Weltenwanderer-Chroniken I - Heike Möller - E-Book

Weltenwanderer-Chroniken I E-Book

Heike Möller

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Beschreibung

Sondra Wieland tritt nach dem Tod ihres Vaters, dem Fantasy-Schriftsteller Thorben Wieland, ihr Erbe an. Dessen letzte Worte veranlassen sie nach Vilgard zu reisen, dem Land, aus dem ihre Mutter, eine Elfe, stammte. Verrat und dunkle Mächte drohen den Jahrhunderte langen Frieden der Völker Vilgards zu zerstören. Aber Sondra, als Erbin des Weltenwanderer hoch geschätzt, sucht in alten Dokumenten nach einem Hinweis, wie sie den befreundeten und friedliebenden Völkern helfen kann. Unterstützt wird sie von ihrem irdischen Begleiter Andreas, und auch der Elfenkönig steht an ihrer Seite. Findet sie die Antworten bei den Greifen, mit dessen Botschafter Fnir Sondra zutiefst verbunden ist? Und wie steht Maharba, der oberste Druide Ylras wirklich zu ihr? In einer verzehrenden Schlacht entscheidet sich alles.

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Heike Möller

Weltenwanderer-Chroniken I

Das Herz der Elfen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Prolog

Kapitel 1: Ein ganz normaler Anfang

Kapitel 2: Das Erbe

Kapitel 3: Eine Verzweiflungstat

Kapitel 4: Fiktion und Realität

Kapitel 5: Der Aufbruch

Kapitel 6: Iskand

Kapitel 7: Unterwegs nach Ylra

Kapitel 8: Flarn

Kapitel 9: Der Angriff

Kapitel 10: Begegnungen

Kapitel 11: Ein Weg in die Vergangenheit

Kapitel 12: Verdachtsmomente

Kapitel 13: Eine unvorstellbare Tat

Kapitel 14: Offenbarungen und Erkenntnisse

Kapitel 15: „ …, aber noch näher deinen Feinden“

Kapitel 16: Uroma war eine Nymphe

Kapitel 17: Das Frühlingsfest

Kapitel 18: Fnir

Kapitel 19: Der Flug ins Sikhara-Gebirge

Kapitel 20: Die Entscheidung

Kapitel 21: Ein Plan reift

Kapitel 22: Das Herz Vilgards

Kapitel 23: Der Kampf

Kapitel 24: Verluste

Kapitel 25: Das Gericht und ein Neubeginn

Kapitel 26: Tod und Leben

Kapitel 27: Hochzeit

Kapitel 28: Heimreise

Epilog

Impressum neobooks

Kapitel 1

WELTENWANDERER-CHRONIKEN

Das Herz der Elfen

Prolog

Thorben Wieland verzog sein Gesicht vor Schmerzen. Er wusste, dass seine Zeit nun gekommen war.

>Hoffentlich weiß Sondra, was jetzt zu tun ist<, dachte er und schloss die Kellertür zu.

Schwer atmend und gekrümmt schleppte er sich nach oben, fasste sich dabei immer wieder an die Brust. In der Diele ging er an einen Spiegel vorbei – er erkannte sein eigenes Gesicht nicht mehr. Grau in grau, aschfahl und schweißnass. Und mehr als zwanzig Jahre älter, als er sein durfte.

>Das ist halt der Preis, den ich für meine Abenteuer bezahlt habe<, dachte er und versuchte zu grinsen.

In seinem Arbeitszimmer angekommen, wollte er zum Schreibtisch, um seiner Tochter noch eine letzte Nachricht zu hinterlassen. Aber so weit kam er nicht mehr. Er brach einfach zusammen.

Thorben hörte jemanden gequält aufschreien. Er wunderte sich, denn er war allein zu Hause. Da wurde im bewusst, dass er es selbst gewesen war. Noch einmal versuchte er, sich aufzurichten, aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr.

>Was mache ich denn jetzt nur!<

Ein weiterer stechender Schmerz in der Brust ließ seine Hände verkrampfen und seine Fingernägel kratzten auf den Holzdielen.

Da kam ihm die Idee. Mit aller Kraft kratzte er mit Fingernägeln die Botschaft in das Holz. Er ignorierte die Schmerzen, die ihm diese Aktion einbrachte. Seine Nägel rissen ein und brachen ab, aber er musste weitermachen.

Seufzend ließ er am Ende seine Hand sinken und entspannte sich. Er dachte an seine Tochter Sondra, sein größter Lichtblick in seinem Leben. Er musste lächeln, als er an den Moment ihrer Geburt dachte.

Er dachte an Keela, Sondras Mutter. Diese grünen Augen wie frisches Moos.

Thorben schloss die Augen.

„Ich bin gleich bei dir, mein Schatz“, sagte er und starb.

Kapitel 1: Ein ganz normaler Anfang

Sondra genoss die Ruhe, die sie umgab.

Endlich!

Nichts hasste sie mehr als falsche Bekundungen des Beileids und des Mitgefühls, aber genau das hatte sie die letzten drei Stunden über sich ergehen lassen müssen.

Sondras Vater Thorben Wieland war gestorben, plötzlich und unerwartet. Ein Herzinfarkt, haben die Ärzte gesagt.

Sondra musste lächeln. >Fachidioten!<, dachte sie.

Sie hatte die Leiche gefunden und sie würde nie mehr diesen Ausdruck des Erstaunens gepaart mit der Erkenntnis, dass es nun zu Ende sei auf dem Gesicht ihres Vaters vergessen.

