Von Menschen und Tieren - Peter Raabe - E-Book

Von Menschen und Tieren E-Book

Peter Raabe

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Beschreibung

Nichts Menschliches wird ausgelassen, Unmenschliches ist möglich.

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Seitenzahl: 178

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INHALT

Das neue Kleid

Der Mann auf der Kirchturmspitze

Knast-Urlaub

Ein Spukschloß in Irland

Das fremde Huhn

Katzen

Schicksal

Rotkäppchens wahre Geschichte

Familienbande

Eine gelungene Party

Ein erotisches Tagebuch

Neues Verkehrsrecht

Schlußwort

Das neue Kleid

Die Geschichte, die ich nachfolgend berichten werde, klingt aus heutiger Sicht vielleicht ziemlich banal und alltäglich. Aber damals, in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sie sich in einem oberitalienischen Dorf nahe Mailand abspielte, war sie schon – oder noch – ein Skandal. Dabei drehte sich alles nur um ein neues Kleid, das sich die junge Seniora Fassetti heimlich geleistet hatte – doch ich eile den Ereignissen zu weit voraus, eine Unsitte von mir. Der Leser möge daher Nachsicht üben und mich bremsen, wenn er mich ertappt.

Roberto und Marcello waren die Söhne von Reisbauern und befreundet seit Kindesbeinen und beide verliebt in die schöne Rosalia. Deshalb achtete jeder der beiden eifersüchtig darauf, daß der andere ihr nicht zu nahe kam. Nach der Grundschule hätten sie eigentlich erst Militärdienst absolvieren müssen, aber ihren Eltern gelang es mit Hilfe des Bürgermeisters, sie als dringend benötigte Reisbauern freistellen zu lassen. In Wirklichkeit begannen sie eine Lehre in einer Mailänder Möbelschreinerei und blieben dort auch anschließend als Gesellen. Marcello kaufte sich von seinen ersten Ersparnissen eine Vespa - ein Motorroller, mit dem sie beide täglich zur Arbeit fuhren; Roberto bezahlte den Sprit und die Reparaturen.

Das Dorfleben bekam einen wesentlichen Impuls, als in der einzigen Trattoria ein Fernsehgerät im Schankraum installiert wurde und die Männer des Dorfes sich nun dort stundenlang jedes Programm ansahen – ohne allerdings mehr zu trinken, als zuvor, was den Inhaber so verärgerte, daß er schließlich für Sportsendungen Eintrittsgeld verlangte.

Als Rosalia immer hübscher wurde und ihre Eltern meinten, daß sie alt genug sei, um unter die Haube zu kommen, entschied sie sich für den lebhafteren Marcello – und heiratete den ruhigeren Roberto, weil er nach Meinung der Eltern solider sei. Entsprechend ruhig und langweilig war denn auch ihre Ehe unter dem Dach und der Aufsicht der Schwiegermutter. Gegen Marcello hegten Rosalias Eltern ein gesundes Misstrauen, weil er so viel las, und lesen verdirbt ja bekanntlich den Charakter. Rosalia hätte lieber noch einen Beruf erlernt, um damit auch eigenes Geld zu verdienen, aber Roberto war dagegen, weil er jeden Kontakt mit anderen Männern verhindern wollte. Als einzige Abwechslung, die sie ihrem Mann abgetrotzt hatte, durfte sie einmal im Monat mit nach Mailand fahren in dem kleinen Fiat, den Marcello sich inzwischen angespart hatte, während Roberto jetzt jede Lira für ein eigenes Häuschen sparte. Doch je länger er sparte, umso schneller galoppierten Grundstückspreise und Baukosten davon, so daß seine Hoffnungen mit der Zeit schwanden.

