Von Genies und Kamelen - Alexander Moszkowski - E-Book

Von Genies und Kamelen E-Book

Alexander Moszkowski

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Beschreibung

Eine Gesellschaftssatire. Alexander Moszkowski war ein deutscher Schriftsteller und Satiriker polnischer Herkunft. Er ist der Bruder des Komponisten und Pianisten Moritz Moszkowski.

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Von Genies und Kamelen

Alexander Moszkowski

Inhalt:

Alexander Moszkowski – Biografie und Bibliografie

I. Teil

Als ich Detektiv wurde

Ein stürmischer Fahrgast

Am Strick in der Luft

Natürlich, der Einjährige

Wie ich ihn anlernte

Abenteuer im Bremer Ratskeller

Die Symphonie auf dem Gorner Grat

II. Teil

Die effektvolle Jungfrau

Das Gastmahl des Apicius oder: Die Freude im Rahmen

Mein dressierter Regenwurm

Wie ich die Kilometer fraß

Eine Pfeife Opium

Ich und mein Beruf

Neu-Abdera

III. Teil

Die vertauschten Köpfe

Lust im Eise

Die geschüttelte Muse

Meine Jubelouvertüren

Quer durch das A.B.C.

Einsteins Streckenwärter

Die Krone der Meisterwerke

Die verschlafenen Aktualitäten

IV. Teil

Meskal oder der Multimilliardär

Der Garten Gallettis

Sexualforschung

Werther und Lotte von heute

Der Einbruch bei Schlemihls

Ein unbeliebter Mitarbeiter

V. Teil

Beichtende Kavaliere

Wie eine Revue entsteht

Ich als Schwerverbrecher

Linse, G.m.b.H.

Was dem Mann im Kasten passierte

Unterhaltung mit dem gesunden Menschenverstand

Der interessante Einbruch

Aus dem Märchenbuch der Tante Physika

VI. Teil

Zwischen Kunst und Geschäft

Ein Abendbrot mit Hindernissen

Die fürchterliche Melodie

Das Zahnbürstl

Endlich engagiert

Eine schaurige Nacht

Der halbierte Storch

Desperanto

The Monstre-Sketch

Ein amerikanisches Duell

Von Genies und Kamelen, A. Moszkowski

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849632144

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Alexander Moszkowski – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller und Satiriker polnisch-jüdischer Abstammung. Geboren am 15. Januar 1851 in Pilica, verstorben am 26. September 1934 in Berlin. Bruder des Komponisten und Pianisten Moritz Moszkowski. Aufgewachsen in Breslau und später Umzug nach Berlin, wo er für die Satirezeitung "Berliner Wespen" arbeitete. Nach Differenzen mit dem Verleger gründete er seine eigene Zeitschrift „Lustige Blätter“, die sehr erfolgreich war. Seine Freundschaft mit Albert Einstein gipfelte darin, dass er als einer der ersten die Relativitätstheorie einem breiten Publikum populärwissenschaftlich zugänglich machte.

Wichtige Werke:

· Das Geheimnis der Sprache (Essays)

· Das Panorama meines Lebens (Autobiographie)

· Der Venuspark

· Die Ehe im Rückfall und andere Anzüglichkeiten (Satiren)

· Von Genies und Kamelen (Satiren)

· Die Inseln der Weisheit (Utopischer Roman)

· Einstein - Einblicke in seine Gedankenwelt

· Entthronte Gottheiten

· Unglaublichkeiten (Satiren)

I. Teil

Meine Zeitlupe

Als ich Detektiv wurde

In einer Ecke des Raucherabteils hatte ich es mir vor Jahren bequem gemacht. Als alleiniger Insasse des Coupés schmökerte ich stundenlang in einem BLande von Sherlock Holmes, und geriet immer tiefer in den Ideenkreis des findigen Verfassers. Jeder Mensch, so dachte ich, sollte doch imstande sein, seine Wahrnehmungen soweit zu stärken und kombinatorisch zu steigern, daß er aus der Menge kleinster Indizien wichtige Ergebnisse zu gewinnen vermag, vielleicht ist das Genie eines Detektivs garnicht so merkwürdig, als unser aller Gleichgültigkeit den eigenen Beobachtungen gegenüber. Ich nahm mir vor, künftig besser aufzupassen, die Nebenmenschen schärfer unter die geistige Lupe zu nehmen, da müßte sich oft Interessantes, Unerwartetes ergeben. Freilich im Gewühl der Straße, in der Berührung mit den Vielzuvielen läßt sich das nicht bewerkstelligen. Aber hier, im Bahnabteil zum Beispiel, wäre ein guter Experimentalboden; da könnte man einen unbekannten Mitreisenden, ohne daß er es merkt, längere Zeit studieren und aus den anscheinend nebensächlichen Aeußerungen seiner Persönlichkeit Rückschlüsse ziehen auf seinen Beruf, Charakter, auf die Besonderheiten seiner Existenz.

Ich saß aber, wie gesagt, ganz allein im Abteil und hatte zunächst keine Gelegenheit, meine detektorischen Absichten zu verwirklichen.

Nach etlichen Stationen änderte sich das Milieu. Zwei Herren stiegen ein und ließen sich mir gegenüber, am entgegengesetzten Fenster, auf der Polsterbank nieder. Sie nahmen von mir nicht die geringste Notiz, und das schien mir für meine Absicht recht zweckdienlich. Da hatte ich zwei Beobachtungsobjekte, an denen ich meinen Vorsatz erproben konnte. Hier hieß es also: In Symptomen denken!