Seine Fingernägel der rechten Hand waren blutig, weil er seinem einzigen Kind noch eine Botschaft hinterlassen hatte, eingekratzt im Parkett seines Arbeitszimmers. Bevor Sondra einen Arzt gerufen hatte, musste sie noch einige Spuren verschwinden lassen.

Zu viele Fragen, auf die sie zwar die Antworten wusste, die ihr aber die Klapsmühle eingebracht hätten.

Über die eigentliche Botschaft zog sie eine kleine Teppichbrücke, die dicht bei der Leiche lag. Mit der Hand ihres Vaters verursachte sie direkt daneben neue Kratzspuren, so, als ob er in einem Krampfanfall unkontrolliert ins Parkett gekrallt hätte. Dann schloss sie die Augen ihres Vaters, während sie bitterlich weinte.

Ja, sie hatte ihren Vater geliebt.

Und sie hielt zu ihm, während alle anderen aus der Familie, Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen und sogar Thorbens eigener Vater ihn zumindest für einen Sonderling, wenn nicht sogar für komplett verrückt und unzurechnungsfähig hielten.

Aber Sondra wusste, dass ihr Vater weder verrückt noch sonderbar oder krank gewesen war.

Sie schüttelte kurz die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Woche aus dem Kopf, holte tief Luft und ging in das Arbeitszimmer ihres Vaters, dass nach der obligatorischen polizeilichen Ermittlung bei einem häuslichen Todesfall bis heute Morgen versiegelt worden war.

Da der Gerichtsmediziner nur einen natürlichen Tod feststellen konnte und die Leute von der Spurensicherung keinerlei Einbruchs- oder Kampfspuren sicherstellen konnten, wurde der Tod von Thorben Wieland als alltäglich eingestuft und die Familie konnte nun wieder ihren normalen Tätigkeiten nachgehen.

„Normal, dass ich nicht lache!“, murmelte Sondra.

Sie holte noch mal tief Luft und drückte dann die Türklinke zum Arbeitszimmer hinunter.

Es war dunkel und es roch muffig.

Sondra holte tief Luft, hielt den Atem an und rannte zum Fenster. Mit einem Ruck zog sie die schweren Samtvorhänge auseinander, sodass der Staub nur so aufwirbelte. Hastig öffnete sie die alten Flügelfenster und stieß die Holzjalousien auf. Sie machte ein paar tiefe Atemzüge, auch um sich erstmal wieder zu beruhigen, bevor sie sich umdrehte.

Unweigerlich kam ihr der süße, schreckliche Duft des Todes wieder in die Nase und sie schaffte es gerade noch, sich aus dem Fenster zu lehnen, bevor sie sich in die Rabatte übergab.

„Mann, Mädchen! Hab dich doch nicht so!“, schimpfte sie mit sich selbst. „Wende an, was du mal gelernt hast über Selbstbeherrschung in Extremsituationen, und alles ist halb so schlimm.“

Sondra wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Auf diesen Moment war sie von ihrem Vater seit ihrer Geburt trainiert und instruiert worden. Gut, vielleicht nicht auf die Art dieses Momentes, aber sie wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war. Noch einmal holte sie tief Luft und drehte sich dann um.

Da, neben dem Lieblingssessel ihres Vaters, ein Ungetüm aus dem frühen 20. Jahrhundert mit Ohren, fast mannshoher Lehne und ohne Beine, dort waren noch die Flecke von ihres Vaters letzter Entleerung zu sehen, bevor er starb. Sie wusste, dass der Geruch von diesen Flecken stammte. Aber egal, Sondra musste sich jetzt zusammenreißen.

Sie ging zu der Stelle, wo sie die kleine Teppichbrücke rüber gezogen hatte und schlug sie beiseite.

Es war nur sehr schwer zu erkennen. Vorsichtig pustete Sondra Staub und andere Partikel weg, aber auch das brachte nicht viel. Das Holz war viel zu dunkel und die Kratzer waren nicht so tief, dass man sie ohne weiteres entziffern konnte.

Sondra grinste, das erste Mal an diesem Tag. Sie stand auf und ging ins Bad. Dort holte sie ihren Kosmetikpinsel. Aus der Küche holte sie sich Mehl und aus der Abstellkammer einen alten Farbpinsel. Damit bewaffnet ging sie wieder ins Arbeitszimmer.

Mit dem Farbpinsel fegte sie vorsichtig die restlichen Partikel weg, die sie mit ihrem Pusten nicht wegbekommen hatte. Dann streute Sondra etwa eine Handvoll Mehl auf die Kratzspuren. Vorsichtig verteilte sie es mit ihrem Kosmetikpinsel, um danach die Überreste wieder weg zu pusten.

„Tja, Papa, du wärst stolz auf mich.“

Hez

Yl

Shwe Sta

Mehr war nicht zu entziffern. Das letzte konnte Sondra auch nur erraten, aber sie erkannte die Botschaft als ganzes

„Okay, alter Mann.“ Sie wischte sich mit der Hand über ihr Gesicht und merkte gleich, dass das eine verdammt blöde Idee war. Sie bekam Mehl in ihre Augen.

Fluchend ging sie wieder ins Bad und wusch sich Hände und Gesicht gründlich ab. Als sie fertig war betrachtete sie ihr Spiegelbild.

Feurige wilde Locken umrahmten ein schmales, eher blasses Gesicht mit einer schmalen Nase und vollen Lippen. Ihre Augen lagen ein bisschen zu weit auseinander und waren leicht schräg. Die Farbe ihrer Augen war ein zartes Grün, so wie das erste Gras im Frühling.

