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Wieviele Menschen kennen Sie, denen bereits zu Lebzeiten ein eigenes Denkmal errichtet wird? In "Von Lebertran bis Slivovic" berichtet mit Heribert Hölz ein solcher Mensch aus seinem selbstlosen Leben: Vom Duisburger Kriegskind und Halbwaisen, dass aus einfachsten Verhältnissen stammt bis hin zum Erwachsenen, der sein berufliches und ehrenamtliches Leben der Nächstenliebe widmet, die Duisburger Caritas-Bosnienhilfe gründet und dabei unter Einsatz seines Lebens vor Ort unermüdlich den Ärmsten der Armen hilft.
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Seitenzahl: 263
Titelseite
Impressum
Warum schreibe ich dieses Buch?
Erster Teil
Präludium
Meine Kindheit in Duisburg-Hochfeld
Unsere Wohnung in Duisburg-Hochfeld auf dem Immendal 47
Mein Vater
Meine Mutter
Meine Volksschulzeit in Duisburg-Hochfeld
Die Geschichte mit dem Lebertran
Meine Zeit auf dem Gymnasium
Die Sache mit dem „Jungen-Toto“ und deren Folgen
Meine Lehrausbildung zum Speditionskaufmann
Mein Einstieg in den Beruf
Brautschau
Hochzeit, Familiengründung und Hausbau
Die junge Familie
Mutters Tod
Die Briefe von Mutter und Vater
Die 1. Fahrradtour auf dem Jakobsweg nach Santiago de Com postela im Sommer 1991
Die Suche nach dem Grab meines Vaters in Lettland und die Fahrt zum Grab
In Mexiko und Guatemala 1998/1999
Zweiter Teil
Hilfslieferung für Zagreb
Erste Hilfe für Bosnien
Bosnien, immer wieder Bosnien
Heribert Hölz
Vom Kriegskind zum Bosnienhelfer
Heribert Hölz
Von Lebertran bis Slivovic
Vom Kriegskind zum Bosnienhelfer
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©2012 by Anno-Verlag, Rheinberg
Titelfoto: Marc Albers
eISBN: 978-3-939256-56-4
E-Mail: [email protected]
Web: www.anno-verlag.de
Ich schreibe zunächst einmal für mich selbst, um mein bisheriges Leben noch einmal an mir vorüberziehen zu lassen mit all seinen Tiefen, seinen Höhen. Da fällt mir spontan der Spruch ein, der über dem Duisburger Stadttheater steht und den ich so oft gelesen habe:
Mit all seinen Tiefen, seinen Höhen, roll ich das Leben ab vor deinem Blick. Wenn du das große Spiel der Welt gesehen, so kehrst du reicher in dich selbst zurück.
Nun war mein bisheriges Leben kein großes Theaterspiel, ich habe lediglich versucht, für mich und andere stimmig zu leben. Ob mir das bis jetzt gelungen ist, mögen andere beurteilen. Doch können das andere überhaupt?
Ich schreibe seit Anfang der siebziger Jahre an meiner Familienchronik und dachte: Du musst das eigentlich mal zusammenfassen, was du bisher erlebt hast, denn mein Leben war von Anfang an spannend, was nicht heißen kann, immer schön. Ein Buch – ja, das wär´s. Doch wer wird das schon lesen, die Lebensgeschichte eines völlig unbedeutenden Mannes namens Heribert Hölz. So verwarf ich wieder meinen Gedanken an ein Buch.
Bis, ja, bis mich eines Tages im Februar 2011 Marco Hofmann, ein Journalist der NRZ – Neue Rhein Zeitung, Duisburg – anrief und den für mich überraschenden Vorschlag machte, ich sollte doch unbedingt ein Buch über mein bisheriges Leben schreiben. Er habe bereits mit dem Vertreter eines Verlages gesprochen.
