Wer wirklich weise ist, tut nichts überstürzt und besteht nicht hartnäckig auf eigenen Ansichten. Zur Weisheit gehört auch, nicht jedem beliebigen Gerede der anderen Glauben zu schenken, und was du hörst oder glaubst, nicht sofort in andere Ohren zu tragen.
Mit einem weisen und gewissenhaften Manne halte Rat, und lass dich lieber von ihm belehren, als dass du eigenen Einfällen folgst.
Ein gut geführtes Leben macht den Menschen weise vor Gott und erfahren in vielen Dingen. Je demütiger jemand von sich aus ist und je gottergebener, desto weiser und ruhiger wird er in allem sein.
15 Wahrheit soll man in den heiligen Schriften suchen, nicht schönen Stil. Jedes heilige Buch muss in dem Geist gelesen werden, in dem es verfasst wurde. In den Büchern sollen wir suchen, was dem Leben nutzt, nicht was die Sprache putzt.
Ebenso gern wie hochgelehrte und tiefgründige Bücher sollen wir auch fromme und einfältige lesen. Kümmere dich nicht um das Ansehen des Autors, ob er von geringer oder großer Gelehrsamkeit ist, sondern nichts als die Liebe zur Wahrheit ziehe dich zum Lesen hin. Frage nicht, wer etwas gesagt hat, sondern achte darauf, was gesagt wird. Die Menschen vergehen, aber die Wahrheit des Herrn bleibt ewig. Nicht wählerisch, was die Autoren angeht, lässt Gott auf mannigfache Art zu uns reden.
[Ende des Einschubs]
16 Beim Lesen der heiligen Schriften steht uns oft unsere Neugier im Weg, da wir an Stellen, über die wir in Einfalt hinweggehen sollten, etwas begreifen und erforschen wollen. Willst du Nutzen haben, dann lies demütig, einfältig und gläubig und erstrebe nie den Ruhm eines Gelehrten. Befrage gerne die Worte der heiligen Autoren und höre schweigend [die Antwort]. Und stoße dich nicht an den Gleichnisworten der Alten, denn ohne Grund werden sie nicht vorgebracht.
17 Wann immer jemand etwas außerhalb der Ordnung begehrt, wird er sogleich im Innern unruhig. Überhebliche und [15]habgierige Menschen finden niemals Ruhe; die aber arm sind und demütig im Geiste, wandeln in der Fülle des Friedens.
Wer im Innern noch nicht vollkommen abgestorben ist, gerät leicht in Versuchung und unterliegt in kleinen, unwichtigen Dingen. Wessen Geist schwach ist – das heißt: noch ›fleischlich‹ und zum Sinnlichen geneigt –, der kann sich nur schwer von irdischen Wünschen völlig lösen. Löst er sich von ihnen, fällt er oft in Traurigkeit. Stellt sich ihm jemand in den Weg, dann wird er schnell unwillig. Hat er aber erlangt, was er begehrt, so wird er alsbald vom schlechten Gewissen bedrückt, weil er seinen Trieben folgte, die nichts beitragen zu dem Frieden, den er sucht.
Wahren Herzensfrieden findet man durch Widerstand gegen die Triebe, nicht aber dadurch, dass man ihr Knecht wird. Deshalb ist kein Friede im Herzen eines ›fleischlichen‹ Menschen, in einem, der äußeren Dingen ergeben ist, wohl aber in einem eifrigen, geistlich gesinnten Menschen.
18 Eitlem Wahn folgt, wer seine Zuversicht auf Menschen oder Erschaffenes gründet.
Schäme dich nicht, anderen zu dienen aus Liebe zu Jesus Christus und für arm in dieser Welt zu gelten. Verlass dich nicht auf dich selbst, sondern gründe deine Zuversicht auf Gott. Tu, was in deinen Kräften steht, und Gott wird deinem guten Willen beistehen. Vertraue nicht auf dein Wissen oder die Klugheit eines Sterblichen, sondern auf die Gnade Gottes, der den Demütigen hilft und die Überheblichen erniedrigt.
19Rühme dich nicht des Reichtums, wenn du welchen hast, noch deiner mächtigen Freunde, sondern rühme dich Gottes, der dir alles gewährt – und dir vor allem sich selbst schenken [16]will. Sei nicht stolz auf die Stattlichkeit oder Schönheit deines Leibes; schon eine kleine Krankheit kann sie entstellen und zerstören. Bilde dir nichts ein auf deine Geschicklichkeit oder Begabung, sonst missfällst du Gott, dem du alle guten Gaben verdankst, die du von Natur aus hast.
Halte dich nicht für besser als andere, damit du nicht etwa vor Gott als schlechter giltst; er weiß, wie es um jeden steht. Sei nicht stolz auf gute Werke, denn Gottes Urteil ist anders als das der Menschen – oft missfällt ihm, was den Menschen gefällt. Findest du an dir etwas Gutes, dann denke: Andere sind mir überlegen; nur so kannst du Demut bewahren. Es schadet nichts, wenn du dich allen nachsetzt; es schadet aber sehr viel, wenn du dich auch nur einem Einzigen vorsetzt.
Stets ist der Friede bei dem, der demütig ist; im Herzen des Hochmütigen aber herrschen dauernd Neid und Bitterkeit.
20Nicht jedem Menschen enthülle dein Herz, sondern mit einem Weisen und Gottesfürchtigen berate deine Sache. Mit jungen Leuten und Fremden verkehre selten. Den Reichen schmeichle nicht, vor Hochgestellten erscheine nicht gern. Mit demütigen, einfältigen, frommen und sittsamen Menschen pflege Gemeinschaft; mit ihnen sprich über Erbauliches. Sei nicht vertraulich mit einer bestimmten Frau; alle guten Frauen insgesamt aber kannst du Gott anbefehlen. Nur mit Gott und seinen Engeln wünsche vertraut zu stehen, die Bekanntschaft der Menschen aber meide. Liebe muss man zu allen haben, doch Vertraulichkeit tut nicht gut.
Zuweilen geschieht dies: Jemand, den wir nicht persönlich kennen, glänzt durch guten Ruf; tritt er aber auf, dann enttäuscht er die Augen derer, die ihn erblicken.
[17]Wir glauben bisweilen, anderen zu gefallen, weil sie eng mit uns verbunden sind – aber tatsächlich machen wir uns unbeliebt wegen des schlechten Betragens, das man an uns bemerkt.
21 Etwas ganz Besonderes ist es, im Gehorsam zu stehen, unter einem Oberen zu leben und nicht sein eigener Herr zu sein. Als Untergebener zu leben bringt mehr Sicherheit, als wenn man das Amt eines Oberen bekleidet.
Viele leben im Gehorsam mehr aus Zwang als aus Liebe, leiden Pein und murren leicht. Solange sie sich nicht um Gottes willen aus ganzem Herzen unterordnen, werden sie keine innere Freiheit erlangen. Du kannst hingehen, wo du willst – du wirst keine Ruhe finden außer unter der Leitung eines Oberen, in demütiger Unterordnung. Phantasievolle Vorstellungen über einen anderen Ort und den Wechsel dorthin haben schon viele in die Irre geführt.
