Von Vampiren, Kriegern und Dieben - Heike Möller - E-Book

Von Vampiren, Kriegern und Dieben E-Book

Heike Möller

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Beschreibung

Was passiert, wenn ein Vampir von seiner Vergangenheit eingeholt wird und gleichzeitig einer unbekannten Zukunft gegenübersteht? Tristan Kadian ist in der weltweit verstreuten Gemeinschaft der Vampire ein wichtiges Mitglied. Dann überrascht er eines Nachts eine Diebin in seinem Haus. Da Leilani Jungfrau ist und Tristan beinahe von Blutgier übermannt wird, ist ihm schnell klar, dass mehr hinter dem missglückten Einbruch stecken muss. Entgegen jeder Vernunft nimmt er Kontakt zu der jungen Frau auf und überzeugt sie, dass sie nur gemeinsam das Rätsel lösen können. Tristan ist es gewohnt, selbst die Initiative zu ergreifen und sich dabei selten Hilfe zu holen. Doch Leilani lässt sich von dem Krieger nicht einschüchtern. Was werden die beiden auf dem gemeinsamen Abenteuer herausfinden?

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Heike Möller

Von Vampiren, Kriegern und Dieben

Teil 1

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

Kapitel 1: Sündenfall

Kapitel 2: „Wir machen uns Sorgen!“

Kapitel 3: „Du hast dich wohl in der Tür geirrt!“

Kapitel 4: „Hat Darius dich geschickt?“

Kapitel 5: Lasst Blumen sprechen

Kapitel 6: Umgedrehter Spieß

Kapitel 7: Zerstörungswut

Kapitel 8: Neubeginn

Kapitel 9: Verwöhnprogramm

Kapitel 10: Noch ein neuer Auftrag

Kapitel 11: Kalte Duschen und erste Pläne

Kapitel 12: Barocke Modealbträume

Kapitel 13: Überschrittene Grenzen

Kapitel 14: Maskerade

Kapitel 15: Maskenball

Kapitel 16: Tatortbegehung

Kapitel 17: Verklemmtheit

Kapitel 18: Eine ungewöhnliche Bitte

Kapitel 19: In die Enge getrieben

Kapitel 20: Flucht

Kapitel 21: „Er braucht dich!“

Kapitel 22: Auf Tuchfühlung

Kapitel 23: Bittere Wahrheit

Kapitel 24: Zeit für Zärtlichkeit

Ende Teil 1

Impressum neobooks

PROLOG

Von Vampiren, Kriegern und Dieben

(Teil 1)

von Heike Möller

Der Dieb sah sich unauffällig um.

Am Wasser standen einige Familien und einzelne ältere Menschen, die die Enten, Schwäne und Fische fütterten.

Auf dem kleinen Wiesenstück spielte ein Vater mit seinem etwa zehnjährigen Sohn Frisbee. Der Junge war athletisch, bekam beinahe jeden Wurf seines Vaters und warf die Scheibe kräftig und gezielt zurück.

Eine Frau saß auf einer Bank und war in einem Buch vertieft. Zwischendurch nippte sie an einem Kaffeegetränk aus einem Coffeeshop.

Zwei Männer joggten an dem Dieb vorbei, ignorierten ihn aber völlig.

Der Dieb machte seine Dehnübungen am Baumstamm der alten Eiche und lächelte in sich hinein.

>Anonymität. Das liebe ich an der Großstadt. Niemand kümmert sich. Keiner ist interessiert. <

Der Dieb bückte sich, als ob er seinen Schuh zubinden wollte. Dabei schob er den kopfgroßen Stein, der neben den Wurzeln der Eiche lag, schnell beiseite und nahm den in Folie gewickelten Umschlag aus dem Loch. Schnell legte der Dieb den Stein wieder auf das Loch und steckte sich den DIN A5-großen Umschlag in seine Joggingjacke. Der Dieb stand auf, machte noch ein paar Dehnübungen und joggte dann weiter.

Der Dieb machte einen Umweg, um nach Hause zu laufen. Dabei hielt er an einem Kiosk, kaufte sich eine Flasche Wasser. Vor dem Laden trank er mehrere kleine Schlucke, sah sich dabei wieder um.

Niemand war ihm gefolgt.

Zufrieden mit sich und der Welt lief der Dieb in leichtem Lauf nach Hause. Sorgfältig verschloss er die Tür hinter sich, zog den Umschlag aus der Jacke und warf ihn auf das Sofa.

>Erst einmal duschen. <

Der Dieb streifte sich seine Schuhe von den Füßen und war schnell ausgezogen. Ordentlich hängte er die Sachen auf einem Bügel und über den Wäscheständer zum lüften. Dann ging er unter die Dusche.

Das Wasser prasselte eiskalt auf seiner Haut, aber das mochte der Dieb. Es erfrischte ihn, verhalf ihm zu klaren Gedanken. Nach wenigen Minuten drehte er das Wasser aber warm und seifte sich gründlich ein. Die kurzen, dunkelbraunen Haare waren schnell gewaschen und er spülte das Shampoo von seinem Kopf und den Schaum von seinem Körper.

Mit einem befriedigenden Gefühl von Sauberkeit und Frische stieg der Dieb aus der Dusche und trocknete sich sorgfältig ab, schlüpfte in den weißen, weichen Bademan­tel. Aus dem Kühlschrank holte er sich den Tee, den er gestern Abend aufgebrüht und abgekühlt hineingestellt hatte. Als er sich den Tee in ein Glas goss, fielen auch zwei Minzblätter in das Glas, mit denen der Dieb seinen Eistee immer etwas würzte.

Eine zufriedenen Laut von sich gebend setzte der Dieb sich auf sein Sofa und trank einen Schluck von dem Tee. Ein Blatt rutschte in seinen Mund und er kaute langsam darauf herum, während er den Umschlag in die Hand nahm und ihn öffnete.

Der Auftrag.

Eine Adresse.

Eine Skizze der Örtlichkeiten, wo was zu finden war.

Die bestmögliche Zeit.

Eine Kontakthandynummer.

Der Dieb nahm eines seiner Wegwerfhandy, das er nur für diesen Zweck gekauft hatte. Er wusste nicht, wer seine Auftraggeber waren und so sollte es bleiben. Und seine Auftraggeber kannten ihn nicht.

Das Freizeichen ertönte.

„Ja?“ Die Stimme am anderen Ende war kalt, distanziert.

Der Dieb hatte diese Stimme schon öfter gehört. Bisher sechsmal hatte er für den Kunden Aufträge erledigt. Und immer waren die Informationen über das Was, Wo und Wann korrekt gewesen.

„Ich nehme den Auftrag an“, sagte der Dieb. „Das Zeitfenster ist zwar eng, aber machbar.“

„Gut. Ich überweise Ihnen die übliche Summe vorab. Wenn Sie Ihren Auftrag erledigt haben, kontaktieren Sie mich erneut.“

„Natürlich.“

Kapitel 1: Sündenfall

Es war eine klare Winternacht.

Die Sterne und auch weit entfernte Galaxien waren deutlich am Nachthimmel erkennbar, ebenso das Band der Milchstraße. Obwohl weit und breit kein künstliches Licht war, war es durch die dicke und weiße Schneedecke nicht wirklich dunkel.

Nicht für Vampiraugen.

Er sah, wie sich die Frau im Schnee liegend räkelte.

Nackt.

Die kalte Luft um ihren erhitzten Körper waberte regelrecht, bildete merkwürdige Wirbel und Muster. Das Licht der Sterne tauchte den Körper der Frau zusätzlich in ein unwirkliches Licht.

„Du bist wunderschön“, flüsterte er ergriffen und sank zwischen ihre Beine auf seine Knie. Er versuchte das Gesicht der Frau zu erkennen, aber da war nichts. Nur eine milchig-weiße Fläche. Keine Konturen, keine Augen, kein Mund.