Da war sie wieder, meine Idee. Jetzt will ich sie in die Tat umsetzen und hoffe, meine Leser nicht zu langweilen. Ich werde mich bemühen, diesen Anspruch, den ich an mich selbst habe, zu erfüllen. Ob mir das gelingt, weiß ich noch nicht. Jedenfalls gehe ich mit Elan ans Werk.
Ich widme dieses Buch meiner Familie, meiner Frau Ursula und meinen beiden Töchtern Dorothea und Monika, ebenso meiner Mutter, die ich nie vergessen werde, und meinem Vater, den ich gar nicht kennen lernen konnte, weil er „im Krieg geblieben“ ist.
Möge das Werk gelingen! Deo volente – So Gott will.
Neukirchen-Vluyn, im Juli 2011
„Tooor, Tooor!“, brüllte der Reporter ins Mikrophon. Um mich herum schienen alle Menschen aus dem Häuschen zu sein. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen. Ich habe schon zig Torjubel in meinem Leben erlebt, aber solch einen emotionalen Ausbruch sehr selten, wenn überhaupt. Ich war damals elf Jahre jung. Der Reporter, der dieses Tor in die Heimat übertrug, der sich im Lauf der Übertragung zu dem Satz hinreißen ließ: „Toni, Toni, du bist ein Fußballgott!“, hieß Herbert Zimmermann.
Der etwas in die Jahre gekommene Leser dürfte es jetzt erraten haben, welcher Torjubel mich da am Sonntag, den 4. Juli 1954, umrauschte: Das legendäre dritte Tor von Helmut Rahn im Berner Wankdorfstadion im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft gegen die damals als unschlagbar geltenden Ungarn. Deutschland war Fuß ballweltmeister!
Drei Stunden vor Beginn dieses Finales pilgerte ich mit meinem Klassenkameraden Berthold Franken über die neu erbaute Rheinbrücke von Hochfeld nach Rheinhausen. Das war damals für mich ein langer Marsch, fast Ausland. Die Brücke hielt ich zu dieser Zeit für ein Weltwunder. Die größte und höchste Bogenbrücke weit und breit, so hatte sie sich in meinem Kopf festgesetzt. Das Fernsehen steckte Anfang der fünfziger Jahre noch in den Kinderschuhen. Einen Fernsehapparat, nein, ein solches Wunder der Technik besaßen wir zu Hause nicht.
Kath. Volksschule am Blücherplatz in Duisburg-Hochfeld, 3. Klasse im Jahr 1951
Ach Gott, zu Hause, wie sah das damals aus! Klar, der Krieg war bereits neun Jahre Vergangenheit, doch das beginnende Wirtschaftswunder hatte uns auf dem Immendal noch längst nicht erreicht.
Fuß gefasst hatten wir in einem ganz anderen Sinn, Fuß gefasst mit einem Ball, mit einer „Pille“, wie wir das damals nannten. Mit Fußballspielen bin ich groß geworden. Was gab es denn sonst für uns Kinder nach dem Krieg?
Mein Freund Berthold hatte in der Verwandtschaft einen Onkel, der bereits ein Radio- und Fernsehgeschäft betrieb, eben dieses in Rheinhausen auf der anderen Rheinseite. Und ich konnte das Fußballendspiel mit meinem Idol Fritz Walter am Fernseher miterleben. Das war für mich das höchste Glück auf Erden! Fritz Walter. Wenn ich diesen Namen aussprach, wurde ich andächtig.
Warum ich dieses Ereignisan den Beginn meiner Lebensgeschichte setze, fragen sie? Fußball hat mich mitgeprägt bis heute. Fußball spielte, und spielt immer noch eine Rolle in meinem Leben. Deshalb diese Reminiszenz an dieses „Wunder von Bern“ am Anfang meiner Geschichte.
