Von keiner Macht gezwungen - Albrecht J. Schmitt - E-Book

Von keiner Macht gezwungen E-Book

Albrecht J. Schmitt

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Beschreibung

P. Alois Grimm SJ war Lehrer und Erzieher an der Stella Matutina in Feldkirch/Vorarlberg und am Kolleg St. Blasien im Schwarzwald. Im Unterricht und in seinen Predigten verteidigte er das chistliche Weltbild gegen die völkische Ideologie des Nationalsozialismus und geriet so bald in Konflikt mit der Geheimen Staatspolizei. Da diese keine Handhabe gegen ihn hatte, setzte sie einen Spitzel auf ihn an, der unter dem Vorwand, zum Katholizismus konvertieren zu wollen, ihn aushorchte und in Gespräche über die politische Lage verwickelte. Schließlich hatte die Gestapo genug Material für eine Anklage beim Volksgerichtshof. Unter dem Vorsitz von Roland Freisler wurde P. Grimm zum Tode verurteilt und am 11. September 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Sowjetimperiums wollte man glauben, die bösen Geister seien gebannt. Aber der Totalitarismus lebt allenthalben wieder auf. Mehr denn je brauchen wir Menschen, die Widerstand leisten gegen die Verführer und Lügner unserer Zeit. Pater Alois Grimm kann hier ein Vorbild sein für Unerschrockenheit, Verteidigung der Wahrheit und Treue zur eigenen Gewissensüberzeugung.

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Albrecht Josef Schmitt, ein Enkel des jüngeren Bruders von Alois Grimm, wurde 1949 in Külsheim geboren und ist dort aufgewachsen. Mit zehn Jahren trat er wie sein Großonkel und sein im Krieg gefallener Onkel in das Erzbischöfliche Studienheim St. Michael ein und besuchte das Matthias-Grünewald-Gymnasium in Tauberbischofsheim. Er studierte Theologie, Slavistik und Germanistik in Freiburg/Br., Paris und Tübingen und war bis zum Ruhestand Lehrer und Stellvertretender Schulleiter am Gymnasium Unterrieden in Sindelfingen.

„Ein bisschen naiv war Ihr Großonkel schon“, lautete das Urteil von P. Alex Blöchlinger SJ, dem letzten Jesuiten in Feldkirch, gegenüber dem Autor dieses Buches. Noch etwas direkter waren Stimmen in seiner Heimat, nachdem das Todesurteil gegen P. Alois Grimm SJ bekannt geworden war: „Der hätt´ sein Maul halten sollen“. Beide Meinungen verkennen, dass es nicht Naivität oder Geschwätzigkeit waren, die Alois Grimm vor den Volksgerichtshof brachten, sondern die Überzeugung, nicht schweigen und sich wegducken zu dürfen, als die Wahrheit mit Füßen getreten wurde. „Aus Liebe nur, von keiner Macht gezwungen“, ging er deshalb seinen Weg in den Tod.

Den Schülerinnen und Schülern

des Kollegs St. Blasien und

der Pater-Alois-Grimm-Schule Külsheim

gewidmet

Inhalt

Unbarmherziger Terror

Das Fallbeil

Mein Külsheim im badischen Frankenland

Prägungen

Weichenstellung

Schulzeit und Berufswahl

Der Jesuitenorden

Feldkirch I

Valkenburg I

Feldkirch II

Valkenburg II

Florenz

Wien und Heidelberg

Ambrosiaster

Feldkirch III

Weiterbildung des Lehrers

Autorität und Gehorsam

Lehrer, Erzieher, Seelsorger

Studienfahrt nach Rom

Schwere Zeiten

Abschied von Feldkirch

St. Blasien

Heimkehr nach Feldkirch

Von der Gestapo beobachtet

Seelsorge und Laienapostolat

Die Schikanen nehmen zu

Die Lübecker Märtyrer

Fastenpredigten 1943

Von der Gestapo bespitzelt

Die Verhaftung

Ritterkreuz mit Eichenlaub

Nichts bleibt unversucht

Stille Leidenszeit

Die Verhöre

Die Anklageschrift

Der Prozess

Letzte Station: Brandenburg-Görden

Zum Lebensopfer bereit

Die Erinnerung muss bleiben

Anhang

Kommentiertes Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis

Unbarmherziger Terror

„Heute waren wieder 16 Hinrichtungen. Jeden Montag derselbe unbarmherzige Terror“, so schrieb der norwegische Pastor Olav Brennhovd unter dem Datum vom 26.09.1944 in sein Tagebuch, das er in der Gefängnisbibliothek des Zuchthauses Brandenburg-Görden zwischen Büchern versteckt hatte. Die Notiz bezog sich auf den Vortag, als er wie jede Woche die Schläge des Fallbeils mitzählte, das im 3-Minuten-Takt einen Menschen enthauptete.

Jeden Montag derselbe unbarmherzige Terror. Zwei Wochen vor dieser Tagebuchnotiz starben unter der Brandenburger Guillotine 25 Menschen. Es war der 11. September, ein Datum, das sich den Heutigen als Nine-Eleven ins Gedächtnis gegraben hat und an den fatalen Tag im Jahr 2001 erinnert, als islamistische Terroristen mit vier entführten Flugzeugen das New Yorker World Trade Center in Schutt und Asche legten, das Pentagon schwer beschädigten und ein weiteres Flugzeug mit 33 Passagieren und 7 Besatzungsmitgliedern am Boden zerschellen ließen. Annähernd 3.000 Menschen kamen bei den Anschlägen zu Tode. Sie waren willkürliche, zufällige Opfer des blindwütigen Hasses fanatisierter Islamisten gegen die USA.