Und doch küsste er die Stelle, wo ein Mund sein sollte und er spürte Lippen, die sich sehnsuchtsvoll mit seinen verbanden. Sein starker, warmer Körper legte sich auf die Frau, verband sich mit ihm, schmolz mit ihm zusammen.

Zähne, so lang und scharf wie seine eigenen, bohrten sich lustvoll in seinen Hals.

Tristan Kadian schrie auf, riss die Augen auf.

„Mon Dieu!“, flüsterte er und sank in das Kissen zurück. Mit zitternder Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Aus einem völlig irrationalem Grund tastete er an seinem Hals entlang, aber da war alles in Ordnung. Keine Bisswunde, kein Blut.

„Ich habe es offensichtlich wirklich nötig“, stöhnte er leise und schlug die Bettdecke zurück. Sein Penis begrüßte ihn mit einem freundlichen `Hallo!´, so steif war er.

„Wie ich sehe, bist du schon wieder einsatzbereit.“

Tristan sah die Frau neben sich irritiert an, dann lächelte er. „Mein Schwanz ist es, ich leider nicht, Ariane.“

Die Frau gab einen kleinen Seufzer von sich. „Schade. Du bist ein wirklich fan­tastischer Liebhaber und ich kann nicht genug von dir bekommen.“ Sie strich ihm aufreizend über die Muskeln an seiner Leiste. Tristan grinste jetzt breit. „Plusieurs remercie, mon ange!“ (Vielen Dank, mein Engel)

Er stand auf und gab der Frau einen kleinen Klaps auf den nackten Hintern. „Tut mir leid, dass ich danach eingeschlafen bin. Die letzten Wochen waren ein wenig an­strengend.“

Ariane schüttelte ihre platinblonde Mähne. „Ich bin dir nicht böse, Christian.“

Tristan lächelte in sich hinein. Er hatte sich der Prostituierten als Christian vorgestellt und sie sich ihm als Ariane. Beide wussten, dass die Namen falsch waren, aber das war egal. Für Ariane war Christian ein sehr gut zahlender Kunde, der sie außerdem immer höflich und mit Respekt behandelte. Bei ihm hatte sie nie das Gefühl, eine schlechte Frau zu sein.

„Du bist seit langem der erste Mann, der mich nicht wie ein Hure behandelt, auch wenn ich eine bin. Da kannst du bei mir einschlafen, so oft und lange, wie du willst.“

Tristan sah Ariane nachdenklich an. „Warum tust das überhaupt?“, fragte er leise. „Du bist eine herzensgute Frau, hübsch und intelligent. Du hast ein besseres Leben verdient.“

Ariane sah ihn merkwürdig an. „Das Leben ist leider nicht immer nur Schwarz und Weiß, Christian. Ich habe Jura studiert, war kurz vor meinem Examen. Doch dann geriet ich in eine Schuldenfalle. Eigene Schuld, übrigens. Ich kann niemanden außer mir selbst einen Vorwurf machen. Also musste ich zusehen, wie ich die Schulden loswerden würde. Prostitution ist ein einträgliches Geschäft, wenn man es … sagen wir, wenn man es schlau anstellt.“

Tristan lächelte. „Du hast einen guten Kundenstamm, hoffe ich?“

Sie zuckte die Schultern. „Es reicht zum Leben. Meine Schulden bin ich seit einem Jahr los.“

Tristan zog sich an, grübelte ein wenig dabei. Dann setzte er sich auf das Bett, nahm Arianes Kinn in seine Hand. Forschend sah er in die graugrünen Augen der Frau. „Noch kannst du aufhören und von vorn anfangen. Zieh´ in eine andere Stadt, benutze deinen richtigen Namen und arbeite als Anwältin. Ich habe Kontakte, könnte dir für die Jahre eine glaubwürdige Geschichte geben. Du musst nur etwas sagen.“

Ariane sah Tristan mit großen Augen an. „Warum willst du das tun?“

Tristan zuckte mit den Schultern. „Versteh´ mich nicht falsch. Ich bin nicht in dich verliebt. Aber ich mag dich. Und ich schätze den Beruf einer Prostituierten. Huren und auch Lustknaben haben im Laufe der Geschichte viel Unrecht erfahren. Dabei war dieser Berufszweig bei manchen antiken Völkern etwas hoch Angesehenes. Ich verurteile niemanden, der diesen Weg einschlägt. Im Gegenteil, ich habe Hoch­achtung vor Frauen wie dich.“

Ariane schluckte. Tränen wollten sich ihren Weg bahnen, aber sie würgte sie runter. Schon lange weinte sie nicht mehr. „Wieso?“

„Weil ich mir vorstellen kann, dass es manchmal extrem demütigend sein muss, sich hinzugeben, wenn man den Sexualpartner zutiefst verabscheut.“

Ariane vergaß zu atmen. Rasch wendete sie sich von Tristan ab, verbarg ihre Tränen. Sie hörte, wie er aus seiner Geldbörse ein paar Scheine zog und sie auf den Nacht­tisch legte. „Überlege es dir, Ariane. Das Angebot steht und bleibt bestehen. Ich würde es zwar aus egoistischen Motiven bedauern, aber ich würde mich auch für dich freuen, wenn du die Chance ergreifen würdest.“

Sie hörte, wie er zu der Tür ging, sie öffnete und hinausging. Leise zog er die Tür hinter sich zu.

Ariane schluchzte, zwang sich zur inneren Ruhe. Dann drehte sie sich um und sah auf den Nachttisch. Christian war immer ein großzügiger Kunde, der mehr als den übli­chen Preis zahlte. Und er befriedigte sich nicht nur selbst an ihr, sondern auch sie, was kaum ein anderer Kunde tat.

Sie starrte ungläubig auf das Geldbündel. „Meine Güte. Hat er im Lotto gewonnen?“

Auf dem Nachttisch lagen vier 500 Euro-Scheine. Auf dem obersten Schein war in einer wunderschönen, klaren Handschrift eine Handynummer notiert. Und der Zusatz: `Ruf´ an, wenn du meine Hilfe willst! ´.

Ariane zitterte, als sie die Geldscheine an ihre Brust drückte.

Tristan verließ das Stundenhotel und schlug den Weg zu dem Parkplatz ein paar Straßen weiter ein, wo sein Jaguar stand. Nachdenklich drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an.

„Hey, schöner Mann!“ Die Prostituierte, die sich ihm in den Weg stellte, hatte ein extrem tief geschnittenes Dekolleté und sehr hohe Pumps. Die Haare wirkten ungepflegt. Tristan erkannte sofort am Geruch der Frau, dass sie ernsthaft krank war, aber es auch mit der Hygiene nicht besonders hielt.

>Diese Art von Prostituierten mag ich nicht besonders. Trotzdem, bleib´ höflich! <

„Danke, Teuerste. Aber ich hatte gerade mein Vergnügen und bin voll auf meine Kosten gekommen“, sagte er lächelnd und ging weiter.

Und das stimmte.

Ein paar Wochen nach Rowenas Verschwinden mit Erik hatte Tristan genug vom Trübsal blasen und ging öfter aus. Am Anfang suchte er sich seine amourösen Abenteuer in Clubs und Diskotheken, nährte sich dabei auch gelegentlich. Aber die meisten Frauen waren einfallslos oder himmelten ihn gleich verliebt an. Und das wollte er nicht.

Eines Abends schlenderte er durch eine Seitenstraße am Ku´Damm und entdeckte Ariane. Sie fiel ihm sofort auf, weil sie im Gegensatz zu den anderen Nutten Stil hatte. Ihre Kleidung war nicht billig, weder im Aussehen noch von der Preisklasse her. Ihre Haltung drückte Stolz und Selbstbewusstsein aus. Und sie warf sich nicht mit den üblichen Sprüchen an den Mann, wortwörtlich.

