Von Sackgassen und Königswegen - Johannes Justus - E-Book

Von Sackgassen und Königswegen E-Book

Johannes Justus

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Beschreibung

Zum Aufgabenprofil eines Pastors gehört in der Regel, dass er Führungsverantwortung hat. Mitarbeiter wollen angeleitet, ermutigt, inspiriert und manches Mal auch korrigiert werden. Am Beispiel von Josua und Joseph werden die Prozesse der Entwicklung geistlicher Führungskräfte aufgezeigt. Manche Entscheidung wird zur Sackgasse und anderes wiederum erweist sich als Königsweg. Dieses Buch beinhaltet den Schatz an Beobachtungen und Erfahrungen, den Johannes Justus, langjähriger Pastor und Präses des BFP, über viele Jahr­zehnte in den Fragen von Leitung und Menschenführung gemacht hat.

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Forum Theologie & Gemeinde

Material zum geistlichen Dienst

Band 32

theologisch kompetent – praktisch relevant

 

 

Von Sackgassen

und Königswegen

Wie die Entwicklung geistlicher Führungskräfte verläuft und was sie gelingen lässt

von

Johannes Justus

 

 

Herausgegeben vom Forum Theologie & Gemeinde des BFP

 

 

Johannes Justus (* 1957) ist Pastor und Präses des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden. Als internationaler Sprecher werden besonders seine Kenntnisse über den Heiligen Geist geschätzt. Seine große Leidenschaft ist es, den Aufbau von Kirchengemeinden in unserem Land voranzubringen. Besonders bewegt ihn die Frage, welche Rolle das Wirken des Heiligen Geistes beim Bau von Kirchengemeinden einnimmt.

Mehr Informationen unter: www.johannes-justus.de

 

 

 

 

 

© 2022 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

1. Auflage 2022

 

Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Luther Bibel 2017, © 2017 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, entnommen.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopieren einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet.

 

 

Umschlagbild: Steven Cordes by © unsplash.com

Layout, Umschlaggestaltung u. Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Druck: winterwork, Borsdorf

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-85-4

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-41-0

Bestell-Nr. BUW051

Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen

[email protected] • www.forum-thg.de

 

Inhalt

Dank und Widmung

Vorwort

Teil 1: Josef – Die Entwicklung der Persönlichkeit

1 Die fünf wieder­kehrenden Phasen der Entwicklung

2 Die Phase der Vorbereitung

3 Die Phase der Inspiration

4 Die Phase der Feuerprobe

5 Die Phase der Beförderung

6 Die Phase der Weitergabe

Teil II: Josua – Eigenschaften und Fehler von geistlichen Führungskräften

1 Schon früh für fähig befunden

2 Josuas Einsetzung

3 Josuas Wirken

Schlusswort

Bibliografie

Über den Herausgeber

 

Dank und Widmung

Mein Dank gilt Pastor Daniel Justus, der alle meine Ausarbeitungen, Texte, Notizen und Ideen aufgenommen und ihnen eine Form gegeben hat. Danke für deinen Mut, einiges zu hinterfragen und andere Perspektiven aufzuzeigen.

Danke in diesem Sinne auch an Pastor Albert Stein, der mich im Hintergrund viel unterstützt und ergänzt hat. Dies hatte auch auf dieses Werk eine nachhaltige Auswirkung.

Ein großer Dank gilt meiner lieben Ehefrau Irene, die mich sehr stark unterstützt hat. In der Zeit der Entstehung dieses Werkes hat sie oft auf mich verzichtet. Du hast dich entschieden, meine Stärkung zu sein und nicht meine Schwächung. Wenn ich müde wurde, hast du mir Mut zugesprochen. Und wenn ich keinen Sinn in dieser Arbeit mehr sah, sprachst du über Vermächtnis. Vielen lieben Dank. Ich liebe dich und dein gutes Herz.

Ich danke meinem Leitungsteam. Von ihnen habe ich viel gelernt und auch Leitung geübt. Danke für eure Geduld mit mir und euren Beitrag zu meiner Entwicklung. Ich finde es großartig, mit Menschen unterwegs zu sein, die ein Ziel haben und durch gegenseitige Unterstützung einen Beitrag dazu leisten.

Ich widme dieses Buch allen, die an ihrer eigenen Entwicklung interessiert sind, und denen, die ihren unverwechselbaren Beitrag für die Entwicklung von Menschen und der Gemeinde Jesu leisten.

Ich möchte euch auf eine Entwicklungsreise einladen. Ich bin fasziniert von der Vielfältigkeit der Menschen und ihrem Beitrag für das Wohl aller. Wie gut und befreiend ist es zu wissen, dass es im Reich Gottes keine Konkurrenz gibt. Dies ist dann der Fall, wenn jeder in dem lebt, was ihm geschenkt worden ist.

 

Vorwort

Die Gnade Gottes ist eine ohne Verdienst zuteilwerdende Gotteskraft – das ist unbestreitbar. Doch zum Wachstum in der Gnade ist eine durchaus größere Beteiligung unsererseits notwendig als zum Empfang. In meinem ersten Buch Entfachende Gnade, in dem ich die Gnade als wirksame Gotteskraft beschrieb, schloss ich mit dem Ausblick, dass ein Wachsen in der Gnade möglich sei. Meine Ausführungen dazu blieben allerdings nur kurz, sodass ich den Eindruck hatte, meinen Lesern noch etwas zu schulden. Dies war ein Grund, warum ich die Arbeiten zu diesem Buch aufnahm.

Das Leiten von Menschen beschäftigt mich schon fast mein gesamtes Leben lang. Zum ersten Mal wurde ich mit dem Thema Leiterschaft konfrontiert, als ich in der vierten Klasse war. Damals schrieb meine Klassenlehrerin an meine Eltern, dass „andere Kinder mir zuhören und mir folgen, weil ich an sie glaube“. An diesem Tag durfte ich schon eine wichtige Lektion lernen: Nicht die richtigen Techniken und Prinzipien führen dazu, dass Menschen einem folgen, sondern die eigene Persönlichkeit veranlasst sie dazu.