Die Enthaupteten des 11. September 1944 waren keine Zufallsopfer. Bei aller Willkür, der auch sie ausgesetzt waren, hatte der nationalsozialistische Staat sehr genaue Vorstellungen, wer unter seiner Herrschaft leben durfte und wer verfolgt und vernichtet gehörte. Man hielt eine formaljuristische Fassade aufrecht und verstieß doch gegen die elementarsten Menschenrechte und Gerechtigkeitsvorstellungen.

Unter den 25 – man kann mit Fug und Recht das Wort gebrauchen – Ermordeten war der 57-jährige Jesuitenpater Alois Grimm. Vier Wochen zuvor war er vom so genannten Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tod verurteilt worden. Die Anklage lautete auf Wehrkraftzersetzung. Der tiefere Grund: Als Jesuit gehörte er einem Orden an, den die Nationalsozialisten fürchteten und abgrundtief hassten. Originalton Freisler:

Kein Deutscher kann doch einen Jesuiten auch nur mit der Feuerzange anfassen!

Dass der Anklagepunkt „Defaitismus und Wehrkraftzersetzung“ von der NS-Justiz sehr frei und weit ausgelegt wurde, zeigt der Fall des am gleichen Tag auf demselben Schafott hingerichteten katholischen Priesters Joseph Müller, der wegen des Erzählens eines regimekritischen Witzes verhaftet wurde. Das war ein willkommener Anlass, um einen missliebigen Widersacher der NS-Ideologie aus dem Weg zu räumen. Bei einem Krankenbesuch beim Vater des NSDAP-Ortsgruppenleiters hatte Pfarrer Müller diesen Witz erzählt:

Ein Verwundeter liegt im Sterben und will wissen, wofür er stirbt. Er lässt die Krankenschwester rufen und sagt ihr: ‚Ich sterbe als Soldat und möchte wissen, für wen ich sterbe.‘ Die Schwester antwortet: ‚Sie sterben für Führer und Volk.‘ Der Soldat fragt: ‚Kann dann nicht der Führer an mein Sterbebett kommen?‘ Die Schwester antwortet: ‚Nein, das geht nicht, aber ich bringe Ihnen ein Bild des Führers.‘ Der Soldat bittet dann, dass ihm das Bild zur Rechten gelegt wird. Weiter sagt er dann: ‚Ich gehöre der Luftwaffe an.‘ Da bringt ihm die Schwester das Bild von Reichsmarschall Göring und legt es zur Linken. Daraufhin sagt der Soldat: ‚Jetzt sterbe ich wie Christus.‘

(Für alle, die nicht bibelfest sind: Jesus von Nazareth wurde zusammen mit zwei Verbrechern gekreuzigt, einer zu seiner Rechten, der andere zur Linken.)

Pater Grimm war kein Witzeerzähler, aber auch er war wegen seiner regimekritischen Haltung früh ins Visier der Nationalsozialisten geraten. Da er als Lehrer und Erzieher großen Einfluss auf die Jugend hatte, erschien er dem Regime besonders gefährlich, so dass man nach einer Gelegenheit suchte, ihn zu vernichten. Doch alles Material, das man gegen ihn zusammengetragen hatte, reichte für eine Anklage nicht aus. Da griff die Gestapo zu einem ganz perfiden Mittel: Man schickte einen Soldaten zu ihm, der angeblich zum katholischen Glauben konvertieren wollte und um Glaubensunterweisung bat. Als Seelsorger ließ Pater Grimm sich trotz Warnungen auf den Unterricht ein. Der Spitzel lenkte das Gespräch bewusst auf die Besprechung der Kriegslage und hielt die Äußerungen des Paters in einem Protokoll fest. Zu den letzten „Glaubensgesprächen“ im Sommer 1943 brachte er einen „Freund“, einen verkappten Gestapo-Offizier, mit. Schließlich hatte die Gestapo, was sie wollte, und die Maschinerie der Vernichtung konnte in Gang gesetzt werden.

Jeden Montag derselbe unbarmherzige Terror. Im Jahr 1944 lief die Tötungsmaschine des nationalsozialistischen Staates auf Hochtouren. Je näher die Rote Armee von Osten und die Alliierten vom Atlantik gegen die deutschen Grenzen und schließlich gegen Berlin vorrückten, desto wilder gebärdete sich Freisler, desto fanatischer propagierte er als unbeirrbarer Gefolgsmann seines Idols Adolf Hitler den deutschen Endsieg. Seit der „größte Führer aller Zeiten“ Anfang des Jahres 1943 die in Stalingrad eingekesselte 6. Armee ans Messer geliefert hatte, wusste jeder klar denkende Mensch, dass der Krieg verloren war und die Niederlage nach der verlustreichen, aber letztlich geglückten Invasion der Alliierten im Juni 1944 nicht mehr verhindert werden konnte.

Dass die Todesmaschinerie kein Verzweiflungsakt der letzten Kriegsphase, sondern von Anfang an geplant war, zeigt die Tatsache, dass Adolf Hitler bereits Ende 1933 zwanzig Guillotinen bestellte, die in der Schlosserei des Gefängnisses Berlin-Tegel hergestellt und bis 1937 an die zentralen Hinrichtungsorte im Deutschen Reich verteilt wurden.1

Das Zuchthaus Brandenburg-Görden war die zweitgrößte Hinrichtungsstätte der NS-Justiz. Insgesamt wurden hier 2.743 Hinrichtungen vollzogen, davon waren mindestens 1.722 politisch motivierte Tötungen.2 Noch mehr Hinrichtungen, nämlich 2.891, fanden in Berlin-Plötzensee statt.