Daß die beiden zusammen gehörten, war ersichtlich. Dies ergab sich schon daraus, daß der eine dem kontrollierenden Schaffner zwei Fahrkarten vorwies. Sie neigten nicht zu besonderer Gesprächigkeit, begannen indes doch nach etlichen Kilometern eine Unterhaltung in kurzen, durch erhebliche Pausen getrennten Sätzen. Sie sprachen leise und vertraulich, so daß nur hin und wieder ein zusammenhangloses Wort mir vernehmlich wurde. Um so besser für mein Vorhaben. Ich wollte nicht direkt erfahren, sondern ahnen, kombinieren und erraten.

Der eine war schlank, blond, glatt rasiert, trug schwarzgeränderte Harold-Cloyd-Brille, sein Nachbar hatte eine behäbige Figur, wohlwollenden Gesichtsausdruck, sein bräunlicher, etwas schütterer und leise angegrauter, Bart verlieh seinem Antlitz eine gewisse Würde.

Geschäftsfreunde? Berufskollegen? – das war nicht anzunehmen, Männer, die zwischen sich das Land gemeinsamen Fachs spüren, pflegen in der Unterhaltung bald auf einen Punkt zu geraten, wo sich die Interessen zuspitzen, und das merkt man an der erhöhten Akzentuierung der Stimmen. Hier aber verlief alles im sottovoce, die kurzen Gesprächsstücke waren kaum mehr als ein verlängertes Schweigen; die Voraussetzung einer Vergnügungsreise kam schon gar nicht in Betracht, und ich schloß daraus, daß ihr spärliches Geflüster von einem Geheimnis beherrscht wurde. Soweit hatte mich das Verfahren der Induktion schon gebracht.

Ich betrachtete den schlanken Blonden genauer, heftete mir vors geistige Auge eine besonders kräftige Lupe, und vertiefte mich in die Figur seiner Kopfbildung. Ich verfuhr dabei optisch-geometrisch nach der gültigen Methode von Camper, indem ich nach Augenmaß die Gesichtslinien zog: eine im Profil vom Ohr zum Oberkiefer, und von da die zweite Linie nach der Stirn. Der Winkel beider Linien beträgt beim normalen Europäer etwa achtzig Grad, allein bei meinem Gegenüber am Coupéfenster konnte ich visuell knapp fünfundsiebzig feststellen, höchst verdächtig! Eine stark zurückfliehende Stirn findet man in der Regel nur bei niederen Rassen, oder unter Kaukasiern bei den Degenerierten. Gerade in jüngster Zeit hatte ich Schriften von Lombroso, Liszt und Ferri studiert, und es war mir in Erinnerung geblieben, daß der kleine Gesichtswinkel sehr oft als Merkmal des Verbrechertyps auftritt.

Aber mit dieser Vermutung kam ich hier nicht durch. Denn wenn der Blonde ein Verbrecher war, so hätte auch sein Begleiter, der behäbige Braune, mit dem er auf dem Fuß der Vertraulichkeit stand, der nämlichen Kategorie angehören müssen, und das war vollständig ausgeschlossen. Nein, das Verdachtsmoment blieb durchaus auf den Blonden beschränkt, aber bei diesem um so sicherer, als er auch das charakteristische Zeichen der hervortretenden Backenknochen besaß. Nur daß sich nunmehr der Verdacht auf eine andere Spur lenkte. Denn jene Abweichungen vom Normaltyp treten ja nicht nur beim Verbrecher auf, sondern auch bei Personen mit ererbtem oder erworbenem Irrsinn. Es ist der Geist – unter Umständen der Geistesdefekt –, der sich den Körper formt. Das wußte ich nun wieder aus den Werken von Griesinger, Krafft-Ebing und anderer Psychiater, die mir in diesem schwierigen Fall zur Erleuchtung dienten. Es geht doch nichts über eine gediegene Bildung, wenn man verborgene Zusammenhänge erforschen will!

Jetzt also stand ich auf der gesuchten Fährte; noch ein bißchen wacklig, noch nicht völlig überzeugt, denn die konkludenten Wahrnehmungen genügten mir nicht zum Beweis. Aber ich hatte doch den Ansatz zu einer Wahrscheinlichkeit. Der schlanke Blonde konnte sehr wohl ein Irrsinniger sein, und hieraus ergab sich ungezwungen die Begriffsbestimmung seines Nachbars, den man ohne weiteres als Arzt auffassen durfte. Erstens sah der Braune ungefähr so aus wie ein Medikus, und zweitens erklärte diese Annahme auch das leise, konfidentielle Verhalten der beiden. Ich hätte gern gewußt, wohin sie reisten, denn das konnte meiner Vermutung vielleicht eine Stütze gewähren. Möglich war es ja, daß hier ein Gesundheitspfleger seinen irren Patienten in eine Heilanstalt brachte. Aber ihr Reiseziel blieb vorläufig im Dunkeln.

Inzwischen befestigte sich meine Diagnose durch ein merkwürdiges Strahlenspiel in den Augen des Blonden. Das konnte ich durch seine Augengläser hindurch ganz genau verfolgen. Der Herr war absolut nicht imstande, seinen Blick auf einen bestimmten Gegenstand auch nur drei Sekunden lang zu konzentrieren: das war ein beständiges Irrlichterrieren in diffusem Hin und Her, von der Coupétür zu meinen Fußspitzen, zum Griff der Notbremse, zum Hebel der Heizung, zur Hand seines Begleiters, direktionslos, unstet flackernd, und mir schien es dabei, als ob sich seine Pupillen abwechselnd erweiterten oder verengten, ohne optische Ursache. Auch das Benehmen des Individuums bot des Auffälligen genug. Jetzt öffnete er ein Etui, entnahm daraus eine Zigarre von ersichtlich köstlicher Herkunft, entzündete sie und warf sie nach zwei aromatischen Zügen aus dem Fenster. Jetzt zog er ein Zeitungsblatt aus der Rocktasche und hielt es verkehrt vors Auge, lauter Anzeichen einer Gestörtheit, von der es zunächst unentschieden bleiben mußte, ob sie als dementia praecox oder als paranoia juvenilis zu definieren war.