Dennoch habe ich als Pastor viele Fehler auf diesem Gebiet machen müssen und konnte so sehr viel lernen. Es ist nicht weiter tragisch, Fehler zu machen. Schlecht ist es aber, die gleichen Fehler wieder zu machen und nichts aus den Erfahrungen zu lernen. Einige Male bin ich sehr tief gefallen und musste wieder aufstehen und meinen Weg weitergehen. Es war mir immer ein Anliegen, Christus und seiner Kirche zu dienen, so blieb mir keine andere Wahl. Gerade meine Rückschläge veranlassten mich dazu, mich mit der Thematik Leitung und Menschenführung über Jahrzehnte auseinanderzusetzen und sie auch wissenschaftlich zu studieren, um mich selbst und meine Mitmenschen besser zu verstehen und mein Wissen an andere weiterzugeben. Daraus resultierte, dass ich von Kirchengemeinden immer häufiger als Sprecher zu diesen Themen eingeladen wurde. In den letzten Jahren äußerten die Menschen in meinem Umfeld zunehmend den Wunsch, dass ich mein angeeignetes Wissen, meine Erkenntnisse und meine Erfahrungen niederschreiben würde. So entstand das vorliegende Buch größtenteils aus meinen Vorträgen und Seminaren.

Anders als in einem Großteil der Literatur über Führungskräfte geht es mir weniger um Methoden und Werkzeuge für Leiter, sondern mehr um die Entwicklung der Persönlichkeit und des Charakters des Leiters, da ich glaube, dass sie von wesentlich größerer Bedeutung ist. Die folgende Feststellung des deutschen Schriftstellers Friedrich Hebbel wurde irgendwann zu meinem eigenen Leitspruch:„Der Mensch ist nicht Opfer, sondern Mitgestalter seines Lebens.“

Da ich mit der modernen wissenschaftlichen Führungsliteratur vertraut bin und auch zahlreiche christliche Werke zu der Thematik kenne, bin ich mir sicher, zwar kein brandneues Buch verfasst zu haben, jedoch einen wichtigen Beitrag zur bestehenden Literatur geschaffen zu haben.

Dieses Buch ist allerdings nicht nur ein Buch für Leiter und werdende Leiter. Meine Expertise liegt zwar in der Leiterentwicklung und daher wird wohl jeder, dem eine Leitungsfunktion zukommt, den größten Nutzen aus diesem Werk ziehen. Jedoch war ich als Pastor auch lange Zeit Seelsorger, Berater und Trainer und glaube deshalb, dass auch Personen, die keine Führungsverantwortung innehaben oder anstreben, es mit großem Gewinn lesen werden. Denn es ist auch ein Buch für alle, die an ihrer Entwicklung arbeiten wollen.

Hannover, im Sommer 2022

Johannes Justus

 

Teil 1: Josef – Die Entwicklung der Persönlichkeit

 

Die Person Josef, der Sohn Jakobs aus der Erzvätergeschichte (Gen 37–50), beschäftigte mich viele Jahre meines Lebens und ich kann guten Gewissens sagen, dass seine Biografie mit meiner eigenen verwoben ist. Ähnlich wie Josef hatte auch ich viele Geschwister und musste mich in einer Großfamilie zurechtfinden. Man kann keinesfalls sagen, dass ich eine Art Liebling meines Vaters war, so wie Josef, doch sagten meine Eltern häufig zu mir, dass ich eine Art Musterknabe sei, und daher trat ich ein wenig unter meinen Geschwistern hervor.

Auch wurde ich sicherlich nicht von meinen Brüdern verraten, wie Josef von seinen Brüdern, doch wenn es um mein Verhältnis zu ihnen ging, habe ich mich immer wieder mit Josef identifizieren können. Ich war das fünfte von elf Kindern und komme aus ärmlichen Verhältnissen. Meine Eltern waren selten zu Hause, da sie viel arbeiten mussten, um uns zu versorgen. Zudem opferte sich mein Vater als ehrenamtlicher Pastor sehr für seine Kirchengemeinde auf. Raufereien, körperliche Verletzungen und unfaires Behandeln waren bei uns häufig an der Tagesordnung. Meine Geschwister haben mir oft Unrecht getan, aber auch ich habe mich vielfach unangemessen ihnen gegenüber verhalten.

Ich musste jedenfalls früh lernen, mich zu behaupten und mich gegen meine Geschwister durchzusetzen. Wir haben miteinander gelernt, Grenzerfahrungen zu machen. Für mich sind diese Erfahrungen wichtige Lektionen, die mir in meinem späteren Leben halfen, mich in der Gesellschaft zurechtzufinden. Sie halfen mir, zu mir selbst und meinem Glauben zu stehen, aber auch, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Auch darin ähnelte ich Josef. Er machte einige Wachstumsschritte aufgrund der Konflikte mit seinen Brüdern. Zum Aufwachsen in einer Großfamilie gehört es dazu, dass man Rangkämpfen mit den Geschwistern ausgesetzt ist, Enttäuschungen erlebt, aber sich auch wieder versöhnt. Dies verband mich besonders mit Josef und war einer der Hauptgründe, warum ich häufig an ihn dachte.

Doch auch wenn ich von meiner persönlichen Biografie und meiner Identifikation mit ihm absehe, bleibe ich beeindruckt von seiner Geschichte. Sein Umgang mit den Herausforderungen, vor denen er stand, ist inspirierend. Trotz der ausweglosen Situationen, in die er hineinmanövriert wurde, ließ er sich von den Umständen nicht überwältigen, sondern hat stets versucht, das Beste aus ihnen zu machen. Er gab den Glauben an die Verheißungen Gottes nicht auf und stand immer zu seinem Überzeugungen und sich selbst.