Auch Marcello sparte, soweit er sein Geld nicht für Bücher ausgab. In der florierenden Möbelschreinerei erlebte er immer wieder, daß Leute abgewiesen wurden, die ihre alten Möbel restaurieren lassen wollten. Das weckte in ihm den Entschluß, sich so bald wie möglich als Möbelrestaurator in Mailand selbständig machen. Für diesen Beruf brauchte man nur wenig Werkzeug und noch weniger Maschinen, sondern vor allem Geduld, Geschick und Können. Einiges Fachwissen hatte er sich inzwischen durch die Lektüre von Fachbüchern angeeignet. In der Nähe der Schreinerei hatte er bereits einen kleinen Laden im Visier, der wegen „Geschäftsaufgabe aus Altersgründen“ in Kürze vakant sein sollte.

Eigentlich war Rosalia Urheberin dieses Planes. Sie war auf einem ihrer Spaziergänge durch Mailand zufällig an dem Laden vorbeigekommen, hatte den handgeschriebenen Anschlag gelesen und den beiden Männern auf der Heimfahrt beiläufig davon berichtet, ohne daß sie auf erkennbare Resonanz gestoßen war. Doch in Marcellos Gehirn hatte sich die Nachricht eingenistet wie ein Virus und dort seine ihm angeborene Arbeit begonnen, sich besitzergreifend auszubreiten. Roberto, den er im Stillen schon als Mitarbeiter einplante, wusste von all dem noch nichts, denn Marcello wollte keine falschen Erwartungen in ihm erwecken. Vor allem aber sollten seine Pläne nicht zum Gesprächsstoff im Dorf werden. Und wenn er mal heiraten würde, müsste seine Frau so sein wie Rosalia, die er immer noch liebte und mit seinen Augen und Gesten nach wie vor umwarb. Und wenn er sich nachts selbst befriedigte, dachte er dabei nur an sie.

Rosalia war in der Tat von außerordentlicher Schönheit und außerdem sehr apart. Zu schön und zu apart, wie die übrigen Frauen des Dorfes meinten und sie deshalb ständig argwöhnisch beobachteten. Wie alle Frauen im Ort, trug auch Rosalia schwarze Kleider – aber nicht in den sonst üblichen verwaschenen, undefinierbaren Schwarztönen, sondern in einem geradezu leuchtenden tiefschwarzem Schwarz, und außerdem auf eine skandalöse Art – entweder angeblich zu eng, oder zu kurz oder mit einem unzüchtigen Schlitz vorne oder hinten oder an der Seite. Auch ihre Blusen waren in den Augen der Dorffrauen entweder eine Nummer zu eng, zu weit geöffnet oder zu durchsichtig. Einige Dorfweiber waren sich sicher, daß diese Schlampe auch keinen Büstenhalter darunter trug. Anstatt der üblichen derben Halbschuhe, die man mit groben Wollstrümpfen bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit tragen konnte, trug sie Schuhe mit hohen Absätzen und dazu schwarze Nylonstrümpfe mit Naht. Und jedes Mal, wenn sie aus Mailand zurück kam, hatte sie eine andere Frisur, während die Frauen des Dorfes ihre Mädchenfrisuren so lange beibehielten, bis sie die Haare für den Rest ihres Lebens zu einem Knoten im Nacken zusammenbanden. Den Männern schien jedoch alles an Rosalia zu gefallen, denn überall, wo sie auftauchte, schauten sie ihr sehnsüchtig nach – ein schändlicher Beweis ihrer moralischen Verkommenheit. Und während die Männer im Dorf Roberto um seine Frau heimlich beneideten, bedauerten ihn die Frauen heimlich, daß er ausgerechnet „an so eine geraten“ war.