Mehrfach betrat er den Wagenkorridor, um zur Handwaschung die Toilette aufzusuchen. Regelmäßig folgte ihm auf dem Fuße der andere, dem offenkundig daran gelegen war, ihn nicht einen Moment aus der Kontrolle zu lassen. Immer enger liefen die Radien meiner Vermutung zusammen, ein Zweifel erschien kaum noch statthaft.

Jetzt meldete sich der Schaffner, um die beiden auf ihr Reiseziel aufmerksam zu machen: »Die Herren wollten doch nach Pirna? Nächste Station – in fünf Minuten!«

Dieser Zuruf mußte die Entscheidung des Problems bringen. Pirna? Was hat der Mitteleuropäer dort zu suchen? Für Ausflüge in die sächsische Schweiz war die Jahreszeit und das Wetter nicht im mindesten geeignet. Schnell nahm ich meinen Baedeker zur Hand und überflog das Wissenswerte in dem roten Allerweltsbuch: Pirna – schöne katholische Kirche – Bismarckdenkmal – Progymnasium – Fabriken für emaillierte Blechgeschirre – nein, diese Sehenswürdigkeiten kamen als Reisemagnete nicht in Betracht. Über eine Zeile weiter las ich: dabei Bergschloß Sonnenstein mit Landesirrenanstalt.

Also wie genial hatte ich meine Vermutungen vom weiten Umkreis her bis zum unausweichlichen Zentrum zusammenfließen lassen! Das war ein detektorischer Triumph. Kaum hielt ich es noch für nötig, weiter nachzuspüren und nur aus einem begreiflichen Mitteilungsbedürfnis heraus wandte ich mich nachträglich an den Schaffner, den ich durch einen gewichtigen metallischen Händedruck zum Gespräch stimmte.

»Bitte, können Sie mir vielleicht zufällig sagen, wer die beiden Herren waren, die in Pirna ausgestiegen sind?«

»Das könnte ich schon, aber ich darf nicht. Ich weiß es nämlich vom Zugführer, dem die Herrschaften behördlich gemeldet worden sind, und so was ist Dienstsache mit Amtsverschwiegenheit.«

Ich erneuerte den metallischen Händedruck und ergänzte: »Eigentlich weiß ich ja schon, wonach ich frage. Ich war nämlich durch gewisse Beobachtungen zu dem Schluß gekommen, daß der blonde Herr mit der Brille ein Geisteskranker ist, der von dem andern zur Anstalt Sonnenstein gebracht wird.«

»Donnerwetter!« rief der Schaffner. »Sie sind mir aber ein Schlauer. Und so ziemlich stimmt's ja auch. Also, weil Sie's schon wissen: Jawohl es war ein Krankentransport. Bloß ein kleiner Irrtum ist Ihnen dabei passiert: nämlich der Blonde mit der Brille, das ist ein Anstaltsdoktor: und der andere, der Untersetzte mit dem braunen Bart, bei dem ist im Schädel eine Schraube locker!«

Ein stürmischer Fahrgast

Ich bin nicht sehr gut zu Fuß und würde heute als Mitbewerber im Stafettenlauf geringe Aussichten haben: aber zu Wagen bin ich ausgezeichnet, und als Insasse eines D-Zuges halte ich die größten Geschwindigkeiten aus. So auch diesmal, als ich das besondere Glück hatte, ein leeres Abteil zweiter Klasse zu erwischen. Ich kam vom Riesengebirge, wo ich in einem schöngelegenen Hotelrestaurant Wintersport mit gebackenen Schneehühnern getrieben hatte, und rollte nun wohlgemut der Heimat entgegen.

Ich machte es mir in der Ecke bequem, lauschte auf das Geräusch der ratternden Räder, übersetzte mir diesen Takt in den Rhythmus des Schmiedemotivs aus »Siegfried«, fühlte mich davon sanft geschaukelt und dachte sogar ans Einschlafen. Jedenfalls waren die Präludien des Schlummermotivs schon im besten Gange, allein bei der Fortsetzung dieser Tätigkeit ergab sich eine Störung. Denn auf irgendeinem Haltepunkt bekam ich Nachtbesuch. Wie ich blinzelnd wahrnahm, war es ein langer, glattrasierter, bebrillter Herr, der einen gelblichgrünen Koffer ins Gepäcknetz verstaute und sich mir gegenüber niederließ.

»Guten Abend!« sagte er.

Ich nahm diese Anrede stillschweigend zur Kenntnis.

»Guten Abend habe ich Ihnen geboten«, wiederholte der Eindringling nachdrücklicher.

»Also meinetwegen«, erwiderte ich, »oder noch besser: Gute Nacht und wohlzuschlafen. Sie werden vermutlich ebenso müde sein wie ich.«

»Darin täuschen Sie sich«, versetzte der andere. »Ich bin so wenig müde, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als mich die ganze Nacht mit Ihnen angeregt zu unterhalten. Gestatten Sie, mich vorzustellen: Servatius Schlüpfer: Sie werden von mir gehört haben.«

»Bedaure, kann mich nicht besinnen.«

»Tut auch nichts zur Sache. Die Hauptsache ist, daß wir uns über die Gestaltung dieses Jahres verständigen. Sie wissen, das ist ein Jubeljahr.«

»Mein Herr, es ist halb zwei Uhr nachts!«

»Also die schönste Zeit zu einer gründlichen Erörterung. Was mich betrifft, so habe ich mein Programm schon ziemlich fertig ...«

»Ich nicht, mein Herr.«

»Um so mehr muß es Sie interessieren, die Ziele eines scharfdenkenden Zeitgenossen kennen zu lernen. Ich habe das alles schon mit dem berühmten Propagandisten Bombastus Utopikus durchgesprochen, und um mit der vollen Wahrheit herauszurücken: die aufsehenerregenden Flugschriften dieses Utopikus sind von mir.«