Josefs Geschichte ist im Grunde eine Aufstiegs- oder Entwicklungsgeschichte. Die moderne Pädagogik hat größtenteils nachgewiesen, dass der Mensch selbst aktiv zu seiner Entwicklung beitragen kann. Der Mensch konstruiert sozusagen eigenständig seine eigene Entwicklung und Biografie. Natürlich tragen auch externe Faktoren wie das Elternhaus, Verwandtschaft, Freunde, Schule, Medien oder die Kirche maßgeblich zur persönlichen Entwicklung bei. Der Mensch wird durch diese Instanzen quasi sozialisiert. Doch schreiben die Prägungen, die man durch diese Instanzen erhalten hat, nicht das Schicksal der eigenen Persönlichkeit fest. Zahlreiche Menschen meinen, ihre Biografie auf ihr Elternhaus zurückführen zu können, allerdings gibt es immer wieder Beispiele, die solch eine Denkweise zweifelhaft erscheinen lassen. Geschwister aus demselben Elternhaus und mit sehr ähnlichen genetischen Gegebenheiten können sich im Laufe ihres Lebens ganz unterschiedlich entwickeln. Daher müssen wir davon ausgehen, dass Menschen eine gewisse Freiheit haben, ihre eigene Entwicklung aktiv zu steuern. Josef ist dafür ein positives Beispiel. Wir werden noch sehen, wie anders als seine Brüder er sich entwickelt hat – aufgrund seiner persönlichen Entscheidungen. Er hat auf seine Umwelt stets aktiv eingewirkt und sich nicht allein vor ihr bestimmen lassen.

Josefs Geschichte ist auch eine urmenschliche Erzählung, die zu keiner Zeit an Aktualität eingebüßt hat und bis in die Gegenwart Menschen fasziniert. Was sind die Gründe für ihre Anziehungskraft? Sicherlich fällt den meisten auf, dass uns einige Elemente der Geschichte auf gewisse Art vertraut sind. Da ist das eine Kind, das vom Vater mehr geliebt wird als die anderen Kinder. Einer glaubt, zu Größerem bestimmt zu sein. Dem Leser begegnet ein Konflikt unter Geschwistern, der in blanken Hass mündet, und in dem die Geschwister diesen einen Bruder um jeden Preis loswerden wollen. Es wird von einer nicht erwiderten Liebe berichtet. Beim Lesen begegnen uns also soziale Konflikte sowie tiefe Krisen, ein Neuanfang in der Fremde und der Wiederaufstieg nach einem tiefen Fall. Die Grundmotive dieser Erzählung ereignen sich täglich in vielen Leben und Menschen müssen mit ihnen umgehen. Die Gestalt Josef ist daher mir und vielen anderen Menschen vertraut und sie hat sich in einigen Biografien als wertvolles Vorbild erwiesen.

Des Weiteren meine ich, in Josefs Biografie klare Entwicklungsphasen ausgemacht zu haben, die nicht nur bei ihm zu beobachten sind, sondern ebenso im Leben einer jeden Führungskraft und eines jeden Menschen, der bewusst an seiner Entwicklung arbeitet. Diese Phasen der Entwicklung begegnen nur denjenigen, die den Fortschritt in der eigenen Entwicklung suchen. Bei Menschen, die Stabilität und Sicherheit suchen, sind diesen Phasen meist nicht anzutreffen. Dazu äußere ich mich aber später nochmals.

Aus diesen Gründen habe ich Josefs Geschichte für die Darstellung der fünf Entwicklungsphasen eines Leiters herangezogen. Zunächst will ich allerdings in einem einleitenden Kapitel auf das Wesen der fünf Phasen eingehen, bevor ich sie anhand der Josefsgeschichte im Einzelnen näher erläutere.

 

1 Die fünf wieder­kehrenden Phasen der Entwicklung

Die pädagogische Forschung hat belegt, dass die menschliche Entwicklung in Phasen bzw. in Stufen stattfindet. Dies bedeutet, dass einzelne Entwicklungsphasen deutlich voneinander unterschieden werden können. Auch wenn es einem anders anmuten mag: Die menschliche Entwicklung ist keine kontinuierlich fortschreitende Bewegung. Sie geht nicht permanent geradlinig nach oben. In gewissen Abschnitten im Leben eines Menschen schreitet seine Entwicklung nur langsam oder gar nicht fort, während sie in anderen schnell vonstatten geht. Häufig werden Tiefphasen als Stagnation oder Rückschläge gewertet, obwohl gerade diese für die Weiterentwicklung unentbehrlich sind.

In meiner Dienstzeit als Pastor, Lehrer und Mentor habe ich solche Phasen in der Entwicklung von Leitern beobachtet. Ich erhebe keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, doch werden sich wohl die meisten in den von mir beschriebenen Phasen wiederfinden können. Ich bin der Überzeugung, dass der Leiter in seiner Laufbahn fünf immer wiederkehrende Phasen durchläuft, die sich in ihrer Reihenfolge wiederholen, sobald sie abgeschlossen sind. Diese Phasen lassen sich womöglich in noch kleinere Abschnitte unterteilen, doch der Einfachheit halber will ich es bei dieser Aufteilung belassen.

Mein Entwicklungsmodell wird dem einen oder anderen vertraut sein, da es eigentlich nicht neu ist. Ich wurde unter anderem von dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Robert Kegan inspiriert, der im Anschluss an Jean Piaget und Lawrence Kohlberg erklärt, „wie wir zu dem werden, was wir sind“. Ähnlich wie Kegan gehe ich von einer Weiterentwicklung des Menschen in seiner Biografie aus, obgleich ich betonen muss, dass meine Gedanken nicht ansatzweise vergleichbar mit den sehr komplexen Studien Kegans sind. Meine Gedanken beruhen zunächst nicht auf statistischen Studien, sondern ich versuche, Erkenntnisse der Forschung und die kirchliche Praxis miteinander zu verbinden.