Sondra strich sich eine widerspenstige Strähne aus ihrem Gesicht, dadurch wurde kurz ihr Ohr sichtbar. Es sah eigentlich wie ein normales Ohr aus, aber oben war es leicht spitz zulaufend.

Sie hatte die breite, schwarze Ledermanschette, die sie immer um ihr linkes Handgelenk trug, abgelegt, um sich waschen zu können. Nachdenklich schaute sie auf die Tätowierung, die sie seit zehn Jahren hatte. Eine stilisierte Sonne, die von zwei schmalen Händen gehalten wurde. Der Gewohnheit folgend band sie sich die Manschette wieder um.

„Dann will ich erstmal aufräumen, bevor meine bucklige Verwandtschaft auf die Idee kommt, mich zu besuchen.“

Sondra zog ihre Trauerkleidung aus und schlüpfte in T-Shirt und Jogginghose. Dann schnappte sie sich einen Eimer mit heißem Wasser und Putzzeug und ging wieder ins Arbeitszimmer.

Der penetrante Geruch hatte sich schon etwas verflüchtigt, da die frische Luft des Spätsommers wie ein Deodorant wirkte. Für Anfang September war es ungewöhnlich kalt. Schnell beseitigte sie die Spuren vom Mehl und legte wider die kleine Teppichbrücke über die Stelle. Dann schrubbte Sondra die Leichen flecke mit Tafelessig aus dem Parkett, so gut sie konnte.

Eine Stunde später machte Sondra es sich mit dem Abendessen und einem Glas Weißwein im Wohnzimmer vor dem Kamin gemütlich. Nachdenklich blickte sie in das Feuer. Sie musste ihre nächsten Schritte jetzt sorgfältig planen, sonst würde der Rest der Familie sie entmündigen lassen, wenn sie auch nur einen Hauch dessen mitbekommen würden, was sie vor hatte.

Wie eine Bestätigung ihrer Gedanken klingelte es an der Haustür.

Sondra sah auf die Uhr. Es war 19.23 Uhr.

„Können die nicht bis morgen zur Testamentseröffnung warten? Warum muss die Bagage mich unbedingt jetzt belästigen.“

Seufzend stand sie auf und ging zur Haustür.

„Wer ist da?“ fragte sie, obwohl sie die Antwort in etwa kannte.

„Ach Liebes, mach doch die Tür auf. Du solltest in deiner Trauer nicht alleine sein“, säuselte eine ältere weibliche Stimme in vermeintlicher Fürsorge. „Ich bin es doch, Gisela. Und Paul und der Gregor sind auch da.“

„Oh Mann“, murmelte Sondra, atmete erneut tief durch und öffnete die Tür. Allerdings nur so weit, dass sie zwar durchsehen, die Außenstehenden aber nicht hineingehen konnten.

„Hallo, Tante Gisela.“

„Ach, Kind, sei doch nicht so förmlich. Lass dich drücken.“ Gisela Baier ging einen halben Schritt auf Sondra zu mit übertrieben weit geöffneten Armen. Als sie Sondras unbewegtes Gesicht sah, stockte sie. „Willst du uns nicht hineinbitten?“

„Nein.“

Giselas grell geschminktes Gesicht mit dem neonfarbenen Lippenstift zuckte einen kurzen Moment. Dann schüttelte sie ihre blondierte Mähne, bei dem schon der Gelbstich des Alters durchkam. Gisela Baier war 58 Jahre alt, sah aber aus wie eine auf jung getrimmte 70 jährige Frau, die alles im Leben probiert hatte, was ihr in die Finger kam, von Alkohol über andere Drogen bis hin zu diversen Männern.

Paul Baier, Giselas ältester Sohn, hatte sich in einer Bank eine Führungsposition erarbeitet. Er war ein gradliniger, strebsamer Mann ohne eigene Familie, da `Mutti´ die passende Frau für ihn noch nicht gefunden hatte. Ein ewiger Ja-Sager ohne eigene Meinung. Gregor Baier, der jüngste Sohn von Gisela, war da ganz anders. Er sah gut aus und wusste das, aber innerlich war er leer und kalt.

„Aber Sondra, was hast du nur? Wir wollen doch nur Trost spenden.“ Gisela drückte sich sogar eine Träne heraus.

„Gisela, ich möchte bitte einfach nur allein sein. Wir sehen uns ja morgen. Du und die anderen werden bei Kolbrink gegen 10 Uhr aufschlagen, nicht wahr?“

„Aber du brauchst doch jetzt deine Familie um dich herum“, sagte Paul.

Sondra sah ihn verwirrt an. Er redete selten unaufgefordert. Aber das was er sagte, war garantiert einstudiert.

„Paul, mach dich nicht lächerlich.“ Sondra hatte genug. Alles Aufgestaute der letzten Zeit wollte raus. „Glaubst du ehrlich, dass ich jetzt, nach dem Tod meines Vaters noch irgendetwas mit euch zu tun haben will? Eure geheuchelte Trauer und Anteilnahme könnt ihr wieder mitnehmen. Verlasst bitte mein Grundstück.“

„Dein Grundstück? Das Testament wird morgen verlesen. Dann werden wir ja sehen, wem das alles gehört. Und das ganze Geld.“

Gisela Baier verwandelte sich in Bruchteilen von Sekunden in eine keifende, spuckende Furie. Die blauroten Äderchen pulsierten unter den Schichten von Make-up.