»Das will ich Ihnen glauben, unter einer Bedingung: setzen Sie sich in die andere Ecke und lassen Sie mich in Frieden.«

»Ihr Antrag ist abgelehnt, und ich fahre fort, Sie über das Thema aufzuklären. Also, wie gesagt: ein Jubeljahr, und unsere Aufgabe wird es sein, mitzujubeln. Die Veranlassung dazu liegt klar am Tage: wir treten nunmehr in den Völkerbund ein, und diese Genfer Körperschaft wird mit allem Eifer bemüht sein, unsere innigsten Wünsche zu erfüllen.«

»Ich habe nur den einen Wunsch, schlafen zu können.«

»In dieser Hinsicht bin ich anspruchsvoller. Der Völkerbund soll uns wieder zur Stellung einer bedeutenden Kolonialmacht verhelfen, und nach meinen Informationen haben wir alle Aussicht, das durchzusetzen. Es brauchen ja nicht ausgerechnet unsere alten Kolonien zu sein, es gibt ja noch andere. Um mit dem einfachsten anzufangen, verlange ich acht Millionen Quadratkilometer von Marokko.«

»Sie sind ein Ignorant: ganz Marokko ist noch nicht den zehnten Teil so groß.

»Nach Ihrer Meinung, aber nicht nach meiner! Wenn ich sage: Marokko, so meine ich natürlich: inklusive Tibet und Mongolei. Kennen Sie die Reisewerke von Sven Hedin und Ossendowski? Nein? Also da dürfen Sie gar nicht streiten. Tibet und Mongolei sind die Länder der Zukunft, und wenn wir diese durch Spruch des Völkerbundes bekommen, dann haben wir wirklich was zum Jubeln.«

»Wünschen Sie vielleicht auch Mesopotamien?«

»Selbstverständlich, so wahr ich Servatius Schlüpfer heiße. Oder haben Sie mich für einen Leisetreter gehalten?«

»Ganz gewiß nicht, danach zu schließen, wie Sie dauernd auf meinen Schuhen herumtreten. Ziehen Sie gefälligst Ihre Piedestale ein bißchen zurück.«

»Nichts ziehe ich zurück, weder meine Beine, noch meine kolonialen Ansprüche. Ich will auch einen Korridor!«

»Draußen, mein Herr: der Korridor dieses D-Zug-Wagens steht zu Ihrer Verfügung.«

»Das könnte Ihnen so passen, Sie Mann ohne ernste Ziele beim Beginn eines Heiljahres! Was ich unbedingt haben muß, ist ein Korridor nach dem Ural und nördlich weiter nach Spitzbergen und dem Nordpolgebiet. Wenn erst Amundsen und Fritjof Nansen in Preußen naturalisiert sind, werden wir das schon in Genf durchdrücken, haben Sie das begriffen?«

»Schreien Sie nicht so, Sie Mensch mit den Laubenkolonien im Eise! Und außerdem, Sie qualmen da eine Stinkadores, die mir die ganze Lausitz verpestet!«

»Bleiben wir beim Jubelthema! ...«

»Bleiben Sie mir vom Halse, Herr! Scheren Sie sich in einen anderen Wagen. Sie belästigen mich!«

»Wollen Sie mich beleidigen?«

»Mit Wonne, wenn ich Sie dadurch loswerden kann.«

»Sie werden mir Genugtuung geben, und zwar auf der Stelle!« – Dabei griff der nächtliche Unhold in seine Manteltasche: »Hier sind zwei Pistolen, wählen Sie eine! und auf zehn Schritt Abstand!«

Mir war alles recht, ja ich brannte darauf, dem verdammten Schwätzer eins auf den Pelz zu feuerwerkern. Die Sache vereinfachte sich dadurch, daß der Zug plötzlich auf offener strecke hielt. Wir stiegen aus, faßten Posto auf dem Fahrdamm, – auf genaue Innehaltung der Duellregeln kam es ja in so besonderem Fall nicht an, – zwei Kugelblitze durchzuckten die Finsternis, – ich sah Schlüpfern wanken, – mit dem Ausruf: »Ceylon muß an Braunschweig fallen!« schlug er auf die Schwellen des Nebengeleises.

Ich schleuderte die Pistole fort, kletterte in den Wagen zurück, warf mich in die Ecke zurück und konstatierte mit Befriedigung, daß man mit schlechtem Gewissen sehr gut einschlafen kann; allein bald geriet ich in einen dämmernden Zustand des Halbwachseins, und jetzt erst überkam es mich mit allen Schrecken. Allgütiger Himmel! Was war das eigentlich gewesen? Eine Vision? Ein Alpdruck? – Sicherlich doch! Ich hatte keinem was zuleide getan, keinen Hilflosen auf den Schwellen liegen lassen. Mir wurde leichter. War ja überhaupt auf der ganzen Fahrt ganz allein gewesen, da war niemand unterwegs eingestiegen – – –

Aber nein! Da oben im Gepäcknetz lag ja der gelblich-grüne Koffer!! und wie es mich angrinste, dieses Gepäckstück! Wie es mir die Anklage ins Gesicht schleuderte! Kein Zweifel, der Koffer gehörte zu einem Menschen, den ich nach einem fatalen Wortwechsel erschossen hatte!

Ich wankte auf den Korridor. Und da, – am Fenster stand der Herr, schlank, glatt, bebrillt und starrte mich an.