Das Faß schier zum Überlaufen brachte Rosalia, als sie nach einem ihrer Ausflüge nach Mailand gar in Jeanshosen aus dem Auto stieg – mitten auf dem Dorfplatz und zur schönsten Abendstunde. Die Männer konnten es kaum fassen und die Frauen schauten entsetzt. Man hatte es schon im Fernsehen gesehen, daß „junge Dinger“ in Mailand „so was“ ungeniert auf der Straße trugen. Roberto hatte die Reaktion des Dorfes befürchtet, während Marcello sich darüber amüsierte. Am schlimmsten jedoch war, daß Rosalia – inzwischen ja eine 25-jährige verheiratet Frau - mit diesem Kleidungsstück auch die weibliche Dorfjugend verdarb. Die „jungen Dinger“ dort hielten sie an den folgenden Tagen auf der Dorfstrasse an, um den Stoff anfassen zu dürfen, fragten sie aus nach dem Woher und zu welchem Preis, und zuhause begannen sie herumzuquängeln, weil sie – welche Schande! - auch solche Hosen haben wollten.

Rosalia wollte in den ersten Ehejahren noch keine Kinder und nahm deshalb die Pille, die sie sich heimlich von einem Gynäkologen in Mailand verschreiben ließ. Als sie schließlich doch ein Kind haben wollte und deshalb die Pille absetzte, blieb der Kinderwunsch unerfüllt, wobei ungeklärt blieb, wer und was die Ursache war. Die Klatschweiber im Dorf allerdings wussten es besser; unter ihnen kursierte das Gerücht, Rosalia habe einen Geliebten in Mailand, von dem sie schwanger gewesen sei und abgetrieben habe und deshalb, als Strafe Gottes, keine Kinder mehr bekommen könne. Zwar ging sie jeden Sonntag brav mit ihrem Mann zum Gottesdienst in die Dorfkirche, aber daß sie nicht zur Beichte ging, bewies allein schon die Ungeheuerlichkeit ihres sündigen Lebenswandels, den sie nicht einmal dem Pfarrer zu beichten wage - so die dort gehandelte Version von Rosalias persönlichem Standpunkt, daß sie nichts zu beichten habe. Während Marcello sie in ihrer Ansicht unterstützte, war Roberto der Auffassung, man solle sich den vorgegebenen Lebensumständen anpassen, denn es sei besser, sich mit den Menschen zu arrangieren als sie zu provozieren. Ihren ganz persönlichen Tribut zollte Rosalia dem christlichen Gott jeden Monat mit einem Gebet im Mailänder Dom. Sie zog es vor, direkt mit dem Schmidt zu reden, statt mit irgendeinem seiner Schmidtchen. Doch darüber sprach sie mit niemand.

*

Es war ein schöner Septembertag, als Rosalia wieder mit den beiden Männern nach Mailand fahren durfte. Nach dem obligatorischen Friseurbesuch schlenderte sie wie üblich durch die Innenstadt, dankte dem Herrgott mit einem Gebet im Dom und trank danach einen Cappuccino in der glasüberdachten Galeria Vittorio Emanuele II, wo auch die großen Modehäuser in Boutiquen ihre aktuellen Modelle ausstellen. Dabei fiel ihr Blick auf ein schwarzes Kleid – oder war es ein Mantel? – in einem der Schaufenster.

Nachdem sie bezahlt hatte, trat sie an das Schaufenster, um das interessante Kleidungsstück näher zu betrachten. Tatsächlich war es ungewöhnlich: ein Mantelkleid, dazu ein passendes Minikleid, das man darunter tragen sollte. Das Ensemble war natürlich sündhaft teuer – kein Schild verriet den Preis - vermutlich unbezahlbar für sie, und außerdem wüsste sie auch nicht, zu welchem Anlaß sie so etwas tragen könnte. Sie wusste in diesem Moment nur, daß sie es unbedingt haben musste!

Rosalia zitterte am ganzen Leib, doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, die Boutique zu betreten, um sich zu informieren. Die äußerst liebenswürdige Verkäuferin musterte sie zunächst von oben bis unten, ob Rosalia als Käuferin überhaupt infrage kam. Nachdem sie diesen check bestanden hatte, erklärte sie ihr alles, was sie wissen wollte und lud sie schließlich zu einer Anprobe ein.

