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11.000 Kilometer allein auf dem Rad 11.000 Kilometer als Frau bis in den Mittleren Osten 11.000 Kilometer Abenteuer und Offenbarung Allen Warnungen zum Trotz macht sich die britische Journalistin Rebecca Lowe auf eine gewagte Reise durch eine krisengeschüttelte Region. Auf dem Fahrrad fährt sie von London bis ins ferne Teheran und durchquert dabei neben halb Europa die Türkei, den Libanon, Jordanien, Ägypten, den Sudan und die Golf-Staaten. Es ist eine Reise durch faszinierende Länder, geprägt von reicher Kultur, durch beeindruckende Landschaften mit gewaltigen Gebirgen und lebensfeindlichen Wüsten – eine Reise, die Rebecca mehrfach an ihre Grenzen bringt: Sie kämpft mit Temperaturunterschieden von -6 bis 48°C, wird von Einheimischen aus brenzligen Situationen gerettet und muss bei der Suche nach einer Unterkunft immer wieder auf die Gastfreundschaft der Menschen hoffen. Ihr Abenteuer erlaubt uns eine gänzlich neue Sichtweise auf den Nahen und Mittleren Osten, seine Menschen, Geschichte und Kultur, die sonst oft im Verborgenen bleiben.
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Seitenzahl: 702
Rebecca Lowe
Rebecca Lowe
Wie ich mit dem Fahrrad 11.000 Kilometer durch Europa bis in den Mittleren Osten fuhr
Die längste Reise meines Lebens
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
1. Auflage 2022
© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2022 bei September Publishing unter dem Titel The Slow Road to Tehran: A Revelatory Bike Ride through Europe and the Middle East © 2022 by Rebecca Lowe. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Katja Theiß
Redaktion: Franz Leipold
Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: Rebecca Lowe; Shutterstock.com: grop, Andrius_Saz
Satz: Carsten Klein, Torgau
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7423-1442-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1104-4
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1105-1
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Für Papa, dessen Großzügigkeit im Leben und darüber hinaus inspirierend war – und der dieses Buch vielleicht tatsächlich gelesen hätte, wenn ich noch rechtzeitig fertig geworden wäre.
Und für meine kleine Tochter Frankie, durch die mir bewusst wurde, was ich meinen armen Eltern zugemutet habe. Tut mir leid, Mama (und Papa, falls du zuhörst).
Prolog
Einleitung
Kapitel 1 Die Verlockung des Unbekannten
Kapitel 2 Grenzgebiete
Kapitel 3 Zwischen Kreuz und Mondsichel
Kapitel 4 An vorderster Front für Toleranz
Kapitel 5 Männerweltland
Kapitel 6 Der lange Ritt in die Freiheit
Kapitel 7 Die Spur der Wüste
Kapitel 8 Schöne neue Welt
Kapitel 9 Die Geschichte zweier Länder
Kapitel 10 Geheimnisse und Träume
Danksagung
Anmerkungen
Bibliografie
»Denn nicht Tod oder Not sind furchterregend, sondern die Angst vor ihnen.«
Dervla Murphy, Full Tilt (1965)
Ich sehe die Straße deutlich vor mir, die sich zwischen den Bergen und dem Meer hindurchwindet. Mit dem Finger fahre ich sie entlang. Mal liegt sie klar erkennbar und einsam da, dann wieder verschwindet sie in der dunklen Linie einer Autobahn oder in der Falte einer Küstenschlucht. Erwartungsvoll schaue ich hoch.
»Siehst du«, sage ich. »Hier.«
Der Mann wirkt unbeeindruckt. Er reibt sich mit der Hand über das Kinn, und ich höre dabei das leise Raspeln der Bartstoppeln. Zum ersten Mal bemerke ich die grauen Schatten unter seinen Augen. Er sieht älter aus als seine 27 Jahre.
»Es gibt keine Straße«, wiederholt er stoisch. Er ignoriert die Karte. Für ihn ist sie irrelevant, denn er kennt dieses Land, kennt es gut.
»Aber schau doch«, erwidere ich und tippe mit dem Finger darauf. »Sie scheint ganz durchzugehen, bestimmt!«
Schließlich blickt er zu Boden. Ich bemerke, dass er auch an den Schläfen grau ist. Der Arme, denke ich. Er ist Elektroingenieur von Beruf, und ich habe ihn als Hilfe angeworben, weil man ihn überall in der Stadt kennt. Samer, der Mann, der Leute zusammenbringt; der Typ, der Dinge erledigt. Doch bisher läuft es zwischen uns nicht so gut. Zuerst ließ er mich wegen einer »kleinen Gasexplosion« zu Hause drei Stunden lang warten. Dann war da noch der Zwischenfall mit dem Gabelstapler, der uns beide fast umgebracht hätte, was irgendwie aber die grauen Schatten und Schläfen erklären würde.
Und jetzt das. Eigentlich hätte man meinen können, dass Samer angesichts seiner recht entspannten Einstellung zu Hinweisschildern im Straßenverkehr eine ruhige Küstenstrecke ansprechend finden sollte. Stattdessen versucht er sehr entschlossen, mich von dieser Route abzubringen.
»Es gibt eine Straße«, räumt er ein. Schließlich kann man das auch nicht wirklich leugnen. »Aber sie ist schlecht.« Er sticht in die blasse, wackelige Linie und zerquetscht vier Dörfer unter seinem Finger. »Da ist Sand. Und dann gibt’s Löcher. Schlecht für Autos. Schlecht für Fahrräder.« Sein Blick fällt auf das klobige Drei-Gang-Fahrrad, das an der Wand lehnt und dessen königsblauer Rahmen an den Verbindungsstücken rostrot angelaufen ist. Am Lenker prangt die Aufschrift »BEIRUT BY BIKE«, daneben das Logo eines sportlichen Radfahrers mit flottem Kopftuch, der einen Wheelie macht. Nachdem ich nun schon einige Tage durch die Stadt geradelt bin, muss ich zugeben, dass mir das Bild recht abwegig erscheint. »Schlecht für das Fahrrad.«
Schicksalsergeben lege ich die Karte weg, denn in Wahrheit habe ich mich bereits entschlossen, bis zur Grenze im Norden zu radeln. Wir schreiben Dezember im Jahr 2014, und ich bin in den Libanon gekommen, um über die schlimmste Flüchtlingskrise zu berichten, die die Region je erlebt hat – Millionen von Syrer:innen fliehen vor dem verheerenden Krieg in ihrer Heimat. In der Woche davor war ich in Beirut und habe Politiker:innen, Aktivist:innen und Entwicklungshelfer:innen interviewt, um den Auswirkungen des Konflikts auf Syriens kleinstes und verletzlichstes Nachbarland nachzuspüren. Aber mein Bericht fühlt sich trocken und glanzlos an. Ich habe längst begriffen, dass ich in die Zeltlager an der Küste jenseits von Tripolis reisen muss, um die Lage zu verstehen. Ich muss mit den Menschen sprechen, die an der Kriegsfront leben und überleben.
Der Weg dorthin ist jedoch eine Herausforderung. Taxis sind teuer und Busse haben die frustrierende Angewohnheit, stundenlang zu trödeln oder gar nicht erst zu kommen. In einem plötzlichen Heureka-Moment fällt mir ein Fahrrad als Lösung ein. Bis Tripolis sind es knapp 90 Kilometer, was (gerade noch) an einem Tag machbar wäre. Und die Straße sieht ideal aus: Sie führt an der Küste entlang und zieht sich wie Ariadnes magischer Faden bis in den Norden. Von Beirut aus, so scheint es, sollte ich die gesamte Strecke zurücklegen können, ohne ein einziges Mal auf die hektische Autobahn ausweichen zu müssen. Außerdem muss ich zugeben, dass mich die Idee einfach reizt. Mit dem Fahrrad habe ich schon andere interessante Regionen erkundet – Indien, Mexiko, den Balkan –, aber noch nie den Nahen Osten. Das ist auch der Grund, warum mir der Gedanke Angst macht und ich die letzten Stunden damit verbracht habe, jemanden zu finden, der mich auf der Fahrt begleitet. Bis jetzt bin ich gnadenlos gescheitert.
»Du solltest sowieso nicht nach Tripolis gehen«, sagt Samer. »Die Dschihadisten kämpfen immer noch. Du könntest erschossen werden. Oder …« Er zögert.
»Oder?«
»Schlimmer.«
»Schlimmer?«
»Ja, schlimmer.« Er wirkt jetzt irritiert, als würde er mit einem Kind sprechen. »Entführt, gefoltert. Schlimmer.«
Ich sehe ihn an und weiß nicht, was ich antworten soll. Schweigen macht sich breit, während er eine Zigarette zu Ende raucht und sich eine neue ansteckt. Die Cedars-Packung hat eine ähnliche Farbe wie mein Fahrrad und ist wahrscheinlich genauso lebensgefährlich. »Du willst also nicht mitkommen?«, frage ich schließlich.
Er stößt ganz langsam eine Rauchwolke aus, dann steht er auf und greift nach seiner Lederjacke. Sie ist an den Ellbogen stark abgenutzt und riecht heimelig und leicht muffig wie feuchtes Holz. »Nein, Rebecca«, antwortet er, und ich erkenne an seinem Tonfall, dass unser Gespräch zu Ende geht. »Ich fürchte, du bist auf dich gestellt.«
Nachdem Samer gegangen ist, denke ich lange darüber nach, was er gesagt hat. Er ist nicht der Erste, der mich davor warnt, den Küstenweg mit dem Fahrrad zu befahren oder allein in die nördlichen Bezirke zu reisen. Und das Fahrrad hat zugegebenermaßen schon bessere Tage gesehen. Sogar die Männer im Fahrradverleih haben gelacht, als ich angab, es außerhalb von Beirut benutzen zu wollen; sie dachten, dass ich einen Scherz mache.