»Herr Schlüpfer! Sind Sie es wirklich?«

»Professor Doktor Servatius Schlüpfer; freut mich, daß Sie sich meinen Namen gemerkt haben, obschon Sie nahe am Einschlafen waren, als ich mir erlaubte, mich vorzustellen.«

»Ja, wie kommen Sie denn hier auf den Durchgang? Wir hatten doch ein böses Abenteuer miteinander?«

»Wir ein Abenteuer? Nicht daß ich wüßte. Ich bin bloß herausgegangen, weil ich es, offen gestanden, in Ihrer Nähe nicht aushalten konnte. Leiden Sie öfter an solchen Anfällen?«

»Ich? Anfälle? Wie verstehen Sie das?«

»Ja, Sie phantasierten dauernd von Marokko und Mongolei und Quadratkilometern, und dabei brüllten Sie und strampelten Sie, und was das Aergste war, Sie hielten eine kohlende Zigarre im Mundwinkel, die das ganze Coupé verstänkerte, – da zog ich es doch vor, das Feld zu räumen.«

»Ich begreife noch immer nicht. Sie waren es doch, Herr Schlüpfer, der mit ganz verschrobenen Zukunftsplänen anfing –«

»Nichts läge mir ferner. Ich bin Geschichtsprofessor und kümmere mich prinzipiell nur um das klassische Altertum, niemals um die Zukunft ...«

»Wir hatten also gar keinen Wortwechsel?«

»Soweit es mich betrifft, nur einen Platzwechsel. Uebrigens werden wir sogleich in Berlin einfahren, gestatten Sie, daß ich mir meinen Koffer hole.«

»Und Sie haben auch keinen Zorn gegen mich? Nein? O, wie gütig! Sollte ich je in die Lage kommen, mich Ihnen gefällig zu erweisen ...«

»Diese Lage ist bereits gegeben. Sie treffen eben Anstalten, um sich eine neue von Ihren Zigarren anzustecken – – wenn Sie vielleicht damit warten wollten, bis wir den Zug verlassen haben ...??«

Ich warf den Glimmstengel durchs Fenster, ergriff die Hand des Mannes in freudiger Erregung und, von aller Gewissensangst befreit, wünschte ich ihm ein gesegnetes Jubeljahr.

Am Strick in der Luft

Mehrere meiner Kollegen haben Luftfahrten unternommen in Zeppelin-Kojen und Aeroplanen und sie wissen darüber anschaulich zu berichten. Mir ziemt es dabei, stumm anzuhören, da in meinen eigenen Erfahrungen dergleichen nicht vorkommt. Aber ich habe mir einmal einen Flug geleistet, der doch noch Besonderheiten abseits der richtigen Wolkentouristik darbot, obschon das Instrument, das mich hinaufspedierte, keineswegs zur Masse der Edelmechanismen gehörte. Es war ein Fesselballon: und so ein Gestell trägt keinen dädalischen, keinen ikarischen Charakter. Es ist ein Flugzeug, dem die irdische Gefangenschaft in Gestalt eines strammen Seiles anklebt. Das wird von ihm getragen, wie der Galeerensträfling, der ja auch in einem Fluidum hinausfährt, seine Kette mitschleppt. Und wenn man davon erzählt, so weckt man in der Regel ein mitleidiges Lächeln bei den Hörern. Darin steht zu lesen: Na ja, Höhenflug mit Angstmeierei! Immer hübsch am Gängelband geblieben! Kurzum: Lorbeeren sind damit nicht zu holen.

Trotzdem mußte ich mir doch erst einen moralischen Ruck geben, bevor ich das Vehikel bestieg. Es war auf dem Marsfelde in Paris, als eben die Reste der vorletzten Weltausstellung abgeräumt wurden. Dort hatte man zwei Möglichkeiten des raschen Emporkommens, und ich schwankte zwischen zwei Maschinen: dort drüben stand la Grande Roue, das Riesenrad in doppelter Höhe der Berliner Siegessäule, ein vertikal gestelltes Karussel mit baumelnden Hängeschiffchen, in denen man, wenn der Mechanismus nicht bockte, eine Totalumdrehung in zwanzig Minuten erleben konnte. Mir war das zu niedrig, und ich kokettierte mit dem andern Apparat, dem Ballon captif, der doch weit extravagantere Dinge versprach: Sechshundert Meter hoch und ansehlichen Aufenthalt im Wolkenbereich. Er war mit einer kleinen Maschinenbaracke verkuppelt, aus der es verheißungsvoll rasselte und trommelte: dort befand sich nämlich die Drehwalze, die den Fesselstrick losließ und nach erledigtem Flug wieder aufwickelte. Der riesige Ballonkörper sandte weithin den Atem von Leuchtgas, einen Duft, der mir lockender erschien als irgendwelches Blütenparfüm, kurzum, ich verspürte Lust, und da die Sache nicht sonderlich teuer war, so meldete ich mich zur Mitfahrt.

»Entrez, s'il vous plaît!«

Nein, nur nicht so hitzig. Ich habe Zeit. Erst möchte ich doch noch einen Probeflug anderer Passagiere abwarten, und wenn die heil zurückkommen, dann, wie gesagt, bin ich entschlossen, mein kostbares Leben Ihrem Strick anzuvertrauen.