Als Rosalia in dem neuen outfit aus der Ankleidekabine trat, wirkte die Verkäuferin einen Moment lang sprachlos, um dann ihrer Begeisterung – echt oder gespielt – wortreich Ausdruck zu verleihen. Rosalia hörte sich die Komplimente mit wachsender Genugtuung an. Sie sah selbst in den großen Spiegeln, wie hinreißend sie wirkte. Danach verschwand sie wieder in der Kabine, um sich zurück zu verwandeln. Wortreich verständigte man sich darauf, daß das Ensemble eine Woche lang für Rosalia zurückgelegt werde, da sie auf eine solche Ausgabe im Moment gar nicht vorbereitet sei und daher erst noch ihren Mann bemühen müsse. Mit einer Visitenkarte der Boutique, auf deren Rückseite die Verkäuferin alle Angaben zu dem Modell notiert hatte, verließ Rosalia schließlich das Geschäft – leicht betäubt und daher auch zu keinem klaren Gedanken fähig.

Eines war klar: ihren Mann brauchte sie gar nicht erst zu fragen, denn für eine solche Dummheit hätte er weder Verständnis aufgebracht noch Geld geopfert. Der einzige Mensch, der ihr jetzt helfen konnte, schien Marcello. Während der Rückfahrt ins Dorf überlegte Rosalia angestrengt, wann und wie sie ihm ihr Problem schildern konnte, ohne daß ihr Mann in der Nähe war. Über das Hauptproblem - wie sie ihrem Mann einen solchen Kleiderkauf erklären sollte und wie sie Marcello das geliehene Geld erstatten könnte, wagte sie noch gar nicht nachzudenken. Für sie stand nur fest, daß Marcello ihr das nötige Geld leihen werde.

Und die Zeit drängte. Heute war Mittwoch; samstags kamen die beiden Männer früher von der Arbeit zurück und am Abend würde Roberto wie üblich ein Fußballspiel vor der Glotze in der Trattoria ansehen und erst spät in der Nacht angetrunken heimkehren. Am Sonntag würde er dann, wie die meisten Männer des Dorfes, normalerweise angeln gehen. Marcello machte sich nichts aus Fußball und nichts aus angeln; er las lieber oder ging ins Kino im Nachbarort - das also war Rosalias große Chance, die es zu nutzen galt.

Der Samstag kam und entwickelte sich planmäßig, während Rosalia von Stunde zu Stunde nervöser wurde. Da sie Marcellos Abendprogramm nicht kannte und ihn keinesfalls verpassen wollte, falls er mit seiner geliebten Vespa zum Kino fahren würde, buk sie nach Heimkehr der beiden Männer in ihrer Ungeduld rasch einen Kuchen, der ihr als Vorwand dienen sollte, Marcello ein paar Stücke davon in seine Behausung zu bringen.

Kaum hatte er sie hereingelassen, brach es aus ihr hervor:

„Marcello, Du musst mir helfen; ich brauche Geld von Dir. Du bekommst es auch zurück, ich verspreche es Dir.“

Erst danach erklärte sie ihm, um was es ging. Marcello hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann antwortete er sehr ruhig und sehr kühn:

„Du bekommst das Geld – wenn Du mit mir schläfst.“

(Marcello benutzte das metaphorische Schlüsselwort für Ficken, dessen man sich in der christianisierten abendländischen Gesellschaft bedient, seitdem klerikale Moralapostel den zur menschlichen Fortpflanzung unverzichtbaren Geschlechtsakt wegen seiner lustvollen Nebenwirkung zur obszönen Sünde wider den heiligen Geist erklärt haben).