Tristan hatte sie gefragt, ob sie sich auf ein Schäferstündchen mit ihm einlassen wolle. Ariane fand es bezaubernd, dass seine erste Frage nicht gleich der Preis war, sondern dass er es ihr überlassen wollte, zu wählen. Er las die Frau, während sie ihn kurz von oben bis unten musterte. Aber es war schwierig, sie hatte natürliche Barrieren und so konnte er nur an der Oberfläche ihrer Gedanken kratzen.

„Keine sadistischen Spiele“, sagte sie und sah ihm in die Augen.

„Abgemacht. Nur klassischer, altmodischer Sex“, hatte er gesagt.

Sie hatte ihn auf ihr Zimmer in dem Stundenhotel mitgenommen. Sie hatte das Zimmer fest gemietet und sorgte dafür, dass es immer sauber und ordentlich war. Noch etwas, was für diese Frau sprach. Beim ersten Mal spürte er ihre Nervosität, aber durch seine zärtliche und zuvorkommende Art mit ihr umzugehen, lockerte er sie schnell und sie genossen beide die Stunde. Nicht nur er war befriedigt, ihre Schreie bewiesen ihm, dass auch sie befriedigt worden war.

Lächelnd zog Tristan ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf den Rest weg. Er wollte gerade seinen Schlüssel in das Schloss seines Jaguars stecken als er merkte, dass er nicht allein war. Gewarnt schnupperte er in der Luft, ließ seine Sinne gleiten. Dann drehte er sich um.

Vor ihm standen drei Männer. In der Mitte ein untersetzter schmieriger Kerl mit einer dicken Schicht Pomade im Haar. Das Hemd stand weit offen und ließ den Brustteppich und die Vielzahl an Goldketten blitzen. Neben ihm standen zwei Body­guards, so breit wie hoch.

>Dumm und Dümmer mit ihrem Luden. Super. Vielleicht sollte ich dem Kerl sagen, dass die gegelte Mode nicht mehr In ist. <

„Kann ich was für die Herren tun?“, fragte er stattdessen freundlich.

„Dein Auto gefällt mir“, sagte der Untersetzte.

„Wirklich? So ein Zufall. Mir auch.“ Tristan war nicht so dumm, die Situation falsch einzuschätzen. Diese Männer waren es gewohnt, sich zu nehmen, was ihnen gefiel.

„Gib´ es mir.“ Der Untersetzte bleckte ein wenig die gelben Zähne.

Tristan glotzte ihn an, verkniff sich gerade so ein Lächeln. „Wie meinen?“

„Ich will dein Auto. Hast du das nicht verstanden?“ Der Untersetzte ging einen kleinen Schritt zurück und die beiden Leibwächter traten einen halben Schritt nach vorn.

>Na großartig. Eine kleine Sparringrunde. Genau das, was ich jetzt brauche! <, dachte Tristan ironisch. Er hatte eigentlich keine Lust, sich zu prügeln. Aber wenn es nicht anders ging, würde es eben so sein.

„Tja. Mach´ mir ein vernünftiges Angebot.“

Der Untersetzte sah Tristan mit einem verblödeten Ausdruck an. „Angebot? Okay. Hier ist mein Angebot. Meine Jungs werden dir kein Haar krümmen und ich gebe dir sogar Geld für ein Taxi. Was sagst du?“

Tristan schnalzte mit der Zunge. „Ach, ich weiß nicht, mon ami. Ist mir irgendwie zu dürftig.“

Der Untersetzte glotzte Tristan an, als ob dieser chinesisch sprach. „Du hast mich offensichtlich nicht richtig verstanden. Meine Jungs werden dir deine hübsche Fresse polieren. Danach wird dich nie wieder eine Frau auch nur ansehen wollen.“

Tristan ließ den Autoschlüssel in seine Hosentasche gleiten, kreuzte seine Arme und lehnte sich gegen sein Auto. „Zu deiner Information, mon ami. Ich habe eine sehr gute Heilhaut. Es werden keine Narben zurückbleiben. Und außerdem glaube ich nicht, dass deine Männer es schaffen, mich zu überwältigen. Ich mache dir jetzt ein Angebot, in Ordnung?“

Der Untersetzte blinzelte irritiert. Dem großen Blonden schien der Ernst der Situation nicht bewusst zu sein. „Lass hören.“

„Du und deine Männer gehen einfach und tut, was ihr eben so tut. Es interessiert mich nicht. Ansonsten werde ich dem einen eine Kniescheibe zertrümmern, dem anderen einen Milzriss bescheren und dir deine Nase brechen. Was hältst du von meinem Angebot?“

Der Untersetzte starrte Tristan mit offenen Mund an. Dieser große, schlanke Mann mit den kurzen, modisch geschnittenen blonden Haaren hätte ein Model aus irgend­einer Zeitschrift sein können. Perfekte Körperhaltung, guter Körperbau und ein aus­nehmend hübsches, ja asketisch schönes Gesicht. Ebenmäßige Gesichtszüge, eine schmale Nase und leicht schräg stehende, grünbraune Augen, die jetzt dunkelgrün leuchteten. Die Unterlippe war stärker ausgeprägt als die Oberlippe, hatte einen sinnlichen Schwung.

Und um die Mundwinkel hatte sich entschlossener, grausamer Zug gelegt.

„Schnappt ihn euch, Männer“, sagte der Untersetzte.

Tristan seufzte. Der erste Leibwächter holte aus und hieb seine riesige Faust in Richtung Tristans Gesicht. Der wich mit einer Behändigkeit und Schnelligkeit aus, sodass der Angreifer gegen den Jaguar prallte. Tristan trat gezielt auf die Kniescheibe des Mannes, setzte alle Kraft in diesen Tritt. Es krachte fürchterlich, als die Knochen brachen und das Knie in einem unnatürlichen Winkel weg knickte. Aufheulend brach der Mann zusammen, blieb jammernd auf der Straße liegen.

Der zweite Leibwächter stapfte auf Tristan zu und teilte Boxhiebe aus. Tristan wehrte sie geschickt ab, steckte aber einen Hieb in der Niere ein. Er hatte genug und rammte seine Faust in den Bauch des Mannes, genau da, wo sich die Milz befand.

Der Mann japste nach Luft, wurde grün im Gesicht und brach ebenfalls zusammen.

Ruhig ging Tristan nun auf den untersetzten Mann zu. Der sah sich hektisch um. Einige Prostituierte hatten den kleinen Kampf mitbekommen, ebenso deren Freier. Sie bildeten in gebührenden Abstand einen kleinen Kreis um Tristan und seine Angreifer.

„So, mein Freund. Und jetzt bekommst du noch eine blutige Nase. Wie versprochen.“ Tristan setzte einen kurzen, nicht allzu heftigen Hieb an und brach dem Mann die Nase. Sofort sprudelte Blut aus dem malträtierten Gesichtsteil hervor und der Mann schrie, als wäre er abgestochen worden.

„Ach komm schon! So schlimm ist das auch nicht. Daran stirbst du schon nicht. Allerdings, …“ Tristan legte in einer falsch-freundlichen Geste den Arm um die Schulter des Mannes. „... wenn ich hören sollte, dass du aus lauter Frust über unseren kleinen Disput eines oder mehrere deiner Pferdchen schlecht behandelst – und glaube mir, ich bekomme so etwas heraus -, dann komme ich wieder. Und dann ist es nicht die Nase, die ich dir brechen werde. Hast du mich verstanden?“

Der Mann wimmerte, antwortete aber nicht.

Tristan seufzte und erhöhte den Druck seiner Umarmung. Die Schulter des Mannes wurde gequetscht, und das tat scheußlich weh.

„Ich fragte, ob du mich verstanden hast?“, wiederholte Tristan leise.

„Ja! Ich habe dich verstanden!“, jaulte der Mann.