Man befand sich damals eigentlich erst in den Anfängen der modernen Flugtechnik. Der Lenkballon war noch Traum patentlustiger Ingenieure und der Begriff des gaslosen Flugzeuges existierte nur als Utopie im Widerspruch zur strengen Wissenschaft. Hatten doch kurz zuvor Siemens und Helmholtz mathematisch »bewiesen«, daß ein Luftzeug schwerer als die Luft nur als Gedankenkonstruktion, nicht aber in Wirklichkeit möglich wäre, und dieser Beweis herrschte mit dogmatischer Wucht. Je mehr Freiballons die Luft bevölkerten, desto deutlicher war zu erkennen, daß der Typus selbst sich vom Modell der Montgolfière und Charlière nur wenig entfernt hatte. Ja in gewissem Betracht ließe sich behaupten, daß die Flugidee der Vorzeit weiter reichte, als die der Nachfahren vor etwa einem Menschenalter. Denn kaum hatten die Montgolfiers und Genossen ihre ersten Proben aufsteigen lassen, gegen Ende des vorvorigen Jahrhunderts, als die weisen Prognostiker der Welt ansagten, das wahre Wesen und die Zukunft aller Fliegertechnik läge in kriegerischer Zerstörung. Aber erst einer hochentwickelten Spätzeit war es vorbehalten, dieses Kulturideal zu verwirklichen, und die wirkliche »Eroberung der Luft« konnte erst platzgreifen, als man im Aether auch die ethischen Standpunkte erobert hatte. Jedenfalls konnte damals, als ich auf dem Marsfelde meine Aszension plante, alle Fliegerei noch als ein harmloser Spaß gelten. Mir war die Gefahrlosigkeit erwiesen, da ich meine Vormänner unbeschädigt landen sah: sie waren bei Windstille lotrecht aufgestiegen, kerzengerade niedergekommen, und um von dem Strick im Diminutiv zu sprechen: es ging alles wie am »Schnürchen«. Wir waren unser vier Personen im Korbe, als wir aufwärts schwebten, langsam, aber pompös, von der Illusion befangen, als stünden wir still, wahrend ringsum die Erde mit allen Baulichkeiten versänke: der amtlich bestallte, in Goldtressen imponierende Kondukteur, ein Elsässer Techniker, ein Wiener Lebejüngling und meine Wenigkeit, die sich bald als Vielzuvielheit vorkam; denn der Kondukteur hatte eine fatale Methode, von dreihundert Metern aufwärts die Aussicht zu erklären, gegen die sich zuerst nicht das Mindeste einwenden ließ: Paris wie auf einer Landkarte, in rapid verkleinerten Dimensionen übersichtlich zusammenschrumpfend. Allein der Kondukteur suchte sich zu unserer Orientierung fast durchweg solche Punkte heraus, deren Erwähnung unser vogelperspektivisches Hochgefühl sehr merklich beeinträchtigte.

»Dies dort drüben, Messieurs, ist die Kathedrale von Saint-Denis, wo die französischen Könige begraben liegen. Dort wiederum erblicken Sie das Pantheon, wo Rousseau und Voltaire begraben liegen. Nordöstlich streckt sich der Stadtteil Montmartre mit dem Friedhof, auf dem Heinrich Heine (er sprach Henri Hène), begraben liegt. Was so golden glänzt, ist die Kuppel des Invalidendoms, wo Napoleon le Grand begraben liegt. Beachten Sie den weißen Punkt ganz nach Osten: das neue Krematorium auf dem Père Lachaise, wo Molière und Lafontaine begraben liegen. Auch Beaumarchais, Chopin und Bellini liegen dort begraben. Dies dort? Die Kirche Saint-Germain des Prés, wo Abailard und Heloise bis zum Jahre 1817 begraben lagen. Jetzt liegen sie gleichfalls auf dem Père Lachaise begraben.«

Ich war bloß neugierig, wo wir selber begraben liegen werden, wenn unserm Ballon etwas zustößt.

Dem Wiener vergingen alle Aussichtsgelüste. Er malte sich die Folgen eines Sturzes aus und kleidete diese Malerei in die grammatisch nicht ganz einwandfreie, sachlich aber ganz korrekte Form: »Tenez-vous cela pour dangereux?!«

Er empfing von dem Ingenieur höchst alarmierende Auskünfte: er selbst habe lange in einer Dynamitfabrik gearbeitet, mehrere Explosionen mitgemacht und sei gegen Todesschauer ziemlich abgebrüht. Aber im allgemeinen wäre doch solch ein Flug, wie der unsrige, eine Angelegenheit für ganz hartnäckige Selbstmörder. Jedenfalls ergäbe die Statistik geradezu fürchterliche Resultate.

Mir begannen trotz der Engnis im Korbe die Knie in weitausgreifender Amplitude zu schlottern, und ich gierte nach Beruhigung: Aber wir werden ja an einem Seil festgehalten, was soll uns denn da passieren?

Diese Laienansicht fand sofort schärfste Abfertigung: Das ist genau so, als ob Sie sich auf dem Rücken eines wilden Pferdes sicherer fühlten, wenn man Ihnen den Fuß mit einem Strick an den Steigbügel gefesselt hätte. Nichts potenziert die Gefahr so unheimlich, wie die Bindung. Ein Freiballon steht unbedingt vertikal, und keine Luftströmung wird den Insassen subjektiv fühlbar. Aber wenn uns hier ein Sturmstoß faßt, so legt er uns schief auf die Seite und drückt uns eventuell so vehement herab, daß eine Katastrophe erfolgen muß.

Die Worte des Technikers wurden augenblicklich atmosphärisch bekräftigt. Eine plötzliche Brise von Westen preßte uns in einer niederträchtigen Kurve nach Osten, wir hatten jetzt die Spitze des Eiffelturms genau unter uns und konnten uns der Ahnung hingeben, an dieser Turmspitze aufgespießt zu werden, was zweifellos ein sehr origineller Tod gewesen wäre. Allein der Wind setzte das Kurvenspiel fort und beschrieb mit uns in der Luft Kreisbögen von, gelinde ausgerechnet, achtzehnhundert Fuß Radius.

Der Kondukteur tröstete: Es ist ja leicht möglich, daß das Seil reißt, aber wir sind mit allem Erforderlichen versehen, um die Tour als Freifahrt fortsetzen zu können. Und dann werden wir schon irgendwo landen, vorausgesetzt, daß der Wind nicht umschlägt und uns in den Atlantischen Ozean wirft, was dann allerdings nicht als Erfreulichkeit aufzufassen wäre.