Rosalia erschrak. Das heißt nicht, daß sie über den Antrag überrascht war. Eigentlich war er überfällig. Überraschend war für sie nur seine Direktheit und der Zeitpunkt. Im Grunde hatte sie schon längst damit gerechnet, im Stillen sogar darauf gehofft, aber auf eine behutsamere Weise - nicht in Form einer Erpressung. Aber er brachte sie nicht aus der Fassung. Ihrer Meinung nach war sie lange genug ihrem Manne treu geblieben, ohne dafür eine sichtbare Anerkennung zu erfahren – eher das Gegenteil war der Fall. Und sie wusste: kleine Sünden bestraft der Herrgott sofort; je größer also die Sünde, umso später demnach die Strafe. Vielleicht war diese Sünde groß genug, um die Bestrafung gar nicht mehr im Diesseits zu erleben.

Marcello, selbst überrascht von seiner Kühnheit, deutete ihr Schweigen als Ablehnung. Doch er wollte nicht aufgeben. Um ihren Widerstand zu brechen, legte er nach:

„Das Geld will ich nicht zurückhaben. Und das Kleid schenke ich Dir offiziell zum Geburtstag. Dann brauchst Du keine weiteren Fragen zu beantworten“.

Einem solch verlockenden Angebot konnte (und wollte) Rosalia nicht widerstehen. Ihre Hemmungen schmolzen dahin und sie war froh, mit ihrer Antwort so lange gezögert zu haben, denn so blieb ihr genügend Bedenkzeit übrig für eine kleine, schüchterne, doch sehr berechtigte Frage: „Wie sollen wir das anstellen?“

Marcello nahm sie in seine Arme: „Sag Deinem Mann, daß ich Dich heute ins Kino einlade“. Dann küsste er sie ohne Hemmung auf die Lippen und sie entschwand, glückstrunken und mit glühenden Wangen. Der einzige kleine Wermutstropfen bestand darin, daß Rosalia erst in einem halben Jahr Geburtstag hatte.

Damit könnte ich die Erzählung eigentlich beenden, weil sie hier einen so schönen Abschluß gefunden hätte. Doch das wäre dann nur die halbe Geschichte und damit die halbe Wahrheit.

Nach Hause zurückgekehrt, informierte Rosalia ihren Mann wahrheitsgemäß über die Einladung des Freundes zum abendlichen Kinobesuch. Roberto murmelte etwas, das sie als Einverständnis interpretierte, ohne sich dessen durch Nachfrage zu vergewissern. Vielmehr wartete sie voller Ungeduld darauf, daß ihr Mann sich zu seinem Fußballspiel auf den Weg in die Trattoria machte. Als er schließlich die Wohnung verlassen hatte, machte sie sich unnötigerweise so reizvoll zurecht, wie es ihr möglich war. Dabei schlug ihr das Herz ganz so, als sei es vor ihrem ersten Abend mit einem noch unbekannten Verehrer. Hurtig verließ sie nach Einbruch der Dunkelheit die Wohnung und stahl sich auf Strümpfen die Stufen hoch zu Marcellos kleiner Junggesellenstube im Obergeschoß der elterlichen Kate.

Marcello erwartete sie bereits. Sie fielen sich beide voller Ungestüm in die Arme und auf sein Bett. Ebenso ungestüm rissen sie sich die Kleider vom Leibe und versanken in einem Rausch von wilder Leidenschaft, die sie beide bisher so lange unterdrückt hatten. Für Marcello erfüllte sich in dieser Nacht der Traum vom Glück in den Armen der Frau, die er für immer verloren geglaubt hatte; und auch Rosalia erlebte zum ersten Mal eine Art von Liebe, auf die sie nicht zu hoffen gewagt hatte – sinnlich und zärtlich, hemmungslos und grenzenlos bis zur Erschöpfung.