Abb. 1: Die fünf Phasen der Entwicklung

Die einzelnen Phasen können als eine Art langsamer Anstieg in der Weiterentwicklung des Menschen verstanden werden. Abb. 1 ist daher die Betrachtung einer „Entwicklungsspirale“ aus der Vogelperspektive. Diese Entwicklungsspirale stellt die Entwicklung des Menschen mit ihren Höhen und Tiefen dar. Damit eine Weiterentwicklung stattfinden kann, ist es notwendig, dass der Mensch alle Phasen durchläuft und abschließt. Diese Phasen bedingen einander sozusagen. Jede dieser Phasen stellt eine Vorbereitung auf die nächste Phase dar. In jeder Phase steht man daher in der Gefahr, die eigene Entwicklung auszubremsen bzw. abzubrechen und von Neuem mit der ersten Phase zu beginnen. So bleiben manche z. B. in der Phase der Inspiration stecken, da sie nur träumen, jedoch nie versuchen, ihre Träume wahr werden zu lassen. Besonders die Phase der Feuerprobe wird als sehr mühselig erlebt und daher nur ungern gemeistert. Doch wie wir noch sehen werden, ist gerade diese Phase besonders bedeutsam für die Weiterentwicklung.

Abb. 2: Zeitliche Abfolge

Die Phase der Beförderung birgt die Gefahr, sich auf dem Zenit des Erfolges auszuruhen. Dies hat den Verlust der bisherigen Erfolge zur Konsequenz. Der Übergang in die nächste Phase ist also immer ein Loslassen des Alten und Bekannten und ein Wagen des Neuen und Unbekannten. Nach meiner Erfahrung dauert es etwa sieben Jahre, bis alle fünf Phasen durchlaufen sind und die Schleife damit von vorne beginnt. Dies ist meine eigene Beobachtung und natürlich stellt diese Zahl nur einen Mittelwert dar. Im Einzelfall kann das Durchschreiten aller fünf Phasen wesentlich länger oder auch wesentlich kürzer dauern. Um die einzelnen Phasen nicht zu sehr in die Länge zu ziehen, ist es sinnvoll, wesentliche Entscheidungen möglichst für einen begrenzten Zeitraum zu treffen. Dies betrifft in erster Linie Entscheidungen des Arbeits- und Dienstlebens, weniger des Privatlebens.

Beim Durchschreiten jeder Phase hilft das berühmte Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

Man muss eine Phase erst hinter sich gebracht haben, um zu verstehen, dass sie hilfreich und sinnvoll war. Manches Mal ist man auch erst sehr spät in der Lage, die vergangenen Ereignisse richtig zu interpretieren.

 

2 Die Phase der Vorbereitung

2.1 Der heranwachsende Josef

Als Josef dem Leser das erste Mal in Genesis 37,2 begegnet, ist er bereits ein Hirtenjunge im Alter von siebzehn Jahren. Seine Familie führte ein bescheidenes Nomadenleben als Kleinviehhirten. In diesem Alter galt er noch nicht als erwachsener Mann und musste in seinem Alltag den entsprechenden Aufgaben nachgehen. Er wird als Hirtengehilfe beschrieben (37,2) – eine Tätigkeit, die nicht besonders anspruchsvoll klingt. Der Leser ahnt noch nichts von der großen Zukunft, die vor Josef liegt. Als Kleinviehnomaden weidete Josefs Großfamilie ihr Vieh wohl an den Rändern der dicht besiedelten Gebiete und in den Gebirgsregionen.

Die israelitischen Viehhirten waren in der ägyptischen Hochkultur nicht sonderlich angesehen. Doch dies bedeutet nicht, dass Josef in einem bildungsfernen Milieu aufwuchs. Als Lieblingssohn seines Vaters wird er sicherlich gut unterrichtet worden sein und sein Vater wird bestimmt auch Wert darauf gelegt haben, dass sein Sohn ein gewisses wirtschaftliches Geschick erlernte. Zumindest begegnet uns Josef schon kurz nach seinem Verkauf nach Ägypten im Hause Potifars als kluger Verwalter, der das Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschte.

Doch in den ersten beiden Versen der Erzählung wirkt er noch recht unreif. Sein Verhalten strapazierte die Beziehung zu seinen Brüdern. Er schien als eine Art Informant für seinen Vater zu fungieren, denn „er hinterbrachte ihrem Vater ihre üble Nachrede“ (37,2). Die Brüder nahmen ihn weniger als Musterjungen wahr, sondern er musste in ihren Augen schlicht eine Petze gewesen sein.

Es war allerdings nicht nur Josefs Verhalten, das die Beziehung zu seinen Brüdern belastete, sondern auch die Bevorzugung durch seinen Vater (37,3). Sein Vater Jakob hatte Lea und Rahel als Hauptfrauen sowie die zwei Mägde seiner Hauptfrauen, Bilha und Silpa, als Nebenfrauen (30,4.9). Im Alten Orient standen diese jedoch in der Rangfolge unter den Hauptfrauen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Josef der Liebling seines Vaters war, denn schließlich war er der Erstgeborene seiner Wunschfrau Rahel. Dass Jakob Josef und schließlich auch Benjamin in hohem Alter zeugte, war sicherlich auch ein Grund für Josefs Bevorzugung (Gen 37,3), jedoch nicht der Hauptgrund.

Die Lage wurde noch misslicher, als Jakob seinem Sohn Josef „einen bunten Rock“ schenkte. Wir wissen nicht, ob es sich bei diesem Rock um ein besonderes Festgewand handelte. Doch offenbar bekam nicht jeder der Söhne solch einen Rock und mit dieser Handlung wurde Josefs Bevorzugung für die anderen Brüder offenkundig. Das, was die Brüder bereits annahmen oder spürten, mussten sie nun auch mit eigenen Augen sehen. Daraufhin waren sie nicht mehr in der Lage, ihm ein „freundliches Wort“ zu sagen (Gen 37,4).