Ich bin groß geworden mit der – sehr nüchtern ausgedrückt – Tatsache, die meine Mutter so zusammenfasste: „Vater ist im Krieg geblieben!“ Mutter war also Kriegerwitwe, wie so viele andere Frauen auch. Das hieß, ich habe meinen Vater gar nicht kennen gelernt. Dabei habe ich soviel durch Erzählungen meiner Mutter über ihn erfahren. Vater war in der Hitlerzeit, heute würden wir sagen, Pfarrjugendführer. Aber nicht in irgendeiner Gemeinde, sondern in St. Peter, Duisburg-Hochfeld. Pfarrjugendführer sein, hieß damals das „Präfekt im Jungmännerverein.“ Das bedeutete u. a. Auseinandersetzungen mit der „Ha-Jot“, der Hitler-Jugend, die damals allgegenwärtig war. Meine Familie besitzt heute noch Kalender von 1934 und 1936, in denen Vater handschriftlich eingetragen hatte: Überfall der HJ auf unser Pfarrheim!
Vater war Modellschreiner, öfter auch von zu Hause weg, um Ausstellungen seiner Firma, der Demag, aufzubauen. So war er einmal in Graz, in der Steiermark und brachte seinen Kindern – ich habe noch zwei ältere Brüder – als Souvenir eine Blockflöte mit. Diese Blockflöte sollte mein Leben wesentlich beeinflussen. Darauf werde ich natürlich noch zurückkommen.
Was ich im Folgenden schreibe, weiß ich eigentlich nur aus späteren Erzählungen, es gehört aber untrennbar zum Beginn meines Lebens. Ich meine damit aber nicht, wie Mutter mit uns Kindern in den Luftschutzkeller gerannt ist, wenn die Sirenen mal wieder heulten und britische Flugzeuge am Himmel Kurs auf Duisburg nahmen. Das war Kriegsalltag.
Als die Lage immer bedrohlicher, immer gefährlicher wurde, fasste Mutter den Entschluss, den mein Vater ihr in einem Feldpostbrief aus dem Krieg am 25. Mai 1943 nahelegte: Fahre mit den Kindern nach Ostenfelde zu Bauer Nolte! Hier bist du vor feindlichen Bombern sicher. Die Noltes nehmen dich mit den Kindern bestimmt bei sich auf.
Ostenfelde, das münsterländische Dorf, hat mit der Biographie meines Vaters zu tun. Das geht zurück auf den Ersten Weltkrieg. Er verbrachte damals, als sein Vater, also mein Opa, bereits 1915 in den Karpaten gefallen war, im Rahmen einer Kinderlandverschickung dort öfter die Ferien. Der Kontakt zum Nolte-Hof ist nie abgerissen, währte über Jahrzehnte. Das konnte uns jetzt zugute kommen.
Mutter fuhr mit Wolfgang und mir nach Westfalen, nach Ostenfelde, dem kleinen Bauerndorf bei Oelde. Das war 1943. Auf dem Bauernhof arbeitete tagsüber ein französischer Kriegsgefangener mit Namen Gabriel, den alle Gaby riefen. Der hat mit mir, wie ich später hörte, oft im Heu gespielt. An Bauer Heinrich Nolte, an ‚Onkel Heinrich’, der eine Kornmühle besaß, die mit Wasserkraft angetrieben wurde, kann ich mich deshalb gut erinnern, weil ich später öfter dort gewesen bin. ‚Onkel Heinrich’ hatte ein Herz für die Familie Hölz. Mutter ist nach dem Krieg öfter zum Hamstern hingefahren und brachte ‚Möpkenbrot‘ mit, über das wir zu Hause herfielen.
‚Möpkenbrot‘ gehört für mich zu den Nahrungsmitteln, die sich in meinem Gedächtnis aus dieser Zeit eingeprägt haben. ‚Möpkenbrot‘, das war ein Brot aus Schweineblut, Mehl, Grieben und Apfelstückchen. Das aß man klein geschnibbelt aus der heißen Bratpfanne, die in der Mitte des Tisches stand. Jeder hatte sein ‚Viertel’ zu bearbeiten. Und wehe, da fummelte einer mit seiner Gabel in ‚fremdem Gebiet‘ herum! Dann hieß es eindringlich auf münsterländer Platt: „Krisse fitjes, wisse fleije jon?“ Das heiß: „Bekommst du Flügel, willst du fliegen gehen?“
Hier in Ostenfelde haben wir in schlimmster Zeit, als Deutschland von den Alliierten in Schutt und Asche gebombt wurde, einen wesentlichen Abschnitt des Krieges überlebt, wir, d. h. Mutter, mein Bruder Wolfgang und ich.