In der Weimarer Republik war das Zuchthaus ab 1927 als Musteranstalt des „humanen Strafvollzugs“ erbaut worden, da das alte an der Neuendorfer Straße wegen katastrophaler hygienischer Zustände nicht mehr tragbar war. Dieses wurde 1931 vorübergehend geschlossen, von 1933-1934 aber als eines der ersten Konzentrationslager wieder genutzt. Heute beherbergt das ehemalige Hauptgebäude nach einem Umbau Teile der Stadtverwaltung.

Das neue Zuchthaus Brandenburg-Görden galt bei seiner Eröffnung als eines der modernsten Gefängnisse Europas. Die Häftlinge sollten hier nicht einfach weggesperrt, sondern für die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet und resozialisiert werden. Dazu gab es Schulungsräume und eine Bibliothek. Der nationalsozialistische Strafvollzug räumte jedoch schnell mit solchen Privilegien auf. Kriminelle und politische Gefangene galten als „Volksschädlinge“, die für ihre Taten büßen sollten. Für Resozialisierung war da kein Platz.

Modell der Haftanstalt Brandenburg-Görden

Von 1937-1945 verbüßte der spätere Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker den größten Teil seiner Zuchthausstrafe in Brandenburg-Görden. Am 27. April 1945 wurde das Zuchthaus von der Roten Armee besetzt. Heute erinnert ein sowjetischer T-34-Panzer gegenüber dem Eingang an den Tag der Befreiung. Ca. 600 Gefangene wurden freigelassen; unter ihnen Pastor Brennhovd.

Auch für ihn war die Todesstrafe vorgesehen gewesen, weil er als Mitglied einer norwegischen Widerstandsgruppe auf konspirativen Wegen zahlreiche Menschen aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Norwegen nach Schweden gebracht hatte. Es ist durchaus möglich, dass unter den auf diese Weise Geretteten auch der spätere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt war.3

1942 wurde Brennhovd verraten, von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Im Prozess soll er auf den Vorwurf, er würde die Deutschen hassen, gesagt haben:

Ich kann nicht hassen. Ich verehre Deutschland als das Land von Goethe, Schiller und Bach. Aber ich liebe mein Vaterland, so wie Sie Ihres lieben. Meine Liebe muss sich so ausdrücken. Wir wehren uns gegen eine Besatzung, nicht gegen Deutschland.

Den Staatsanwalt haben diese Worte offenbar bewogen, statt des vorgesehenen Todesurteils eine achtjährige Zuchthausstrafe zu beantragen. Brennhovd kam nach Brandenburg und wurde als Häftling ab August 1944 in der Gefängnisbücherei beschäftigt.

Nach seiner Befreiung ging er nach Norwegen – im Reisegepäck sein Tagebuch, kehrte aber im Auftrag des Schwedischen Roten Kreuzes nach Deutschland zurück, um eine nachhaltige Struktur der Versöhnung aufzubauen. In Göttingen war er 1948 Mitbegründer der „Gesellschaft internationaler Studentenfreunde“, mit der er zahlreiche Friedensfahrten, bevorzugt auch in den Ostblock, organisierte.

Andere hatten nicht das Glück, auf einen fühlenden Staatsanwalt zu treffen. Sie fielen dem unbarmherzigen Terror zum Opfer.

1 Vgl. Harald Poelchau: Die letzten Stunden. Erinnerungen eines Gefängnispfarrers, Volk und Wissen, Berlin, 1949, S. 28

2 Die Zahlen stammen aus der ständigen Ausstellung „Auf dem Görden“ im ehemaligen Direktorenhaus der Haftanstalt Brandenburg-Görden, die 2018 eröffnet wurde.

3 Vgl. Julia Haak: Das Geräusch des Fallbeils (https://www.berliner-zeitung.de/berlin/zuchthaus-brandenburg-goerden-das-geraeusch-des-fallbeils-3187564)

Das Fallbeil

Im Sommer 1940, als die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen sprunghaft anstieg, wurde in der Strafanstalt Brandenburg-Görden ein bis dahin als Garage benutzter Raum zur Hinrichtungsstätte umgebaut und mit einer Guillotine ausgestattet. Bis dahin wurden Enthauptungen mit dem Handbeil durchgeführt.

Einmal in der Woche kam der Scharfrichter mit seinen 3 Gesellen4, um eine Serie von Hinrichtungen zu vollziehen. Für Plötzensee und Brandenburg war Wilhelm Röttger der zuständige Scharfrichter. Röttger war im Hauptberuf Pferdemetzger und Fuhrunternehmer, wohnhaft in der Waldstraße in Moabit. Er gab sich als „besserer Herr“ und galt als „wohlhabender Mann“. Von seiner 84-jährigen Nachbarin wurde er als „großer, starker Mann“ beschrieben, „immer nett und anständig angezogen“5. Zu Hinrichtungen erschien er gekleidet wie ein Dirigent im schwarzen Cut, die Helfer trugen einen schwarzen Anzug. Die Scharfrichter erhielten vom Staat 3.000 Reichsmark als feste jährliche Vergütung plus 30 Reichsmark pro Hinrichtung; später wurde der Betrag auf 60 und 65 Reichsmark erhöht.

Als 1943 die Haftanstalt Plötzensee durch Bomben stark beschädigt wurde und fünf zum Tode verurteilte Häftlinge entweichen konnten, erließ das Reichsjustizministerium einen Geheimbefehl, dass die Zahl der Todeskandidaten, es waren rund vierhundert, unverzüglich zu reduzieren sei. In der Nacht zum 7. September 1943 wurden von Röttger und seinen Gesellen 186 Menschen hingerichtet – an Fleischerhaken, weil die Guillotine durch den Bombenangriff vorübergehend unbrauchbar geworden war. Der Henker verdiente in dieser einen Nacht 5.580 Reichsmark. Nach dem Krieg - er lebte noch bis 1946 - sagte Röttger in einem Interview:

Den Verurteilten wurde die Schlinge um den Hals gelegt, dann wurden sie hochgehoben. Dann habe ich die Schlinge, wie man einen Rock aufhängt, an einem Haken befestigt.