Doch mein Instinkt sagt mir, dass es gut gehen wird. Freund:innen in Tripolis haben durchgegeben, dass die Straßen der Stadt trotz einiger Unruhen sicher sind. Und sollte sich die Straße als unfahrbar erweisen, kann ich immer noch einen anderen Weg einschlagen. Nach reiflicher Überlegung beschließe ich also, Samer – und Mohammed, Midhat, Halifa und all die anderen Einheimischen, die das Radfahren in ihrem Land als Zeichen einer Geisteskrankheit ansehen – zu ignorieren und den Sprung zu wagen.
***
Beirut zu entkommen ist nicht einfach. Mich aus dem Gewirr von Umgehungsstraßen und Überführungen zu befreien fühlt sich an, als müsste ich mich gegen den Angriff eines vielarmigen Kopffüßers wehren. Aber danach ist der Start auf dem Küstenweg umso schöner. Von diesem Moment an radelt es sich aufregend und wunderschön. Die von vielen so angezweifelte Straße ist zwar sandig und uneben, aber auch ruhig und angenehm und fast perfekt fürs Fahrrad geeignet. Bis auf eine frühe Reifenpanne – die von einem Passanten kostenlos repariert wird, der dabei das Leben seines kleinen Sohnes riskiert, indem er ihn auf seinem BMX über die achtspurige Autobahn schickt, um ein Reparaturset zu holen – verläuft die Fahrt reibungslos und unkompliziert. Mehrere Stunden lang fahre ich die Klippen hinauf und hinunter, durch weiß getünchte Dörfer, in denen sich das Licht spiegelt, und durch eine frische Winterbrise, die nach Jasmin und Gewürzen duftet. Aus den versteckten Fischerbuchten weht Musik herüber, und ich erkenne Fairuz, das »Juwel des Libanon«, und Mohamed Mounir, den »arabischen Bob Marley«.
Als ich Tripolis erreiche, bin ich entspannt und fröhlich. Die sunnitischen und alawitischen Milizen, die Berichten zufolge in der Gegend operieren, sind nirgends zu sehen, und ich schaffe es ohne Zwischenfälle bis zur Grenze.
Dieses ereignislose Mini-Abenteuer hat mich einige wichtige Dinge gelehrt. Erstens: Nimm beim Radfahren immer ein Pannenset mit. Zweitens: Die Menschen im Libanon sind unglaublich hilfsbereit. Drittens: Libanesische Autofahrer sind gemeingefährliche Verrückte. Viertens (und das ist das Wichtigste): Vertraue niemals Leuten, die sagen, dass etwas nicht möglich ist. Natürlich sind manche Dinge nicht machbar. Ich hätte zum Beispiel nicht bis zum Mond radeln können – und auch nicht über den Libanon hinaus, der im Norden von einem Kriegsgebiet und im Süden von seinem langjährigen Widersacher Israel eingekesselt ist. Aber es gibt einen Unterschied zwischen überschaubarem Risiko und Leichtsinn, und gefühlt wird beides oft verwechselt. Aktivitäten, die von vielen als waghalsig eingestuft werden, entpuppen sich häufig als nichts dergleichen; die Gefahren sind eingebildet und überbewertet.
Nach diesem kurzen Abstecher an die Küste kommt mir schließlich ein Gedanke: Wenn ich den Libanon mit dem Fahrrad durchqueren konnte, obwohl das nur wenige für möglich oder sinnvoll gehalten hatten, könnte ich dann nicht noch weiter fahren? Vielleicht durch ein größeres Land? Oder sogar einen Kontinent? Könnte ich es vielleicht – mit ausreichend Sitzcreme und Rückenwind – von meinem Zuhause in London aus durch den gesamten Nahen Osten schaffen?
Die Idee scheint absurd. Doch sie taucht so blitzschnell auf, als ob der Gedanke schon die ganze Zeit da war und nur darauf gewartet hat, gefunden zu werden. Ich werde nur mit dem Nötigsten reisen und mit den Menschen vor Ort sprechen, um ihre Sorgen zu verstehen. Ich werde Kunstkniffe und Vorurteile zurücklassen, um menschliche Geschichten zu entdecken. Und ich werde dies nicht als Herumtreiberin oder Touristin tun, sondern als umherziehende Erkenntnissuchende mit dem Ziel, die Wahrheit zu enthüllen.
Zumindest werde ich das meiner Mutter verklickern. Da mir die ernsthafte Romantik eines Auslandsberichterstatters und Agenten einer nachrichtendienstlichen Spezialeinheit wie Patrick Leigh Fermor fehlt, mache ich mir wenig Illusionen. Ich bin mehr Sancho Panza als Don Quijote und wohl auch mehr Rosinante als einer der beiden: alt und unqualifiziert und, zumindest in sportlicher Hinsicht, zweifellos über meine besten Jahre hinaus.
Wie Fermor zweifle ich jedoch keine Sekunde an meinem Ziel. Für ihn waren es das »geheimnisvolle und asymmetrische« Schwarze Meer und die »schwebende Skyline« von Konstantinopel. Für mich sind es die dunklen burgunderroten Ausläufer des Alborz-Gebirges, wo jene geheimnisvolle Stadt in der gnadenlosen Sonne liegt.
Der Gedanke ist unmittelbar und unmissverständlich: Wenn ich schon irgendwo hinreise, dann ist Teheran mein Ziel.
»Ich komme weder aus dem Osten noch aus dem Westen, in meinem Herzen gibt es keine Grenzen.«
Rumi, persischer Dichter, 13. Jahrhundert
Mein Interesse für den Nahen Osten wurde mit einer Reise auf dem Nil geweckt.
Ich erinnere mich noch genau daran: Ich war zehn Jahre alt und mit meiner Familie auf einem Schiff unterwegs, das uns innerhalb einer Woche von Assuan nach Kairo bringen sollte. Jeden Morgen standen wir um 4.30 Uhr auf, um die Tempel und Gräber noch vor Sonnenaufgang zu erreichen, und fünf Stunden später kehrten wir zurück, um einen Tee zu uns zu nehmen. Dieses frühe Aufstehen fühlte sich anstrengend an, da wir noch im Dunkeln in den Bus getrieben wurden; aber es führte auch kein Weg daran vorbei. Denn um 7 Uhr stand die Sonne bereits hoch am Himmel und funkelte wie das Beil eines Henkers, der darauf wartet zuzuschlagen. Sie fühlte sich ganz anders an als jede andere Sonne, die ich bis dahin erlebt hatte: nicht wärmend oder lebensbejahend, sondern scharfkantig und grausam. Zwischen den Ruinen drängten sich schwitzende Tourist:innen mit Strohhüten in den schattigen Inseln, als ob sie Schiffbruch erlitten hätten und auf Rettung warteten. Währenddessen rannten mein Bruder und ich von Schatten zu Schatten und taten so, als wären die sonnigen Bereiche Krokodilsgruben oder salzige Sümpfe, die uns verschlingen wollten – was sich in beiden Fällen nicht so weit hergeholt anfühlte.
Für mich waren die Ausflüge in die unterirdischen Kammern das Schönste an diesen Exkursionen. Das Betreten der Grabkammern fühlte sich wie das Eintauchen in eine neue Welt an, und zwar nicht in einen feurig glühenden Abgrund, sondern in ein kühles Elysium aus vergoldeten Sarkophagen, mit Fresken bemalten Grabstätten und wunderschönen, rätselhaften Hieroglyphen, die von der Decke bis zum Boden eingeritzt waren. Hier, weit weg von der Hitze und dem Tumult an der Oberfläche, befand sich ein unterirdisches Wunderland, das in stiller Pracht erstrahlte; ein Ort, an dem Macht in die Erde selbst eingebunden zu sein schien und die Menschen Seite an Seite mit den Göttern wandelten.
»Ägypten heißt auf Arabisch Misr, was ›Grenze‹ bedeutet«, erklärte mir unser Reiseleiter Abduh eines Nachmittags. Ich war gerade knapp einer bevorstehenden Niederlage beim Tischtennis entkommen, weil wir den letzten Ball über die Brüstung geschlagen und damit verloren hatten, lag nun auf dem Bauch und suchte das Wasser nach Krokodilen ab. »Das passt zu uns, denke ich. Vor langer Zeit waren wir das große Tor nach Afrika und Asien. Und vielleicht werden wir das eines Tages auch wieder sein, inschallah.«
So oder so ähnlich könnte unser Gespräch verlaufen sein, wenn ich mir die krakeligen Notizen in meinem Tagebuch ansehe. Bis zur Mitte meiner Teenagerzeit führte ich in jedem Urlaub ein Tagebuch, aber das aus Ägypten ist das detaillierteste: ein schwülstiges Opusmagnum voller Polaroidfotos, primitiver Hieroglyphen-Skizzen, Papyrusfetzen und unerwiderter Liebeserklärungen an Abduh, dessen großer Schnurrbart und dessen Dominanz im Tischtennis ihn in meinen Augen zum Ehemann mehr als qualifizierten.
Ägypten faszinierte mich. Ich fragte mich, was mit diesen imposanten Monumenten wohl geschehen war, die nun erodiert und zerbrochen waren. Oder mit den Pharaonen, die sie geschaffen hatten und deren Geist als göttlich galt? Vorher hatte ich mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie sich die Macht im Laufe der Zeit verändert und wie Reiche aufsteigen und fallen. Für mich war mein Heimatland Großbritannien immer groß gewesen, seine Position so beständig und unvermeidlich wie die Luft, die wir atmen. Allerdings bauten wir vor 5000 Jahren noch Häuser aus Dung und Weidenruten, während die Ägypter Kalksteinpyramiden auf Fundamenten in der Größe von zehn Fußballfeldern errichteten. Und Ägypten feierte bereits drei Jahrtausende vor uns seine erste Herrscherin.