Eigentlich will jeder, dass man in seinem Sinne handelt, und jeder neigt mehr denen zu, die wie er denken. Doch soll Gott unter uns weilen, müssen wir bisweilen von unserer Meinung abrücken – um des lieben Friedens willen. Wer ist so weise, dass er alles vollkommen wissen kann? Deshalb vertraue nicht zu sehr auf deine Meinung, sondern höre auch gern auf die Meinung anderer. Ist deine Ansicht gut, und lässt du gerade sie um Gottes willen fahren und folgst einer anderen Ansicht, dann wird dir das zu großem Fortschritt verhelfen. Ich habe den Spruch gehört, es sei stets »besser, auf Rat zu hören, als Rat zu erteilen«. Es kann auch sein, dass eines jeden Meinung gut ist; aber andern sich nicht anbequemen wollen, obwohl Vernunft und Sachlage es fordern, das zeugt von Hochmut und Starrsinn.
22 Von der lauten Geselligkeit der Menschen halte dich nach Kräften fern! Zum großen Problem wird das Gespräch über weltliche Dinge, selbst wenn es von einfältiger Absicht getragen ist, denn schnell wird man von eitlem Wahn befleckt und umgarnt.
Eitelkeit und leerer Wahn / werfen mich aus meiner Bahn. /
O hätt ich doch geschwiegen, / von Menschen mich geschieden.
23 Weshalb reden und plaudern wir so gern miteinander, obwohl wir selten ohne ein schlechtes Gewissen zum Schweigen zurückkehren? Wir reden deshalb so gern, weil wir uns im Gespräch gegenseitig trösten wollen und sich das von allerlei Gedanken müde Herz erholen soll. Bereden und erwägen mögen wir recht gern das, was wir sehr lieben und erstreben oder was wir als widrig empfinden – aber, wie ärgerlich: Zumeist ist das alles nutzlos und bringt nichts! Denn was äußerlich tröstet, fügt dem inneren, göttlichen Trost nicht geringen Schaden zu.
Deshalb muss man wachen und beten, damit die Zeit nicht ungenutzt vorübergeht. Gilt es zu reden, dann rede Erbauliches. Üble Gewohnheit und Vernachlässigung unseres Fortschritts hindern uns daran, den Mund zu bewachen. Dagegen trägt die fromme Zwiesprache über geistliche Dinge nicht wenig zur geistlichen Vervollkommnung bei, besonders wenn Menschen, die gleich sind an Herz und Geist, sich ›in Gott‹ versammeln.
24 Beschäftigten wir uns nicht mit dem, was uns nichts angeht, was andere tun und sagen, dann könnten wir viel Frieden haben. Wie kann der lange im Frieden bleiben, der sich in fremde Angelegenheiten einmischt, der draußen nach Beschäftigung sucht, der wenig oder selten sich innerlich sammelt?
Selig die Einfältigen, viel Frieden werden sie haben!
25 Weshalb sind manche Heilige so vollkommen gewesen, so auf das ›Schauen‹ [Gottes] ausgerichtet? Weil bestrebt, alle irdischen Wünsche gänzlich abzutöten, konnten sie, ganz frei, Gott mit allen Fasern des Herzens anhangen. Wir aber werden zu sehr von unseren Trieben beherrscht und kümmern uns zu viel um Vergängliches. Selten überwinden wir auch nur ein einziges Laster vollkommen, und zu täglichem Vorwärtsstreben entflammen wir uns nicht; deshalb bleiben wir so kalt und lau. Wären wir uns selbst vollkommen abgestorben und mit der Welt nur wenig verflochten, dann könnten wir an Göttlichem Geschmack finden und himmlisches ›Schauen‹ erleben. Das alleinige und größte Hindernis liegt darin, dass wir, von Trieben und Begierden nicht frei, den vollkommenen Lebensweg der Heiligen nicht zu beschreiten wagen. Sobald uns auch nur ein kleines Ungemach trifft, sind wir ganz niedergeschlagen und wenden uns etwas Menschlichem zu, das uns tröstet.
Wären wir bestrebt, wie tapfere Krieger im Kampf zu stehen, wahrlich, wir könnten die Hilfe des Herrn vom Himmel her erblicken. Er ist bereit, denen, die kämpfen und auf seine [20]Gnade vertrauen, beizustehen – er, der uns Gelegenheit zum Kampfe schafft, auf dass wir siegen.
Bauen wir den religiösen Fortschritt nur auf die bekannten äußeren Pflichtübungen, dann wird unsere Frömmigkeit rasch ein Ende finden. Legen wir also die Axt an die Wurzel, damit wir, von Trieben gereinigt, seelischen Frieden erlangen!
Gelänge es uns, jedes Jahr auch nur ein Laster auszurotten, wären wir bald vollkommen. Nun erleben wir aber oft das Gegenteil und müssen feststellen, dass wir zu Anfang unserer Bekehrung besser und reiner waren als jetzt, viele Jahre nach Ablegung der Gelübde. Eifer und Fortschritt müssten eigentlich täglich wachsen – tatsächlich aber gilt es schon als etwas Besonderes, wenn jemand auch nur einen Teil des ursprünglichen Eifers beibehalten kann.
Tun wir uns am Anfang [des Lebens im Kloster oder Fraterhaus] ein wenig Gewalt an, dann wird uns später alles mit Leichtigkeit und Freude von der Hand gehen.
Schwer ist es, schlechte Gewohnheiten aufzugeben, schwerer noch, gegen den eigenen Willen anzugehen. Besiegst du aber Kleines und Leichtes nicht, wie willst du dann Schweres überwinden? Gleich anfangs leiste deiner Neigung Widerstand und lege die üble Gewohnheit ab, damit sie dich nicht allmählich in größere Schwierigkeiten bringt. Bedenke doch, welch tiefen Frieden du dir und welche große Freude du anderen durch eigenes Wohlverhalten verschaffen kannst! Tätest du’s, ich glaube, du würdest dich um deinen geistlichen Fortschritt noch mehr kümmern.
26 Gut ist es, zuweilen ein Problem oder Missgeschick zu haben, denn es ruft den Menschen stets zu seinem Herzen [21]zurück; so erkennt er, dass er in der Verbannung lebt und seine Zuversicht auf nichts in der Welt gründen kann. Gut, dass wir ab und zu Widerspruch erfahren und dass man uns für schlecht und unvollkommen hält, selbst wenn unser Tun und Wollen gut ist. Das verhilft immer zur Demut und bewahrt uns vor eitler Sucht nach Anerkennung. Denn werden wir draußen von den Menschen geringgeschätzt und denkt man von uns schlecht, dann suchen wir mehr den inneren Zeugen, Gott. Deshalb soll sich der Mensch ›in Gott‹ so befestigen, dass er menschlichen Trostes nicht mehr bedarf.
27 Wird jemand, der guten Willens ist, bedrängt, versucht oder von bösen Gedanken behelligt, dann sieht er eher ein: Gott tut ihm not, ohne ihn vermag er sich nicht richtig zu verhalten. Dann wird er traurig, seufzt und betet wegen des Elends, das er erduldet. Dann ekelt es ihn, länger zu leben, und er wünscht, der Tod möge kommen, damit er aufgelöst werde, um bei Christus zu sein. Dann merkt er auch: Absolute Sicherheit und dauerhaften [inneren] Frieden kann es in dieser Welt nicht geben.