Als Rosalia am nächsten Morgen nach Hause zurückschlich, schlief ihr Mann noch seinen Rausch vom Vorabend aus. Deshalb machte sie sogleich das Frühstück und weckte ihn erst, als es Zeit wurde, rechtzeitig gemeinsam zum obligatorischen Kirchgang aufzubrechen. Auf dem Weg zur Kirche fragte Roberto sie nach dem Film. Marcello hatte ihr zum Glück den Titel genannt und sie hatte ihn bereits in Mailand gesehen und nun kam er in die Dorfkinos; ihr Mann konnte sie also nicht in Verlegenheit bringen. Schwieriger wurde es mit der Antwort auf die Frage, wann sie nach Hause gekommen sei. „Kurz nach Dir“, log sie.

„Aber woher weist Du, wann ich nach Hause gekommen bin?“, fragte er zurück.

„Weil ich noch von draußen gesehen habe, wie Du das Licht ausgemacht hast“, kam ihre Antwort. „Als ich mich hereingeschlichen habe, hast Du schon geschnarcht“.

Roberto glaubte es ihr und Rosalia staunte, wie gut sie lügen konnte. Und sie brauchte diese Lüge nicht einmal zu beichten, wie sie nach kurzer Selbstprüfung konstatierte: Sie hatte niemandem damit geschadet; im Gegenteil: mit der Wahrheit hätte sie großes Unheil angerichtet. Ihre Lüge war vielmehr eine friedenerhaltende Maßnahme und bei ihrer nächsten Privataudienz im Mailänder Dom würde sie es ihrem Herrgott auch so erklären und sicherlich seine Zustimmung finden – und wenn nicht, wäre das sein Problem. Auch von dem da oben ließ sie sich kein schlechtes Gewissen einreden.

Währenddessen überprüfte und überarbeitete Marcello bereits seine Zukunftspläne, denn Rosalia wollte er nicht wieder aufgeben und noch einmal verlieren. Schnelles Handeln war jetzt geboten.

Für den folgenden Tag nahm er sich vor, ab Mittag in der Schreinerei frei zu nehmen, um die Kleiderboutique mit der Visitenkarte aufzusuchen, die Rosalia ihm gegeben hatte; vorher musste er noch in der Bank Geld von seinem Konto abheben. Außerdem wollte er sich am Nachmittag vor Ort über die Räumlichkeiten und die Kosten für das Ladengeschäft informieren, das in seinen Zukunftsplänen nun eine zentrale Rolle spielte.

Marcello nahm seinen besten Anzug mit nach Mailand, zog sich in der Mittagspause um und erklärte dem erstaunten Roberto, er habe etwas in der Stadt zu erledigen, dann brauste er mit seinem Fiat los. In der Bank erfuhr er zu seinem Erstaunen, daß er von seinem Konto so viel Geld, wie er für das Mantelkleid benötigte, nicht auf einmal abheben konnte. Doch aus dieser Belehrung zog er einen Nutzen: In der Boutique zeigte er der Verkäuferin die Geschäftskarte mit ihren Notizen und erklärte ihr, seine Frau habe ihn geschickt, um eine Anzahlung zu machen, da sie selbst erst noch einmal zu einer erneuten Anprobe kommen wolle für den Fall, daß noch irgendwelche Änderungen an dem Mantelkleid vorzunehmen seien. Die Verkäuferin zeigte sich keineswegs überrascht und verabschiedete Rosalias angeblichen Ehemann auf das Liebenswürdigste.

Hochgestimmt und erwartungsvoll machte er sich auf den Weg zur nächsten Station seiner Reise in die Zukunft. Als Marcello den Gemischtwarenladen betrat, löste er beim Öffnen der Tür ein Läuten aus, worauf nach ein paar Sekunden ein gebeugter alter Mann hinter einem Vorhang aus einem Hinterzimmer hervorkam und mit sehr freundlicher, aber brüchiger Stimme fragte: „Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“