Bevor wir uns verabschiedeten, schenkte mir Abduh eine getrocknete Lotosblume für mein Tagebuch. »Du scheinst unser Land zu mögen«, sagte er, während ich das Buch eilig zuklappte, damit er seinen Namen nicht sah, der in kleine scharlachrote Herzen gerahmt auf der Seite stand. »Sieh zu, dass du zurückkommst. Du hast nur einen kleinen Teil davon gesehen, das, was sicher und einfach ist – dabei gibt es noch so viel mehr zu entdecken.«
Ich versprach es ihm und hielt mein Wort. Zwölf Jahre später kehrte ich zurück, und von da an wuchs mein Interesse am Nahen Osten ständig weiter. In den nächsten zehn Jahren kam ich mehrmals nach Ägypten, sowohl aus beruflichen wie auch aus privaten Gründen. Ich reiste aber auch in andere Teile der Region: in den Libanon, die Türkei, nach Oman, in die Vereinigten Arabischen Emirate. Bei jedem Besuch entdeckte ich mehr von diesem kryptischen Fleckchen Erde und stellte fest, wie wenig ich wirklich wusste. Diese Orte verwirrten mich, denn jeder einzelne war ein verblüffender gordischer Knoten aus Kulturen, Glauben und Geschichte, der weit über die Anfänge meines Heimatlandes hinausging. Als Außenstehende wusste ich, dass ich nicht alles verstehen würde. Aber ich verspürte ein wachsendes Verlangen, zumindest mein Versprechen gegenüber Abduh einzulösen: über die »sicheren, einfachen Teile« hinauszuschauen und den Ort unverfälscht zu sehen.
Nach meiner Rückkehr aus dem Libanon begann ich sofort mit den Vorbereitungen für meine Reise nach Teheran. Wenn man mich danach fragte, erwiderte ich meistens, ich würde »den Nahen Osten bereisen«. Natürlich war das eine einfache Antwort auf eine komplizierte Frage, denn es gibt viele Regionen im »Nahen Osten«, aus denen man wählen kann. Es gibt diejenigen, die sich von Marokko bis Pakistan erstrecken, und diejenigen, die von Ägypten bis zum Iran reichen. Manche schließen die Türkei und den Sudan ein, und andere wiederum schließen beide aus. Es gibt diejenigen, die sich auf Arabien konzentrieren, und die (seltenen), welche die Regionen mit »-stan« am Ende einschließen. Die Grenzen dieses schwierigen Landstrichs sind nie genau festgelegt worden. Oder besser gesagt, sie wurden zu oft neu gezogen und nie von innen heraus. Der Begriff selbst verrät das Problem: Nähe von oder zu was? Östlich von was? Sicherlich hat der Begriff nichts mit den Menschen zu tun, die dort leben. Menschen, die zu Recht verwirrt sind über die Kriterien dieser Schubladen, in die sie hineingeworfen wurden.
Die Vorstellung vom »Nahen Osten« folgte jahrhundertelang einem eher binären Ansatz, denn westliche Diplomaten teilten den Osten in »nah« und »fern« ein. Der Ferne Osten bezog sich dabei vor allem auf Länder jenseits von Indien, während der Nahe Osten einen unklaren Landstrich zwischen Indien und Europa bezeichnete, der sich vor allem auf das Gebiet des Osmanischen Reiches bezog. »Die Grenzen des Nahen Ostens sind nicht leicht zu bestimmen«, schrieb der britische Historiker Arnold Toynbee 1916. Er betrachtete im Nordwesten Wien als die auffälligste Grenzmarkierung, aber man hätte genauso gut Triest, Lemberg oder sogar Prag nennen können. Im Südosten sah er die Grenzen als noch undeutlicher an. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff vollends unschärfer – und auch zunehmend überflüssig. Wozu noch ein Sammelbegriff, der Teile Osteuropas mit Westasien verband, wenn der gemeinsame Nenner (das Osmanische Reich) zusammengebrochen war?
In der Zwischenzeit gewann das Gebiet zwischen der Türkei und Ostasien immer mehr an strategischer Bedeutung. Der britische Soldat und Diplomat Thomas Edward Gordon war zwar nicht der Erste, der dieses Gebiet umriss, aber er war im Jahr 1900 der Erste, der den Begriff »Middle East«, das heißt »Mittlerer Osten« niederschrieb und damit in die Geschichtsarchive einbrachte. Für ihn erstreckte sich die Region um den Iran und Afghanistan, die er als wichtige Puffer gegenüber Russland ansah. Zwei Jahre später bezeichnete der US-amerikanische Marineoffizier Alfred Thayer Mahan den »mittleren Osten« (sic) als ungefähr dasselbe Gebiet, wobei er Gordons Bedenken aufgriff und Großbritannien aufforderte, seine Flotten zwischen Suez und Singapur zu verstärken.
Heutzutage ändert dieses weitläufige Land der weichen Grenzen seine Form mit den Jahreszeiten. Die USA, die EU, das Vereinigte Königreich und die Vereinten Nationen verwenden alle unterschiedliche Definitionen, die zwar vordergründig schlüssig sind, aber ihre verschwommenen Unsicherheiten verschleiern. Die Grenzen des sogenannten »Nahen Ostens« sind so beweglich, dass Kommentatoren sie manchmal ignorieren und konkretere Bezeichnungen verwenden. Die »arabische Welt« ist eine davon, obwohl sie Israel und den Iran ausschließt, die die meisten Westler als eindeutig »nahöstlich« ansehen würden. Die »islamische Welt« ist ein weiterer Begriff, der sich jedoch weit über die Region hinaus auf Afrika und Asien erstreckt, wobei Indonesien und Indien zusammen ein Viertel aller Muslime weltweit ausmachen.
Was ist also der Nahe Osten? Niemand weiß es wirklich, so scheint es. Und doch weiß es jeder. Im Westen steht der Begriff klar und unantastbar vor uns und wird täglich durch die Medien gejagt. Er suggeriert Chaos und Unterdrückung, Konflikte und Terror. Er erscheint fremd und bedrohlich »anders« mit Werten, die heftig und unbestritten mit unseren eigenen kollidieren.
Persönlich fing ich erst vor Kurzem an, dieses Bild infrage zu stellen. Als sich 2011 die Proteste in der ganzen Region zu einer Massenrevolte ausweiteten, arbeitete ich bei der International Bar Association (IBA), einer weltweit agierenden Rechtsorganisation mit einem beharrlichen Institut für Menschenrechte. Als leitende Reporterin der IBA berichtete ich ausführlich über den Arabischen Frühling und konzentrierte mich dabei auf Menschenrechtsverletzungen, militärische Übergriffe und Verfassungskrisen. Für die arabische Bevölkerung war dies eine Zeit großer Hoffnung und tiefer Verzweiflung, in der Diktatoren wie Dominosteine stürzten und neue zerstörerische Kräfte unaufhaltsam aufstiegen. Jeden Tag wurde in der Presse von unvorstellbaren Grausamkeiten berichtet – doch was mir oft fehlte, war der Kontext. Woher kamen diese Unruhen? Was war der Auslöser? Da zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind, war der Nahe Osten lange Zeit eine junge Region, die von alten Männern regiert wurde.
Die Antworten auf diese Fragen schienen oft oberflächlich. Dies war eine Welt der einfachen Gegensätze – Tyrannei gegen Terror, Demokratie gegen Diktatur, Ost gegen West –, während die Stimmen der Menschen, die zwischen den Extremen gefangen waren, kaum gehört wurden.
Der Nahe Osten war für westliche Journalist:innen schon immer ein schwieriges Pflaster. Er ist zu heikel, zu vertrackt, zu weit entfernt von unseren eigenen unmittelbaren Sorgen. Und die Vorurteile sind allgegenwärtig. Seit dem 11. September 2001 wurde die Region weitgehend auf eine Troika Aufmerksamkeit heischender Schlagzeilen reduziert – Bomben! Burkas! Fanatiker! Sie spiegeln die Bigotterie im Allgemeinen wider und halten Vorurteile aufrecht. Nach Ansicht von Christian Ahlund, dem Vorsitzenden der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), war es kein Zufall, dass rassistisch motivierte Gewalttaten in Großbritannien ungefähr zur gleichen Zeit zunahmen, als besorgniserregende Beispiele von Intoleranz und Hassreden in den Zeitungen abgedruckt wurden.
Seine Kommentare folgten auf einen ECRI-Bericht, in dem insbesondere die Sun, die Daily Mail und der Daily Express kritisiert wurden, weil sie mit »rücksichtsloser Missachtung« Vorurteile gegen Muslime schürten.
Vor Kurzem griff der scheidende Vorsitzende der Independent Press Standards Organisation, Alan Moses, diese Bedenken ebenfalls auf und sprach im Dezember 2019 von seinem Verdacht, dass Muslime von Zeit zu Zeit auf eine Art und Weise beschrieben werden, in der Zeitungen über Juden oder Katholiken niemals schreiben würden. Tatsächlich sei die Darstellung des Islams »das schwierigste Thema« gewesen, mit dem er während seiner fünfjährigen Amtszeit als Leiter der Aufsichtsbehörde konfrontiert worden sei.