28 Solange wir in dieser Welt leben, bleiben wir nicht ohne leidvolle Anfechtung. Darum steht bei Hiob geschrieben: »Eine Anfechtung ist das menschliche Leben auf Erden.« Also soll jeder wegen Versuchungen [zur Sünde] auf der Hut sein und betend wachen, damit der Teufel keine Gelegenheit finde, ihn zu täuschen, er, der niemals ruht, sondern umhergeht und sucht, wen er verschlingen könne. Niemand ist so vollkommen und so heilig, dass er nicht bisweilen Anfechtungen hätte; ganz frei davon sein können wir nicht.
[22]29 Mögen sie auch lästig und beschwerlich sein, Versuchungen sind dem Menschen stets sehr nützlich, weil sie demütigen, läutern und belehren. Alle Heiligen sind durch viele leidvolle Anfechtungen hindurchgegangen und haben so Fortschritte gemacht. Nur jene, die den Versuchungen nicht standzuhalten vermochten, fielen ab und wurden verworfen.
Kein Orden ist so heilig und kein [Kloster] so abgelegen, dass dort nicht Versuchungen oder Widerwärtigkeiten sich fänden. Solange man lebt, ist man nie sicher vor Versuchungen, denn in uns selbst liegt die Ursache, weshalb wir versucht werden – weil wir [mit dem Makel] der ›Begehrlichkeit‹ geboren sind. Endet eine leidvolle Versuchung, dann kommt eine andere über uns, und immer werden wir etwas zu erdulden haben, denn das Gut der Glückseligkeit haben wir verloren.
30 Viele suchen den Versuchungen durch Flucht zu entkommen, doch dadurch sinken sie noch tiefer in sie hinein. Durch Flucht allein können wir nicht siegen, nur durch geduldiges Leiden und wahre Demut werden wir stärker als alle Feinde. Wer sich nur äußerlich abseits hält und die Sache nicht an der Wurzel packt, wird wenig erreichen; im Gegenteil: Die Versuchungen werden schnell zu ihm zurückkehren, und er wird sich noch schlechter fühlen. Schritt für Schritt, durch Ausdauer, leidenswillige Geduld und mit Gottes Hilfe kommst du eher zum Sieg als durch Härte und Ungestüm.
Nimm stets Rat an in der Versuchung! Und [wenn du selbst Rat gibst] verfahre nicht hart mit einem, der versucht wird, sondern sprich ihm Trost zu, wie du wünschen würdest, dass dir selbst geschehe.
31 Am Anfang jeder schlimmen Versuchung stehen Unbeständigkeit des Geistes und zu geringes Vertrauen auf Gott, denn wie ein Schiff ohne Steuermann von den Fluten hin und her [23]getrieben wird, so wird ein nachlässiger und seinem Vorsatz untreuer Mensch mannigfach versucht.
Das Feuer prüft das Eisen, Versuchung den Mann, ob er gut ist.
Wir wissen oft nicht, was wir vermögen, aber die Versuchung macht kund, wie’s um uns steht.
Wachsam sein muss man vornehmlich am Anfang der Versuchung, weil der Feind leichter besiegt wird, wenn man ihn um keinen Preis in das Tor des Herzens eindringen lässt, sondern ihm schon vor der Schwelle entgegentritt, sobald er anklopft. Daher sagt jemand [der antike Dichter Ovid]:
»Wehre im Anfang, denn bald ist’s zu spät für den lindernden Heiltrank.«
Denn zuerst beschleicht den Geist ein einfacher Gedanke, dann entsteht eine lebhafte Vorstellung, schließlich kommen Wohlgefallen, sündige Erregung und – Bejahung. Wird ihm nicht schon am Anfang Widerstand geleistet, dringt der böse Feind allmählich ganz ein [und übernimmt die Herrschaft]. Und je länger jemand mit dem Widerstand säumt, desto schwächer wird er im Innern tagtäglich, und der Feind umso mächtiger.
Die einen erleiden am Anfang ihrer Bekehrung [d. h. ihres Lebens im Kloster oder Fraterhaus] die schweren Versuchungen, andere erst am Ende. Und wieder anderen geht es im gesamten Leben schlecht. Manche werden nur leicht versucht gemäß der Weisheit und Billigkeit göttlicher Fügung, die den Zustand und die Verdienste der Menschen wägt und alles zum Heil der Auserwählten im Voraus ordnet. Werden wir versucht, dürfen wir nicht verzweifeln, sondern sollen umso flehentlicher Gott bitten, dass er uns in jeder Trübsal gnädig [24]beistehe, er, der nach einem Wort des Paulus einen Ausweg aus der Versuchung schaffen wird, damit wir es aushalten können.
32 Demütigen wir also unsere Seelen unter die Hand Gottes in jeder leidvollen Versuchung, weil er die im Geiste Demütigen retten und erhöhen wird. In leidvoller Versuchung wird erprobt, wie viel jemand [schon] gewonnen hat – darin besteht der große Nutzen, und die Kraft der Tugend offenbart sich sehr gut. Es stellt keine Leistung dar, wenn jemand fromm und eifrig ist, solange es ihm nicht schlecht geht; aber wenn man sich zur Zeit des Ungemachs in Geduld übt, dann besteht Aussicht auf großen Fortschritt. Manche werden [zunächst] vor großen Versuchungen bewahrt und immer nur von kleinen alltäglichen besiegt, damit sie, durch ihre Schwäche bei kleinen Versuchungen gedemütigt, in großen Versuchungen niemals auf sich selbst vertrauen.
33 Hüte dich, das Tun anderer zu beurteilen – richte den Blick auf dich selbst! Bei der Beurteilung anderer müht man sich vergebens ab, irrt sich oft und versündigt sich leicht; von der Beurteilung und Erforschung seiner selbst aber hat man stets einen Nutzen.
Zumeist urteilen wir über etwas nach dem Maßstab unseres eigenen Herzens – und so verfehlen wir aus Eigenliebe das richtige Urteil. Wäre unser Sinn aber stets ganz auf Gott ausgerichtet, könnte uns der Widerstand unseres Herzens nicht so leicht verwirren. Aber oft gibt es etwas in uns, das verborgen ist, oder es kommt noch etwas von außen hinzu, das uns in gleicher Weise verführt. Viele suchen unbewusst sich selbst in dem, was sie tun, und merken es nicht. Ganz offensichtlich [25]sind sie zufrieden, solange die Dinge nach ihrem Wunsch und in ihrem Sinne geschehen. Geht es aber anders zu, als sie wünschen, werden sie schnell in Unruhe versetzt und missmutig. Wegen der Verschiedenheit der Gesinnungen und Meinungen entsteht ständig Streit – unter Freunden, unter Mitbürgern, unter Ordensleuten und unter frommen Laien.
34 Eine alte Gewohnheit gibt man nur schwer auf, und über seinen Gesichtskreis hinaus lässt sich niemand gerne führen. Stützt du dich mehr auf deine Vernunft oder Rührigkeit als auf die Jesus Christus ergebene Tugend, dann wirst du kaum oder erst spät [im Leben] ein erleuchteter Mensch werden. Gott will, dass wir uns ihm völlig unterwerfen und, in Liebe entflammt, über alle Vernunft hinwegschreiten.
35 Um nichts in der Welt darf man etwas Böses tun, auch nicht aus Liebe zu einem Menschen; wohl aber darf man zugunsten eines Bedürftigen ein gutes Werk aus freien Stücken unterlassen und gegen ein besseres tauschen. So wird das gute Werk nicht zerstört, sondern in ein besseres verwandelt. Ohne Liebe nützt äußeres Wirken nichts; was aber aus Liebe geschieht, sei es auch noch so klein und unscheinbar, das bringt immer Frucht. Gott beachtet ja mehr, weshalb jemand handelt, als das Werk, das er verrichtet. Viel tut, wer viel liebt. Viel tut, wer eine Sache recht tut. Recht tut, wer der [klösterlichen] Gemeinschaft mehr als dem eigenen Wunsche dient.