„Ich werde nicht mit dir oder deinen Söhnen diskutieren. Das wird morgen der Anwalt und Notar erledigen. Ich wünsche euch eine gute Heimfahrt.“

Sondra wollte die Haustür schließen, aber Gregor stellte seinen Fuß dazwischen. Sein sonst so hübsches Gesicht war eine wutverzerrte Maske.

„Du kannst uns nicht einfach so abwimmeln. Du bist genauso verrückt wie dein Vater. Du gehörst auch in die Klapse.“

„Und du in den Knast! Oder wie wird Fahrerflucht unter Alkoholeinfluss bestraft?“

Gregor Baier wurde leichenblass. Er keuchte. „Woher weißt du das?“

Sondra lächelte kalt. „Wenn ich dir das sage, habe ich doch nichts mehr gegen dich in der Hand! Lass mich in Ruhe und ich lasse dich in Ruhe! Und jetzt nimm deinen Fuß aus der Tür, bevor ich ihn zertrümmere.“

Fünf Minuten später hatte Sondra es sich wieder auf ihrer Couch gemütlich gemacht und einen Schluck von ihrem Wein getrunken, als es wieder an der Haustür klingelte.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Sondra war jetzt wirklich sauer und brüllte diesen Satz hinaus. Wütend ging sie zur Haustür und riss sie auf.

„Sagt mal, habt ihr das immer noch nicht begriffen, ihr sollt verschw…!“

Sie unterbrach sich selbst, denn vor ihr stand kein Verwandter, sondern ein ihr völlig fremder Mann. Sondra war selten sprachlos oder verlegen, aber dieser Typ verwirrte sie.

Mitte bis Ende zwanzig, etwa 1,85 groß und schlank. Kurzes hellblondes Haar und dunkelbraune Augen. Jeans, Pullover, hellbraune Lederjacke und weiße Sportschuhe. Sondra hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Menschen, mit denen sie es zu tun hatte in Bruchteilen von Sekunden zu visualisieren.

Er grinste leicht. „Ich bin keiner Ihrer gierigen Verwandten, Frau Wieland.“

„Das sehe ich jetzt auch.“

Einen Moment sahen sie sich wortlos an.

„Sie sind mir gegenüber im Vorteil“, sagte Sondra trocken.

„Wie bitte?“ fragte der Mann mit leicht verwirrtem Blick.

„Na ja, Sie wissen, wer ich bin. Aber Sie haben sich mir noch nicht vorgestellt.“

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Andreas Laurenz und ich bin Kriminalkommissar bei der Kripo Flensburg.“ Mit diesen Worten zückte der Mann seinen Dienstausweis und reichte ihn Sondra.

Sie sah sich den Ausweis an. „Welcher Bereich bei der Kripo?“ fragte sie.

„Kapitalverbrechen.“

„Beinhaltet das nicht auch Körperverletzung und Mord oder so?“

„Sie sind gut informiert, Frau Wieland.“

„Habe ich irgendjemanden tätlich angegriffen oder warum sind sie hier?“

Inspektor Laurenz kratzte sich am Hals. „Ich bin hier, weil die Autopsie an ihrem Vater einige Ungereimtheiten aufwiesen.“

Sondra zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Sie machen mich neugierig. Bitte, kommen Sie doch herein.“

Kommissar Laurenz betrat das Haus, das an ein englisches Cottage erinnerte. Allerdings nur von außen. Innen verströmte es die Gemütlichkeit Norddeutschlands. Warme Holztöne der Dielen und Treppen, geweißte Wände und teilweise altes, antikes Mobiliar.

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. „Kann ich Ihnen irgendetwas zu trinken anbieten?“

Das Wohnzimmer war relativ modern eingerichtet, mit Rattanmöbeln und Anrichten im Landhausstil. Eine Vitrine enthielt die Preise, die Thorben Wieland für seine Bücher erhalten hatte, ebenso einige gerahmte Zeitungsartikel.

An den Wänden hingen einige größere gerahmte Zeitungsartikel und Fotos, die Thorben mit seiner Tochter in verschiedenen Altersstufen zeigte. Es gab auch einige Fotos, die Sondra alleine zeigten, zum Beispiel bei der Einschulung.

Sondra musste lächeln, als sie Kommissar Laurenz Begutachtung der Bilder bemerkte.

„Hätten Sie vielleicht einen Tee für mich? Ich habe die ganze Zeit draußen gestanden und ich bin ein wenig durchgefroren.“

Jetzt war Andreas Laurenz verwirrt. Er hatte gedacht, dass die junge Frau auf Grund seiner Bemerkung sofort Fragen stellen oder hysterisch reagieren würde. Aber sie lächelte ihn nur süffisant an und sagte „Aha!“ Dann drehte sie sich um und ging in die Küche.

Kommissar Laurenz folgte ihr. Sondra startete den Wasserkocher.

„Beutel oder richtiger Tee?“

„Welche Sorten haben Sie denn?“

„Früchte, Kamille, Pfefferminz, Schwarz pur, Earl Gray, Grünen Tee mit und ohne Geschmack und ein paar Designer-Tees.“

„Earl Gray, bitte.“

Sie holte eine größere Kanne aus dem Schrank und das Teesieb. Dann schüttete sie nach Augenmaß die gewünschte Teesorte in das Sieb und goss das noch nicht ganz kochende Wasser hinein. Sondra wählte zwei Tassen aus Friesengeschirr aus.

„Milch oder Zitrone?“ fragte sie.