Diese besorgniserregenden Trends sind nicht nur in den britischen Medien zu beobachten. In einer Studie der Universitäten von Illinois und Arkansas von 2015 wurde festgestellt, dass 81 Prozent der in den US-Nachrichtensendungen gezeigten Terrorist:innen als Muslime identifiziert wurden, obwohl laut FBI-Daten Muslime in Wirklichkeit nur 6 Prozent aller Terrorverdächtigen ausmachten. Ebenso ergab eine Untersuchung des Beratungsunternehmens 416 Labs, dass nur 8 Prozent der Schlagzeilen der New York Times über Muslime in einem Zeitraum von 1990 bis 2014 positive Themen behandelten, während 57 Prozent negativ waren. Ihre Untersuchung kam zu dem Schluss, dass der durchschnittliche Leser den Muslimen wahrscheinlich eine kollektive Verantwortung für die gewalttätigen Handlungen einiger weniger zuschreibt.
In den letzten Jahren haben rechts angesiedelte westliche Politiker wie Donald Trump, Viktor Orbán und Andrzej Duda ihr Bestes getan, um diese Flammen zu schüren und die Islamfeindlichkeit auf der ganzen Welt zu legitimieren und zu verstärken. Angesichts solch mächtiger Stimmen, die das öffentliche Narrativ prägen, scheint es kaum verwunderlich, dass die meisten Europäer:innen syrische und irakische Flüchtlinge als »große Bedrohung« ansehen, obwohl ihre Chancen, von einem Dschihadisten ermordet zu werden, ungefähr so groß sind, wie von einem Blitz getroffen und getötet zu werden. Oder dass drei Viertel der Amerikaner:innen sagen, sie hätten zu viel Angst, in die arabische Welt zu reisen, weil sie sie für gefährlich halten – und das, obwohl acht von zehn die Region nicht einmal auf einer Karte benennen können.1
Während ich über den Nahen Osten berichtete, rang ich mit der Frage, wie ich diesen Bombast durchbrechen könnte. Gab es eine Möglichkeit, die Region mit einem klareren Blick darzustellen? Ich wusste, dass das Problem nicht nur in der Voreingenommenheit der Medien lag, sondern in der Natur des Journalismus selbst: Immerhin handelt es sich um eine Branche, die von Krisen und Konflikten beherrscht wird. Bluttaten kommen in den Medien gut an, ganz nach dem Motto: »If it bleeds, it leads«, wenn Blut fließt, trendet es – denn das ist es, was die Menschen überwiegend lesen wollen. Die Medien werden von Geschichten über Gewalt und Bösewichte beherrscht und zeichnen dabei zwangsläufig ein völlig verzerrtes Bild der Welt, wobei Gefahren vergrößert werden und die schlimmsten Ereignisse als die Norm erscheinen.
Meiner Meinung nach brauchten wir eine neue Art der Berichterstattung: eine, die den Fokus von der Politik und dem Blutvergießen weg auf das alltägliche Leben dahinter lenkt. Eine, die die Region nicht als eine homogene Sphäre von Chaos und Fanatismus darstellt, sondern als ein weitverzweigtes, zersplittertes Mosaik, das im Innern oft genauso viele Unterschiede aufweist, wie es sich von denen unterscheidet, die von anderswo hineinschauen.
Was ich brauchte, wusste ich nach meinem kurzen Ausflug durch den Libanon: ein Fahrrad.
Auf meine Ankündigung, dass ich vorhatte, allein von London nach Teheran zu radeln, erhielt ich gemischte Reaktionen von Freund:innen und meiner Familie. Viele unterstützten mich, andere … weniger. Die meisten machten sich Sorgen über drei persönliche Eigenschaften, die mir trotz meines großen Glücks aller Wahrscheinlichkeit nach zum Verhängnis werden würden: eine Frau zu sein (gefährdet durch Sexualstraftäter), aus dem Westen zu sein (gefährdet durch Terroristen) und eine Journalistin zu sein (gefährdet durch Gewaltherrscher).
»Wir glauben, dass du wahrscheinlich sterben wirst«, teilte mir ein Freund ganz hilfsbereit mit und schaute mich dabei mit jener misstrauischen Zuneigung an, die normalerweise nur widerspenstigen Kleinkindern oder Welpen gilt, die den Teppich beschmutzt haben. »Wir schätzen deine Chancen auf etwa 60:40.« Andere waren weniger optimistisch. Ein Familienmitglied mit einem besonders unglücklichen Sinn für Humor schickte mir ein Exemplar von Rudyard Kiplings If (dt. Wenn, übersetzt von Lothar Sauer, 1960), in dem er betonte, wie wichtig es sei, einen klaren Kopf zu bewahren, »wenn rings die Massen / längst kopflos sind …«, während ein Mann in der Kneipe mich als »naive Idiotin, die – bestenfalls – geköpft im Graben endet« bezeichnete.
Meine Mutter hat es insgesamt ganz gut verkraftet. Zumindest hat sie meinen Pass nicht verbrannt oder die örtliche Klinik angerufen, um mich einweisen zu lassen. Sie schrieb mir jedoch eine E-Mail, um mir ihre Gefühle zu verdeutlichen, falls irgendwelche Unklarheiten bestehen sollten. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie erschüttert ich bin …«, begann sie, bevor sie in einer ruhigen und besonnenen Analyse die möglichen Fallstricke aufzählte, die mich auf meinem Weg erwarten würden. Die Worte »gefährlich«, »leichtsinnig«, »feindselig«, »kindisch«, »gefährlich« (schon wieder), »schreckliche Sorge«, »Gefahr für Leib und Leben«, »ausgeraubt und vergewaltigt« und »Familie zerrüttet« wurden allesamt mit überzeugender Wirkung verwendet, zusammen mit einem zurückhaltenden Dutzend Ausrufezeichen, um die wichtigsten Punkte zu betonen. Daraufhin habe ich getan, was jede liebende Tochter in einer solchen Situation tun würde: Ich habe sie umarmt und geküsst, sie beruhigt und getröstet … und dann einfach weitergemacht, ohne noch einen Gedanken darauf zu verschwenden.
Am stärksten war jedoch mein Freund betroffen. P (so nenne ich ihn hier) und ich waren bereits seit drei Jahren ein Paar und lebten seit zwei Jahren zusammen, als ich ihm von meinem Plan erzählte. Ich brachte keine Bitte um Erlaubnis vor, sondern stellte ihn vor vollendete Tatsachen. Und er akzeptierte es, wenn auch widerwillig, und erhob keinen ernsthaften Einspruch. Erst später dämmerte mir, wie unverschämt das gewesen war und dass ich in seiner Situation wahrscheinlich nicht ganz so verständnisvoll reagiert hätte. Eine Kandidatin für einfache Kompromisse war ich zwar noch nie, aber selbst für mich war dieses Maß an Sturheit extrem. Ich liebte meinen Freund, aber ich verspürte einfach den Drang, diese Reise zu machen, egal, wie töricht oder unklug sie manchen auch erscheinen mochte.
Nicht sonderlich hilfreich war, dass ich auf dem Höhepunkt des Syrienkriegs aufbrach, als der Islamische Staat am stärksten und die Flüchtlingskrise am schlimmsten war. Ende 2015 waren fast fünf Millionen Menschen aus Syrien geflohen, doppelt so viele wie im Jahr zuvor, und die Zahl der Morde durch Dschihadisten nahm zu. In den Monaten vor meiner Abreise eroberte der Islamische Staat Ramadi im Irak, Palmyra in Syrien und Sirte in Libyen und schrieb sich die Ermordung Hunderter Zivilist:innen in Syrien, im Irak, in der Türkei, in Ägypten, Kuwait, Tunesien, im Jemen und in Saudi-Arabien auf die Fahnen.
Vor diesem Hintergrund dachten einige, dass ich das Risiko nur wegen des Nervenkitzels auf mich nehmen würde; dass der drohende Tod oder die Katastrophe in gewisser Weise dazugehören. Doch ich bin kein Adrenalinjunkie und ich wollte das Unterfangen unbedingt überleben. Wie bei der Reise in den Libanon waren die Risiken meiner Meinung nach überschaubar. Die Dschihadisten liefen nicht über die gesamte Region verteilt Amok, sondern waren in Wirklichkeit klar begrenzt unterwegs und vermeidbar – und ich hatte die Absicht, sie zu vermeiden. Ich würde mich weder in Kriegsgebiete wie Libyen oder Syrien noch in terroristische Brennpunkte wie an die Grenzen Syriens oder des Iraks begeben. Einige mutige Journalist:innen riskierten ihr Leben, indem sie von solchen Orten berichteten, aber darum ging es bei meiner Reise nicht. Auf meiner Reise ging es um die Menschen außerhalb dieser Gebiete, die die große Mehrheit des Nahen Ostens ausmachen: die schweigenden 99,9 Prozent, die jeden Tag von der ohrenbetäubenden Minderheit unterdrückt werden.
Meiner Mutter gegenüber wiederholte ich den Spruch regelmäßig zur Beruhigung, aber er ist auch wahr: Ich machte die Reise nicht, weil ich glaubte, dass sie gefährlich sein würde, sondern weil ich davon überzeugt war, dass sie sicher war.