Die Kleidung Josefs wird auch im späteren Verlauf dieser Geschichte eine Rolle spielen. Wie die Brüder Josefs Rock von ihm rissen, riss Potifars Frau in ihrer Leidenschaft sein Kleid von ihm. Erneut wurde ihm ein Kleidungsstück zum Verhängnis. Zum Ende der Erzählung legte Josef jedem seiner Brüder ein Festgewand als Zeichen der Versöhnung an. Ist dies vielleicht eine Wiedergutmachung für die Ungerechtigkeit, die von seinem Vater durch den bunten Rock ausging? Womöglich könnte dies die späte Reue gewesen sein. Es bleibt dabei aber zu bedenken, dass Josef seinem jüngeren Bruder Benjamin fünf Gewänder gab (Gen 45,22). Doch schließt seine Großzügigkeit seine Reue nicht aus. An diesem Punkt erinnert die Erzählung viel mehr an das spätere Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen und dem liebenden Vater (Lk 15,11-32), welcher keinerlei Bedenken hat, großzügig zu sein (32).

2.2 Lebenslanges Lernen

In Josefs Geschichte ist sehr deutlich zu beobachten, dass er stets bereit war, sich weiterzuentwickeln oder weiterzubilden. Dies wird zwar nicht explizit erwähnt, ist dem Leser jedoch offenkundig, da Josef größere Entwicklungsstufen meisterte, wie wir im Detail noch sehen werden. Das wäre nicht gelungen ohne die Bereitschaft zur Veränderung. Diese Bereitschaft kennzeichnet die Phase der Vorbereitung. Wer will, dass seine Träume eines Tages in Erfüllung gehen, muss bereit sein, sich weiterzuentwickeln. Anderenfalls wird man den Aufstieg in die nächsthöhere Entwicklungsstufe nicht bewältigen können.

Wer sich im Leben eingerichtet hat, richtet nichts mehr aus. – Unbekannt

Ich habe dieses bekannte und verbreitete Zitat etwas abgeändert und ein „aus“ statt einem „an“ eingesetzt. So bringt es die vorhergehenden Gedanken etwas deutlicher zur Geltung. Menschen, die sich zur Ruhe gesetzt haben und sich mit dem Status quo zufriedengeben, erreichen im Leben nicht mehr sonderlich viel.

Es gibt eine beträchtliche Zahl an Pastorenkollegen, die diese schmerzhafte Erfahrung machen mussten. Wieso ist diese Erfahrung schmerzhaft? Das Leben ist im stetigen Fluss und die Umstände und Menschen in der eigenen Umgebung verändern sich. Führungspersönlichkeiten, die glauben, „es geschafft zu haben“, arbeiten nicht mehr an sich, weder an ihren Fähigkeiten noch an ihrer Bildung. Die Folge ist, dass sich andere Menschen von ihnen irgendwann nicht mehr führen lassen, denn sie erwecken nicht mehr den Eindruck, Menschen noch „zu neuen Ufern“ oder „in die Erkenntnis Christi“ führen zu können. Ihr Predigtstil bleibt derselbe, ebenso die theologischen Inhalte. Ihre Methoden und Werkzeuge scheinen erschöpft zu sein und mehr Gemeindeentwicklung wird von den Gemeindemitgliedern nicht mehr erwartet. Die Folge ist, dass besonders mutige und initiative Persönlichkeiten sich aus der Kirchengemeinde zurückziehen, während stetige Persönlichkeiten zurückbleiben, die ebenfalls am Bestehenden und Bekannten festhalten. In manchen Fällen sind auch die Beziehungen der Leiter zu ihren Mitmenschen erschöpft. Dies ist nichts Tragisches und kann in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit durchaus vorkommen, daher ist in vielen Kirchen auch ein regelmäßiger Stellenwechsel vorgeschrieben.

Wenn nun eine Kirchengemeinde sich derart entwickelt, ist ihr Abschwung in Gang gesetzt. Wenn es dem Leiter mit seinem Team nach einer Weile nicht gelingt, einen neuen Aufschwung zu schaffen, tritt das langsame Sterben der Kirchengemeinde ein. Dieser ist sehr schmerzhaft für alle Beteiligten, da immer mehr Mitarbeiter fehlen, die Arbeitslast auf Einzelne übertragen wird und den alten Zeiten nur noch nachgetrauert werden kann. Wenn der Leiter oder Pastor nicht vorher schon entlassen wurde, wird er häufig in dieser Phase verabschiedet, sei es von dem Kirchenvorstand oder einer übergeordneten Instanz. Manchmal gelingt dies größtenteils reibungslos, doch häufig wird er auch buchstäblich vom Hof gejagt.

Leider habe ich schon zahlreiche Persönlichkeiten erlebt, die selbst hier das Feld nicht geräumt haben und bis zur Auflösung ihrer Gemeinde in ihrer Position verharrten. Wenn dann die Gemeinde aufgelöst wurde, ist das Vertrauen in den Leiter vollends verlorengegangen und niemand möchte ihm noch einmal so richtig eine Leitungsverantwortung übertragen. Bei allen Beteiligten steht dann irgendwann die Warum-Frage im Raum. Woran hat es gelegen? „Womöglich war er nicht berufen oder er war nicht begabt genug.“ Diesen Gedanken werden wohl die meisten laut aussprechen. Meiner Erfahrung nach liegt es jedoch nicht unbedingt daran, sondern in sehr vielen Fällen einfach an der Tatsache, dass die betreffenden Leiter in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind. Aus meiner Sicht ist dies eine der größten Gefahren für Führungspersönlichkeiten.