„Nein danke, nur etwas Zucker.“ Kommissar Laurenz war völlig fasziniert von der Gelassenheit der Frau, die heute erst ihren Vater beerdigt hatte. Er wurde nicht schlau aus ihr. Andreas sah sich in der Küche um. Die Arbeitsplatte war fast quadratisch in der Mitte angebracht, darunter viele Schränke und Schubladen, die die Accessoires einer gut ausgestatteten Küche enthielten.

Der Backofen war in Brusthöhe, der Herd mit Ceranfeldern und Gasanschluss stand ein wenig in den Raum, so dass die Dunstabzugshaube keine Gefahr für Beulen am Kopf beim Kochen bedeutete. Alles wirkte modern und edel, aber nicht kitschig und überladen.

„Eine stilsichere Einrichtung. War das Ihre Idee oder die Ihres Vaters?“

Sondra sah kurz in das Gesicht des Polizisten. „Wir hatten beide vor, aus diesem Landhaus etwas zu machen. Jeder hat ein paar Ideen eingebracht, wir haben sie besprochen und dem Innenarchitekten vorgeschlagen. Der hatte dann noch ein paar Ideen und voilà´, das kam dabei raus.“

Im Wohnzimmer genoss der junge Kommissar die wärmende Wirkung des Tees.

„Sie haben mich und das Haus also den ganzen Tag beobachte. Waren Sie auch auf dem Friedhof?“

>Mann, ist die clever<, dachte Andreas. „Ja“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er spürte, dass er bei seinem Gegenüber mit offenen Karten spielen musste, nur so hatte er eine Chance, diese Person ein wenig zu öffnen.

„Ich habe selten bei einer Beerdigung so viele falsche Tränen gesehen. Außerdem - ohne Ihrer Familie Nahe treten zu wollen, - einige könnten durchaus Vertreter im Gruselkabinett werden.“

Sondra musste leicht grinsen. „Da haben Sie Recht. Was Empfindlichkeiten gegenüber meiner Familie anbelangt, da gibt es keine. Wenn man alle mit Haie vergleichen würde, täte man den Tieren Unrecht, denn diese sind in der Natur durchaus nützlich. Jetzt erzählen Sie mir bitte von den Ungereimtheiten, Herr Kriminalkommissar Laurenz.“

„Wie alt war Ihr Vater?“

Sondra überlegte kurz. „Sechsundfünfzig, warum?“

„Der Gerichtsmediziner hat das physiologische Alter Ihres Vaters auf etwa fünfundsiebzig geschätzt, wie erklären Sie sich das?“

„Ups! Wie wär’s mit: Sie haben ja vorhin einen Teil meiner ach so ehrbaren Familie kennen gelernt. Da wird man schnell ganz alt.“

Innerlich musste Kommissar Laurenz schmunzeln. Mit einer schlagfertigen Antwort hatte er gerechnet. „Außerdem wurden alte verheilte Wunden festgestellt: Messer- oder Schwertstiche sowie Verletzungen durch Pfeile. Und ein paar Knochenbrüche. Ich nehme mal nicht an, dass Ihre Familie Ihren Vater als Zielscheibe für Bogenschießen benutzt hatte.“

Sondra bemerkte sehr wohl den leichten Sarkasmus in der Stimme ihres Gegenüber. „Mein Vater war sehr oft im Ausland; Irland, Mittelmeerraum, Papua-Neuguinea und Südamerika. Möglicherweise hat er sich da die eine oder andere Verletzung zugezogen. Er war hart im Nehmen. Über ein paar Verletzungen weiß ich Bescheid, aber alles hat er mir auch nicht erzählt.“

Andreas kräuselte die Lippen. „Gibt es ein Testament?“

Sondra kräuselte ebenfalls die Lippen. „Natürlich. Und ich erbe fast alles. Der Rest der Familie kommt mit einem Taschengeld davon.“

Andreas war erstaunt, dass Sondra ihm so freimütig davon erzählte.

„Hören Sie, Kommissar. Ich habe meinen Vater wirklich geliebt. Er gab mir alles, was ich brauchte und mehr. An meinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte ich Zugriff auf einen Fond in Höhe von einer Million Euro plus Zinsen, die sich angehäuft hatten, seitdem mein Vater dieses Geld an meinem fünften Geburtstag angelegt hatte. Ich hatte es also wirklich nicht nötig oder eilig, an das Vermögen meines Vaters ran zukommen. Ich studiere Archäologie, keltische Geschichte und alte Sprachen und fahre einen alten VW-Käfer. Meine Strafzettel habe ich bisher reumütig und pünktlich bezahlt und ich bin ansonsten noch nie straffällig geworden. Meine einzigen Laster sind jede Art von Büchern und das Sammeln von Dingen, die eventuell alt sein könnten. Aber auf legale Art und Weise. Mein Vater hatte mir durchaus den Wert von allem, was mich umgibt, dargelegt, und ich meine nicht nur den materiellen Wert.“

Sondra hatte ihre lässige Haltung während ihrer Rede nicht aufgegeben, aber ihre Stimme wurde ein wenig fester.

„Aha“, sagte Kommissar Laurenz leise. „Und der Rest Ihrer Familie?“

„Die haben keine Ahnung, nicht mal im Ansatz, wie reich mein Vater war.“

„Wodurch ist er so reich geworden? Ich meine, Bücher schreiben allein macht doch niemanden in Deutschland dermaßen reich, oder?“

Sondra musste schmunzeln. „Das und das geschickte Anlegen des Geldes. Aber jetzt beantworten Sie mir bitte eine Frage.“

Andreas nickte, während er den letzten Schluck aus seiner Tasse trank.