Ich wusste, dass mein Plan auch problematische Aspekte aufwies. Obwohl er gut gemeint war, trug er das Gewicht der Geschichte in sich. Seit Hunderten von Jahren wagen sich die Europäer:innen an ferne Ufer, um sich persönlich und politisch zu bereichern; sie untersuchen die Welt wie Zoolog:innen ihre Proben in einem Labor. Die Geschichte dieser Erkundungen ist mit Ausbeutung verbunden, von den frühen Seefahrern, die nach Reichtum und Ruhm strebten, bis hin zu den späteren Kartographen, Arabisten und Spionen, die im Schatten des Imperiums arbeiteten. Selbst jemand wie Wilfred Thesiger, der berühmte britische Offizier und Entdecker, der reiste, um Kontakte zu knüpfen, anstatt zu erobern, und der jahrelang unter den Marsch-Arabern und Kurden lebte, war ein Produkt des imperialistischen Systems (»Er sah aus … als hätte er gerade seine First Field Colours erhalten«, antwortete er in Anspielung auf einen Sportpreis, der in Eton verliehen wurde, einmal hochtrabend einem Schüler, als er nach seiner Meinung zu einem mordenden Danikil-Stammesangehörigen gefragt wurde.)
Auch wenn es sich bei diesen Menschen überwiegend um Männer handelte, und zwar um wohlhabende Männer, die von Privatschulen kamen, so war doch nicht zu leugnen, dass ich als weiße britische Reisende im Nahen Osten in einige kontroverse und unangenehme Fußstapfen treten würde. Meine Reise war zwar nicht durch Geld oder Macht motiviert, aber es lag zweifellos mehr als nur ein Hauch von Eitelkeit in diesem Vorhaben. Ich wollte die Geschichte, die Kultur und die Menschen der Region kennenlernen, ja. Aber ich wollte mich auch selbst beweisen, ein Abenteuer erleben und ein möglichst absolutes Freiheitsgefühl genießen, ohne mir ein Paar Flügel wachsen zu lassen.
Ich wusste, dass die Reise von Privilegien geprägt sein würde. Bedingt durch meine Herkunft und Situation, würde ich an Orte kommen und gehen können, an denen andere gefangen waren, und ich würde eine persönliche Freiheit genießen, die viele nicht hatten. Ich würde unter Lob und Beifall nach Hause zurückkehren und dieses Buch veröffentlichen, das selbst ein Symbol des Privilegs ist, während diejenigen, die weitaus mutigere Reisen unternahmen, mit Beschimpfungen, Ressentiments und Verhaftungen konfrontiert waren. All das hinterließ einen bitteren Geschmack im Mund. Die Ironie der Lage wurde mir zusätzlich bewusst, als mich die Leute vor den möglichen Gefahren der Reise warnten. Musste ich mir wirklich ernsthaft Sorgen machen, wenn ich doch diejenige war, die eine Machtposition innehatte? Wo ich doch mit meiner blassen Haut und meinem britischen Pass für eine der größten Bedrohungen stand, die den Nahen Osten je getroffen hat: die Vorherrschaft des imperialistischen Westens?
Mein Erbe und meine Herkunft konnte ich nicht ändern. Aber vielleicht, so dachte ich, könnte ich die Reise nutzen, um mich selbst genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich könnte versuchen, die Verbindungen zwischen unseren Welten und meine Mitschuld an den Schwierigkeiten, mit denen die Region heute zu kämpfen hat, besser zu verstehen.
In Wirklichkeit kann der Nahe Osten die Vergangenheit nicht abschütteln, weil er immer noch ihre Narben trägt. Lange vor der Entdeckung des Erdöls war die Region ein Schlachtfeld für globale Machtkämpfe zwischen Ost und West. Man kämpfte um die Vorherrschaft, ohne sich um die Menschen, die diese Kämpfe betrafen, zu kümmern. Dass die größten Proteste 2011 in Ländern mit einem kolonialen Erbe stattfanden, in denen sich Diktatoren aus der Asche des Imperiums erhoben hatten, um entweder die westliche Vorherrschaft herauszufordern (Muammar al-Gaddafi, Baschar al-Assad) oder um mit dem Westen zu kollaborieren und von dessen Großzügigkeit zu profitieren (Hosni Mubarak, Ben Ali, Ali Abdullah Salih), ist kein Zufall. In beiden Fällen wurden die einheimischen Tyrannen zu einer Art Spiegelbild der imperialen Mächte, die sie ablösten, und hielten die Kontrolle weitgehend durch Gewalt, Zwang und Angst aufrecht.
Durch ihre autokratischen Verbündeten ist es den westlichen Mächten gelungen, ihren Einfluss im Nahen Osten bis heute aufrechtzuerhalten. Der Kolonialismus mag zwar zu Ende sein, aber die Politik der Kolonialzeit beeinflusst die Region auch heute durch diplomatische Einmischung, militärische Interventionen und ein globales Wirtschaftssystem, das Regime, in denen vorrangig die Herrschenden über den Besitz in ihrem Gebiet Verfügungsgewalt haben, gegenüber der breiten Bevölkerung begünstigt. Im Vorfeld des Arabischen Frühlings trugen die von Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auferlegten Steuerreformen dazu bei, Gesellschaften zu zerreißen, die nicht über die nötige Transparenz und Rechenschaftspflicht verfügten. Sie lenkten öffentliche Gelder in die Hände einer vetternwirtschaftlichen Elite um. Währenddessen blieb der Westen typischerweise blind für die Konsequenzen seines Handelns. Im Jahr 2010, als Ägypten unter der größten Ungleichheit seit den feudalistischen 1950er-Jahren litt, bezeichnete die Weltbank das Land zum dritten Mal in Folge als »Top-Reformer im Nahen Osten« und lobte Mubaraks »mutige« und »umsichtige« Regierungsführung. Ein paar Monate später ging das Land in Flammen auf.
Die Proteste waren also nicht einfach nur ein Aufruf zu einer »westlicheren« Lebensweise, wie sie so oft dargestellt wurden. Sie waren auch eine klare Absage an die vom Westen geförderten Ungerechtigkeiten, die den Nahen Osten schon so lange belasten. Auf diese Weise konnte der Westen sowohl als Ursache als auch als Heilmittel für den Arabischen Frühling angesehen werden: ein paradoxes Symbol für liberté, égalité und fraternité auf der einen Seite und Ausbeutung, Zweckmäßigkeit und Heuchelei auf der anderen.
Tragischerweise scheiterte der Großteil der Revolutionen trotz des Mutes der Beteiligten (zumindest kurzfristig); Syrien, Libyen und Jemen versanken im Bürgerkrieg, während Ägypten sich erneut in Fesseln wiederfand. In der Zwischenzeit nutzten paranoide Despoten die Unruhen als Vorwand, um in der ganzen Region gegen Bürgerrechte vorzugehen – von der Schikanierung lokaler Aktivist:innen und Journalist:innen bis hin zur Ausweisung von ausländischen Entwicklungshelfer:innen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In der Tat stellt diese Beschneidung der Freiheiten die größte Bedrohung für die Region dar, und nicht der Islamische Staat, Al-Qaida oder andere fanatische Gruppen, die die Nachrichten immer wieder dominieren.
Genau diese starke Unterdrückung, die so beklemmend wie die Sommerhitze ist, war es – neben Terroristen, Kriminellen, Perversen, schlechten Autofahrern und all den anderen Gefahren, vor denen ich vor meiner Abreise gewarnt wurde –, die ich in den zwölf Monaten, die ich auf der Straße verbrachte, am meisten zu fürchten und abzulehnen lernte.
Meine Route, die auf dem Weg in den Iran möglichst viele Länder des Nahen Ostens durchqueren sollte, umfasste letztlich 20: Großbritannien, Frankreich, die Schweiz, Italien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Montenegro, Albanien, Serbien, den Kosovo, Bulgarien, die Türkei, den Libanon, Jordanien, Ägypten, den Sudan, Oman, die Vereinigten Arabischen Emirate und den Iran. Aber warum ausgerechnet Teheran als Ziel? Nun, der Iran hat wohl mehr als jedes andere Land in der Region in jüngster Zeit die verheerenden Auswirkungen der westlichen Einmischung erlebt. Zwischen dem – vom MI6 und der CIA unterstützten – Putsch, mit dem 1953 der demokratische Führer Mohammad Mossadegh gestürzt wurde, und der Revolution von 1979, mit der das unterdrückerische islamistische Regime an die Macht kam, lässt sich leicht eine direkte Linie ziehen. Seitdem wird der Iran von der internationalen Gemeinschaft als gefährliches, fanatisches Hinterland verunglimpft, und westliche Reisende bleiben dem Land weitgehend fern.
Doch je mehr ich über den Iran las und schrieb, desto mehr kam mir dieses Bild sowohl vereinfacht als auch fehlerhaft vor. Die Islamische Republik erschien mir als eine Geschichte zweier Länder, die stark gespalten waren zwischen den konservativen, isolierten regierenden Klerikern auf der einen Seite, die die Außenwelt mit Verachtung betrachteten, und der fortschrittlicheren, nach außen gewandten Bevölkerung auf der anderen Seite, die die Welt mit Wärme empfing. Diese etwas grobe zweigeteilte Analyse ist sicher ebenfalls problematisch, aber die offensichtliche Trennung zwischen Politik und Volk faszinierte mich. Als meine Reisepläne langsam Gestalt annahmen, wusste ich, dass meine Reise nur dort enden konnte.
Aber ein Ende braucht natürlich einen Anfang … Deshalb möchte ich ohne weitere Umschweife diese einleitenden Notizen hier zurücklassen und mit meiner Geschichte beginnen. Ich hoffe, dass du die Reise mit mir genießen wirst.
»Die Tür zum Osten steht offen: O du, der du nach dem Aufbruch strebst, tritt ein mit einem frohen Gruß! Ergreif die Chance auf Freiheit von den Sorgen dieser Welt …«
Ibn Jubayr, arabischer Reisender, 12. Jahrhundert
Vorneweg ein Geständnis: Ich bin keine Radfahrerin. Allenfalls bin ich jemand, der Fahrrad fährt.