Nach einem meiner Vorträge kam ein Leiter zu mir und teilte mir mit, dass er in meinem Vortrag nichts sonderlich Neues gehört habe. Generell höre er wenig Neues in Vorträgen. Ich musste ihm erklären, dass häufig das Wissen eines der größten Hindernisse für die persönliche Entwicklung ist. Besser gesagt ist es die Annahme, man würde viel wissen, aber das sagte ich ihm so nicht. Er fragte natürlich, was ich genau meine. Ich erklärte ihm, dass man bei Vorträgen nicht das Gehörte mit dem bereits Gehörten abgleichen, sondern sich die Frage stellen solle, ob man das Gehörte bereits anwendet oder umsetzt. Menschen, die glauben, bereits alles gehört zu haben, tendieren dazu, in ihrer Entwicklung stehen zu bleiben. Schließlich glauben sie ja, bereits unheimlich viel zu wissen, doch das Leben verändert sich in einer rasenden Geschwindigkeit. Was gestern noch als wahr galt, kann morgen schon überholt sein.

Die Phase der Vorbereitung sollte als Phase verstanden werden, in der man sich nicht nur vorübergehend befindet, sondern immerwährend. In manchen Lebensabschnitten kommt sie besonders zum Tragen, doch sollte die Offenheit für lebenslanges Lernen nie abnehmen. Der römische Philosoph Seneca hat uns folgendes Zitat über die Weisheit hinterlassen:

Wer Weisheit sucht, ist ein Weiser; wer glaubt, sie gefunden zu haben, ist ein Narr.

Ähnlich verhält es sich mit der persönlichen Entwicklung eines Menschen. Wer glaubt, dass sie abgeschlossen sei, der irrt sich gewaltig, denn das ist sie nie ganz.

In dem Kontext, aus dem ich stamme, wurde früher gerne das Alter als Ausrede bzw. Grund angeführt für jedes Unvermögen, Neues zu erlernen oder neue Herausforderungen anzugehen. Doch lehrt die Wissenschaft, dass die kognitiven Ressourcen komplex sind und nicht in ihrer Gesamtheit abnehmen.

In der Intelligenztheorie von Raymond Cattell wird die Intelligenz des Menschen in zwei Komponenten geteilt. Sie besteht zum einen aus der fluiden Mechanik (fluide Intelligenz) und zum anderen aus der kristallisierten Pragmatik (kristalline Intelligenz).

Die fluide Intelligenz umfasst die Grundfähigkeiten des Gehirns, wie z. B. logisches und analytisches Denken und grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung. Über sie sprechen wir, wenn wir von der Auffassungsgabe oder dem Auffassungstempo sprechen. In der folgenden Abbildung ist dargestellt, dass die fluide Intelligenz über die Dauer des Lebens ab dem mittleren Erwachsenenalter kontinuierlich zurückgeht. Das Lernen und das Denken brauchen mit zu­nehmen­dem Alter also theoretisch immer mehr Zeit.

Die kristalline Intelligenz hingegen umfasst das Wissen, welches sich der Mensch im Laufe des Lebens aneignet. Dazu gehört z. B. die erlernte Sprache, die Allgemeinbildung oder auch erlernte Fähigkeiten wie die berufliche Expertise. Anders als die fluide Intelligenz erfährt die kristalline Intelligenz keinen Rückgang im Laufe des Lebens. Sie kann bis in das hohe Alter stabil bleiben. Daher spricht man von ihr auch gerne als „Altersweisheit“. Sie nimmt mit neu erlerntem Wissen und den gemachten Erfahrungen weiterhin zu.

Abb. 3: Entwicklung der Intelligenz

Diese beiden Komponenten der Intelligenz dürfen nicht voneinander getrennt gesehen werden. Sie sind miteinander verwoben und üben gegenseitig Einfluss aufeinander aus. Das bedeutet, dass die Defizite, die sich im Alter in der fluiden Intelligenz bilden, durch die kristalline Intelligenz ausgeglichen werden können. Die kognitiven Fähigkeiten können also bis ins hohe Alter einen hohen Durchschnittswert behalten und der Mensch kann noch lange eine gute „Allgemein­intelligenz“ besitzen.

Natürlich muss ich hier auch erwähnen, dass das Gehirn nach dem neuesten Stand der Forschung wie ein Muskel trainiert werden kann. Man hat also selbst Einfluss darauf, in welchem Zustand die kognitiven Fähigkeiten im zunehmenden Alter bleiben. Dies zeigen mehrere Studien. Bereits in den 90er Jahren wurden die Gehirne eineiiger Zwillinge anhand von Messungen rekonstruiert. Man erwartete große Ähnlichkeiten. Jedoch musste man feststellen, dass sie sich wesentlich voneinander unterschieden, obwohl die Probanden als genetische Klone bezeichnet werden könnten und so ziemlich unter denselben Bedingungen heranwuchsen. Die Gründe für die Unterschiede mussten also nichtgenetischer Natur sein. Neuere Forschungen konnten diesen Schluss bestätigen und gegenwärtig gibt es einen wissenschaftlichen Konsens darüber, dass das Gehirn formbar bzw. „plastisch“ ist. Man spricht bei dieser anatomischen Formbarkeit daher von „Neuroplastizität“. Das Gehirn ist schlicht und einfach in der Lage, sich anzupassen. Es kann sogar wie ein Muskel an Masse zunehmen oder aber bei geringer Betätigung an Masse verlieren. Jedes Gehirn ist unterschiedlich und das macht jeden Menschen einzigartig. Doch viel wichtiger ist, sich vor Augen zu halten, dass das Gehirn nichts Statisches und Unveränderbares ist. Wie auch der Rest des Körpers kann es trainiert werden und zu höheren Leistungen gelangen.

Es gilt daher, sich lebenslang weiterzuentwickeln, damit man aktiv am Lebensgeschehen teilnehmen kann. Trotz Alterungsprozessen bleibt der eigene Habitus in der eigenen Hand und man kann das Beste aus ihm machen.

? Fragen zur persönlichen Reflexion

� Hast du dich auf dem Gebiet Bildung und Entwicklung zur Ruhe gesetzt?