Norbert überlebte das Inferno im Haushalt von Pastor Langenhorst in Obermörmter bei Xanten am Niederrhein.
Und noch etwas ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben: Vor dem stattlichen Bauernhaus in Ostenfelde, stand ein Birnbaum, der so hoch war, dass er den Himmel berührte. Wenn man in diesen Baum hinauf stieg und bis in die Spitze hoch kletterte, was ich natürlich niemals getan habe, dann konnte man die Schwertspitze des Hermannsdenkmals im Teutoburgerwald sehen – sagte man. Ich habe das nie kontrolliert.
An das, was ich nachfolgend schreibe, kann ich mich persönlich nicht mehr erinnern. Deshalb bin ich auf Informationen angewiesen. Eine Quelle ist mein nächst älterer Bruder Wolfgang, der über die „Fliegeralarme“ schrieb: „In den Kriegsjahren 1941 und 1942 gab es oftmals in unserer Stadt des nachts (...) Fliegeralarm.
An vielen Stellen waren auf den Dächern der öffentlichen Gebäuden Sirenen montiert, die die Bevölkerung vor feindlichen Bomberverbänden warnen sollten. Es gab ja einen besonderen Sirenenton für den „Voralarm“, einen für den „Vollalarm“ und letztendlich einen für die „Entwarnung.“ Bei „Fliegeralarm“ war für uns die Situation immer schwieriger als für die übrigen Hausbewohner. Während Norbert schon allein die Treppen laufen konnte, war das bei Heribert nicht der Fall.
Das bedeutete für Mutter, dass sie uns alle drei bereits bei „Voralarm“ aus dem Bett holen musste, um Heribert und mich anzuziehen, während Norbert schon vieles alleine konnte. Dann ging es mit Heribert auf dem Arm und mir an der Hand sowie einer Tasche mit den wichtigsten Papieren und natürlich auch mit Norbert in den Keller. Die anderen Familien sprangen erst bei „Vollalarm“ aus dem Bett und hatten immer noch genügend Zeit, sich anzuziehen, um in den Keller zu gehen. Es passierte dann auch häufiger, dass nach einem „Voralarm“ durch das Abdrehen der Bomberstaffel kein „Vollalarm“ sondern bereits Entwarnung gegeben werden konnte und Mutter somit umsonst mit ihren drei Trabanten aus der zweiten Etage in den Keller hinab gestiegen war.“
Woran kann ich mich noch erinnern? Zum Beispiel an meine Kindergartenzeit 1947, 1948 und 1949. Ich ging in den Kindergarten unserer Pfarrgemeinde St. Peter, den schon meine Brüder Norbert und Wolfgang besucht hatten. Er wurde von Ordensschwestern geleitet und lag im „Annahaus“ auf der Fehrbellinstraße, einer Parallelstraße der Sedanstraße, Straßennamen, die deutsche Geschichte schrieben. Ich habe das Folgende noch im Ohr, weil es mir meine Mutter später öfter erzählte: Sie lieferte mich morgens im Kindergarten bei Schwester Alfonsiana ab. Die Schwester sagte: „Der Heribert sitzt jetzt da am Tisch und bewegt sich kaum, bis sie ihn heute Mittag wieder abholen!“ Man kann das auch so sehen: Ich war äußerst pflegeleicht. Ich taute nie so richtig auf. Wer einmal redete, wenn es verboten war, bekam, man mag es heute kaum glauben, den Mund mit einem Klebeband zugeklebt!