36 Oft scheint Liebesverlangen zu sein, was in Wahrheit Fleischesverlangen ist; natürliche Neigung, Eigenwille, Hoffnung auf Belohnung, Streben nach Vorteil stecken dahinter. Wer aber [26]wahre und vollkommene Liebe [zu Gott] hat, sucht in keiner Sache sich selbst, sondern wünscht, dass alles allein zu Gottes Ehre geschehe. Freut sich ein anderer, so neidet er’s ihm nicht, denn an [irdischer] Freude liegt ihm nichts. Nicht Freude begehrt er, sondern – jenseits alles Guten – Seligkeit wünscht er ›in Gott‹. Gutes schreibt er nie dem Menschen zu, sondern führt es immer auf Gott zurück, von dem als Ursprung alles ausgeht und ›in dem‹ am Ende alle Heiligen in den Genuss der Ruhe kommen.
Wer nur ein Fünkchen wahrer Gottesliebe hat: Fürwahr, er merkt, dass alles Irdische voll eitlen Wahns ist.
37 Was man an sich selbst oder an anderen nicht zu bessern vermag, soll man geduldig ertragen, bis Gott es anders fügt. Bedenke, dass deine Geduld geprüft wird, ohne die unsere Verdienste nicht viel gelten. Du musst jedoch bei solchem Ungemach Gott inständig bitten, er möge dir gnädig zu Hilfe kommen und Gelassenheit im Ertragen schenken.
Will sich jemand trotz ein- oder zweimaliger Ermahnung nicht fügen, dann streite nicht mit ihm; stelle alles Gott anheim, auf dass sein Wille geschehe und er geehrt werde in allen seinen Dienern, er, der das Böse zum Guten zu wenden weiß.
38 Sei bestrebt, geduldig zu sein im Ertragen fremder Fehler und wie auch immer gearteter Schwächen, denn auch bei dir gibt es vieles, was andere ertragen müssen. Wie willst du einen anderen dahin bringen, dass er dir gefällt, wo du nicht einmal dich selbst so formen kannst, wie du möchtest?
Die andern sei’n von Fehlern frei, / du selbst behältst die Fehler bei.
[27]Wir wollen, dass andere streng zurechtgewiesen werden, doch wir selbst ertragen keine Rüge. Die große Freiheit anderer missfällt uns, und doch wollen wir nicht, dass uns versagt werde, was wir erbitten. Andere wollen wir durch Satzungen beengt wissen, und wir selbst wollen nicht dulden, dass man uns weiter einschränke. Also ist offenbar, wie selten wir den Nächsten uns gleich erachten.
39 Wären alle von uns vollkommen, hätten wir dann etwas zu leiden für Gott? Nun aber hat Gott es so gefügt, dass einer des anderen Last zu tragen lerne, weil niemand ohne Fehler ist, niemand ohne Last, niemand sich selbst genügen kann, niemand vollkommen weise ist; daher müssen wir uns gegenseitig ertragen, gegenseitig trösten, ebenso unterstützen, belehren und ermahnen.
Welchen Grad der Tugend jemand erlangt hat, zeigt sich erst richtig, wenn ihm Ungemach zustößt. Ungemach schadet ihm nicht, sondern lässt ihn zeigen, wie [stark] er ist.
40 Willst du Frieden und Eintracht mit anderen halten, dann musst du lernen, in vielem dich selbst zu zügeln. Es ist keine Kleinigkeit, im Kloster oder in einer [religiösen] Gemeinschaft sein ganzes Leben ohne Klage zu verbringen und bis zum Tode getreulich auszuharren. Selig, wer dort recht gelebt und ein glückliches Ende gefunden hat!
Willst du deiner Pflicht entsprechen und fortschreiten, dann verhalte dich wie ein Pilger auf Erden. Um ein religiöses Leben zu führen, musst du töricht werden um Christi willen. Mönchsgewand und Tonsur tragen wenig dazu bei – die Änderung des Lebenswandels und die völlige Abtötung der Triebe sind die wahren Kennzeichen des religiösen Menschen.
[28]41 Wer etwas anderes sucht als allein Gott und der eigenen Seele Heil, wird [im Kloster oder einer religiösen Gemeinschaft] nichts finden als Kummer und Leid. Auch kann nicht lange im Frieden verbleiben, wer sich nicht Mühe gibt, der Geringste zu sein und allen untertan. Zum Dienen bist du [ins Kloster oder die Gemeinschaft] gekommen, nicht zum Herrschen. Zum Erdulden und Arbeiten, das wisse, bist du berufen, nicht zum Müßiggang oder Plaudern. Hier [im Kloster oder der Gemeinschaft] werden die Menschen geprüft wie Gold im Ofen. Wer sich nicht von ganzem Herzen Gott zuliebe demütigen will, ist hier fehl am Platz.
42 Betrachte die Heiligen: lebendige Vorbilder, in denen die wahre Vollkommenheit des religiösen Lebens aufleuchtet, und du wirst sehen, wie gering und fast nichts das ist, was wir tun. Ach, was ist unser Leben, wenn mit dem ihren verglichen! Als Heilige und Freunde Christi dienten sie dem Herrn mit Hunger und Durst, mit Frieren und Blöße, mit Arbeit und Ermüdung, mit Wachen und Fasten, mit Gebet und heiliger Betrachtung, mit dem Erleiden von Verfolgung und Schmähung. Wie viel und wie schwer litten sie alle – die Apostel, die Märtyrer, die Bekenner, die Jungfrauen und alle übrigen, die Christi Fußstapfen folgten! Sie hassten ihre Seelen in dieser Welt, um sie für das ewige Leben zu besitzen.
43 Was für ein strenges und entsagungsvolles Leben haben die heiligen Väter in der Wüste geführt! Welch lange und schwere Versuchungen haben sie erlebt! Wie oft wurden sie vom Feinde geplagt! Welch große Zahl inständiger Gebete haben sie an Gott gerichtet! Welch strenges Fasten durchgestanden! Mit welch großem, brennendem Eifer betrieben sie den geistlichen [29]Fortschritt! Wie tapfer kämpften sie gegen die Zwingherrschaft ihrer Fehler!
Welch reine und aufrichtige Ausrichtung [ihres Lebens] auf Gott pflegten sie! Tagsüber arbeiteten sie, die Nächte verbrachten sie in anhaltendem Gebet, auch während der Arbeit ließen sie vom inneren Gebet nie ab. Jeden Augenblick haben sie nützlich verwendet. Jede für Gott freigehaltene Stunde erschien ihnen kurz. Die große Süße der Betrachtung ließ selbst das Bedürfnis nach körperlicher Erholung verschwinden.
Allen Reichtümern, Würden und Ehrenstellen, allen Freunden und Verwandten entsagten sie. Nichts begehrten sie von der Welt. Kaum das zum Leben Erforderliche nahmen sie zu sich; dem Leibe auch nur notdürftig zu dienen war ihnen lästig. Arm waren sie deshalb an irdischen Dingen, doch reich an Gnade und Tugend. Äußerlich litten sie Mangel, aber im Innern wurden sie mit Gottes Trost und Gnade erquickt.