Bei der Tötungsart wussten schon die alten Römer zu unterscheiden. Während gegenüber den unterworfenen Völkern als schimpflichste Todesart die Kreuzigung praktiziert wurde, hatte ein römischer Bürger das „Privileg“, mit dem Schwert getötet zu werden. Auch der NS-Staat pflegte zu differenzieren. Bei den Verschwörern des 20. Juli ordnete Hitler ausdrücklich den Tod durch den Strang an. Zudem ließ er bei diesem Personenkreis den gesamten Verlauf der Hinrichtung filmen, beginnend in der Todeszelle bis zum Wegziehen des Schemels unter dem Galgen. Laut Aussage der beteiligten Kameramänner wurden als „Strang“ dünne Klaviersaiten verwendet.

Militärpersonen wurden in der Regel durch Erschießen exekutiert, so auch Graf Stauffenberg und drei weitere Hauptverantwortliche des Attentats, die noch in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli im Hof des Bendlerblocks in Berlin erschossen wurden. 19 Generälen und 26 Obersten wurde dagegen dieses militärische Vorrecht verwehrt, indem man sie vor der Hinrichtung aus der Wehrmacht ausschloss, um sie an den Galgen bringen zu können.

Der evangelische Gefängnispfarrer Harald Poelchau, der etwa tausend Menschen vor ihrer Hinrichtung seelsorglich betreute, hielt den „ehrenvollen“ Tod durch Erschießen für den qualvollsten:

Keine der anderen Hinrichtungsmethoden brauchte so langwierige Vorbereitungen.6

So könnte man die Hinrichtung mit der Guillotine für die „humanste“ Methode halten. Schließlich wurde sie von dem französischen Arzt Joseph-Ignace Guillotin, nach dem sie benannt ist, für ein neues Strafgesetzbuch vorgeschlagen, um die grausigen und entehrenden Szenen auf dem Richtplatz zu mildern.

Entehrend war die Hinrichtungspraxis der NS-Justiz trotzdem und sie war umso unmenschlicher, je mehr sich das „1000-jährige“ Dritte Reich seinem Ende näherte. In den ersten Jahren gab es noch die sprichwörtliche Henkersmahlzeit, ein am Vorabend der Hinrichtung verabreichtes Essen, das diesen Namen verdiente. Später, als die Tötungsmaschinerie auf Hochtouren arbeitete, wurde den Gefangenen die bevorstehende Exekution zwei Stunden vorher angekündigt. Da war dann keine Zeit und auch keine Notwendigkeit mehr für eine Mahlzeit. Von einem der Gefängniswärter wird berichtet, er habe den Todeskandidaten auch ihre lebenswichtigen Medikamente vorenthalten mit dem Argument:

Dir wird sowieso die Rübe abgemacht!

Die Zeit reichte mit Mühe und Not zum Schreiben von zwei erlaubten Abschiedsbriefen, die mit gefesselten Händen geschrieben werden mussten. Zur festgesetzten Stunde wurde der Todgeweihte mit entblößtem Oberkörper und in den vorgeschriebenen Holzpantoffeln in den Hinrichtungsraum vor den Hinrichtungsleiter geführt. Dieser saß an einem Tisch, auf dem ein Kruzifix stand; in den letzten Jahren wurde es allerdings verboten. Das Urteil wurde verlesen und abgeschlossen mit der feststehenden Wendung:

Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!

Poelchau schreibt in seinen Erinnerungen:

Nun erst riss der Scharfrichter mit einem harten Ruck den schwarzen Vorhang auf. Niemals werde ich dieses knirschende Geräusch vergessen können! Jetzt wurde die Guillotine im Schein des elektrischen Lichtes sichtbar.

Die Gesellen packten den Delinquenten, warfen ihn auf das Brett und brachten ihn mit geübten Handgriffen in die richtige Position. Poelchau fährt fort:

In derselben Sekunde drückte der Scharfrichter auf den Knopf. Das Fallbeil sauste herab, der Kopf des Verurteilten flog in einen bereitgestellten Weidenkorb. Der Blutverlust war ungeheuer, die Beine des Sterbenden zuckten jedesmal so zusammen, dass die Holzpantinen im weiten Bogen fortgeschleudert wurden.7

Mit dem gleichen Ruck zog der Scharfrichter den schwarzen Vorhang wieder zu und meldete in militärischer Haltung:

Herr Oberstaatsanwalt, das Urteil ist vollstreckt!

Für die Hinrichtung waren drei Minuten angesetzt, laut Poelchau dauerte der Tötungsvorgang jedoch nur elf bis dreizehn Sekunden. So konnte die Ermordung von zwei bis drei Dutzend Menschen wie am Fließband erfolgen. Die Leichen wurden in Holzkisten gelegt und im Nebenraum gestapelt. Die Kisten waren 20 cm kürzer als ein normaler Sarg; der Kopf wurde zwischen die Beine gelegt.

So oder so ähnlich muss auch Pater Alois Grimm gestorben sein. Auf der Sterbeurkunde des Standesamtes Brandenburg ist der Zeitpunkt des Todes festgehalten: 13.14 Uhr.

Nachbau der Guillotine in Brandenburg-Görden

4 Die Zahl der Gehilfen variierte. In manchen Quellen ist von 4-6 Helfern die Rede. In einem Protokoll vom 8. Oktober 1942 nannte Röttger als seine Gehilfen die Brüder Arnold und Richard Thomas sowie eine dritte Person namens Hehnen.