„Guter Mann. Und ich rate dir, mich ernst zu nehmen. Ich habe vor langer, sehr langer Zeit aufgehört, Witze zu machen.“

Tristan sah den Mann direkt ins Gesicht und ließ seine Augen schwarz werden. Selbst das Weiß seiner Augen verschwand. Dann hob er seine Oberlippe ein klein wenig an. Nur ein bisschen.

Spitze Eckzähne blitzten hervor.

Kapitel 2: „Wir machen uns Sorgen!“

„Seit vier Monaten ist absolut Ruhe im Karton, Tristan.“

Tristan Kadian saß in seiner Prunkvilla in seinem Arbeitszimmer und hatte eine Videoschaltung mit Benjamin van Güldensteen zu laufen. Der Flame, der zurzeit im Ruhrgebiet lebte und dort als Polizist arbeitete, hatte im Herbst letzten Jahres vom Konzil den Auftrag bekommen, seine Kontakte spielen zu lassen und Erkundigungen über die `Krieger des reinen Glaubens´ einzuholen. Diese religiösen Fanatiker hatten sogenannte Legionäre verpflichtet, die Jagd auf Vampire und deren Helfer machten. Ein ausgebildeter Legionär hatte auf dem linken Unterarm auf der Innenseite ein koptisches Kreuz tätowiert.

Tristan selbst hatte nach jahrhundertelanger Feindseligkeiten mit van Güldensteen Frieden mit dem Flamen geschlossen. Es war ihm bewusstgeworden, wie hohl und sinnlos eine Fehde war, deren Anfänge Ewigkeiten zurücklag und deren Beteiligte und Gründe längst zu Staub und Asche zerfallen waren.

Außerdem war van Güldensteen nützlich für das Konzil. Seit über 200 Jahren arbeitete er nun in den verschiedensten Organisationen und Ländern als Polizist, hatte sowohl die klassischen als auch die modernsten Vorgehensweisen diverser Polizei­ermittlungen für sich nutzen können. Und darüber hinaus hatte der Flame Kontakte. Wichtige und extrem nützliche Kontakte, überall in der Welt.

Zwar ärgerte Tristan die manchmal eher flapsige Art des Mannes, aber er musste sich auch eingestehen, dass Benjamin effektiv und erfolgreich war.

„Seit vier Monaten haben die keinen mehr von uns erwischt? Das ist ungewöhnlich.“ Tristan hatte sich in seinem Ledersessel zurückgelehnt, ein Bein über das andere geschlagen und den Kopf in seiner rechten Hand am Kinn gestützt. Grübelnd sah er auf den Monitor, wo er mit Benjamin von Angesicht zu Angesicht konferierte.

„Ja. Aber bitte keine Entwarnung. Ich bin sicher, dass ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Da braut sich was zusammen.“ Die eisblauen Augen des flämischen Riesen mit dem geflochtenen Kinnbärtchen blitzten unheilvoll.

„Ich hasse es, das zu sagen, aber ich gebe dir Recht, Ben.“

Vor einem Jahr hätte Tristan sich eher die Zunge abgeschnitten, als dem Mann Recht zu geben, auch wenn er Recht hatte.

„Meine Kontakte und ich halten Augen und Ohren offen. Vielleicht solltest du im Konzil anregen, dass man weltweit unsere Leute in eine Art Alarmbereitschaft versetzen sollte. Nur so ‘n Gedanke.“

Tristan nickte. „Es liegen schon Pläne vor. Ich werde es nachher zur Sprache bringen, wenn ich mit dem Triumvirat Kontakt aufnehme.“

„Gut.“ Benjamin nickte, schien aber noch etwas sagen zu wollen.

„Was ist los, Ben? Hast du noch irgendwas?“

„Na ja. Ist ´ne persönliche Frage. Und ich weiß nicht, ob wir schon so weit mit unserer Kommunikation sind, dass ich sie dir stellen kann.“

Überrascht sah Tristan den Flamen an. „Ähm …, na ja, versuch´s. Ich kann ja immer noch sagen, dass es dich nichts angeht.“

„Abgemacht. Hat deine Frisur etwas mit Rowenas Verschwinden zu tun?“

Tristan klappte der Unterkiefer runter. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Sein Herz setzte für drei oder vier Sekunden aus und er hielt die Luft an. Dann ließ er geräuschvoll die Luft hinaus.

Natürlich war es Benjamin van Güldensteen aufgefallen, dass Kadian, der seit Jahr­hunderten schulter- oder rückenlanges Haar trug, plötzlich eine dem 21. Jahrhundert modisch angepasste Kurzhaarfrisur trug. Tristan pustete etwas.

„Ja. Ich denke, dass es das hat. Nicht bewusst.“ Er hätte es verleugnen können, aber sein Gesprächspartner war ja nicht blöd.

Benjamin nickte. „Du machst dir Sorgen um sie, nicht wahr?“ Das vernarbte Gesicht des Mannes drückte ein leichtes Mitgefühl aus.

„Irgendwie schon. Aber Erik ist bei ihr. Und so ungern ich es zugebe, der Typ achtet mit seinem Leben auf sie und tut ihr gut. Trotzdem …“

„Ja. Ich kann nachempfinden, was du fühlst, was du durchmachst.“

Tristan legte den Kopf schief. „Hätte ich gewusst, dass du der Mann von Rowenas Ziehtochter warst, hätten wir unseren Streit schon vor Jahrhunderten beilegen können.“

Ben zog seine Schultern hoch. „Hätte. Wenn. Wäre. War aber nicht. Aber wir haben jetzt ein Ist. Und ich finde es ganz okay.“

Tristan lächelte etwas. „Qui. Es ist nie zu spät für Frieden.“

Benjamin seufzte etwas. „Ich denke, wir machen für heute Schluss, bevor wir hier noch völlig ins Rührselige abdriften, Kadian.“

Tristan lachte leise. Er stellte sich den 2,05 Meter großen und massigen Riesen vor, wie er mit einem zarten, weißen Spitzentaschentuch seine Tränen trocknete. Die Vorstellung nahm irgendwie Gestalt an und Tristan musste sich sehr beherrschen, nicht laut loszulachen.

„Ach, Tristan, noch was.“

„Ja, Ben?“

„Falls du mal Hilfe brauchst, egal, um was es geht, ruf mich. Ich meine es ernst.“

Tristan legte zwei Finger an seine Schläfe und schickte seinem früheren Kontra­henten einen halb militärischen Gruß. „Wird gemacht, Goldie.“

Benjamin zog indigniert eine Braue hoch, wollte etwas sagen, aber da Tristan die Verbindung unterbrach würde er nie erfahren, was Benjamins Antwort gewesen war.

>Ich brauche einen Kaffee! <

Tristan stand auf, schnappte sich seine leere Kaffeetasse und ging in die große, modern eingerichtete Küche. Luisa, seine Haushälterin, machte gerade ein gemüse­reiches Mittagessen und würzte es ordentlich. Tristan mochte es ein wenig schärfer, vor allem die orientalischen Gewürze und Gewürzmischungen hatten es ihm angetan.

„Noch eine halbe Stunde, Herr Kadian“, flötete die ältere Dame und lächelte ihn an.

Tristan grinste. „Was würde ich nur ohne Sie tun, ma perle (meine Perle). Sie verwöhnen mich.“ Er stellte die Tasse unter den Kaffeeautomaten und drückte die Taste für einen Cafe au Lait.

Es klingelte an der Haustür und Luisa eilte hinaus um nachzusehen, wer an der Tür war. Bevor sie die Haustür öffnete wusste Tristan bereits, wer der unverhoffte Be­sucher war und lächelte etwas.

>Ist das wieder ein Kontrollbesuch, ob alles mit mir in Ordnung ist, Tobi? <

>Arschloch! <, bekam er als Antwort.