Ich entschuldige mich daher bei allen, die dieses Buch unter falschen Voraussetzungen gekauft haben. Denn wenn du auf mitreißende Geschichten über sportliche Höchstleistungen oder das Überschreiten körperlicher Grenzen hoffst, solltest du hier aufhören zu lesen. Wenn du auf der Suche nach einer fundierten Analyse des Unterschieds zwischen Cantilever- und Sattel-Bremsen oder den Vor- und Nachteilen einer Nabenschaltung bist, ist dieses Buch wahrscheinlich nicht das Richtige für dich. Nimm es mir bitte nicht übel und gib es einfach zurück. Ich werde so tun, als wärst du nie hier gewesen.
In Wahrheit war ich, wenn man sich meine Referenzen vor der Abreise ansah, nicht gerade die ideale Kandidatin für eine 11 000 Kilometer lange einjährige Fahrradtour um die halbe Welt. Ich war nicht besonders fit, besaß keinen Orientierungssinn und hielt nichts von Menschen in elastischer Bekleidung. Es war mindestens sechs Jahre her, dass ich das letzte Mal mit einem Rad einen Berg hochgefahren war.
In London bin ich fast jeden Tag mit dem Fahrrad unterwegs, allerdings auf einem leichten Carbon-Rennrad, das ich hauptsächlich zum Pendeln benutzt habe: für eine Strecke von genau 15 Kilometern. Vor der Abreise habe ich insgesamt null Stunden trainiert (warum sollte ich Zeit damit verschwenden, mich im Voraus fit zu machen, dachte ich mir, wenn ich es einfach unterwegs tun kann?) und mich stattdessen darauf konzentriert, Ausrüstung zu kaufen, die Route zu recherchieren und die Logistik zu organisieren. Immerhin hatte ich schon einmal eine halblange Radtour gemacht, tröstete ich mich: eine Wohltätigkeitsveranstaltung mit einer Tour von London nach Paris, die ich 2009 im Rahmen einer Reportage zusammen mit 24 strammen Polizist:innen unternommen hatte. Zugegeben, ich war im Team Rhino, der langsamsten der drei Gruppen (die später aus Gründen, die ich sehr unfair fand, in »Team Wino«, also »Heulsusen« umgetauft wurde), und hatte dank des Begleitfahrzeugs kein Gepäck dabei. Aber das waren nur Kleinigkeiten, wie ich fand. Schließlich hatte ich die Fahrt ohne Verletzungen oder Katastrophen überstanden, und das war es, was zählte.
Ich legte mein Abreisedatum auf den 20. Juli 2015, in der (letztlich vergeblichen) Hoffnung, dass ich so genug Zeit hätte, um die Sahara und den Golf vor der sengenden Hitze des Frühlings zu durchqueren. Und als dieser Tag näher rückte, versuchte ich mein Bestes, um mich nicht auf das unglaubliche Ausmaß des vor mir liegenden Unterfangens zu konzentrieren. Trotzdem spürte ich, wie sich die Spannung in meiner Brust und meinem Bauch zusammenzog. Am schlimmsten waren die Nächte, in denen sich meine Sorgen von den Fesseln des Tages lösten und wie Fledermäuse in einer Höhle um meinen Kopf wirbelten. Die gleichen Gedanken kreisten endlos: Warum tue ich das? Sollte ich das tun? Kann ich das überhaupt? Und der beunruhigende Gedanke, mit dem sich jeder Mensch irgendwann im Leben auseinandersetzen muss: Was ist, wenn meine Mutter recht hat …?!
Es half meinen Nerven nicht, dass ich kein Fahrrad besaß. Großzügigerweise hatte ich zwar ein Fahrrad von Kona geschenkt bekommen, aber dieses kam frisch aus der Produktion und sollte erst am Tag vor meiner Abreise eintreffen, sodass ich keine Zeit hatte, damit zu üben oder es an meinen Körper anzupassen. Das war jedoch nur ein kleiner Preis für das Privileg, ein wunderschönes neues Tourenrad zu besitzen – eines, das nicht nur ein starker und zuverlässiger Begleiter auf der Straße sein würde, sondern dessen Name die Vorstellung, es ein Jahr lang zwischen meinen Beinen zu haben, noch aufregender machte: das Kona Sutra 2016!
Den Sprung ins kalte Wasser vertrete ich schon lange leidenschaftlich. Als wir noch klein waren, brachten meine Eltern mir und meinem Bruder das Radfahren bei, indem sie neben unseren Fahrrädern herliefen, den Lenker festhielten und dann abrupt losließen, woraufhin wir mit brutaler Vorhersehbarkeit in ein stacheliges Gebüsch oder auf die Betonplatten krachten. Es war eine schmerzhafte Erfahrung, die sich lange in mein Gedächtnis und meinen Schädel eingebrannt hat, und heute denke ich, dass eine Zeit mit Stützrädern vielleicht gar keine so schlechte Idee gewesen wäre. Allerdings war die Methode sehr effektiv. Es dauerte nicht lange, bis wir beide merkten, dass es in unserem besten Interesse war, im Sattel zu bleiben und den Felsen und Dornen auszuweichen wie ein Arbeitspferd, das sich vor der Peitsche duckt.
Geist und Körper sind erstaunlich widerstandsfähig, wenn sie auf die Probe gestellt werden. Können wird überbewertet, dachte ich immer; was zählt, ist der Wille – der Instinkt und die Bereitschaft zum Erfolg. Also beschloss ich, einfach auf mein Fahrrad zu steigen und mich mit dem banalen Problem, keine Ahnung zu haben, erst zu befassen, sobald es zu spät war. Schließlich gibt es nur wenige Dinge, die schwieriger sind, als einfach loszufahren: der scharfe Schlag, wenn dir der Boden unter den Füßen weggezogen wird oder sich die Sicherung löst.
Danach wäre doch sicher die halbe Schlacht schon gewonnen?
In der Nacht vor meiner Abreise bereue ich diese Entscheidung bereits. Ich fühle mich unzureichend vorbereitet und wünsche mir sehnlichst, die Abreise zu verschieben. Da ich meinen Job erst vor drei Wochen gekündigt habe, habe ich jede Minute damit verbracht, Sponsor:innen zu finden, die Organisation hinzukriegen und mir Ausrüstung zu kaufen – da bleibt nur wenig Zeit zum Packen. Um 21 Uhr ist das Wohnzimmer mit einem bunten Sammelsurium an Radreiseutensilien vollgestopft, von einem Ministativ und einem aufblasbaren Stuhl bis hin zu einem zusammenklappbaren Weinglas und einem versilberten Flachmann. Allein in meinem »Elektro«-Stapel befinden sich drei Kameras (eine DSLR, eine Go-Pro und ein Camcorder), ein Laptop, ein Diktiergerät, ein solarbetriebenes Ladegerät, ein normales Ladegerät, ein Kindle, ein Reiselautsprecher, ein Satelliten-Tracker – den P und meine Eltern als Sicherheitsmaßnahme gekauft haben –, ein Mini-iPod und ein iPhone. Neben diesem Berg liegt ein verknoteter Haufen von Kabeln in der Größe eines Basketballs, den ich unbedingt mitnehmen muss, weil ich alle Kabel aus ihren jeweiligen Schachteln entfernt habe und nun nicht mehr weiß, welche Kabel zu welchen Geräten gehören.
Und in der Mitte, mit eleganter Unbekümmertheit gegen den Sessel gelehnt, thront mein wertvollster Besitz: meine Ukulele.
Ich gebe zu, dass das ziemlich viele Dinge sind, wenn man sie so aufreiht. Aber ich tröste mich damit, dass meine Beute im Vergleich zu den Gegenständen verblasst, die die Entdeckerin und Arabistin Gertrude Bell zu Beginn des 20. Jahrhunderts per Kamelzug durch die Wüste transportierte. Dazu gehörten Klapptische mit Leinentischdecken, ein Koffer mit Hüten und Sonnenschirmen, ein Wedgewood-Tafelservice, ein Bett und eine Badewanne aus Segeltuch und außerdem so viele Waffen, wie sie unter ihrer spitzenbesetzten Unterwäsche an ihren bestrumpften Waden befestigen konnte.2 Das war natürlich eine andere Zeit, und ich bezweifle nicht, dass selbst Frau Bell die eine oder andere Chaiselongue weggeworfen hätte, wenn sie gezwungen gewesen wäre, alles selbst zu tragen. Aber leider bleibt jetzt keine Zeit mehr, die Ladung zu reduzieren. Nachdem ich alles in meine vier Packtaschen, den Rucksack und die Lenkertasche gequetscht habe, wiegt die gesamte Ladung inklusive Fahrrad fast 60 Kilogramm. Und das, bevor ich meine Wasser- und Ginflaschen und mein gebundenes Exemplar von Miss F. J. Erskines Lady Cycling: What to Wear & How to Ride, eine Pflichtlektüre für jede ernsthafte Radfahrerin, hinzufüge (»Wolle oben, Wolle unten, Wolle überall, so lautet die Hygieneregel der Meder und Perser für das Radfahren«, rät die Autorin. »Es ist entscheidend, gut geschnittene Knickerbocker statt Röcke zu tragen …«).
Da ich noch nie mit Gepäcktaschen gefahren bin, vor allem nicht mit solchen, die aufgebläht und ausgebeult sind wie eine verstopfte Wasserleitung, frage ich mich, ob es nicht ratsam wäre, eine Probefahrt zu machen. Draußen ist es aber schon dunkel, also lege ich das Fahrrad auf die Seite und übe, wie ich es aufheben kann. Zehn Minuten später rufe ich nach P. Gemeinsam schaffen wir es mit einiger Mühe, das Fahrrad aufzurichten und an der Wand abzustellen.