44 Die Welt war ihnen fremd, aber Gott waren sie sehr nahe als dessen vertraute Freunde. Sich selbst kamen sie wie nichts vor.
In der Welt mit Verachtung gequält,
doch von Gott selbst geliebt und erwählt,
war Demut ihr Leben,
Gehorsam ihr Streben,
Sie wandelten in Liebe [zu Gott] und litten in Geduld
und schritten fort in Gottes Huld,
belohnt mit reicher Gnadengabe
als ihrer besten, liebsten Habe.
Als Vorbild gegeben sind sie allen religiösen Menschen. Sie sollen uns zur rechten Vervollkommnung anregen – nicht die große Zahl der Lauen, die uns zur Gleichgültigkeit auffordern.
[30]45 Wie groß war der Eifer aller ›Religiosen‹ zu Beginn ihrer heiligen Stiftung! Welche Frömmigkeit im Gebet, welcher Wetteifer in der Tugend, welch strenge Zucht herrschte da! Welche Ehrfurcht und welcher Gehorsam gegenüber der Regel ihres Meisters beseelte sie alle! Noch jetzt bezeugen es die hinterlassenen Spuren:
Heilig und vollkommen erfunden,
haben sie die Welt im Kampf überwunden.
Und heute gilt’s schon als ganz groß,
wenn einer von Verstößen bloß
und alles tut geduldig,
was er der Ordensregel schuldig.
Ach, welche Lauheit und Nachlässigkeit herrscht [heute] in unserem Stande!
O wie schnell vergeht die erste Lust, / verwandelt sich in Überdruss und Frust!
Möge doch dein innerer Fortschritt in den Tugenden – angesichts der vielen Beispiele der Frommen – nicht gänzlich stagnieren!
46 Das Leben des guten Religiosen muss mit allen Tugenden geziert sein, damit er im Innern so ist, wie man ihn von außen sieht. Mit Recht verlangt man mehr innere Tugenden als solche, die von außen sichtbar sind, denn Gott siehtin unser Inneres – er, vor dem wir die größte Ehrfurcht haben müssen, wo wir auch seien, und vor dessen Angesicht wir in der Reinheit der Engel wandeln sollen.
[31]47 Jeden Tag müssen wir unseren Vorsatz erneuern und uns zum Eifer anspornen, als wären wir erst heute in die Gemeinschaft gekommen, und sprechen: »Hilf mir, Herr Gott, im guten Vorsatz und in deinem heiligen Dienst und verleihe mir jetzt, dass ich heute gut beginne. Mein bisheriges Leben zählt nicht.« Viel Fleiß tut jedem not, der recht voranschreiten will, und je nach der Art des Vorsatzes kommt man auf dem Weg zur Vollkommenheit voran. Wird schon jemand mit festem Vorsatz oft schwach, was wird aus dem, der selten oder weniger fest einen Vorsatz fasst? Auf mancherlei Weise weichen wir von unserem Vorsatz ab. Schon eine kleine Nachlässigkeit in den Übungen geht kaum ohne Schaden vorbei.
Der Gerechten Vorsatz hängt mehr von Gottes Gnade ab als von der eigenen Weisheit, und auf ihn vertrauen sie auch stets, was immer sie anfassen. Denn der Mensch denkt, aber Gott lenkt, und nicht ist der Mensch Herr seines Weges.
48 Unterlässt man bisweilen eine gewohnte Übung aus irgendeiner Rücksichtnahme, zum Beispiel in der Absicht, einem Mitbruder beizustehen, dann kann man später leicht wieder zu ihr zurückkehren. Unterlässt man sie aber leichtfertig aus Verdruss oder Saumseligkeit, dann lädt man große Schuld auf sich und spürt den Schaden.
Trotz aller Anstrengung versagen wir in vielen Dingen. Dennoch müssen wir unsere Anstrengung stets auf etwas Einzelnes richten – gegen etwas, das uns besonders stört.
49 Unser Äußeres und Inneres müssen wir in gleicher Weise prüfen und ordnen, weil beides den Fortschritt fördert. Kannst du dich nicht dauerhaft sammeln, dann tu es wenigstens hin und wieder – zumindest einmal täglich, morgens oder abends. [Zum Beispiel so:] Morgens fasse Vorsätze, abends erforsche, wie heute dein Verhalten gewesen ist in Worten, Werken und [32]Gedanken. Vielleicht hast du oft Gott beleidigt oder den Nächsten.
Gürte dich wie ein Mann gegen des Teufels Bosheit! Zügle die Gaumenlust, und du wirst jede fleischliche Neigung leichter bezwingen! Niemals sei ganz müßig, sondern lies oder schreibe oder bete oder betrachte oder arbeite etwas zum Nutzen der Gemeinschaft!
50 Kasteiungen sind zurückhaltend vorzunehmen und nicht von allen gleichermaßen zu üben. Was nicht für die Allgemeinheit bestimmt ist, soll nicht öffentlich zur Schau gestellt werden, denn solche Übungen nimmt man sicherer im Verborgenen vor. Doch hüte dich, dass du nicht träge wirst zu gemeinsamen Übungen [der Frömmigkeit] und nur Lust hast zu persönlichen Übungen. Hast du vollständig und treu deine Verpflichtungen und Obliegenheiten erfüllt und erlaubt es die Zeit, dann magst du dich dir selbst widmen, wie es dein frommer Sinn begehrt.
51 Nicht jeder soll die gleiche [geistliche] Übung pflegen, denn dem einen ist diese, dem andern jene dienlicher. Auch nach den zeitlichen Umständen fallen die Übungen verschieden aus, weil uns einige an Festtagen, andere mehr an Werktagen zusagen. Der einen Übung bedürfen wir zur Zeit der Versuchung, der anderen zur Zeit des Friedens und der Ruhe. Die einen Gedanken liegen uns nahe, wenn wir trauern, die anderen, wenn wir fröhlich sind ›im Herrn‹.
An den Hauptfesten müssen die frommen Übungen erneuert und die Heiligen inständiger um ihre Fürbitte angerufen werden. Von Fest zu Fest sollen wir Vorsätze fassen, als müssten wir
bald aus diesem Leben scheiden / und zum ewgen Fest hinübergleiten.
[33]Darum sollen wir uns in den ›[geschlossenen] Zeiten der Frömmigkeit‹ sorgfältig vorbereiten – noch frömmer wandeln und jede Verpflichtung strenger einhalten, als könnten wir schon bald den Lohn unserer Arbeit von Gott empfangen.
Und wird [unser Ende] hinausgeschoben, dann sollen wir glauben, dass wir noch nicht genügend vorbereitet sind, noch unwürdig der großen Herrlichkeit, die sich an uns offenbaren wird zur vorherbestimmten Zeit. Seien wir also bestrebt, uns besser auf den Tod vorzubereiten! »Selig der Knecht«, heißt es im Evangelium des Lukas, »den der Herr, wenn er kommt, wachend findet. Wahrlich, ich sage euch, über alle Güter wird er ihn setzen.«
52 Suche eine passende Zeit [des Rückzugs], wo du dich frei machen kannst für dich selbst, um über Gottes Wohltaten nachzudenken! Lass die Finger von Büchern, die nur die Neugier befriedigen und dich zerstreuen; lies etwas, das hilft, Sünden zu bereuen. Überflüssiges Reden und müßiges Umhergehen, um das Neueste zu erfahren und Klatsch: Wenn du dem aus dem Wege gehst, hast du genügend Zeit zu geistlicher Betrachtung.