Tristan lachte leise, nahm eine saubere Tasse aus dem Küchenschrank und machte für Tobias Kerner einen Cappuccino.

„Herr Kerner ist hier“, sagte Luisa, als sie wieder die Küche betrat.

„Dachte ich mir schon. Merci, Luisa.“ Er sah Tobias schmunzelnd an, der mit nach­denklicher Miene die Küche betrat. „Was hast du auf dem Herzen, mon ami?“

>Das besprechen wir lieber ohne sterblichen Zeugen. <

„Ich dachte, ich sehe mal nach meinen alten Freund, der sich in letzter Zeit etwas rar gemacht hat“, knurrte Tobias.

Tristan drückte ihm die Tasse mit dem Cappuccino in die Hand, nahm seinen Cafe au Lait und ging seinem Gast voraus in Richtung Arbeitszimmer.

„Bleiben Sie zum Mittagessen, Herr Kerner?“, fragte Luisa und sah dem jungen Mann, der der Bruder ihres Arbeitgeber hätte sein können, lächelnd in die Augen.

„Nein. Danke, Luisa, ich bin mit meiner Frau zum Mittagessen verabredet. Aber es duftet verlockend. Wie immer.“ Er schenkte der Haushälterin eines seiner unwider­stehlichen Lächeln und zwinkerte ihr auch noch zu. Luisa lief, obwohl sie eine Frau über 50 und verheiratet war, puterrot an.

>Musst du immer mit ihr flirten? <, fragte Tristan verärgert.

>Warum nicht? Es tut ihr gut. Eine Frau, egal welchen Alters und ob verheiratet oder nicht, braucht gelegentlich etwas Aufmerksamkeit. <

Verblüfft sah Tristan zu Tobias auf, als er sich hinsetzte und seinem Gast den bequemen Stuhl neben seinem Schreibtisch anbot. „Seit wann bist du ein Experte für Frauen?“

Tobias kräuselte die Lippen. „Zum einen war ich in den letzten Jahrhunderten kein Asket wie du und zum anderen habe ich täglich Kontakt mit Sterblichen. Die meisten davon sind Frauen. Was glaubst ist der Grund, warum viele Frauen tanzen lernen wollen? Aufmerksamkeit, mein Freund. Einmal das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein.“

Tristan sah Tobias nachdenklich an. „Du schaffst es tatsächlich, mich noch zu überraschen, Tobi.“

Der Berliner grinste breit und ein Grübchen bildete sich auf seiner linken Wange. „Gut. Apropos Überraschung, willst du mich nicht auch mal überraschen?“

Tristan sah ihn fragend an. „Womit?“

„Zum Beispiel mit einer neuen Frau an deiner Seite.“

Tristan verzog sein Gesicht. „Das lässt sich nicht erzwingen und das weißt du auch. Und falls es dich interessiert, ich komme auf meine Kosten. Das enthaltsame Leben lebe ich nicht mehr.“

Tobias zog kurz die Augenbrauen hoch. „Na ja, wenigstens etwas. Eine oder wechselnd?“

Brüskiert starrte Tristan seinen Freund an. „Das ist eine ungehörige Frage, Tobi“, warnte er.

Tobias zuckte mit den Schultern. „Als dein bester Freund und entfernter Verwandter habe ich das Recht, dir solche Fragen zu stellen. Du hältst dich mir gegenüber ja auch nicht zurück.“

„Ich habe dich nie gefragt, wie es zwischen dir und Hanna sexuell läuft.“

Tobias schmunzelte. „Stimmt. Aber du hast mich, und darüber bin ich dir dankbar, ihretwegen zum Grübeln gebracht. Ich meine, hättest du sie nicht gedatet und hätte dieses Date nicht zwischen euch nicht funktioniert, hätte ich sie abschreiben müssen.“

Tristan sah Tobias merkwürdig an. „Verdrehte Logik, Mann. Deine Denkweise passt sich der von Frauen an: hundert Gedanken und tausend Hürden, um zum Ziel zu kommen. Außerdem dieses Hätte Wenn Wäre geht mir auf den Sender. Güldensteen hat mich vorhin auch schon damit genervt.“

„Ah! Ich habe meine Wette also gewonnen.“ Tobias schlürfte genüsslich an seinem Kaffeegetränk.

„Welche Wette?“

Tobias lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zeigte den Gesichtsausdruck einer Katze, die siegessicher vor einer arglosen Maus auf der Lauer lag. „Du erinnerst dich nicht? Letztes Jahr bei der Hochzeit von Jan und Helena. Da habe ich prophezeit, dass du und Ben eines Tages noch Freunde werdet. Ich habe meinen Arsch darauf verwettet.“

Tristan erinnerte sich. An diesem Tag hatte er Frieden mit Benjamin van Güldensteen geschlossen. Aber Freundschaft?

„Wir sind weit davon entfernt, Freunde zu werden, Tobi. Wir arbeiten lediglich gelegentlich zusammen. Wegen der Legionäre.“

Tobias zuckte kurz mit einer Braue, dachte sich seinen Teil. „Gibt´s was Neues von den `Kriegern des reinen Glaubens´?“

„Seit vier Monaten ist alles ruhig. Keine Übergriffe, keine Aktionen welcher Art auch immer.“

Tobias rieb sich sein glatt rasiertes Kinn. „Das kommt in etwa hin. Vor fünf Monaten hatte ich meine letzte Vision, als die Kerle Zenobia erwischt haben. Gott sei Dank haben unsere Truppen sie noch lebend rausholen können.“

Tristans Augen wurden schwarz, als er an den Augenblick dachte. Er selbst hatte die Frau, die schlimm gefoltert worden war, mit einigen anderen aus den Fängen der religiösen Fanatiker befreien können. Seine Beteiligung an der Befreiungsaktion hatte Tristan Tobias gegenüber verschwiegen.

Bisher.

„Grundgütiger!“ Tobias starrte in das Gesicht des Freundes, seine Augen wurden tellergroß und hellbraun mit goldenen Sprenklern. „Ich wusste ja, dass du dich damals im Ausland warst. Aber ich wusste nicht, dass du in Griechenland warst.“

Tristan stand mit einem genervten Seufzer auf. „Ich bin dir keine Auskunft über meine Aufenthaltsorte schuldig, Tobias“, knurrte er und ging zu dem metallenen Aktenschrank, das einzige Möbelstück in diesem Raum, das fehl am Platze wirkte. Wahllos nahm er einen Aktenordner heraus und blätterte ziellos darin herum.

Tobias setzte seine Tasse hart auf den antiken Schreibtisch ab. „Verdammt, meine Vision hat ganz klar gezeigt, wo sich Zenobia aufhielt, als sie entführt wurde. Aber das war eigentlich keine Überraschung, denn sie hat seit beinahe 500 Jahren in Griechenland gelebt. Es war kein Zufall, dass du ebenfalls dort warst, habe ich Recht?“

„Zenobia und ich hatten ein geheimes Treffen. Sie hatte ein paar Informationen für mich. Tatsächlich hatten sich auf Kreta einige Legionäre versammelt und Zeni hat ihre Augen und Ohren offengehalten. Aber da sie nicht besonders erfahren in Spionage ist, hat sie sich selbst in Gefahr gebracht. Ein paar Stunden nach unserem Treffen war sie entführt worden. Den Rest kennst du ja.“

Tobias war von einer fürchterlichen Vision heimgesucht worden. Er hatte gesehen, wie die im syrischen Palmyra um 240 nach Christus geborene Frau von den Legionären gefoltert und vergewaltigt worden war. Sie hatten sie kahlgeschoren, zwei Finger der linken Hand abgeschnitten und noch viele andere unaussprechliche Dinge getan.

Tobias hatte sofort das Konzil alarmiert und die Rettungseinheit hatte sie in einem grauenhaften Zustand gefunden.