Der Techniker ergänzte: Wenn der Strick standhält, dann wird es noch schlimmer. Der gefirnißte Ballontaft hat nämlich, wie alle Nichtleiter, die Tendenz, bei jeder Reibung Elektrizität zu entwickeln. In unserem Fall sind alle Bedingungen gegeben: Das Netzwerk wird durch den Wind an die Hülle prall angedrückt, das widerstrebende Seil verschärft die Spannung, sehr leicht entladen sich elektrische Funken, die hineinschlagen, und dann steht der Ballon natürlich sofort in hellen Flammen. Erst in voriger Woche sei in Lille ein Ballon captif auf diese Weise verunglückt und ähnliches hätte sich fast gleichzeitig bei Straßburg, bei Chalons und bei Toulouse ereignet. Uebrigens wären die Fahrgäste von Lille nicht zerschmettert worden, sondern infolge der fallschirmartigen Wirkung der Ballonfetzen als ziemlich wohlerhaltene und nur teilweise geröstete Leichen unten angekommen.

Diese erquickliche Konversation verlängerte sich durch den Umstand, daß die Seiltrommel in der Tiefe nicht funktionierte. Wir hätten schon lange zurückgewickelt sein müssen, allein da haperte etwas an der Maschinerie auf dem Erdboden. Der Kondukteur tröstete abermals: Nächsten Morgen würde die Konstruktion ganz bestimmt in Ordnung gebracht werden, und selbst im Moment könne die Sache nicht gar so arg auslaufen, da das Luftschiff bei einer solventen Compagnie d'assurance zum vollen Werte versichert sei.

Zum Glück besann sich die Maschine nach einer weiteren halben Stunde, das Seil wurde angezogen, wir schnurrten zurück, und mit dem Faustischen Jubelruf »die Erde hat mich wieder!« durfte ich das Festland wieder betreten. Im Bureau der Fluggesellschaft wurde mir ein auf den Namen gefertigtes »Diplome de courage« ausgehändigt. Bis zum heutigen Tage bewahre ich dieses Dokument, das mir Kunde gibt von der außerordentlichen Tapferkeit, mit der ich damals nach überstandenem Schrecken aus dem Korb geklettert bin. Ich glaube, es ließen sich da Parallelen ziehen mit Mucius Scävola und mit Leonidas, die sich ja in kritischen Momenten auch ganz beherzt benommen haben.

Natürlich, der Einjährige

Bei der Verkündung des Waffenstillstandes im deutsch-französischen Kriege von 1870/71 versammelte ein preußischer Feldwebel seine Leute zu der denkwürdigen Ansprache: »Jetzt ist der Feldzug zu Ende und die Kriegsbummelei hört auf. Jetzt beginnt wieder der richtige, stramme Waffendienst.« Und diesen, gepfefferten Friedensdienst mit allen Schärfen eines raffinierten Drills habe ich bald darauf ausgiebig kennen gelernt; als »Einjähriger« im Kaiser-Franz-Regiment, als Privilegierter, der auf Grund seines amtlich bescheinigten Bildungsgrades vor den Dreijährigen einen gewaltigen Zeitvorteil und dazu die Aussicht auf rasche Beförderung voraus hatte. An diesem Privilegium war verfassungsmäßig nicht zu rütteln. Wir sogenannten Einjährig-Freiwilligen bildeten im Kommiß eine Oberschicht, und eben deswegen ließen die Vorgesetzten spüren, daß ihnen die ganze Einrichtung nicht paßte. Wo es der Anlaß nur irgend ermöglichte, wurden wir Vertreter der »Intellektuaille« als die Sündenböcke angeprangert. Und da verging keine Stunde ohne solchen Anlaß. Alles, was im Dienst nicht ganz exakt klappte, was die zornige Laune des jeweils Befehlenden herausforderte, wurde auf unser Konto gesetzt, auf unsere vielbelasteten Buckel abgeschoben. Die stehende Redensart lautete: »Natürlich, der Einjährige!« Das sollte bedeuten: Im Vergleich mit euch ist alles andere Mustertruppe; wenn hier etwas mißlingt, in Richtung, in Griffen, in irgendwelchem Exerzitium, so ist nur die Anwesenheit dieser Bildungsprotzen daran schuld; der Einjährige verdirbt selbstverständlich das ganze Militär. Und dieses Dogma stand ebenso fest, wie das Privilegium selbst.

Und auf keinen meiner Kameraden prasselte jenes ironische Donnerwort so häufig herab als auf mich. Die Summe dieser Erlebnisse verdichtete sich in mir zu der Empfindung, daß gerade ich mit meiner höchst unpassenden Bildung den Krebsschaden des gesamten Heerwesens darstellte.

Wie bekannt, gipfelte damals alle soldatische Vorzüglichkeit im »Parademarsch« – ein prachtvoller Anblick, wenn er in schnurgerader Ausrichtung gelang, eine Katastrophe, wenn die Linie ins Wanken geriet. Er war das eigentliche Staatsexamen, die höchste Erprobung, das untrügliche Experimentum crucis für die Leistungsfähigkeit der Truppe. Tief ins Bewußtsein bohrte sich zumal der kritische Augenblick, da man mit seiner blankgeputzten Reihe am Feldherrnhügel der hohen Offiziere vorbeiparadierte, die mit Adleraugen die Front bis auf den Zentimeter genau taxierten. Und ach, wie habe ich Unglückswurm diese strahlende Front ruiniert! Just im entscheidenden Moment packte mich ein Nieskrampf, meine persönliche Explosion pflanzte sich mit Lichtgeschwindigkeit fort, ich war der Unhold, der die pompöse Fassade zur scheußlichen Kurve verkrümmte. Der empörte Hauptmann wetterte los: »Natürlich, der Einjährige! Zwanzig Jahre hat er zum Niesen Zeit gehabt, muß er mir ausgerechnet in dieser Sekunde mit seiner infamen Platznase den Parademarsch verderben!«