� Was sind deine Argumente, warum du dich nicht mehr weiterentwickeln kannst?

� In welcher der fünf Phasen befindest du dich derzeit?

� Was hindert dich daran, in die nächste Phase zu ­gelangen?

 

3 Die Phase der Inspiration

3.1 Josefs Träume

Nun war Josefs Verhältnis zu seinen Brüdern bereits schwer unterkühlt, da berichtete er ihnen noch von seinen Träumen (Gen 37,6-10). Wohl jeder Leser wird sich die Frage stellen, was Josef dazu bewogen hat, den Brüdern von seinen Träumen zu erzählen. War er in diesem Moment einfach nur naiv oder unverschämt? Eine klare Antwort erfährt der Leser nicht. Dem Autor scheinen die Inhalte seiner Träume von größerer Bedeutung zu sein.

Im ersten Traum sah Josef sich und seine Brüder beim Garbenbinden. Josefs Garbe richtete sich auf und blieb inmitten der anderen Garben stehen, während diese sich vor Josefs Garbe verneigten. Die Bedeutung des Traumes war den Brüdern schnell klar: Der Traum symbolisierte Josefs Vorrang vor ihnen.

Der zweite Traum war eine Steigerung des ersten. In diesem sah Josef sich zwischen den Gestirnen und es verneigten sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm. Die Himmelskörper standen in diesem Traum für den Familienkosmos. Die Sonne repräsentierte das väterliche Familienoberhaupt. Der Mond stand für die Mutter und die Sterne für die Brüder, was ja schon aus deren Zahl sehr deutlich wurde, schließlich hatte er elf Brüder. Mit so viel Naivität oder Überheblichkeit hatte selbst der Vater Mühe und musste seinen Sohn fragen, ob er ernsthaft glaube, dass seine ganze Familie sich vor ihm niederwerfen würde. Doch tat Jakob diese Träume nicht als absurd ab, sondern „behielt diese Worte“ (Gen 37,11). Für Jakob waren Träume wie für viele seiner orientalischen Zeitgenossen nicht immer unbegründet. In Träumen sprach auch Gott zum Menschen.

Diese Träume brachten das Fass zum Überlaufen. Das ohnehin sehr unterkühlte Verhältnis von Josef zu seinen Brüdern schien nun ir­reparabel beschädigt zu sein. Gerade in dieser Situation schickte der Vater seinen Lieblingssohn alleine zu ihnen. Nachdem Josef von seinen Träumen berichtet hatte, hatten sich ihre Wege getrennt. Während Josef bei seinem Vater in Hebron blieb, zogen die Brüder mit den Tieren über 100 Kilometer weiter nach Sichem. Josef sollte dort nach ihrem Wohlbefinden sehen und machte sich auf den Weg (Gen 37,12-14). Diese Reise gibt dem Leser einige Bedenken auf. Was hat sich Jakob eigentlich dabei gedacht? Hatte er nicht ahnen können, dass das „Wohlbefinden“ seiner anderen Söhne wahrscheinlich durch den „Träumer“ enorm gestört werden würde? Ein Vater, der einen Sohn besonders liebt, sollte sich doch darüber im Klaren sein, dass er seinen Sohn durch solch eine Reise gefährdet.

Als Josef in Sichem ankam, konnte er seine Brüder anfangs nicht auffinden. Ein Fremder ging auf Josef zu, als er ihn umherirren sah (Gen 37,15-17). Dieser hatte von den Brüdern vernommen, dass sie 25 Kilometer nördlich nach Dotan ziehen wollten. Es ist auffällig, dass in dieser sonst so knappen Erzählung, die viele Details und Umstände unerwähnt lässt, dieser Fremde erwähnt wird, der Josef schließlich zu seinen Brüdern führte. Vielleicht soll damit angedeutet werden, dass Josef von Gott selbst zu seinen Brüdern geführt wurde.

Nachdem Josef schließlich seine Brüder fand, sahen sie ihn schon aus der Ferne in seinem Prinzenrock und planten, ihn kaltblütig zu ermorden. Womöglich hatten sie dabei auch den Hintergedanken, dass seine Träume nicht in Erfüllung gehen sollten (Gen 37,18-20). Wenn sie die Hauptfigur der Träume beseitigten, würden sich damit auch dessen Träume auflösen. Ruben würde dem Vater die Nachricht überbringen müssen, da er der Älteste war und damit auch derjenige, der wohl zuerst zur Rechenschaft gezogen werden würde. Er hatte deshalb wohl große Mühe mit den Plänen seiner jüngeren Brüder und versuchte, erst einmal Zeit zu gewinnen. Er schlug vor, Josef in eine Zisterne werfen, statt Blut zu vergießen. Wie man später auch bei Jeremia sieht, wurden Zisternen häufiger verwendet, um Gefangene einzusperren (Jer 37,16). Doch war Rubens eigentlicher Plan, Josef später zu befreien und wieder nach Hause zu bringen. Die Brüder jedenfalls ließen sich von dem Ältesten überzeugen. Sie ergriffen Josef, nahmen ihm seinen bunten Rock ab und warfen ihn in eine trockene Zisterne.

Nach ihrer Tat fanden sie sich wieder bei ihren Herden zum gemeinsamen Essen zusammen (Gen 37,25). Sie hielten Tischgemeinschaft miteinander, während ihr jüngerer Bruder nackt in der Zisterne hungern musste. Auch diese Handlung sprach eine klare Botschaft. Sie verweigerten ihm sowohl die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse nach Kleidung und Nahrung als auch die Tischgemeinschaft. Damit brachten sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass das Leben ihres jüngeren Bruders bedeutungslos für sie geworden war. Ein Ausbruch aus einer Zisterne war wegen der Bauweise undenkbar. Sie verjüngte sich an der Öffnung und wurde mit einem großen Stein verschlossen, was den eigenständigen Ausstieg unmöglich machte.