53 Die großen Heiligen vermieden menschliche Gesellschaft, wo sie nur konnten. Sie zogen es vor, Gott in der Einsamkeit zu dienen. Einer [Seneca] sagte: »Sooft ich unter Menschen war, kam ich als minderer Mensch heim.« So geht es uns oft, wenn wir lange plaudern.
Leichter ist es, ganz zu schweigen, / als beim Reden Maß zu zeigen.
[34]Leichter ist es, zu Hause verborgen zu leben, als draußen sich genügend in Acht zu nehmen. Wer also bestrebt ist, zur inneren, geistigen Welt zu gelangen, der muss mit Jesus der Menge ausweichen.
»Niemand kann in der Öffentlichkeit gut auftreten,
der nicht gern im Verborgenen weilt.
Niemand kann gut sprechen,
der nicht gerne schweigt.
Niemand kann anderen gut vorstehen,
der sich nicht gern unterordnet.«
Niemand kann gut befehlen,
der nicht gut gehorchen kann.
Niemand kann sich gut freuen,
der nicht das Zeugnis eines guten Gewissens in sich trägt.
54 Das Sicherheitsgefühl der Heiligen war stets mit Gottesfurcht verbunden. Durch große Tugend und begnadeten Zustand hervorragend, waren sie dennoch nicht weniger gewissenhaft und demütig im Innern. Die Sicherheit schlechter Menschen aber entspringt dem Hochmut und der Vermessenheit und führt zu Selbsttäuschung.
Niemals versprich dir Sicherheit in diesem Leben – scheinst du auch ein guter Zönobit, oder gar ein frommer Eremit. Oft schon sind die nach menschlichem Urteil besseren Leute in schwere Gefahr geraten wegen ihres allzu großen Selbstvertrauens. Deshalb ist es für viele ersprießlicher, von Versuchungen nicht gänzlich frei zu sein, sondern ständig angefochten zu werden, damit sie sich nicht allzu sicher fühlen, überheblich werden und sich gerne äußeren Tröstungen hingeben.
[Ende des Einschubs]
[35]55 Einer, der niemals vergängliche Freude sucht, niemals mit der Welt sich beschäftigt – welch gutes Gewissen könnte der behalten! Einer, der jeder eitlen Sorge sich entschlägt und nur an Heilsames und Göttliches denkt und seine ganze Zuversicht auf Gott gründet – welch tiefen Frieden, welche Ruhe könnte der besitzen!
Niemand ist himmlischer Tröstung wert, der sich nicht fleißig übt in heiliger Reue. Willst du bis ins Herz hinein bereuen, dann geh in deine Kammer und lass den Lärm der Welt draußen, wie geschrieben steht: »In euren Kammern sollt ihr euch der Reue hingeben.« In der Zelle wirst du finden, was du draußen oft verlierst.
Die eigne Zelle – süße Lust, / wird sie gemieden – nichts als Frust.
Hütest und bewohnst du sie am Anfang deiner Bekehrung gut, wird sie dir später zur liebsten Freundin und zum besten Trost. Im Stillschweigen und in der Ruhe macht die fromme Seele Fortschritte und lernt die Geheimnisse der Heiligen Schrift; dort findet die Seele [einen Ort für] Tränenbäche, worin sie sich Nacht für Nacht wäscht und reinigt. Mit ihrem Schöpfer wird sie umso vertrauter, je weiter sie von allem Lärm der Welt entfernt lebt. Wer sich also zurückzieht von Bekannten und Freunden, dem wird sich Gott nahen – er selbst und seine heiligen Engel.
56 Besser ist es, verborgen zu leben und für sich selbst Sorge zu tragen, als unter Vernachlässigung seiner selbst [öffentlich] Wunder zu wirken. Löblich ist’s, wenn ein Religiose selten vor die Tür geht, sich scheut, gesehen zu werden, und auch keinen Menschen sehen will.
[36]Wozu willst das Aug du laben? / Die Sache selbst kannst du nicht haben.
Die Welt vergeht mit ihrer Begehrlichkeit. Die sinnlichen Begierden locken dich zum Spaziergang; ist aber die Stunde vorüber, was bringst du mit außer ein beschwertes Gewissen und ein zerstreutes Herz?
Fröhlicher Ausgang gebiert oftmals traurige Heimkehr –
und auf fröhliche Nacht folgt ein trauriger Morgen. So tritt jede ›fleischliche‹ Freude schmeichelnd ein, aber am Ende sticht und tötet sie.
Was kannst du anderswo sehen, was du hier nicht siehst? Du siehst Himmel und Erde und die Elemente, aus denen alles gemacht ist. Kannst du irgendwo etwas sehen, das lange unter der Sonne Bestand hat? Du glaubst vielleicht, dich sattzusehen, aber das wirst du nicht erreichen. Könntest du alles [was es gibt] vor dir sehen: was wäre das anderes als ein eitler Anblick? Erhebe deine Augen zu Gott im Himmel und bete für deine Sünden und Nachlässigkeiten! Überlasse eitlen Wahn den Eitlen; du aber achte auf das, was Gott dir befohlen hat. Schließe hinter dir die Tür und rufe Jesus zu dir, deinen Geliebten. Weile mit ihm in der Zelle, denn andernorts wirst du nicht so tiefen Frieden finden.
Hättest du den Ausgang nicht gemacht, / nicht beim Plaudern mitgelacht, /
hätte keiner deinen Frieden weggebracht.
Solange es dich freut, das Neueste zu hören, musst du die Unruhe des Herzens ertragen.
57 Willst du [spirituelle] Fortschritte machen, dann erhalte dich in der Furcht Gottes. Sei nicht allzu frei, sondern zwinge alle deine Sinne unter die Zucht und gib dich keiner törichten Freude hin!
Widme dich der Reue des Herzens, und du wirst frommen Sinn erlangen. Reue schafft viel Gutes, nur durch Ausgelassenheit geht es schnell wieder verloren. Wer um seine Verbannung weiß und um die vielen der Seele drohenden Gefahren, kann der in diesem Leben überhaupt noch echte Freude erleben? Nein! Doch unser leichtfertiges Herz achtet nicht auf unsere Fehler, sodass wir die Wunden unserer Seele nicht spüren. So brechen wir oft in leeres Lachen aus, wenn wir eigentlich weinen müssten. Wahre Freiheit und rechte Freude wird uns nur durch Gottesfurcht zuteil, verbunden mit einem guten Gewissen.
Glücklich, wer sich jeder hinderlichen Zerstreuung enthält, um sich für die heilige Reue zur [inneren] Einheit zu sammeln! Glücklich, wer alles von sich abtut, was sein Gewissen befleckt und belastet! Kämpfe tapfer: »Gewohnheit wird nur durch Gewohnheit besiegt.«
58 Verstehst du, andere in Ruhe zu lassen, dann werden auch sie dich in Ruhe das Deine tun lassen. Kümmere dich nicht um fremde Angelegenheiten! Verstricke dich nicht in die Händel der Großen! Habe immer ein Auge zuerst auf dich selbst. Und ermahne dich selbst, bevor du deine Freunde ermahnst!