»Fühlst du dich gut vorbereitet?«, fragt P ein wenig grummelig.
»Ja«, sage ich. »Ich gewöhn mich schon noch dran.«
»Brauchst du wirklich einen ganzen Liter Sitzcreme? Das sind eine Menge Scheuerstellen.«
»Man kann nie wissen.«
»Und ernsthaft, eine Ukulele? Was glaubst du, wer du bist? Der Dichter Laurie Lee?«
Die Romantikerin in mir protestiert vehement, während die Zynikerin einräumt, dass mein Freund vielleicht recht hat. Mit über 30, einer Hypothek und einem festen Partner kann ich nicht mehr behaupten, in Lees »schwingendem, schwerelosem Reich« mit endlosem, unerschlossenem Potenzial zu leben. In einem Reich, in dem nach seiner Vorstellung der Körper magische Kraftstoffe verbrennt, sodass er in warmer Luft zu gleiten scheint, etwa einen Fuß über dem Boden. Meine mühelos dahingleitenden Tage sind vorbei, und mein Treibstoff ist eher der, den man bei schrägen Mechanikern am Straßenrand in Karakalpakistan kauft. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich in den letzten Wochen ab und zu eine absurde Vision heraufbeschworen habe: In dieser Vorstellung schlage ich auf einer Wiese oder einer idyllischen Weide eine klagende Volksballade an, während die Hirten und die wilden Tiere der Umgebung zuhören. Die Menschen klatschen und jubeln, die Vögel zwitschern und singen, und die Tiere in der Nähe schauen mit dieser wehmütigen Gelassenheit zu, die wir alle aus Klassikern wie Watership Down und Bambi kennen.
P scheint das jedoch anders zu sehen. »Zumindest wird das prima abschrecken«, sagt er und reicht mir ein riesiges Glas mit Rotwein. »Ein paar Takte von ›The Lancashire Hot Pot Swingers‹ und kein Dieb oder Mörder, der etwas auf sich hält, wird lange rumhängen.«
Mein Wecker klingelt um 6.30 Uhr. Dann um 6.45 Uhr. Dann um 7 Uhr. Das Aufstehen allein bedeutet schon eine gewaltige Anstrengung. Der Tag kündigt sich hell und gnadenlos an, erfüllt von einer endlosen Vorfreude. Mit noch geschlossenen Augen beuge ich meinen linken Arm, meine letzte Hoffnung auf Aufschub. Seit meiner Typhusimpfung vor einer Woche komme ich mir vor, als würde ich täglich mit dem Boxer Tyson Fury ringen. Jede Nacht liege ich im Bett und stelle mir vor, wie ich wohl als Heroinsüchtige in Requiem for a Dream aussehen würde. Mein Bizeps wird matschig und zersetzt sich, während ich heldenhaft schreie, dass ich auf jeden Fall losfahren werde, nur um dann von Sanitätern weggezerrt und betäubt zu werden.
Aber so weit kommt es nicht. Mein Arm fühlt sich gut an. Ich fühle mich gut. Das Wetter ist perfekt. Mit all meiner Willenskraft hieve ich mich schließlich hoch, ziehe meine Radklamotten an – ärmelloses Oberteil, Shorts, gepolsterte Unterhose, Sportsandalen – und bereite mir ein bescheidenes Frühstück aus Cornflakes, drei Müsliriegeln, zwei Bananen, einem Blaubeermuffin und drei Tassen Tee zu, um diese letzten Momente der Behaglichkeit und Vertrautheit so lange wie möglich auszukosten. Vielleicht ist es Glück, dass diese erste Fahrt einfacher ausfallen wird als die anderen. Denn P hat mir angeboten, meine Rucksäcke zum Haus meiner Schwester in Bolney, West Sussex, zu bringen, wo wir meine Eltern treffen werden, bevor ich die Fähre nach Frankreich nehme. Ich werde also die ersten Stunden genüsslich im Stil unseres ehemaligen Premierministers David Cameron radeln, mit Begleitfahrzeug und Gefolge.
Der Tag fängt gut an. Die Sonne ist eine blasse Zitronenscheibe, warm, aber nicht heiß, und meine Zweifel und meine Unruhe verfliegen, als ich mich in Richtung Süden um die im Stau feststeckenden Autos herumschlängele. Das ist einfach, denke ich und vergesse dabei, dass ich nur etwa ein Zehntel des Gewichts trage, das ich eigentlich dabeihaben sollte. Warum rege ich mich eigentlich so auf?
Dann fahre ich nach Croydon hinein – und hoffe, dass mir so was nie wieder passiert. Hört das denn nie auf? Es erinnert mich an Montana, das ich einmal während einer Greyhound-Busreise durch die Staaten durchquert habe. Damals hoffte ich, der Begeisterung John Steinbecks während seiner (zugegebenermaßen fantasievollen) Reise durch das »Land der leuchtenden Berge« fünf Jahrzehnte zuvor nachspüren zu können. Stattdessen erinnere ich mich daran, dass ich an der Grenze einschlief und gefühlt einige Monate später in genau denselben Weizenfeldern und wippenden Buschkugeln aufwachte und mich fragte, ob hier die Zeit stehen geblieben war. In Croydon ist es genauso. Außerdem muss man, um Croydon zu entkommen, einen grausamen Hügel erklimmen, was vielleicht erklärt, warum so viele Menschen dort bleiben.
Der Hügel ist wirklich heftig. Während ich mich keuchend und röchelnd nach oben quäle, wird mir klar, dass Radfahren an einem Hang etwas ganz anderes ist als in der Ebene. Eigentlich ist es ein ganz anderer Sport. Und dann dämmert es mir: So lächerlich es auch klingen mag, ich bin nie auf die Idee gekommen, das Terrain zwischen hier und Teheran zu überprüfen; stattdessen habe ich in einem Akt der Hybris die Karte wie eine Riesin oder ein Gott studiert und mich dabei leichtfüßig von einem Punkt zum nächsten teleportiert. Deshalb habe ich null Plan, was mich an hoch aufragenden Horrorhöhen erwarten könnte – und plötzlich packt mich die Panik. Ich frage mich, ob ich schnell noch eine Route durchplanen kann, die alle Steigungen, bis auf wirklich winzige, umgeht. Wäre das nicht an sich schon eine bewundernswerte Leistung, allein schon wegen der kreativen Kartografie?
Im Moment habe ich jedoch keine andere Wahl, als weiterzumachen. Zumindest ist die Vorstellung, Croydon umsonst durchquert zu haben, unerträglich. Also trete ich erschöpft weiter in die Pedale und schaffe es schließlich auf die Spitze des Hügels und bis zum Mittagessen weiter nach Bolney. Das Essen ist eine fröhliche Angelegenheit. Bei Sekt und Fischpastete bekomme ich einen Korb mit großzügigen Geschenken von meiner Schwester – darunter ein Abwehrspray und einen Schrillalarm gegen Vergewaltigungen (»ein bequem einzusetzender, ein lauter«) und nützliche Ratschläge, wie man einem Mann den Daumen ausrenkt, wenn man angegriffen wird (»beugen, drehen und ziehen!«).
Ehe ich mich versehe, geht es ans Abschiednehmen, und ich werde von Umarmungen fast erdrückt. »Sei bitte vorsichtig«, mahnt mein Vater. Er ist 87 Jahre alt und hat vor Kurzem eine Chemotherapie gegen chronische lymphatische Leukämie begonnen, obwohl er wie immer sein Bestes gibt, um rüstig zu wirken. »Denk dran: Ruf an, egal, was du brauchst. BLAST [das ›Becky Lowe Action Support Team‹, das von meinen leidgeprüften Eltern vor zwei Jahrzehnten gegründet wurde] steht immer bereit!«
»Und sprich keine fremden Männer an«, fügt meine Mutter hinzu. »Es sei denn, sie sind sehr gut aussehend.«
P und ich verabschieden uns am Kai. Es wird zwei Monate dauern, bis wir uns wiedersehen. Den ganzen Tag über fühle ich mich seltsam losgelöst von meiner Umgebung, als ob nicht ich, sondern jemand ganz anderes weggehen würde. Statt Angst oder Aufregung spüre ich nur – verursacht durch das Adrenalin – ein Zittern in meinem Unterleib wie das Surren eines Generators, der mich sanft antreibt. Es ist, als ob alle fremden Emotionen für die bevorstehende Herausforderung nutzbar gemacht wurden, ähnlich wie der Sauerstoff in die Kernmuskeln von Langstreckenläufern geleitet wird, um sie in Richtung Ziellinie voranzutreiben.
»Ruf mich an, wenn du ankommst«, sagt P und umarmt mich. »Und pass auf, dass du dich zwischen hier und Dieppe nicht verfranst.«
»Das hier ist eine direkte Fährverbindung«, antworte ich.
»Ja. Aber ich kenn dich schon ein bisschen länger.«
Auf dem Boot entdeckt mich ein Pärchen mit meinem Fahrrad und fragt nach, wohin ich fahre. Als ich mit Iran antworte, scheinen sie beeindruckt, aber sie gehen sofort davon aus, dass ich Single und damit auf der Suche nach der großen Liebe unterwegs bin. Diese Reaktion wird mir noch öfter begegnen. Während männliche Reisende in der Regel kaum etwas erklären müssen, werden Frauen oft Hintergedanken unterstellt: Vielleicht möchte frau ein gebrochenes Herz heilen oder eine aufgewühlte Seele besänftigen. Vielleicht mag da etwas Wahres dran sein – aber was ist mit Dervla Murphy oder Gertrude Bell, deren Seelen so hart wie Stiefelschlaufen waren? Oder Hester Stanhope, Freya Stark, Mary Kingsley, Nellie Bly?3 Oder die wachsende Zahl der Pionierinnen von heute, deren Ziele, Hoffnungen und Ängste genauso facettenreich und verschieden sind wie die der Männer, die vor ihnen kamen?