Vor mir liegt das „Entlassungsheft“ des Kindergartens, in dem einige Malereien und Bastel- bzw. Papierfaltarbeiten enthalten sind, die ich im letzten Jahr meiner Kindergartenzeit angefertigt habe und die beweisen, wie akkurat ich damals war. Wahrscheinlich hat Schwester Alfonsiana da etwas mitgeholfen. Am Anfang des „Entlassungsheftes“ ist der Umriss meiner rechten Hand abgebildet, die Umrisse nachgezogen. Daneben lese ich folgenden Spruch: Dies ist meine kleine Hand, mit der im sonn´gen Kinderland, ich schaffte einst mit frohem Sinn, noch eh´ es ging zur Schule hin.
Es war keineswegs in der Nachkriegszeit selbstverständlich, dass jedes Kind zur Entlassung ein solch vielseitiges – im doppelten Sinne! – Heft bekam. Materiell war das ein kleiner Schatz, den ich Zeit meines Lebens aufbewahrt habe. Ich schlage das Heft im Querformat auf und sehe eingeklebte bunte Papiere mit verschiedenen Falttechniken, Bleistiftzeichnungen, Malereien mit vorgegebenen Strukturen. Bilder, die ich auf einer Filzunterlage „ausgepickt“ habe, Reißarbeiten, Obstsorten, die ich mit Buntstiften ausmalte, Scherenschnitte, sogar eine Karte mit den Umrissen eines Hundes, die ich mit einem grünen Faden sichtbar machte, Flechtarbeiten und zum Schluss eine schwarze Papiertafel, auf der ich bereits Zahlen und Buchstaben geschrieben hatte. „Dem lieben Heribert zur Erinnerung an die schöne Zeit im Kindergarten, Duisburg, Ostern 1949.“
In meiner Kindergartenzeit fiel die Hochzeit von Tante Minchen, der einzigen Schwester meines Vaters, die damals auf der Vygenstraße wohnte. Sie heiratete einen Schuster, in dessen Werkstatt ich oft war. Mein Gott, fand ich diese Umgebung in der Werkstatt interessant! Da wurden noch richtig Schuhe besohlt, d. h. mit Lederplatten beklebt und außen herum mit kleinen Holznägeln befestigt. Es roch so unendlich gut in der Werkstatt! Doch davon wollte ich gar nicht erzählen. Vielmehr davon, dass ich im Kindergarten mit Schwester Alfonsiana ein ziemlich langes Gedicht lernte, oder soll ich sagen, lernen musste, um es bei der Hochzeit zu präsentieren. Am Ende hieß es: „Hoch lebe der ganze Stamm!“ Dann kletterte ich auf den Schoß meiner Mutter an der Kaffeetafel und durfte Kuchen essen. Kuchen von einem Bäcker, nein, das konnte sich Tante Minchen nicht leisten, die Leckereien wurden natürlich selbst gebacken, und meine Mutter hatte da mitgeholfen. Ich zeigte ausschließlich auf Kuchenstücke, die meine Mutter gebacken hatte, als man mich fragte: „Heribert, willst du noch ein Stück?“ Diese Episode ist mir jahrzehntelang vorgehalten worden und begleitete mein Leben.
Ein Gewitter zieht auf. Dunkle Wolken am Himmel kommen drohend näher. Es grummelt. Es wird bedrohlich. Dann klettere ich auf Mutters Schoß. Das Licht in der Küche wird ausgeknipst. Mutter setzt sich auf ein Fußbänkchen unterhalb des Spülsteins und lässt in einer Hand die Perlen des Rosenkranzes gleiten, die andere hält mich. Und dann steht das Unwetter über Hochfeld. Es lädt seine Fracht ab. Es kracht und zischt. Bei Mutter bin ich geborgen. Nicht selten ist es in der Folge vorgekommen, dass unser Keller voll Wasser läuft. Dann heißt es, Wasser schöpfen und den Keller von der Flut befreien. Alle Hausbewohner sind da. Es wird eine Menschenkette gebildet, im Keller, die Treppe hoch, durch den Hausflur, und dann das Wasser auf die Straße geschüttet. Einmal ist es passiert, dass ein an unserer Haustür vorbeigehender Mann eine ganze Ladung des Dreckwassers voll ins Gesicht bekam! Wer konnte auch ahnen, dass bei diesem Sauwetter jemand auf der Straße ist.