Inzwischen waren die körperlichen Wunden längst verheilt und die Haare wuchsen wieder. Aber die zwei Finger würden unwiderruflich fehlen und die Erinnerung an das überstandene Martyrium würde ebenfalls bleiben.

„Vor knapp 700 Jahren hatte Zenobia in Oberitalien gelebt“, erzählte Tristan leise. „Eine unglaublich faszinierende Frau, die Rom hat fallen sehen. Rom!“

Tristan klappte den Ordner wieder zu und stellte ihn langsam und vorsichtig in den Schrank zurück. „Wusstest du, dass sie einmal eine Königin war?“

Tobias nickte. „Ja. Ich kenne die Geschichte der Zenobia. Sie ist dann als Kriegsbeute nach Rom gebracht worden und in einem Triumphzug vorgeführt worden.“

Tristan lächelte. „Das hat aber nicht ihren Stolz gebrochen. Im Gegenteil, sie ist mit erhobenen Haupt durch die Menschen gegangen und keiner, nicht ein einziger hat es gewagt, sie mit faulem Gemüse zu bewerfen, wie es damals üblich war. Man wollte die Gefangenen demütigen, indem man sie dem Volk zur Schau stellte, aber Zenobia flößte allen Angst und Respekt ein, obwohl sie eine Gefangene war.

Kaiser Aurelian gestattete es ihr, in einem kleinen Landhaus zu leben und sich innerhalb dieser Grenzen frei bewegen zu können. Er war von ihr fasziniert, wie so viele vor und noch mehr nach ihm. Sie durfte Besuch empfangen und so lernte sie Sesostris kennen.“

Tobias runzelte die Stirn. „Klingt altägyptisch.“

Tristan nickte. „Ein Pharao. Mittleres Reich, 12. Dynastie. Sesostris I gehörte zu einem der bedeutenden Könige. Feldzug gegen Unternubien, in dessen Verlauf er bis zum zweiten Nilkatarakt vorstieß und die dortigen Gebiete unter seiner Herrschaft zwang. Der erste Pharao, der ein Gebiet außerhalb Ägyptens kontrollierte. Jedenfalls war dieser Sesostris, wie du es dir denken kannst, einer von uns. Er verliebte sich ernsthaft in Zenobia, sie wurden ein Paar. Heimlich, wegen Aurelian. Sesostris wandelte Zenobia mit deren Einverständnis und bis zu seinem Tod im 10. Jahrhundert blieben sie zusammen.“

„Traurig und schön zugleich“, sagte Tobias leise.

„Ja. Als ich Zenobia kennen lernte, begannen wir eine kurze, aber leidenschaftliche Affäre. Es war keine Liebe, wirklich nicht. Aber es war immer mehr als Sympathie. Als ich sie in diesem Folterkeller sah, brach mir das Herz, Tobias. Es war schon schlimm, was mit Jannik geschehen war. Und auch die Bilder aus Helenas Erinnerung wegen Leclerc waren grausam. Aber die Sache mit Zenobia hat mich in dem Wunsch bestärkt, diese Organisation ein für allemal zu vernichten. Restlos!“

Tristans Wangenmuskeln arbeiten heftig und seine Augen glommen in einem unheil­vollen schwarzen Feuer. „Sie haben sie gebrochen, Tobi. Die stolze Frau, die ein ganzes Weltreich hat fallen sehen, ist gebrochen, nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Weißt du, was das für einen von uns bedeutet?“

Tobias nickte erschüttert. „Das Ende.“

Tristans Lippen waren zusammengekniffen. „Das Ende“, sagte er rau.

Tobias sah seinem Freund in die Augen. „Deswegen ist es wichtig, dass du nicht vergisst, dass es Menschen gibt, die dich lieben, Tristan.“

Verwirrt sah Tristan seinen Freund an. „Wie meinst du das?“

„Du hast dir selbst eine zermürbende Aufgabe auferlegt, die sehr viel von dir abfordert. Das ist wichtig für uns, das weiß ich. Und ich kenne niemanden, der besser für diese Aufgabe geeignet wäre als du.“

„Aber?“

Tobias zog die Brauen zusammen. „Wir machen uns Sorgen! Du bist nicht allein, Tristan. Selbst wenn wir dir nicht auf dem Schlachtfeld folgen können, weil wir nicht deine Fähigkeiten haben, so sind wir dennoch für dich da. Hanna und ich lieben dich, und das weißt du.“

Tristans Herz schlug ihm bis zum Hals, er verspürte einen dicken Kloß in seinem Hals. „Tobias, ich bitte dich, dass …“

„Nein, Tris. Jetzt hörst du mal zu. Seit Rowena mit Erik in den Sonnenuntergang gefahren ist – entschuldige die kitschige Metapher -, seit diesem Augenblick hast du dich von uns zurückgezogen. Du scheinst die offene Konfrontation mit dem Gegner zu suchen, als ob auch du ein Ende herbeisehnst.“

Erschrocken sah Tristan seinen Freund an. „Das … das habe ich nicht vor, Tobi. Wirklich nicht. Ich habe mich nur versucht, auf meine Aufgabe zu konzentrieren, das ist alles. Habe es wohl übertrieben, oder?“

Zweifelnd sah Tobias seinen Freund an. „Du hast keine Todessehnsucht?“

„Nein. Ehrlich nicht.“ Tristan legte seine Hand um das goldene Kreuz auf seiner Brust, das an einer goldenen Kette baumelte. „Ich schwöre dir bei Gott, dass ich keine Todessehnsucht habe. Ich will leben. Ich gebe zu, dass ich mich im Moment versuche abzulenken. Und ja, vielleicht übertreibe ich es ein wenig. Aber ich will leben, Tobias.“

Erleichtert sank Tobias auf seinem Stuhl zurück. Die Hand, mit der er jetzt über sein Kinn rieb, zitterte etwas. „Dem Himmel sei Dank. Du glaubst ja nicht, was ich für eine Angst hatte, Mann.“

Kapitel 3: „Du hast dich wohl in der Tür geirrt!“

Der Dieb sah durch die Fenster des Gewächshauses und zog anerkennend die Brauen hoch. Im fahlen Licht des Vollmondes sah er, dass hier offensichtlich Orchideen ge­zogen wurden.

>Schade, dass ich keine Zeit habe, mir das mal genauer anzusehen. Aber das ist nicht meine Aufgabe. <

Er ging weiter auf die Rückseite der riesigen Stadtvilla zu, deren Fassade einerseits robust und trutzig, auf der anderen Seite filigran und leicht wirkte.

>So einen interessanten Widerspruch in der Architektur habe ich noch nie gesehen. Großartig. <

An der Rückseite war die Freitreppe nicht ganz so pompös wie auf der Vorderseite, aber robust, mit einem durchbrochenen, steinernen Geländer. Oben, auf den hüfthohen Pfeilern des Geländers, thronte auf einer Seite ein Löwe mit weit aufgerissenen Maul, dessen Pranke auf einer Erdkugel ruhte. Auf der anderen Seite bäumte sich ein edles Pferd in anmutiger Haltung wild auf.

>Der Typ hat Stil. <

Der Dieb ignorierte die Treppe und ging auf die linke Seite neben der Treppe. Dort befand sich ein winziges Fenster, von dem der Dieb wusste, dass er dadurch in den Vorratskeller gelangen würde, der direkt und unverschlossen zur Küche führt. Der Dieb setzte einen Saugnapf an die einfache Glasscheibe an und durchtrennte die Scheibe mit einem Glasschneider direkt am Holzrahmen entlang. Es gab keinen Alarm, als er die Scheibe, die am Saugnapf haftete, vorsichtig aus dem Holzrahmen zog und leise auf das kleine Rasenstück zu seinen Füßen legte, den Saugnapf wieder abnahm. Dann langte der Dieb mit seiner Hand durch die Öffnung und ertastete die Verriegelung an dem Fenster. Mit einem leisen Quietschen, das in der Stille der Nacht so laut war wie das Schreien einer rolligen Katze, ging die Verriegelung auf und das Fenster schwang nach innen auf.