Dieser Verrat hat wahrscheinlich tiefe Einschnitte in Josefs Seele verursacht. Ich kann mir vorstellen, dass dies der schlimmste Moment seines bisherigen Lebens war. Womöglich konnten auch andere Lebewesen wie Schlangen in die Zisterne gelangen. Doch dieser Umstand wird vermutlich nicht der schmerzvollste gewesen sein. Viel mehr schmerzte der für ihn unerwartete Verrat seiner Brüder. Auch die Perspektive auf die eigene Zukunft ist in einer Zisterne ist alles andere als rosig. Doch auch in dieser Situation war Gott offenkundig bei ihm, denn dies wird im weiteren Verlauf der Geschichte deutlich.

Was sollte nun aus Josef werden? Bevor sich die Brüder diese Frage so richtig stellen konnten, war schon eine Lösung in Sicht. Von Weitem sahen sie eine Karawane auf sich zuziehen. Sie brachten verschiedene Güter nach Ägypten. Juda hatte schnell einen gewinnbringenden Einfall:

Was hilft‘s uns, dass wir unsern Bruder töten und sein Blut verbergen? Kommt, lasst uns ihn den Ismaelitern verkaufen, damit sich unsere Hände nicht an ihm vergreifen; denn er ist unser Bruder, unser Fleisch und Blut. – Genesis 37,26f.

Der Einfall erschien den Brüdern als sinnvoll, doch bevor sie Josef aus der Zisterne ziehen konnten, waren schon midianitische Kaufleute vor ihnen da und verkauften Josef an die ismaelitische Karawane (Gen 37,28-31). Ruben, der ja das Ziel verfolgte, Josef unbeschadet wieder zu seinem Vater zu bringen, eilte als erster zur Grube, konnte Josef dort aber nicht finden. Seine Bestürzung war groß. Weder Judas noch Rubens Plan ging auf. Nun war Josef vermisst. Eine plausible Antwort für sein Verschwinden, die sie ihrem Vater geben konnten, musste her. Sie erinnerten sich wohl an ihre erste Idee, dem Vater zu erzählen, dass ein wildes Tier ihn gefressen haben musste (Gen 37,20). So schlachteten sie einen Ziegenbock und bestrichen Josefs Rock mit dessen Blut. Der Rock, welcher zuvor Gegenstand des Konflikts von Josef mit seinen Brüdern war, sollte nun als falsches Beweismittel den Vater täuschen. Sie ließen ihn schließlich zu ihrem Vater bringen (Gen 37,32-35). Als Jakob das Kleidungsstück sah, war er tief bestürzt, denn er nahm an, dass Josef von einem wilden Tier getötet worden war, genau so wie es die Brüder erwartet hatten. Alle Tröstungsversuche der Familie halfen Jakob nicht. Er glaubte, dass er sich von diesem Vorfall nicht mehr erholen und sein Leben einst in Trauer beenden würde.

3.2 Aufbruch in eine neue Welt

Was für Josef zuerst wie ein Aufstieg zur Spitze der Familie oder zu einer besonderen Erfahrung der Selbstverwirklichung aussah, erwies sich schließlich als sehr tiefer Fall. Begeistert von Gottes Zusagen schaufelte sich der junge Josef sein eigenes Grab. So schien es zumindest kurze Zeit nach seinen Träumen und so dachten die Brüder, nachdem er in die Fremde verkauft worden war. Für sie war Josef mitsamt seinen Träumen gestorben. Doch nicht für Gott, wie wir noch sehen werden.

Solch schmerzhafte Erfahrungen, wie Josef sie machen musste, gehören leider zum Leben dazu. Aber diese Erfahrungen müssen nicht schmerzhaft bleiben, denn sie machen stabiler, nachdem sie überwunden wurden. Im Rückblick zeigen sie auch auf, dass Gott auf dem eigenen Lebensweg etwas zu sagen hat und Gelingen schenken kann, wenn man es zulässt.

Leider ist nach einer solchen Erfahrung nicht ausgeschlossen, dass man erneut verraten wird. So wie Josef hat jeder Menschen im Leben, die sich im übertragenen Sinn wie seine Brüder verhalten. Gleichzeitig steht man aber auch in der Gefahr, selbst solch ein Bruder für jemanden zu sein. Beides ist nichts Gutes. Diese Lektion kann man für sich aus der Josefsgeschichte ziehen.

Diese erste Lebensphase Josefs, von der uns berichtet wird, ist für mich charakteristisch für die zweite Entwicklungsphase einer Persönlichkeit, die Gottes Pläne für ihr Leben erahnt oder erkannt hat. Ich nenne diesen Entwicklungsabschnitt die Phase der Begeisterung oder der Inspiration. Sie ist eine kreative Phase, in der man Menschen braucht, die an einen glauben und einen begleiten, damit es nicht beim Träumen bleibt und auch zum Handeln kommt. Denn die Zusagen Gottes kommen selten ohne das eigene Handeln zur Erfüllung.

In dieser Phase stellen andere die auffällige Begeisterung häufig mit Unreife gleich. Man muss sich Weisheiten anhören wie „Du wirst schon ruhiger werden, wenn du reifer geworden bist!“; „Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“; „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ oder „Träume sind Schäume!“ Solche Aussagen sind selten konstruktiv und hilfreich, werden aber dennoch immer gemacht werden.

Die Pläne, die man für sein Leben schmiedet, müssen realistisch sein, Träume dagegen müssen das nicht. Genau dies haben die Brüder Josefs nicht verstanden. Josef hat leider im Umgang mit seinen Brüdern einige Fehler gemacht. Auf der vertikalen Ebene zu Gott hin darf ein Mensch groß denken und träumen. Dies gilt aber nicht für die horizontale und menschliche Ebene. Die Träume Josefs waren an sich etwas sehr Positives, doch Josefs Umgang mit ihnen in der ohnehin angespannten Situation war unklug.