Stehst du nicht in der Gunst der Menschen, dann werde darüber nicht traurig; nur das soll dir Kummer bereiten, dass du dich [anderen gegenüber] nicht völlig korrekt und achtsam [38]verhältst, wie es sich für einen Diener Gottes und frommen Religiosen gehört.
[Ende des Einschubs]
59 Es ist wirklich von Vorteil und gibt größere Sicherheit, wenn man in diesem Leben nicht viele Tröstungen erfährt, besonders solche ›fleischlicher‹ Art. Doch dass wir keine göttliche Tröstung haben oder sie selten verspüren, daran sind wir selbst schuld, weil wir die Reue des Herzens nicht pflegen und die eitlen äußeren Tröstungen nicht völlig verwerfen. Göttlicher Tröstung bist du unwürdig und vielfache Trübsal hast du verdient: Das mach dir klar!
Die ganze Welt, so wie sie heut / ist dem vergällt, der gut bereut.
Ein guter Mensch findet Anlass genug zum Klagen und Weinen. Denn betrachtet er sich selbst oder denkt er über den Nächsten nach, so stellt er fest, dass keiner ohne Trübsal lebt. Je genauer man sich selbst betrachtet, desto größer der Schmerz. Grund zu berechtigtem Schmerz und innerer Reue sind unsere Sünden und Laster, in die wir so verstrickt sind, dass wir nur selten himmlische Dinge zu schauen vermögen.
Würdest du häufiger über deinen Tod nachdenken als über die Länge des Lebens: Kein Zweifel, du würdest mehr Eifer auf deine Besserung verwenden. Würdest du dann auch noch die künftigen Qualen der Hölle oder des Reinigungsortes im Herzen erwägen: Ich glaube, du würdest gern Mühe und Schmerz auf dich nehmen und hättest nichts mehr gegen strenge Forderungen. Aber weil uns das nicht zu Herzen geht und wir immer noch lieben, was uns schmeichelt, darum bleiben wir kalt und träge. Und oft liegt’s an der Schwäche des Geistes, dass sich der armselige Leib so leicht beklagt.
[39]Demütig fleh zu dem, der dein Herr heißt, / und bitte um der Reue Geist –
und sprich mit dem Propheten: »Speise mich, Herr, mit dem Brot der Tränen und tränke mich mit Tränen in vollem Maß.«
60 Wendest du dich nicht ganz hin zu Gott, lebst du im Elend, wo immer du lebst und wohin du dich auch wendest.
Weshalb bist du betrübt, wenn etwas nicht geht, wie du willst und wünschst? Wer hat schon alles nach seinem Willen? Weder ich noch du noch irgendein Mensch auf Erden! Niemand auf der Welt ist ohne Trübsal oder Bedrängnis, auch kein König oder Papst. Für wen steht es am besten? Natürlich für den, der imstande ist, für Gott etwas zu erleiden! Viele, die schwach sind und krank, sagen: »Was für ein gutes Leben hat doch dieser Mensch – wie reich, wie bedeutend, wie mächtig und hochgestellt er ist!« Du aber richte den Sinn auf die himmlischen Güter, und du wirst sehen: Alle zeitlichen Güter sind nichtig, ganz ungewiss und lästig, weil man sie nie ohne Furcht und Beunruhigung besitzt. Des Menschen Glück besteht nicht darin, zeitliche Güter im Überfluss zu haben; ihm genügt das mittlere Maß.
61 Wahrlich ein Elend, auf Erden zu leben! Je geistlicher man sein will, desto bitterer wird einem das gegenwärtige Leben, weil man die Mängel des gefallenen Menschen umso mehr empfindet und umso klarer erkennt. Denn essen, trinken, wachen, schlafen, ruhen und arbeiten zu müssen und den übrigen Bedürfnissen unserer Natur unterworfen zu sein ist wirklich großes Elend und Leid für den Frommen, der von aller Sünde erlöst und ganz frei sein will. Die leiblichen Bedürfnisse in [40]dieser Welt belasten den Menschen sehr. Deshalb bittet der Prophet inständig, davon frei zu sein, mit den Worten: »Von meinen Bedürfnissen befreie mich, Herr.«
Doch wehe denen, die ihr Elend nicht erkennen! Und abermals wehe denen, die dieses armselige und verderbliche Leben auch noch lieben! Obwohl sich manche kaum das Nötigste durch Arbeit oder Betteln verschaffen können, klammern sie sich an das Leben, ohne sich um das Reich Gottes zu kümmern – als könnten sie hier ewig leben. Wie töricht, im Herzen ohne Glauben zu sein und so tief im Irdischen versunken, dass man nur an ›Fleischlichem‹ Geschmack findet! Solche unseligen Menschen werden an ihrem Ende merken, wie wertlos und nichtig alles war, was sie geliebt haben.
Gottes Heilige dagegen und alle frommen Freunde Christi achteten nicht auf das, was dem ›Fleische‹ gefällt, noch was in dieser Zeitlichkeit schön ist, sondern ihr ganzes Hoffen und Trachten war auf die ewigen Güter gerichtet. Um nicht aus Liebe zum Sichtbaren in den Abgrund gezogen zu werden, richteten sie ihr Sehnen empor zum Unsichtbaren und Unvergänglichen.
62 Bruder, verliere nicht Mut und Selbstvertrauen, im geistlichen Leben voranzukommen, noch hast du Zeit und Stunde! Weshalb willst du erst morgen deinen Vorsatz fassen? Raffe dich auf, beginne sofort, und sprich: »Jetzt ist die Zeit zum Handeln, jetzt die Zeit zum Kämpfen, jetzt die geeignete Zeit zur Besserung.« Geht es dir schlecht und bist du bedrängt, dann ist es Zeit, Verdienste zu sammeln. Bevor du zur Erquickung gelangst, musst du hindurchgehen durch Feuer und Wasser. Tust du dir nicht Gewalt an, dann wirst du das Laster nie los.
Solange wir diesen schwachen Leib besitzen, können wir weder ohne Sünde sein noch ohne Verdruss und Leid leben. Gern blieben wir unbehelligt von allem Elend; doch weil wir durch Sünde die Unschuld verloren haben, gingen wir auch der [41]wahren Glückseligkeit verlustig. Deshalb müssen wir Geduld bewahren und auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen, bis dieses Ungemach vorübergeht und die Sterblichkeit verschlungen wird vom Leben.
63 Wie schwach ist doch der Mensch, stets geneigt zum Laster! Heute beichtest du deine Sünden, und morgen begehst du die gebeichteten Sünden von neuem. Jetzt nimmst du dir vor, sie zu meiden, und schon nach einer Stunde handelst du, als hättest du keinen Vorsatz gefasst. Weil wir so schwach und wankelmütig sind, müssen wir uns demütig verhalten und niemals eine hohe Meinung von uns haben. Schnell kann durch Nachlässigkeit verlorengehen, was man mit viel Mühe und mit Hilfe von Gottes Gnade errungen hat.
Wie steht es mit uns am Ende [des Tages], wenn wir schon frühmorgens erkalten? Weh uns: Kaum wird einmal eine Spur von wahrer Heiligkeit in unserem Wandel sichtbar, dann sind wir schon auf Nichtstun erpicht, als herrsche bereits Friede und Sicherheit. Ließen wir uns noch einmal wie gute Anfänger in der rechten Lebensführung unterweisen, dann bestünde Hoffnung auf Besserung und spürbaren geistlichen Fortschritt.