„Da die Leiche meines Vaters freigegeben wurde und ich im Vorfeld nicht über irgendwelche Untersuchungen informiert worden bin: wieso sind Sie hier?“

„Neugierde“, antwortete Andreas Laurenz ehrlich und blickte Sondra direkt in die grünen Augen. „Dieses Merkwürdigkeiten im Autopsiebericht, die Lebensgeschichte Ihres Vaters und nicht zuletzt seine Bücher haben mich einfach interessiert.“

„Sie haben seine Bücher gelesen?“ Jetzt war Sondra wirklich erstaunt. Sie hätte nicht gedacht, dass ein junger, aufstrebender Polizist eine Fantasy-Leseratte war. Sie musste lächeln. „Ich kann Sie mir nur schwer mit einem Buch über Elfen vorstellen.“

Andreas konnte es nicht verhindern, dass er ein wenig rot im Gesicht wurde. „Halten Sie mich jetzt bitte nicht für ein Stalker, Groupie oder sonst was. Der Tod Ihres Vaters ist vielleicht natürlich, aber sein Leben schien ein einziges Geheimnis.“

Sondra goss ihrem Gegenüber noch mal Tee ein und lehnte sich zurück.

„Was haben Sie mit dem Mehl im Arbeitszimmer Ihres Vaters gemacht?“

Sondra zuckte kurz zusammen. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie endlich zu diesem Punkt gelangen.“

Die beiden taxierten sich einen Moment, jeder versuchte den anderen einzuschätzen.

>Gar nicht mal so übel<, dachte Sondra. >Der Typ sieht nicht nur gut aus, er ist auch noch clever. Aber ein Bulle stellt zu viele Fragen. Nachher findet er noch Dinge heraus, die ihn nichts angehen. Nein, Mädchen, sei bloß vorsichtig!<

Sondra holte tief Luft. „Mein Vater hat, wie sie ja aus dem Autopsiebericht wissen, im Todeskrampf mit seiner Hand was auf dem Parkett im Arbeitszimmer gekratzt. Ich dachte, er wollte mir eine Nachricht hinterlassen und wendete ein Trick an, um verborgenes sichtbar zu machen. Ich hätte auch einen Bogen Pergament und etwas Kohle nehmen können, aber letzteres habe ich zurzeit nicht im Haus.“

Andreas Laurenz hatte einen trockenen Mund, obwohl seine zweite Tasse fast leer war. Als er Sondra Wieland am Vormittag das erste Mal sah, auf dem Friedhof, wirkte sie zuerst zerbrechlich. Doch als er sah, dass Sie nach der Trauerfeier ging, ohne dem Rest der Familie und vor allem nicht dem Patriarch auch noch eines einzigen Wortes zu würdigen, wusste er, dass dieses Frau mit beiden Beinen fest im Leben stand. Dann die Szene an der Haustür mit ihrer Tante und den Cousins, das war unglaublich!

Und nun der klare, analytische Verstand, gepaart mit einem Aussehen, das – gelinde gesagt – reizvoll war.

Andreas musste sich räuspern. „Und, hat er Ihnen eine Nachricht hinterlassen?“ Ihm war bewusst, dass er Sondra mehrere Sekunden angestarrt hatte und es war ihm peinlich.

„Ja.“

„Wirklich? Ehrlich gesagt, hätte ich gedacht, dass Sie das verneinen würden.“

Sondra lächelte. „Ich würde doch nie die Polizei anlügen.“

Wieder dieser leichte Sarkasmus.

„Sagen Sie mir, was er geschrieben hat?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Weil es sehr privat war und im Endeffekt nichts mit seinem Tod zu tun hatte. Sein Tod war natürlich und ich wünschte, dass er noch hier wäre.“

Sondra merkte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle manifestierte. Sie räusperte sich.

„Bitte, gehen Sie jetzt, Herr Kommissar. Ich bin wirklich müde und möchte gern allein sein. Ich habe morgen einen harten Tag mit meinen `lieben Verwandten´ bei der Testamentseröffnung und brauche dazu noch ein wenig Kraft.“

Andreas merkte, dass Sondra gerade einen Tiefpunkt bekam und jede weitere Frage keine Antwort sondern nur Verärgerung hervorrief. „Ja, natürlich.“

Er stand auf und nahm die Tasse mit in die Küche. Das leise Lachen hinter ihm irritierte ihn.

Sondras Lächeln erreichte fast ihre Augen. „Ich erlebe selten Männer, die ihr Geschirr wegräumen“, sagte sie erklärend.

„Ich habe keine Putzfrau“, antwortete er. „Könnte ich kurz Ihre Toilette benutzen?“

Sondra wies ihm den Weg und ging ins Wohnzimmer. Sie nahm eine Visitenkarte aus ihrem Terminkalender und ging in den Flur zurück.

„Falls Sie noch Fragen haben, können Sie mich gerne demnächst anrufen, Herr Kommissar Laurenz.“

Er nahm die Karte entgegen und zögerte einen Moment. „Brauchen Sie morgen vielleicht seelische Unterstützung, wenn Sie auf Ihre Familie treffen?“

Sondra war sich nicht sicher, aber irgendwie hatte sie gehofft, dass er eine Frage in diese Richtung stellen würde. „Ja.“

„Wann und wo?“

Sondra nannte ihm die Adresse und die Uhrzeit. „Ich kann Sie ja als meinen Bodyguard vorstellen.“

Jetzt musste Andreas grinsen. „Gibt es Menschen, die glauben, dass Sie einen nötig hätten?“

Sondra lächelte zurück. „Gute Nacht, Herr Kommissar.“

Kapitel 2: Das Erbe

Es war ein klarer Morgen im September des Jahres 2005, kühl und trotzdem sonnig. Sondra mochte dieses Wetter. Während sie vor der Kanzlei auf Kommissar Laurenz wartete, betrachtete sie die Sonne, die sich durch die Blätter der Bäume ihren Weg bahnte. Tief sog sie die Luft ein, die ein wenig noch Wald und Pilzen roch.