5 Der Spiegel, Nr. 8/1979, 19.02.1979

6 Poelchau, S. 31

7 Poelchau, S. 29-30

Mein Külsheim im badischen Frankenland

Wer war dieser Alois Grimm, dem der nationalsozialistische Staat das Lebensrecht im großdeutschen Reich absprach? Oder anders gefragt: Was hielt ihn davon ab, es der Mehrheit gleichzutun und der neuen Heilslehre zu folgen? Was waren die Konstanten, die sein Leben bestimmten? Woher kamen die Werte, die seine Entscheidungen beeinflussten und seinem Leben die Richtung gaben?

Wer auf der Autobahn A81 von Stuttgart Richtung Würzburg unterwegs ist, erfährt nach der Durchquerung von Hohenlohe, dass er sich im „Bauland, Heimat des Grünkerns“ befindet. Das ist die erste Konstante: Ackerbau und Viehzucht. Der Grünkern ist eine Spezialität dieses Landstrichs: unreif geernteter Dinkel, der in großen Wannen gedörrt und haltbar gemacht wird, woraus die Hausfrauen und neuerdings auch renommierte Küchenchefs köstliche Suppen und Brätlinge zubereiten.

Im Kontext des christlichen Abendlandes spricht man auch gern vom „Madonnenländchen“, weil einem dort – nicht auf der Autobahn, aber in Ortschaften und auf Feldwegen – allenthalben Wegkreuze, Madonnenstatuen und Mariensäulen begegnen. Das ist die zweite Konstante: tief verwurzelter Glaube, der sich in Brauchtum und persönlicher Lebensgestaltung äußerte. Wenn man auf dem Feld war und vom weithin sichtbaren Kirchturm das Angelusläuten hörte, legte man den Rechen aus der Hand und stieß die Gabel in den Boden, um die Hände frei zu haben für den „Engel des Herrn“, der morgens, mittags und abends gebetet wurde und dessen Text jedes katholische Schulkind auswendig wusste:

Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geist.

Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Maria sprach: Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort.

Gegrüßet seist du, Maria …

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. Gegrüßet seist du, Maria …

Bitte für uns, o heilige Gottesgebärerin, auf dass wir würdig werden der Verheißungen Christi.

Lasset uns beten. Wir bitten dich, o Herr, gieße deine Gnade ein in unsere Herzen, auf dass wir, die wir durch die Botschaft des Engels die Menschwerdung Christi, deines Sohnes erkannt haben, durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen: durch Christus, unseren Herrn. Amen.

Touristisch wird das Gebiet heute als „Liebliches Taubertal“ vermarktet, während bösartige Zungen von „Badisch-Sibirien“ sprechen und damit auf die Randlage unweit der ehemaligen Zonengrenze anspielen, die 1964 zur Ansiedlung der Bundeswehr und zum Bau der Prinz-Eugen-Kaserne führte, die aber nach 42 Jahren wieder geschlossen wurde. Die Randlage bezieht sich auch weniger auf die Geographie als vielmehr auf die fehlende Anbindung an das Eisenbahnnetz. Die Höhenlage zwischen Wertheim und Tauberbischofsheim erschwerte die verkehrstechnische Erschließung, so dass der mehr als dreißigjährige Kampf um einen Bahnanschluss letztlich erfolglos blieb. Von Randlage kann dagegen keine Rede sein, wenn nach dem geographischen Mittelpunkt der Europäischen Union gefragt wird. Nach dem EU-Beitritt Kroatiens 2013 lag dieser Punkt im Landkreis Aschaffenburg, etwa 50 km von Külsheim entfernt. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU wanderte dieser Punkt in einen Teilort von Veitshöchheim bei Würzburg und liegt damit noch näher bei Külsheim.

Von Randlage wiederum kann man im Kontext des Römischen Reiches sprechen. Der Obergermanisch-Raetische Limes wurde Mitte des zweiten Jahrhunderts errichtet und verlief in dem relevanten Teilstück vom Main bei Miltenberg nach Süden zur Donau. Außerhalb des Limes hatten die Römer Vorposten installiert, die den Namen ‚statio‘ trugen. Man nimmt an, dass die Ortschaften, die auf ‚-stetten‘ enden, auf diese Bezeichnung zurückgehen. Das zu Külsheim gehörige Wolferstetten könnte demzufolge ein solcher römischer Vorposten gewesen sein. Ein Indiz dafür ist auch die noch heute so genannte ‚Römerstraße‘, die an Wolferstetten vorbeizieht und in späterer Zeit Teil des wichtigen Handelsweges von Frankfurt nach Würzburg und weiter nach Nürnberg war.

Külsheim hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Nachdem um 260 n. Chr. der Limes von den Alemannen überrannt worden war, nahmen diese nach und nach das Gebiet südlich des Mains bis zu den Alpen in Besitz. Die Ausdehnung nach Norden wurde ihnen von den Franken verwehrt, die unter König Chlodwig im Jahr 496 in der Entscheidungsschlacht am Mittelrhein ihre Vorherrschaft bekräftigten. Das von den Alemannen preisgegebene Gebiet wurde von fränkischen Bauern vorwiegend vom Stamm der Chatten besiedelt. Der nach ihnen benannte Kattenberg gibt davon Zeugnis. Von hier aus breiteten sich die Chatten in den quellenreichen Talkessel auf der heutigen Gemarkung Külsheim aus.

In der Stauferzeit war Külsheim im Besitz der Herren von Dürn, die sich nach ihrem Stammsitz Walldürn benannten und über großen Landbesitz verfügten. Auf sie geht wohl auch die Gründung der ersten Burganlage zurück, die in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert wird. Handfeste Belege gibt es dafür allerdings nicht; auch der Bischof von Würzburg wird als Auftraggeber genannt.