>Nummer eins wäre geschafft. <

Der Einstieg war schmal, aber der Dieb war nicht nur sehr schlank, sondern auch extrem beweglich. Ein Arm voran schob er seinen Kopf hindurch, die Schulter folgte, der schmale Brustkorb, die schmale Hüfte. Der Rest war kein Problem mehr und anmutig wie eine Katze glitt der Dieb zu Boden.

>Wie dumm, sämtliche Fenster und Türen mit einem Alarmsystem auszustatten und das Fenster der Vorratskammer zu vergessen. Das lässt der Typ bestimmt gleich Morgen nachholen. <

Der Dieb wartete einen Moment, lauschte in die Nacht, gewöhnte seine Augen an die Dunkelheit. Schemenhaft konnte er einige Gegenstände erkennen. Die kleine Stabtaschenlampe leuchtete kurz auf, für etwa zwei Sekunden. Dann hatte sich der Dieb den Weg eingeprägt, wusste, was sich wo befand. Zielsicher ging er zur der kleinen Treppe, die zur Küche hinauf führte, ging sie leise hinauf. Oben an der Tür blieb er stehen, lauschte.

>Mein Kunde hat gesagt, dass sich niemand im Haus befindet. Die Haushälterin ist nur tagsüber da und der Besitzer ist verreist. Warum bin ich so vorsichtig? <

Angewohnheit! Der Dieb konnte bestimmte Verhaltensmuster nicht ändern, so einfach war das.

Nichts rührte sich auf der anderen Seite und der Dieb öffnete die Kammertür, betrat die Küche. Leise schloss er die Tür wieder. Das Mondlicht verstrahlte hier viel heller sein blasses Licht und der Dieb konnte die Konturen deutlicher erkennen. Trotzdem ließ er kurz das Licht aufblitzen, erfasste den Raum und machte die Lampe wieder aus. Der kurze Moment hatte genügt, um über den erstaunlichen Geschmack des Hausbesitzers begeistert zu sein. Die Küche war modern und edel eingerichtet. Marmorne Arbeitsplatten, die neuesten Küchengeräte und eine teure Kaffeemaschine, die die Bohnen frisch gemahlen verarbeitete.

Der Dieb unterdrückte den Wunsch sich auf der Stelle einen Kaffee zu machen und schlich durch die Küche, betrat den Eingangsbereich der Villa.

Ein gewaltiges Foyer aus Marmor, Holz und mit Teppich ausgelegter Treppe im Mittelbereich empfing ihn. Krampfhaft unterdrückte der Dieb einen anerkennenden Pfiff. Auch hier ließ er kurz die Lampe aufblitzen, starrte auf den riesigen Wandteppich der auf der rechten Seite des Eingangbereiches lag. Er stellte eine mittelalterliche Schlacht dar, wahrscheinlich innerhalb eines Kreuzzuges.

>Mann, der Typ ist stinkreich. Und ich soll nur ein Fabergé-Ei klauen. Ob dem das überhaupt auffällt? <

Der Dieb ignorierte die erste Tür auf der rechten Seite hinter dem Gobelin. Er wusste, dass die Tür in das Wohnzimmer führen würde, welches nicht Ziel seines Begehrens war. Er ging weiter, erreichte das Arbeitszimmer und ging hinein.

>Kinderspiel. <

Tristan hatte einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Zenobia, wie sie hilfesuchend ihre linke, verstümmelte Hand nach ihm ausstreckte. Ihre einst lebhaften, dunklen Augen waren matt, schmerzerfüllt.

Tristan wachte auf, keuchte.

„Verdammt“, flüsterte er und fuhr sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. „Was ist denn nur los mit mir in letzter Zeit? Offensichtlich habe ich mehr zu verarbeiten, als mir lieb ist. Vielleicht sollte ich doch mal einen Psychotherapeuten aufsuchen.“

Tristan schüttelte sein Kopfkissen auf, boxte in das unschuldige Material hinein und wollte sich wieder hinlegen, als er stutzte.

Irgendetwas stimmte nicht.

Er setzte sich in sein Bett auf, schloss die Augen und lauschte in sich hinein, in das Haus.

Er war nicht allein!

Unbewusst verlängerten sich Tristans Eckzähne und ein dumpfes Grollen bahnte sich einen Weg durch seine Brust, das er kaum unterdrücken konnte. Leise schlug er die Bettdecke zurück und schlich zur Zimmertür, lauschte erneut.

Hier oben, im ersten Stock der Villa, war alles ruhig, und doch wusste Tristan, dass er in dem Haus nicht allein war, was er hätte sein sollen.

Er zwang sich zur Ruhe, öffnete leise die Tür und schlüpfte, nur mit seiner Pyjamaho­se bekleidet, in den mit kostbarem Teppich ausgelegten Flur. Am Treppenabsatz angekommen lauschte er erneut, dann sah er einen schwachen Lichtschein aus dem Arbeitszimmer. Den Impuls unterdrückend, einfach nach unten zu stürmen und auf den Einbrecher los zu prügeln fletschte Tristan wütend die Zähne.

Und wählte eine andere Methode, sich dem Kerl zu nähern. Eine Methode, die nur eine Handvoll Vampire beherrschten, unter anderem sein Freund Adolar Cerný.

Wie eine Eidechse krabbelte Tristan an der Wand entlang, mied die Treppe und glitt an der Wand in das Erdgeschoss hinab, genau zwischen Arbeits- und Wohnzimmer. Dabei ließ er nicht einen Augenblick seine Augen von der Öffnung des Arbeitszim­mers.

Jetzt hörte sein empfindliches Gehör, wie der Einbrecher sich an dem Tresor zu schaffen machte, am Zahlenschloss drehte.

Und scheiterte.

„Verdammt! Die falsche Kombi“, hörte er ein sehr leises Flüstern. Ein normales menschliches Ohr hätte es wahrscheinlich nicht gehört, aber Tristan war kein normaler Mensch, sondern ein 850 Jahre alter Vampir.

Ein wütender 850 Jahre alter Vampir!

Tristan glitt zu Boden, richtete sich auf und stellte sich leise in den Türrahmen.

Der Einbrecher hatte Rowenas Gemälde aufgeklappt, hinter dem sich der Tresor befand.

>Wieso ist das Alarmsystem nicht losgegangen, als er eingestiegen ist? <, fragte sich Tristan und betrachtete den Dieb. Er war mittelgroß und sehr schlank, wirkte irgendwie drahtig. Er hatte eine kleine, ein schwaches Licht von sich gebende Stabtaschenlampe zwischen seine Lippen gesteckt, damit er beide Hände benutzen konnte.

>Ein Profi. Na, dann werde ich dem Typ mal ein freundliches `Hallo´ entgegenwerfen. <

Tristan bereitete seine Augen auf den Lichteinfall vor, der kam, als er unvermittelt den Lichtschalter betätigte. Er spürte, wie der Einbrecher erschrocken zusammen­zuckte. Der Herzschlag des Diebes hüpfte für ein paar Sekunden, die Atmung setzte aus. Doch dann erfasste den Dieb wieder Ruhe.

„Du hast dich wohl in der Tür geirrt?“, knurrte Tristan, zwang sich, seine Zähne einzuziehen und die Augen wieder einen normalen Farbton annehmen zu lassen.

Der Dieb nahm die Taschenlampe aus seinem Mund und klappte seine Stoffmaske, die er trug, langsam wieder über seine untere Gesichtshälfte. Er hob die Arme, signalisierte Tristan somit, dass er sich als erwischt ansah. Langsam drehte der Dieb sich um, die kleine Taschenlampe in der rechten Hand.