„Hallo, Cousinchen!“

Sondra brauchte sich nicht umdrehen. So eine Selbstsicherheit brachte nur Gregor Baier zustande. Er machte einen halbherzigen Versuch, seine Cousine zu umarmen, aber ihr Gesichtsausdruck beendete diese Aktion, bevor sie begann.

„Wo ist der Rest der Bagage?“ fragte Sondra.

„Der Patriarch kommt im Konvoi mit den anderen.“

„Du nennst ihn Patriarch?“

Gregor guckte sie erstaunt an. „Natürlich. Ich will schließlich in seinem Testament bedacht werden, also werde ich ihn offiziell mit Respekt behandeln. Täte dir auch ganz gut.“

Sondra schluckte sich drei Bemerkungen gleichzeitig runter und atmete erleichtert auf, als sie Andreas Laurenz sah. „Ah, da kommt ja mein Bodyguard“, sagte sie, mit Absicht ein wenig lauter, so dass sowohl Gregor Baier als auch Andreas Laurenz diese Bemerkung hören konnte.

„Wozu brauchst du den einen Bodyguard?“ fragte Gregor. Er taxierte den Neuankömmling mit eisigem Blick. Andreas erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich habe ihn engagiert, weil ich euch alle als gefährlich einstufe.“

Gregor wurde abwechselnd rot und blass, setzte ein paar Mal zum Sprechen an und gab dann achselzuckend auf.

„Tolles Timing“, sagte Sondra leise zu Andreas.

„Wo sind die anderen?“

Sondra guckte die Einbahnstraße runter. „Da kommt der Konvoi. Gregor war nur die Vorhut. Wahrscheinlich sollte er mich aushorchen oder einschüchtern.“

Sondra ging zielstrebig auf den Eingang der Kanzlei zu.

„Du kannst doch nicht vor dem Patriarchen die Kanzlei betreten!“, brüllte Gregor. In seinem Gesicht waren hektische Flecke zu sehen.

„Natürlich kann ich das. Dr. Kolbrink ist der Anwalt meines Vaters und von mir, nicht der von Großvater.“

Sondra ging weiter, gefolgt von Andreas Laurenz.

„Ich habe das Gefühl, Sie haben es sich jetzt endgültig beim Rest der Familie verscherzt“, murmelte Andreas beim Betreten des Hauses.

Durch seinen Beruf hatte er schon viele Anwaltskanzleien gesehen. Einige waren eher fragwürdig, die meisten modern und protzig. Diese hier war schlicht altehrwürdig. Holztäfelungen und antike, geschmackvolle Möbel. Es roch keineswegs muffig, aber es roch nach Holz und Polster.

Es roch noch reichen Klienten.

Andreas fing an, sich ein wenig unwohl zu fühlen. Sondra merkte es und beruhigte ihn. „Dr. Kolbrink ist ein charmanter Mann. Für ihn zählen die Menschen, nicht das Geld, das hinter ihnen steckt. Er hat schon viele reiche Klienten abgelehnt, weil sie ihm zu blasiert waren.“

Die Chefsekretärin persönlich geleitete sie in den Konferenzraum, wo genügend Platz für alle Familienmitglieder war. Auf dem Nussbaumtisch standen schon Kaffeetassen, Milch- und Zuckerkännchen und kleine Teller mit erlesenem Gebäck. Eine Assistentin kam freundlich nickend rein und stellte die Kaffeekannen auf den Tisch.

Die Chefsekretärin wies Sondra einen Platz zu und sah fragend zu Andreas rüber.

„Er ist mein Begleiter. Für meine Sicherheit.“ Sondra lächelte leicht und die Sekretärin nickte freundlich lächelnd. Leise fragte sie Andreas Laurenz, ob es ihm etwas ausmachen würde, an der Seite Platz zu nehmen, da er ja nicht zum engeren Familienkreis gehörte. Andreas hatte damit keine Probleme und bekam einen bequemen Stuhl schräg hinter Sondra zugewiesen.

Sondra bot Andreas eine Tasse Kaffee an, aber er lehnte ab. Rasch steckte er sich einen Bonbon in den Mund, da er merkte, dass sein Mund trocken wurde.

Sondra goss sich gerade Kaffee ein, als die Tür erneut aufging und die Chefsekretärin mit dem Rest der Wielands eintrat.

Der Patriarch war trotz seiner zweiundachtzig Jahre eine beeindruckende Gestalt. Groß und kerzengerade schritt er zügig ins Zimmer. Seine eisblauen Augen trafen Sondra, die den Blick mit stoischer Gelassenheit erwiderte. Sie stand nicht auf, um ihm Ehrerbietung entgegen zu bringen. Seelenruhig nippte sie an ihrer Kaffeetasse.

„Du hast gefälligst aufzustehen, wenn der Patriarch den Raum betritt“, zischte Gisela Baier, die direkt hinter dem Patriarchen den Raum betrat.

„Nein“, antwortete Sondra leise.