Blick vom Kattenberg auf Külsheim

1291 verkaufte Rupprecht II. von Dürn seinen Külsheimer Besitz an seinen Schwiegersohn Rudolf II. von Wertheim, der sich damit aber wohl finanziell übernommen hatte und das Dorf Külsheim schon im Jahr darauf an den Mainzer Erzbischof Gerhard II. von Eppstein wieder verkaufte. Die Burg scheint vorher schon in dessen Hand gewesen zu sein.

Dieser Kurfürst und Erzbischof Gerhard war maßgeblich an der 1292 erfolgten Wahl seines Verwandten Adolf von Nassau zum deutschen König beteiligt. So konnte er seinem Wunsch an den Neugewählten Nachdruck verleihen, er möge sechs Dörfer und Orte seines Erzstifts zu freien Reichsstädten erheben, wodurch diese einen erheblichen Wertzuwachs erfuhren. Und so wurde Külsheim am 23. Dezember 1292 zur Stadt erhoben, indem der König erklärte:

[Wir] wollen diesem Ort kraft königlicher Autorität die gleichen Freiheitsrechte zugestehen, deren sich unsere Stadt Frankfurt erfreut und bisher erfreute.

Und er fährt fort:

Wir ermächtigen den erwähnten Erzbischof Gerhard, seinen Wochenmarkt zu bestimmen im vorerwähnten Ort, den wir gütig befreit haben, und Mauern und Befestigungen aufzuführen, wie er es für nützlich hält.

Da auch Mainz ständig in Geldnot war, wurden seine Besitztümer häufig verpfändet. Dieses Schicksal wurde auch Külsheim wiederholt zuteil, was der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gerade zuträglich war. Das Erzstift Mainz besaß in Külsheim ein Hofgut, das jeweils für sechs Jahre an acht Külsheimer Bauern verpachtet wurde. In diesem Zusammenhang wird erstmals die Familie Grimm aktenkundig. Der Mainzer Kurfürst Anselm Franz von Ingelheim hatte 1691 das Gut Rosshof bei Heubach als Erblehen an Michael Fürst (in der Urkunde Versch) und seine Frau Magdalena verpachtet, musste dieses aber aus vertraglichen Gründen abgeben. Zum Ausgleich erhielten Michael Fürst und sein Schwiegersohn Sebastian Grimm 1715 vier von acht Teilen des Hofguts in Külsheim als Erbpacht.

1803 wurde auf napoleonischen Befehl das Fürstentum Mainz aufgelöst, der linksrheinische Besitz von Frankreich annektiert und die rechtsrheinischen Besitzungen an das Fürstentum Leiningen übertragen. 1806 verloren die Leininger ihre Souveränität und mussten sich dem neugeschaffenen Großherzogtum Baden unterordnen, behielten aber ihren Besitz.

Das Külsheimer Heimatlied, das auch heutzutage noch bei jeder passenden Gelegenheit gesungen wird, beginnt mit den Worten „Mein Külsheim im badischen Frankenland“. Darin kommt zum Ausdruck, dass man sich landsmannschaftlich zu den Franken zählt, genauer zu Main-Tauber-Franken, während man sich politisch zu Baden gehörig fühlt, obwohl der im Zuge der Kreisreform 1974 neu gebildete Main-Tauber-Kreis dem Regierungsbezirk Stuttgart zugeschlagen wurde und somit heute württembergisch ist.

Prägungen

Die prägende Kraft der Heimat erklärt gewiss manche Charakterzüge von Alois Grimm. Bodenständigkeit, Fleiß, Ausdauer, Liebe zur Natur sind ihm aus dem bäuerlichen Milieu zugewachsen. Sparsamer Umgang mit den Ressourcen war selbstverständlich, auch ohne dass man den Modebegriff Nachhaltigkeit ständig im Mund führte. Lebensmittel wurden nicht weggeworfen; Reste verwertet oder an das Vieh verfüttert. Der eigene Grund und Boden verlieh den Bauern eine gewisse Unabhängigkeit und ein gesundes Selbstvertrauen. Freilich war man abhängig vom Wetter. Anhaltende Trockenheit oder Hagel zur Unzeit konnten den Ertrag empfindlich schmälern oder zum Totalausfall führen.

Abhängig war man in gewissem Sinn auch von der Kirche. Die Sonntagsheiligung war ungeschriebenes Gesetz, aber wenn ausgerechnet am Sonntag ein Gewitter drohte, musste das Heu in die Scheune und die auf dem Feld zum Trocknen aufgestellten Garben mussten auf die Tenne. Dann wurden die Kinder ins Pfarrhaus geschickt, um Dispens einzuholen. Weil man auf diese vertrauen konnte, wurden die Pferde schon einmal angespannt und der Leiterwagen vorbereitet.

Die Heimat und die bäuerlichen Strukturen machen aber nicht das ganze Wertegerüst eines Alois Grimm aus, denn dann hätte die große Mehrheit der Bewohner des Madonnenländchens wie er und seine Familie resistent sein müssen gegen die völkischen Parolen des aufkommenden Nationalsozialismus. Dem war aber keineswegs so. Sonst hätte Lehrer Stockert, ein überzeugter Gefolgsmann der neuen Machthaber, sich nicht so auf die Familie Grimm einschießen können, wie er es unter Missachtung seiner pädagogischen Verantwortung getan hat. Einem der Grimm-Mädchen setzte er vor der Klasse dermaßen zu, dass dieses hysterisch schreiend über den Schulhof, die lange Kirchentreppe hinab und durch die gesamte Hauptstraße schutzsuchend nach Hause rannte. Besonders unrühmlich war eine Aktion, die zwar von der Wertheimer NSDAP-Kreisleitung und dortigen SA-Trupps durchgeführt, von Teilen der Külsheimer Bürgerschaft aber mit Sympathiebekundungen und hämischen Kommentaren begleitet wurde. Am 2. September 1939, einen Tag nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, einem Samstag, also Sabbat, wurden die 16 noch verbliebenen Juden mit Waffengewalt vor dem Rathaus zusammengetrieben. Die vier Männer, alle um die 60 Jahre alt, mussten sich im Halbkreis um den Rathausbrunnen stellen, die Frauen mit dem Gesicht zur Wand an die Rathausmauer. Dann wurden die Männer auf ein Kommando in den Brunnen getrieben und dort dreimal untergetaucht – ein Ritual, das als „Judentaufe“ auch an anderen Orten praktiziert wurde.