Der Dieb starrte den Mann an. Ein über 1,90 Meter großer, schlanker und definitiv durchtrainierter Mann, nur mit einer seidenen Pyjamahose bekleidet.

Und einem ziemlich wütenden Gesichtsausdruck!

An der linken Schulter hatte der Mann eine große, längliche Narbe, aber ansonsten war der Körper, zumindest das, was der Dieb sehen konnte, makellos. Muskeln, an den richtigen Stellen, inklusive Six-Pack und hervor gestellten Leistenmuskeln. Die Arme, auch die Unterarme waren kräftig und sehnig.

Der Hals war schlank und dicke Adern der Wut traten an den Seiten hervor. Das schöne Gesicht des Mannes war angespannt, die Lippen zu einem schmalen Strich gezogen. Dunkelgrüne Augen blitzen unter einem modisch geschnittenen dunkelblonden Schopf.

>Das war nicht so geplant. Bin ich gelinkt worden? < Der Dieb stand unschlüssig herum, wusste im Moment nicht, was er tun sollte.

„Ich habe dich was gefragt, Mistkerl!“, zischte Tristan und konnte sich nur mühsam beherrschen, den Mann nicht anzuspringen, trat langsam näher.

Dann nahm er einen Duft wahr, und dieser Duft verwirrte ihn zutiefst.

Der Dieb sah, dass irgendetwas den Mann vor ihm zu überraschen schien und nutzte die Gelegenheit. Er holte kaum aus, als er mit der Taschenlampe zuschlug und Tristan am Kinn erwischte. Mit einem überraschten Aufschrei versuchte Tristan seinen Kopf noch wegzudrehen, aber es war zu spät. Der Dieb setzte mit einer Linken nach und hieb ihm die Faust in den muskulösen Bauch, hebelte ihm dann noch gekonnt die Beine weg.

Tristan fiel unsanft zu Boden. Das war zu viel! Nicht nur, dass der Kerl bei ihm einbrach, er hatte es auch geschafft, ihn zu überraschen, ihn zu Boden zu ringen. Fau­chend wie ein Panther sprang Tristan auf und hetzte dem Mann hinterher, der zur Hintertür flüchtete.

>Woher weiß der Kerl, wo er hin muss? Wieso kennt er sich in meinem Haus aus? <

Der Dieb sprintete los, wusste, dass seine einzige Chance in einer Flucht bestand. >Lass die Hintertür nicht verschlossen sein! Bitte! <

Ein tiefes, raubtierhaftes Knurren hinter ihm veranlasste den Dieb dazu etwas zu tun, was er sonst nie tun würde. Er drehte sich um und sah in zwei glühende, schwarze Augen. Der Hausbesitzer hatte ein wutverzerrtes Gesicht und griff nach ihm. Geschickt wich der Dieb aus, riss sein Knie hoch und rammte es seinem Verfolger gegen die Leiste. Tristan brüllte auf und schlug einfach zu.

„Nein!“, brüllte der Dieb und braune Augen wurden weit aufgerissen.

Tristan stutzte. Die Stimme war … merkwürdig schrill! Mitten im Flug halbierte er die Wucht des Schlages und so prallte seine Faust nun gebremst gegen das Kinn des Einbrechers. Die Wucht reichte allerdings aus, um den Dieb gegen die Wand zu schleudern und ihn bewusstlos zu Boden fallen zu lassen.

Tristan stand schwer atmend mit geballter Faust über den bewusstlosen und verkrümmt daliegenden Körper. >Was war das denn? <

Neugierig hockte Tristan sich hin und tastete an dem Hals des Diebes nach dem Puls. Er schlug ruhig und gleichmäßig, auch die Atmung war in Ordnung. Er griff an den unteren Saum der Maske und zog sie nach oben. Milchkaffeebraune Haut kam zum Vorschein. Dort, wo Tristans Faust das Kinn getroffen hatte, bildete sich jetzt schon eine leichte Schwellung. Das würde ein ziemlich unansehnlicher blauer Fleck werden. Tristan schob die Maske weiter hinauf, hob den Kopf des Diebes an und zog die Maske völlig runter.

Und traute seinen Augen nicht.

Kurze, dunkelbraune Haare umrahmten ein rundes, hübsches Frauengesicht. Lange und dichte Wimpern, die ihm vorher gar nicht aufgefallen waren, lagen ruhig auf Wangen, die diesen unglaublichen Teint hatten. Überhaupt war der asiatische oder südpazifische Einfluss nicht zu übersehen. Die Lippen der Frau waren fein geschwungen, die Unterlippe stärker ausgeprägt als die Oberlippe. Sie hatte Löcher in den Ohrläppchen, trug aber keine Ohrringe.

Tristan betrachtete den Körper der Frau und schüttelte den Kopf. Sie war wirklich groß für eine Frau, größer vielleicht als Tobias Kerner. Aber die Frau hatte einen eher knabenhaften Körperbau.

Jetzt wusste Tristan auch, was er vorhin gerochen hatte, als er im Arbeitszimmer vor dem Dieb stand: Pheromone! Er hatte einfach die Möglichkeit, dass der Einbrecher eine Frau sein könnte, ignoriert und war überrascht, als sein Geruchssinn die Bot­schaft an sein Unterbewusstsein weiterleitete.

„Trotzdem wirst du mir ein paar Fragen beantworten, Mädchen!“, knurrte er leise und nahm die Frau, die seiner Einschätzung nach höchsten 25 Jahre alt war, auf seine Arme. Er trug sie in das Wohnzimmer, legte sie auf die Dreisitzer-Couch. Grübelnd sah er zu ihr hinunter, dann stand sein Entschluss fest. Er ging zum Fenster und riss eine Kordel von einem der Vorhänge ab. Mit der Kordel ging er in die Küche, holte ein Messer und schnitt sie in zwei Hälften. Er fesselte die Hände der Frau auf dem Rücken und auch die Beine in Höhe der Knöchel. Dann machte er eine kleine Lampe im Wohnzimmer an und überlegte, ob er den Kamin anmachen sollte.

>Himmel, Kadian! Es ist Hochsommer, wir haben draußen in der Nacht über zwanzig Grad. Lass es! <

Er ging in das Arbeitszimmer und betrachtete den Versuch, den Safe zu öffnen. Die Diebin war nicht sehr weit gekommen. Vorsichtshalber gab Tristan den korrekten Code ein und überprüfte den Inhalt des Safes. Dieser Safe war nicht nur ein Safe, sondern auch ein Kühlschrank, in dem er neben seinen wichtigsten Unterlagen auch Blutkonserven lagerte.

Nicht auszudenken, wenn es der Frau gelungen wäre, den Safe zu öffnen!

Kapitel 4: „Hat Darius dich geschickt?“

Die Diebin hatte das Gefühl, ihre untere Gesichtshälfte würde in Wasser stecken. Es war feucht, sehr feucht. Und schmerzte.

Sie konnte sich das Stöhnen nicht unterdrücken, als sie den Kopf bewegte und ein neuer Schmerz wie hundert kleine Hammerschläge durch ihren Schädel jagte.

Dann nahm die Diebin den Geruch wahr. Zigarettentabak, erlesen und teuer, würzig und angenehm. Aber trotzdem drehte ihr der Geruch den Magen um, da ihr Kopf sich jetzt immer lautstarker zu Wort meldete.

„Ich weiß, dass du wach bist. Du kannst deine Augen öffnen.“

Der Bass des Mannes erschreckte die Diebin und sie hielt entsetzt die Luft an. Dann fiel ihr ein, was geschehen war.

Das Haus, in dem sie eingebrochen war.

Der Safe, dessen Kombination offensichtlich nicht stimmte.

Der halbnackte Mann, der mit einem sehr wütenden Gesicht vor ihr stand.

Der kurze, aber heftige Kampf.

Die Faust, die auf sie zukam.