Meine Gründe für diese Reise habe ich bereits verraten. Aber das sind wirklich nur Rechtfertigungen. Dahinter steckt ein tieferer Drang, der viel schwieriger zu erklären ist. George Mallory hat den Everest bestiegen, weil es ihn gab – weil er »da« war. Wilfred Thesiger zog es nach Arabien, weil ihn »das Unbekannte lockte«. Ibn Battuta gefiel der Gedanke, sich aus der Sprachlosigkeit »in einen Geschichtenerzähler« zu verwandeln.4 Frag irgendeinen Reisenden, und seine Antwort wird höchstwahrscheinlich zum Verzweifeln vage ausfallen: sowohl alles und nichts; um verrückt zu werden oder gesund zu bleiben. Es ist ein verwirrendes schwarzes Loch, in dem manche die Ewigkeit sehen und andere einen toten Stern. In dieser Hinsicht sind Reisende das ultimative Paradoxon. Sie sehnen sich nach Wissen und Geheimnissen, Erleuchtung und Verwirrung. Sie wollen das Geheimnis entschlüsseln und sich gleichzeitig daran erfreuen; sie wollen die Welt entdecken und gleichzeitig, wie Robert Macfarlane es ausdrückt, »die schwindenden Grenzen des Unbekannten« beklagen.
In der Lounge der Fähre kaufe ich eine Flasche 2010er Chateau Lieujean Haut-Médoc und beobachte, wie sich die Küste von Newhaven leise zwischen Himmel und Meer schiebt. Schon bald beruhigt sich das Zittern in meinem Bauch, und die spröde Realität des bevorstehenden Unterfangens erhält einen sanfteren Schein. Ich kann das schaffen, sage ich mir. Und als sich die kühle Seeluft von Weiß zu Gold zu Violett zu Silbergrau färbt, denke ich zum ersten Mal, dass ich das vielleicht wirklich kann.
Mit der Hotelfrau aus Dieppe in der Normandie erwische ich einen schlechten Start. Vielleicht nicht ganz verwunderlich, denn ich schrecke sie um 23 Uhr auf, als ich mit meinem großen, schmutzigen vélo durch die Tür krache. Sie trägt ein Baumwollnachthemd und ist klein und kantig. Als sie wie eine Spindel ins Zimmer wirbelt, zischt sie mir »taisez-vous« – »Seien Sie still!« zu und verschwindet mit einer abweisenden Handbewegung wieder. So französisch!, denke ich entzückt.
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf, um für die Abreise zu packen. Aber ohne einen Fahrradständer ist das Befestigen der Taschen am Fahrrad eine echte Herausforderung. Zuerst lehne ich das Fahrrad an eine stabil aussehende Topfpflanze, die prompt umkippt. Dann versuche ich es mit einer Hecke. Allerdings sind Hecken dornige, hasserfüllte Teile, denen man nicht trauen kann. Meine macht zunächst einen hilfsbereiten Eindruck, bevor sie sich aufplustert und mein Fahrrad verschluckt. Erst um 10 Uhr, zwei Stunden später als geplant, kann ich endlich losfahren. Doch auch das ist nicht ganz so einfach. Anstatt direkt vom Hotel aus zu starten, wo ich Zeug:innen befürchte, gehe ich hundert Meter die Straße hinunter und steige mit einem hoffentlich lässigen Beinschwung auf mein Pferd. Mit einem kräftigen Ruck katapultiere ich mich vom Zaun weg, fliege über den Bordstein und kollidiere mit der Seite einer Vespa. Als ich mich umschaue, bin ich erleichtert, dass außer einer Herde riesiger Kühe niemand zuzusehen scheint. Die Tiere starren mich voller Verachtung an. Ich versuche es noch einmal und taumle unweigerlich in die Spur eines entgegenkommenden Lieferwagens. Ah ja, ich erinnere mich. In Frankreich fährt man rechts.
Entmutigt halte ich an und mache eine Pause. Das Radfahren mit Packtaschen ist schon anstrengend. Immerhin habe ich Fortschritte gemacht: etwa zehn Meter, um genau zu sein. Ich stelle ein paar Berechnungen an. Bei diesem Tempo werde ich ungefähr 58 Jahre brauchen, um die Strecke zu schaffen. Und P, so vermute ich, hat das Warten dann vielleicht schon satt.
Doch nach vielen gescheiterten Versuchen finde ich schließlich in eine Art unsteten Rhythmus. In den nächsten Stunden fahre ich auf einem undurchdringlichen Gewirr von Nebenstraßen im Kreis und komme oft nach 20 oder 30 Minuten an fast derselben Stelle an, an der ich gestartet bin. Als ich endlich die Hauptstraße finde, bin ich fast bereit, für heute aufzugeben. Doch dann komme ich endlich gut voran, und das Gewicht meines Fahrrads treibt mich über die aufsteigenden Wellen wie eine Bowlingkugel, die auf die Pins zielt.
Die Kilometer vergehen wie im Flug, obwohl ich aufpassen muss, dass ich es nicht übertreibe. »Es ist wichtig, dass die Damen anfangs nur moderate Distanzen zurücklegen«, rät die stets scharfsinnige Miss F. J. Erskine. Nach ihrer Meinung ist ein Arbeitstag mit mehr als 40 Meilen zu viel. Ich nehme mir ihre Worte zu Herzen. Um 17 Uhr, nachdem ich extravagante 43 Meilen, also fast 70 Kilometer, zurückgelegt habe, komme ich voller Freude und Erleichterung in Forges-les-Eaux an. Erleichterung durchflutet mich. Erleichterung darüber, dass ich noch lebe; Erleichterung darüber, dass ich lenken kann; Erleichterung darüber, dass meine Taschen, die auf dem Boden so kompromisslos schwerfällig wirken, sich bewegen können – und das sogar effizient –, wenn sie mit dem Fahrradkörper verbunden sind. Um diese scheinbar unbedeutenden, aber im Moment weltbewegenden Errungenschaften zu feiern, schaue ich mir die Stadt an. Forges-les-Eaux ist vor allem für seine Thermalbäder bekannt und hat einen großen, zentralen Platz und einen hübschen Fluss mit grünem, perlmuttartigem Schimmer. Heute scheint das Leben jedoch beschränkt. Einige Cafés und Bar-Tabacs sind zwar geöffnet, aber die meisten Einrichtungen haben geschlossen. Und nirgendwo gibt es Wi-Fi, außer in der Touristeninformation, die ebenfalls geschlossen ist.
Ich gebe mich geschlagen, kaufe einen Camembert und ein Baguette und kehre an den Stadtrand zurück, um einen Platz zum Zelten zu finden. Nach einer kleinen Erkundungstour entdecke ich den idealen Platz: eine wunderschöne Wiese, die in butterweiches Sonnenlicht getaucht ist und zu der ein schmaler, von dichtem Laub bedeckter Weg führt.
Dann wird mir urplötzlich bewusst, dass ich meinen Gin vergessen habe, und sofort kippt meine Stimmung. Da bin ich nun, allein, erschöpft und unausweichlich nüchtern, ohne etwas, das meine Nerven beruhigt, während die Kälte der Nacht hereinbricht. In den nächsten Stunden liege ich in meinen Schlafsack eingepackt, eiskalt und wachsam, jedes Geräusch und jeder Schatten so scharf wie ein Messerstich. Meine Gedanken schweifen ab: zu den verfallenen Bauernhäusern, an denen ich heute vorbeigekommen bin und die mich an das Versteck des Psychopathen im Film Wolf Creek erinnert haben; zu der dschungelartigen Vegetation da draußen, die anfangs so bezaubernd schien, aber in der Dunkelheit einer mondlosen Nacht an die fleischfressenden Algen im Roman Schiffbruch mit Tiger erinnert; zu jeder leicht beunruhigenden Geschichte, jedem Buch und jedem Film, die ich je gelesen oder gesehen habe und die aus meinem Unterbewusstsein aufsteigen wie Dampf aus einer Gosse, der meine Gedanken verfolgt und meine Träume durchdringt.
Ich fühle mich unwohl und so einsam wie noch nie. Und, verdammt, ich habe immer noch 11 000 Kilometer vor mir.
»Wir sind nicht Polen oder Ungarn«, sagt der Ladenbesitzer, während er im zentralen Arrondissement von St. Germain in Paris Papiertüten mit Kirschen füllt. »Muslime sind pas de problème. Aber wenn sie unsere liberté einfach nicht akzeptieren, haben wir ein Problem.«
Etwa jeder 14. Einwohner Frankreichs ist muslimisch, womit Frankreich das islamischste Land des Westens ist. Viele von ihnen sind Einwanderer der zweiten und dritten Generation, deren Familien vor mehreren Jahrzehnten aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien kamen. In der Vergangenheit war die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber diesen Gemeinschaften recht positiv. Umfragen zeigen, dass die Franzosen und Französinnen Muslime positiver sehen als jedes andere europäische Land außer Deutschland und Großbritannien, und Muslime haben ihre Verbundenheit mit Frankreich immer wieder bekräftigt. Als ich in Paris ankomme, sind die Spannungen jedoch deutlich zu spüren. Die brutalen IS-Anschläge, bei denen 130 Menschen ums Leben kamen, stehen noch aus, aber die Schießerei rund um Charlie Hebdo