Külsheim - Kirchentreppe und altes Rathaus

Rathausbrunnen in Külsheim

Es gab zwar Stimmen, die das Schauspiel verurteilten und zur Mäßigung riefen – darunter war auch der Bürgermeister August Spengler -, doch mit Drohungen, Einschüchterungen und Prügeln wurden sie zum Schweigen gebracht. Man fühlt sich an Pilatus erinnert, der einknickte, als man ihm vorwarf:

Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers.

Man darf in diesem Zusammenhang sicher auch an die „Külsheimer Fehde“ im 15. Jh. erinnern, als die Stadt Külsheim vom Grafen von Wertheim belagert und eingenommen wurde. Während aber damals Verrat im Spiel war, fehlte es hier offensichtlich an Zivilcourage, die angesichts der Zeitumstände allerdings mit Lebensgefahr verbunden war. Nur wenige – zu wenige – haben dieses Risiko in Kauf genommen. Es existieren Aufzeichnungen, die Pater Grimm im Pfarrhaus bei der Erforschung des Familienstammbaums gemacht hat. Dieser lässt sich lückenlos zurückverfolgen bis zu jenem Sebastian Grimm, der in der Mainzer Erbpachturkunde erwähnt wird. Über den Rosshof hinaus gibt es allerdings keine Quellen mehr. Die Familientradition spricht davon, dass die Grimms aus der Gegend von Zürich eingewandert seien. Als Beleg gibt es aber nicht viel mehr als die Tatsache, dass dort der Name Grimm auch heute noch häufig vorkommt. Eine geistige Linie könnte man, obwohl es dafür keinen genealogischen Beleg gibt, auch zu den Brüdern Grimm ziehen, die 1837 als Mitglieder der „Göttinger Sieben“ gegen ihren König protestierten, als dieser gleich nach seinem Amtsantritt ein liberales Staatsgrundgesetz aufhob. Die sieben Professoren wurden entlassen und drei von ihnen des Landes verwiesen. Jacob Grimm äußerte sich im Jahr darauf zu seiner Entlassung:

Die Geschichte zeigt uns edle und freie Männer, welche es wagten, vor dem Angesicht der Könige die volle Wahrheit zu sagen; das Befugtsein gehört denen, die den Mut dazu haben.

In den genealogischen Aufzeichnungen von Alois Grimm gibt es in mehreren Verzweigungen bis weit zurück den Vermerk „Priester“ bei einzelnen Namen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts häufen sich diese Einträge. Der 1805 geborene Franz Joseph Grimm war Stadtpfarrer im benachbarten Wertheim, später in Ettlingenweier. 1832 wurde Franz Anton Grimm geboren, der 1859 in Rom zum Priester geweiht wurde und als Pfarrer in Griesheim und Kleinlaufenburg gewirkt hat. Peter Joseph Grimm, der 1845 geborene Sohn des Adlerwirts, starb 1900 nach mehreren Stationen als Dekan in Leutershausen. 1893, kurz bevor Alois Grimm in die Schule kam, feierten in Külsheim gleich fünf junge Männer ihre Primiz, d.h. ihre erste heilige Messe in ihrem Heimatort: Josef Anton Schmitt, gestorben 1925 als Pfarrer in Stettfeld; Johann Adelmann, gestorben als Pfarrer in Ofteringen bei Waldshut, Wilhelm Joseph Spengler, zuletzt Stadtpfarrer in Scheßlitz im Bistum Bamberg; Albert Grimm, als Pfarrer von Neibsheim bei Bretten gestorben 1926 und Wilhelm Würzberger, Pfarrer in Kleukheim, gestorben 1950. Ein weiterer Verwandter, Leonhard Martin Grimm, war von 1944 bis 1960 Stadtpfarrer an St. Barbara in Freiburg-Littenweiler.

Rosa, Vater Franz Alois Grimm, Theresia (Sr. Clemens Maria), Alois Grimm, Maria (Sr. Agnata), Mutter Maria Theresia geb. Düll, Alfons, Anna (v.l.n.r)

Franz Alois Grimm, der Vater von Alois Grimm, hätte sich also nicht wundern dürfen, dass auch in seiner Familie sich geistliche Berufungen regten. Aber wer will es ihm verübeln, dass er, als ihm nach drei Mädchen (1880 Rosa, 1882 Anna, 1885 Theresia) am 24. Oktober 1886 endlich der Stammhalter geboren wurde, in diesem seinen Nachfolger sah, der einmal den Hof übernehmen und die Landwirtschaft weiterführen würde? Schon bei der Namensgebung muss ihm diese Vision vorgeschwebt haben. Dass der Sohn oft denselben Vornamen wie der Vater oder zumindest die gleichen Initialen bekam, hatte auch einen ganz praktischen Grund. Viele Gerätschaften waren mit diesen Initialen durch einen Brennstempel gekennzeichnet worden. Auch die Mehlsäcke waren in kunstvoller Schrift mit dem Namen des Eigentümers versehen, damit sie in der Mühle nicht verwechselt werden konnten.