Marcello erklärte ihm den Grund seines Besuches, was auf den Alten offensichtlich eine belebende Wirkung ausübte, denn wortreich und detailliert schilderte er ihm seine ganze Familiengeschichte und Marcello hatte große Mühe, die Fakten zu erfahren, die ihn interessierten. Der Alte war Pächter des Geschäfts, das er mit seiner Frau geführt hatte, bis sie vor kurzem gestorben war. Es gab noch keinen Nachfolger; alles müsse mit dem Hausbesitzer verhandelt werden, der in der nächsten Etage wohne. Er selbst habe eine kleine Wohnung eine Etage darüber. Schließlich zeigte ihm der Alte die Räume, die sich hinter dem Laden verbargen - zwei große Zimmer hintereinander mit einem gemeinsamen Kaminanschluß, dazwischen ein kurzer Flur mit einer Toilette. Der hinterste Raum führte bereits auf eine Nebenstrasse, die ideale Zufahrt für Lieferanten. Und er nannte ihm auch den aktuellen Pachtpreis, den er jährlich an den Eigentümer zu zahlen hatte. Marcello bedankte sich schließlich bei dem Alten für die Zeit und Mühe, die er ihm geopfert hatte, während der Alte ihm viel Glück und Erfolg bei der Verwirklichung seiner Pläne wünschte.

Marcello ließ seinen Wagen stehen und hastete zur nächsten Cafeteria, um seine Eindrücke zu ordnen – und um zu rechnen. Dann eilte er zurück zu dem Geschäftshaus, um mit dem Eigentümer zu reden. Eine Frau öffnete vorsichtig, als er klingelte, und während er sich kurzatmig und umständlich vorstellte, kam auch ihr Mann an die Tür. Man ließ ihn eintreten und der Mann führte ihn in das Wohnzimmer. Die beiden Männer kamen schnell zur Sache: Marcello schilderte seine Absichten und der Mann stellte seine Fragen. Im Grundsatz war er mit Marcello als neuem Pächter und dessen Plänen einverstanden; die Finanzierung des Unternehmens musste Marcello allerdings erst mit seiner Bank klären. Man schied mit einem handschriftlich aufgesetzten vorläufigen Pachtvertrag als Grundlage hierfür.

Marcello raste zu seiner Bank, doch die war bereits geschlossen. Er klingelte trotzdem, bis sich am Rufbeantworter jemand meldete.

„Sie wünschen?“ – „Ich möchte den Direktor sprechen“ - „Haben Sie einen Termin?“ – „Ja“.

Auf einen Summton öffnete sich die Tür und Marcello war in der Vorhalle zum Allerheiligsten. Eine junge Dame mit Brille kam ihm freundlich lächelnd entgegen und führte ihn durch einen Gang, dabei fragte sie nach seinem Namen. Schließlich klopfte sie an die Tür mit der Aufschrift Direktor und auf den Zuruf „Herein!“ öffnete sie die Tür und nannte einem dickleibigen Mann hinter seinem Schreibtisch Marcellos Namen. Der Direktor schaute auf seinen Terminkalender und schüttelte den Kopf: „Sie sind hier aber nicht eingetragen“ – „Das macht nichts“, erwiderte Marcello etwas zu forsch. „Ich hatte keine Zeit, mich vorher anzumelden. Deshalb habe ich es auf gut Glück versucht“.

Dem Herrn Direktor schien es die Sprache zu verschlagen, denn anstatt den unangemeldeten Gast hinauszuwerfen, hörte er sich Marcellos Anliegen artig an, da er ja immerhin ein Kunde seiner Bank war. Und er spürte das Langzeitreservoir, das in diesem offenbar zielstrebigen jungen Mann steckte. Er richtete auch ein paar Fragen an Marcello und rief schließlich die Sekretärin herein, um ihr einiges in ihren Stenoblock zu diktieren. Dann verabschiedete er Marcello, der bei der Sekretärin noch einige Formulare in Empfang nehmen durfte, die er ausgefüllt wieder so bald wie möglich abliefern sollte. Alles diente dazu, einen Darlehensantrag formgerecht zu stellen, dessen wohlwollende Prüfung und rasche Entscheidung ihm der Direktor mündlich in Aussicht gestellt hatte.