Es sollte noch ärger kommen. Ich defilierte in der Rolle als schließender Unteroffizier in abgetrennter Reihe hinter der Zugfront, allen Blicken besonders exponiert. Ich trug in bitterer Winterkälte nach Vorschrift weiße Handschuhe, die zwar meine Körperlichkeit blendend idealisierten, aber die Gelenkigkeit meiner ohnedies halberstarrten Greifflossen auf Null herabdrückten. Nun gab es unter allen Dienstverbrechen kein grausigeres als die Lockerung der Waffe bei rechts angefaßtem Gewehr. Und richtig, es stand in den Sternen geschrieben, daß mir wiederum im heiligen Augenblick die Flinte von der Brustseite abrutschte. Mit der freien linken Hand versuchte ich danach zu greifen – an sich schon ein verfemtes Manöver –, allein die brutale Schwerkraft war stärker als mein Wille, kurzum, mein Gewehr ratterte fallend mit Gekrach den hochmögenden berittenen Herrschaften direkt vor die Füße. Virgil nennt als Symptom des höchsten Entsetzens: »vox faucibus haesit« (die Stimme blieb im Schlunde stecken) und diese perplexe Sprachlosigkeit stellte sich auch bei den Halbgöttern ein, die diesen verpfuschten Parademarsch abnahmen. Aber hinter mir her vernahm ich doch bald genug das Furiengeheul: »Natürlich, der Einjährige!« Dem Orestes mögen die Rufe der Rachegeister sanfter in den Ohren geklungen haben!

Ich gehörte zu den ersten, die zur Erprobung des damals neuen Mausergewehrs an den Scheibenstand kommandiert wurden. Dieses Instrument äußerte anfangs einen äußerst heftigen Rückschlag, und man mußte sich gewaltig zusammennehmen, um nicht beim Abfeuern glatt hintenüber zu purzeln. Allein ich trotzte dem akuten Kolbenstoß – der unter Umständen das Schlüsselbein entzweibrechen konnte –, ich zielte mit Wilhelm-Tell-Augen und leistete in erster Probe bei fünf Schüssen auf 120 Meter Scheibendistanz fünf Zentraltreffer. Sofort wurde mir ein ungeschriebenes Militärgesetz erläutert, wonach der Soldat bei solch seltenem Ergebnis gehalten wäre, das ganze Peloton mit einem Faß Bier freizuhalten. Wir verfügten uns also in nächster dienstfreier Stunde in eine gemütliche Kantine, die der gesamten Rotte zum Verhängnis werden sollte. Wir vertilgten nämlich zu dem Biergelage etliche frische Schweinswürste, und dieses äußerlich und im Geschmack sehr leckere Gericht barg einen perfiden Kern – du ahnst es, Leser: Trichinen! Die ganze Kumpanei erkrankte, und das Lazarett erhielt eine starke Belegschaft, durch deren Muskeln nach mikroskopischem Befund unzählbare Horden jener Spiralwürmer tobten.

Im ganzen Regiment war das Wort »Trichinose« zum Alarmsignal geworden, und obschon wir durchweg schließlich gesundeten, gab es doch allenthalben verängstigte Gesichter und peinliche Erörterungen. Wie und wo mochte bloß der fatale Vorgang entstanden sein? Hierüber gaben die Indizien deutliche Auskunft: bei einem Biergelage, das der bewußte glückliche Schütze mit den Freiwilligenschnüren zur Feier seiner fünf Treffer veranstaltet hatte. Eine moralische Schuld ließ sich freilich nicht konstruieren, aber der kausale Zusammenhang wies doch unzweideutig auf mich, als den eigentlichen Urheber der Verseuchung. Es fanden sich Stimmen, die mich direkt als Trichinenvater bezeichneten – »Natürlich, der Einjährige!«

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Und des Sonnengottes Gluten versengten das Feld mit unerhörten Kalorien. Wir absolvierten eine Felddienstübung im freien Gelände nahe bei Berlin, und ich war durch die Hitze geradezu wie betäubt. Abgesehen davon, hatte ich während der Uebung meiner Feldflasche kräftig zugesprochen, und diese enthielt – sehr reglementwidrig – eine ziemlich hochgradige Alkoholmischung. Und aus diesem Zusammenprall von Temperatur und Schnaps entwickelten sich Zustände, die nach den Regeln militärischer Erfahrung als beispiellos gelten müssen.

Erstlich verlief ich mich während des Manövers derart, daß ich in eine ganz fremde Soldatenschaft hineingeriet und mit einer Truppe heimkehrte, zu der ich nach Dienstverhältnis und Uniform gar nicht gehörte. Und es muß ergänzt werden, daß so ein verirrtes Schaf in fremder Herde eine Rolle spielt, die zwar dem Betrachter sehr burlesk, dem Darsteller indes recht erbärmlich vorkommt. Ferner war mir infolge der diabolischen Glut der schwarze Lack vom Tornisterriemen auf den Waffenrock geflossen und hatte sich dort in breiter Fläche dermaßen verklebt, daß ich als Gesamterscheinung nur noch einen lackierten Klumpen vorstellte. Welch eine Toilette mußte ich an mir vollziehen lassen! Gewand und Tornister hafteten wie genagelt aufeinander und waren nur durch Faustgewalt und Messerschnitte zu trennen: Modell für einen Bilderbogen von Busch! Hier entstand die Frage, warum Tausende von schwarzberiemten Füsilieren heil durch die Sonne marschierten, während nur dieser einzige, dieses Monstrum, von den Strahlen des Tagesgestirns so nichtswürdig verdreckt wurde? Der nie um Antwort verlegene Chor der Vorgesetzten gab Bescheid: »Natürlich, der Einjährige?« Der Kerl mußte nicht nur eine Extrauniform, sondern auch eine Extraschmelzhitze für sich haben?

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