Gleich am dritten Tag nach seiner Geburt wurde der Neugeborene von Pfarrer Franz Valentin Nörbel in der Pfarrkirche von Külsheim auf den Namen Alois Josef getauft. Den zweiten Vornamen lieferte der Taufpate Joseph Alfons Grimm, der Bruder des Vaters.

Eine Ahnung, dass seine Rechnung nicht aufgehen könnte, hätte den Vater befallen müssen, als sich herausstellte, dass der Stammhalter sich nicht gerade als geborener Bauer erwies. Selbstverständlich wuchs er in alle Tätigkeiten, die auf dem Hof anfielen, hinein und half beim Füttern, Melken, Ausmisten, Säen und Ernten von Kindesbeinen an mit. Aber schon die älteren Schwestern stellten fest, dass er all das nicht mit der erwarteten Leidenschaft für den Beruf des Bauern erledigte.

Der sechs Jahre jüngere Bruder Alfons erinnert sich:

Bekanntlich durfte mein Bruder erst im 8. Schuljahr mit seinem Studium beginnen. Unser Vater wollte ab sofort einen Bauern aus ihm machen und schickte ihn in den Stall, um das Vieh zu putzen. Alois ging zu der einen Tür rein und durch das Scheunentor wieder raus, zog sein Buch unter seiner Kleidung hervor, setzte sich in irgendein Versteck und las. Gleich darauf hieß es: ‚Wo ist denn der Lauser schon wieder?‘ Der kam wie ein armer Sünder hervorgekrochen. Es ging aber nicht immer so glatt, hat er mir selbst erzählt.

Es muss wohl mehr als eine Ahnung gewesen sein, dass der Vater auch dem zweiten Sohn Alfons, der 1893 nach einem weiteren Mädchen (1890 Maria) zur Welt kam, seine Initialen mitgab.

Mehrfach erwähnt Alois Grimm in seinen Briefen an die Geschwister, wie sehr er den Zusammenhalt und die Atmosphäre in der Familie schätzte und als Bereicherung erfuhr. Zwei Wochen vor seiner Hinrichtung schrieb er an seine ältere Schwester Rosa, die ihm wiederholt, als es noch erlaubt war, Pakete ins Gefängnis geschickt hatte:

Ich kann Dir gar nicht sagen, wie beglückt und reich mich die Liebe und das Zusammenleben meiner Geschwister machte. Es ist die Folge unseres schönen Familienlebens, das wir in unserer Jugend, um Vater und Mutter geschart, genießen durften. Beiden Eltern wollen wir sechs Geschwister es nie vergessen, was sie uns durch das schöne Heim und das traute Zusammensein gegeben haben. Schließlich ist es ja nur ein Geschenk Gottes selbst, das er uns durch die Eltern vermittelte, Ihm sei darum immer Dank und Ehre.

Seine jüngere Schwester Maria erinnerte sich daran, dass sich der Bruder zu Weihnachten als Primaner ein Harmonium gewünscht hatte. Der Vater ging auf den Wunsch nicht ein und sagte, Alois solle zuerst das Abitur gut bestehen. Aber die Schwestern griffen den Wunsch auf und machten dem Bruder Hoffnung: Er solle zu Weihnachten 300 Mark bekommen, um sich das Harmonium selbst zu kaufen. An Heiligabend überreichten sie ihm bei der Bescherung das hübsch verpackte Geld. Aber wie groß war die Enttäuschung, als nur Schokoladengeld zum Vorschein kam. Alois verzog stumm das Gesicht, aber nach wenigen Minuten sagte er, er wolle nicht Böses mit Bösem vergelten und überreichte seinen Schwestern ein Buch mit dem Titel „Die weise Jungfrau“ zum täglichen Gebrauch und las ihnen selbst daraus vor. Die Beschämung vergaß Maria ein Leben lang nicht.

Weichenstellung

In der Pfarrei St. Martin in Külsheim wirkte um die Jahrhundertwende ein Vikar, der sich als Schatzgräber betätigte. Adolf Ehrler schürfte nicht nach Gold oder bohrte nach Erdöl. Die ungehobenen Schätze, nach denen er suchte, waren die in der ländlichen Bevölkerung schlummernden Begabungen. Im Religionsunterricht und unter seinen Ministranten hielt er gezielt Ausschau nach aufgeweckten Buben, die er für geeignet hielt, auf eine höhere Schule zu wechseln und möglicherweise eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

Die schlechten Verkehrsverbindungen erschwerten dieses Vorhaben. Wer das Gymnasium in Wertheim oder Tauberbischofsheim besuchen wollte, musste in Logis bei einer Gastfamilie wohnen oder – und darauf wollte Vikar Ehrler hinaus – er musste in das Erzbischöfliche Knabenkonvikt in Tauberbischofsheim eintreten, dessen Zöglinge das humanistische Gymnasium am Ort besuchten. Tauberbischofsheim hat als Schulstadt eine lange Tradition. Kein Geringerer als Bonifatius, der Apostel der Deutschen, hatte hier gewirkt und der Stadt zu ihrem Namen Bischofsheim verholfen; den Zusatz ‚Tauber‘ fügte man um 1850 hinzu, um sich von zwei gleichnamigen Städten zu unterscheiden. Auf seinen Ruf kam aus einem englischen Kloster seine Verwandte Lioba zu ihm und er betraute sie mit der Leitung des neugegründeten Benediktinerinnenklosters am Ort. In der Tradition ihrer englischen Heimat richtete sie ihr besonderes Augenmerk auf die Sammlung und Bildung der Mädchen und auf deren Ausbildung zu Lehrerinnen und Missionarinnen. Unter ihrer Leitung wurde das Kloster Bischofsheim so zu einem Zentrum der Bildung und Kultur, das weit in die Umgebung ausstrahlte.