Überhaupt unser Keller. Das war mehr ein dunkles, feuchtes Loch. Ein Raum war als Luftschutzkeller ausgebaut, in dem während der Luftangriffe britischer Bomber die Hausbewohner flüchten konnten. Im Keller gab es eine Waschküche, die jedoch nur von meiner Mutter benutzt wurde, weil die übrigen Hausbewohner dieses Loch mieden. Es gab dort eine alte, mit Wasserkraft arbeitende Waschmaschine, ein Holzbottich, allerdings ohne automatischen Wasserablauf über eine Senke. Die Waschmaschine war mit einem „Wringer“ ausgestattet, der das Dreckwasser durch zwei Hartgummirollen aus der nassen Wäsche per Betätigung eine Handkurbel herauspresste. Was hat meine Mutter da geschuftet! Das war Sklavenarbeit! Einen Abfluss für das schmutzige Wasser, nein, den gab es nicht. Das Wasser lief in eine Senke, die sehr schnell vollgelaufen war. Dann musste die Eisenplatte gehoben werden und das Wasser mit einem Eimerchen geschöpft werden in ein Bassin von Brusthöhe. Es konnte durchaus vorkommen, dass sich auch mal eine Ratte hierher verirrte ... Kein Wunder, dass Mutter die einzige war, die hier wusch.
Im Haushalt lebte noch meine Oma, die Mutter meiner Mutter, Maria Scheppler. Sie war „ausgebombt“, wie man das damals nannte, hatte so ziemlich alles verloren. Natürlich nahm Mutter ihre Mutter bei uns auf. Ihr Mann, mein Opa, ist 1945 kurz vor Kriegsende gestorben. An ihn kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur von Erzählungen, dass er auf der Duisburger Kupferhütte gearbeitet hat, dann „eingezogen“ wurde, den Ersten Weltkrieg auf französischen Schlachtfeldern erlebte und schließlich in französische Gefangenschaft geriet, aus der er als gebrochener Mann zurückkam.
Noch eine Anmerkung zu meiner Kindergartenzeit. Ich erlebte sie in meiner Erinnerung nicht als eine entbehrungsreiche Zeit. Im Nachhinein frage ich mich, wie meine Mutter das geschafft hat. Klar, unsere Ansprüche waren auch sehr niedrig angesiedelt, es gab ja auch kaum Vergleiche mit einem „besseren Leben.“
Es kam mir so vor, als lebte ich in einem „luftigen Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung.“ Dabei war unser Mietshaus, gemessen am heutigen Standard, eher ein 08/15-Haus mit einem – bereits beschriebenen – dunklen Kellerloch, das sich nicht besonders gut für die „Vorratshaltung von Lebensmitteln“ eignete. In erster Linie diente er für uns als „Kohlenmagazin.“ Und weil wir keinen direkten Zugang zum Immendal besaßen, mussten die Kohlenrationen, die der Händler vor die Haustüre kippte, mühsam in Eimern durch den langen Hausflur, die steile Holzstiege hinunter durch dunkle, spärlich beleuchtete Gänge in den schmalen, uns zugeteilten Raum geschleppt werden. Es gab in unserem Keller einen Luftschutzraum, der nun nach dem Krieg nicht mehr als solcher benutzt zu werden brauchte. Gott sei Dank! Eigentlich gehörte der Luftschutzraum der Familie Woudboer, die über uns in der dritten Etage wohnte. Da er im Krieg nicht als Kellerraum benutzt werden konnte, baute man der Familie auf dem Hof hinter dem Haus einen kleinen Bunker, in dem sie ihre Kohlen aufbewahrte.
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