64 Bald ist’s um dich geschehen – schau, wie es um dich steht:
der Mensch – »heute noch da, und morgen nicht mehr«.
Aus den Augen gekommen, aus dem Sinn genommen.
Wie stumpf und hart ist das menschliche Herz, das nur die Gegenwart bedenkt, statt mehr auf die Zukunft zu sehen! Bei allem Tun und Denken sollst du dich verhalten, als müsstest du schon heute sterben. Hättest du ein gutes Gewissen, würdest [42]du den Tod nicht sonderlich fürchten. Besser wäre es, sich vor Sünden zu hüten als vor dem Tod. Bist du heute nicht gerüstet, wie kannst du es morgen sein? Der morgige Tag ist ungewiss – weißt du, ob er dir beschieden sein wird?
Was nützt es, lange zu leben, wenn wir uns so wenig bessern? Ein langes Leben macht nicht immer besser, sondern vermehrt oft noch die Schuld. Hätten wir doch nur einen einzigen Tag gut zugebracht auf dieser Welt! Bei vielen sind’s Jahre seit ihrer Bekehrung, doch oft ist die Frucht der Besserung nur gering. Ist schon das Sterben schrecklich, so ist langes Leben vielleicht noch schlimmer.
65 Wohl dir, steht dir die Stunde des Todes stets vor Augen –
und bereitest du dich täglich zum Sterben! Siehst du einen Menschen sterben, dann besinne dich darauf, dass du denselben Weg gehen wirst. Ist es früh am Tag, dann stell dir vor, du könntest den Abend nicht mehr erreichen. Ist es aber Abend geworden, dann wage nicht, dir den Morgen zu versprechen. Stets sei bereit und lebe so, dass dich der Tod nie unvorbereitet trifft. Viele sterben jäh und unversehens; denn zur Stunde, da man es nicht ahnt, wird der Menschensohn kommen. Ist jene letzte Stunde gekommen, dann endlich wirst du über dein gesamtes vergangenes Leben ganz anders denken. Deine Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit werden dich schmerzen.
Wie glücklich und weise ist, wer sich in diesem Leben bemüht, so zu sein, wie er zur Stunde des Todes angetroffen werden will! Denn festes Vertrauen auf einen seligen Tod erlangt man durch vollkommene Verachtung der Welt, brennendes Verlangen, in den Tugenden zu wachsen, Liebe zur Kasteiung, Anstrengung in der Buße, Bereitschaft zum Gehorsam, Verleugnung seiner selbst und Ertragen jeglichen Ungemachs aus Liebe zu Christus.
[43]66 Viel Gutes kannst du wirken, solange du gesund bist; was du aber als Kranker wirst tun können, weiß ich nicht. Krankheit ist nur für wenige ein Grund zur Besserung, und es gilt:
Gehst lange du auf Pilgerfahrt, / bleibt dir die Heiligkeit erspart.
Verlass dich nicht auf Freunde und Verwandte, auch verschiebe [die Sorge für] dein Heil nicht auf die Zukunft; denn schneller, als du glaubst, werden dich die Menschen vergessen. Besser ist, sich schon jetzt vorzusehen und Verdienste vorauszuschicken, als auf fremden Beistand zu hoffen. Sorgst du nicht für dich selbst in der Gegenwart, wer wird für dich sorgen in der Zukunft? Jetzt ist kostbare Zeit, jetzt sind die Tage des Heils, jetzt ist die angenehme Zeit. Aber, wie ärgerlich, du nutzt diese Zeit nicht und erwirbst keine Verdienste für das ewige Leben! Bald wirst du einen einzigen Tag ersehnen oder nur eine Stunde, um sie zu deiner Besserung zu verwenden; ob du die Zeit bekommen wirst, weiß ich nicht. Du, Freund, aus welch schwerer Gefahr könntest du dich befreien, welch unsäglicher Angst dich entreißen, wärst du nur immer ängstlich besorgt um den Tod!
Sei bestrebt, jetzt so zu leben, dass du in der Todesstunde dich eher freuen kannst als fürchten musst. Lerne jetzt, der Welt abzusterben, um alsdann mit Christus zu leben. Lerne jetzt, alles zu verschmähen, damit du alsdann frei zu Christus gelangen kannst. Züchtige jetzt deinen Leib durch Buße, damit du alsdann über Zuversicht und Selbstvertrauen verfügst.
Du meinst noch lang zu leben, Tor, / kein sichrer Tag steht dir bevor!
Wie viele haben sich getäuscht und sind unversehens der Körperlichkeit verlustig gegangen. Wie oft hörtest du sagen: Der [44]ist durch das Schwert gefallen, der ertrunken, der stürzte aus der Höhe und brach sich das Genick, der erstickte beim Essen, der endete beim Turnier. Einer ist durch Feuersbrunst, ein anderer im Krieg, ein anderer durch die Pest, wieder ein anderer bei einem Raubüberfall gewaltsam umgekommen – und so ist das Ende aller der Tod. Der Menschen Leben zieht schnell wie ein Schatten vorüber. Wer wird nach dem Tode deiner gedenken und für dich beten?
67 Tu jetzt, auf der Stelle, was in deinen Kräften steht, denn du weißt nicht, wann du sterben wirst, noch was für dich nach dem Tode kommt. Solange du noch Zeit hast, sammle unvergängliche Schätze. Nur an dein Heil denke, sonst an nichts; nur was Gott betrifft, dafür sorge. Mache dir jetzt Freunde, indem du Gottes Heilige verehrst und deren Tun nachahmst, damit, wenn du aus diesem Leben scheidest, sie dich aufnehmen in die ewigen Wohnungen. Verhalte dich wie ein Fremdling und Gast auf Erden, den das Treiben der Welt nichts angeht. Weil du hier keine bleibende Stätte hast, halte das Herz frei und zu Gott emporgerichtet. An ihn richte deine Gebete, deine täglichen Seufzer und Tränen, damit deine Seele verdient, nach dem Tode glückselig zum Herrn hinüberzugehen. Amen.
68 In allen Dingen »bedenke das Ende« – und wie du vor dem strengen Richter stehen wirst. Ihm bleibt nichts verborgen, durch Geschenke lässt er sich nicht besänftigen und Ausreden nimmt er nicht an; vielmehr wird er richten, wie es gerecht ist.
Du armseliger und törichter Sünder, was wirst du Gott antworten, der alle deine Fehler kennt? Du fürchtest dich ja bisweilen schon vor dem Gesicht eines erzürnten Menschen. [45]Weshalb triffst du keine Vorbereitung für den Tag des Gerichts, an dem niemand von einem anderen entlastet oder verteidigt werden kann, sondern jeder genug an seiner eigenen Last zu tragen hat? Jetzt bringt deine Mühe noch Frucht, dein Weinen und Flehen wird erhört, der Schmerz [deiner Reue] tut Genüge und reinigt dich.
69 Für den leidensbereiten Menschen gibt es ein großes, heilsames Fegfeuer: Es besteht darin, dass du Beleidigungen hinnimmst und dabei traurig bist über des anderen Bosheit und nicht über das dir zugefügte Unrecht; dass du für deine Gegner betest und ihnen von Herzen verzeihst; dass du andere sofort um Verzeihung bittest; dass du Mitleid für andere zeigst statt Zorn auf andere; dass du Gewalt übst gegen dich selbst im Bestreben, das ›Fleisch‹ dem Geist zu unterwerfen. Besser ist, sich jetzt