Eine andere Tür ging auf und ein älterer Mann betrat den Raum. Er war lange nicht so groß und schlank wie der Patriarch, aber sein Auftreten zeugte von Souveränität. Sondra stand auf und reichte ihm lächelnd die Hand zum Gruß. Kurz stellte sie ihm Andreas vor und den Zweck seiner Anwesenheit. Dr. Kolbrink begrüßte auch Andreas Laurenz mit Handschlag und lächelte ihn freundlich an. Andreas bemerkte, dass Sondra nicht gelogen hatte; Dr. Kolbrink war ein charmanter und aufrechter Mann.

Nachdem Dr. Kolbrink auch die anderen begrüßt hatte ließ er sie sich hinsetzen.

Sondra saß zur Linken vom Anwalt. Die Chefsekretärin hatte sich schräg hinter Dr. Kolbrink mit einem Stenoblock hingesetzt und schrieb Protokoll mit. Der Patriarch saß zur Rechten und somit genau gegenüber von Sondra. Neben Sondra hatte sich Paul Baier hingesetzt, ihm gegenüber saß seine Mutter. Roland, der älteste Sohn des Patriarchen saß neben Gisela, daneben das jüngste Geschwisterkind, Wolfgang. Gregor saß neben Paul und Sondra konnte sein aufdringliches Rasierwasser riechen.

>Was für ein Gruselkabinett<, dachte Andreas.

Kolbrinks warme und leise Stimme erfüllte den Raum, als er das Testament von Thorben Wieland vorlas. Die Einzelheiten und Erklärungen dauerten an und alle Anwesenden schalteten geistig ab.

Sondra mochte den Anwalt, deshalb gebot es ihr die Höflichkeit, wenigstens so zu tun, als ob sie aufmerksam zuhören würde. Gregor betrachtete seine Fingernägel und knibberte heimlich unter dem Tisch daran rum. Gisela unterdrückte mehrfach ein Gähnen. Paul versuchte aufmerksam zuzuhören und machte sich dabei einige Notizen. Wolfgang kaute nervös auf seine Unterlippe und seine Augen, wässrig und von fahler Farbe, huschten von einem Gesicht zum anderen. Roland war eingenickt und gab leise Schnarchlaute von sich.

Der Patriarch hatte seine Augen auch geschlossen. Kerzengrade saß er auf seinem Stuhl, die gepflegten Hände akkurat auf dem Tisch gelegt.

>Der schläft nicht, sondern ist hochkonzentriert<, dachte Andreas.

„Und somit komme ich zur Aufteilung meines Vermögens“, las Dr. Kolbrink aus dem Testament von Thorben Wieland vor.

Sofort waren alle Anwesenden hellwach und konzentriert.

Nur der Patriarch und Sondra hatten ihre Körperhaltung nicht verändert.

„Meinem Vater und meinen Geschwistern Roland, Gisela und Wolfgang vermache ich jeweils 150.000 Euro. Mögen sie damit machen was sie wollen. Falls sie das Testament anfechten, verlieren sie in dem Moment, wo eine Klage eingereicht wird, jeglichen Anspruch auf das ausgesprochene Erbe.

Meine Tochter Sondra erbt das Haus mit Grundstück, in dem wir so viele schöne Jahre verbracht haben, mit allem was dazu gehört.

Ferner erbt sie die Rechte und Tantiemen an meinen Büchern, die im Anhang aufgelisteten Wertpapiere sowie die Summe von über 10 Millionen Euro in bar.“

Andreas Laurenz war froh, dass er seinen Bonbon schon runtergeschluckt hatte, sonst wäre ihm dieser jetzt im Halse stecken geblieben. Er hatte ja geahnt, das Sondra Wieland eine reiche Frau sein würde, aber das war etwas mehr als reich. Er guckte zum Patriarchen hinüber und erschrak.

Der Patriarch hatte seine Augen geöffnet und dicke blaue Adern quollen an der Stirn hervor. Die Gesichtsfarbe wechselte ständig zwischen puterrot und kalkweiß. Sein Mund, der ohnehin schon recht schmal war, war jetzt gar nicht mehr zu sehen.

Gisela gab grunzende Laute von sich und Roland murmelte entgeistert in sich hinein.

Wolfgangs Augen huschten wieder hin und her, aber er sagte keinen Ton.

Paul hatte aufgehört zu schreiben, weil er seinen Stift in der Mitte zerbrochen hatte.

Gregor sah Sondra an. „Alle Achtung, Cousine.“

Andreas kannte diesen Unterton. Ein Mix aus verletzter Eitelkeit, vergangenen Chancen und Pläne schmieden, die bestimmt nichts Gutes verheißen würden.

„Dieses Testament ist eine Unverschämtheit.“ Die Stimme des Patriarchen war leise, aber kalt. „Wie kann mein Sohn es wagen, mich mit diesen Peanuts abzuspeisen?“

„Das weißt du genau, Großvater.“ Sondra wählte diese Anrede bewusst. „Er hatte dir eine Jugend ohne Liebe zu verdanken. Er hatte dir einen Aufenthalt in der Nervenheilanstalt zu verdanken. Und er hätte deinetwegen fast das Sorgerecht für mich verloren. Was erwartest du also?“

Sondras Stimme war genauso leise und kalt wie die des Patriarchen gewesen. Ihre grünen Augen bohrten sich fest in die des Alten.

„Ich werde meine Angelegenheiten weiterhin in den Händen von Herrn Dr. Kolbrink lassen. Falls du irgendwelche Fragen bezüglich des Testamentes oder meiner Finanzen haben solltest, dann wende dich an ihn. Dr. Kolbrink erhält aber von mir die Anweisung, dich von diesem Augenblick an über keine finanziellen oder persönlichen Obliegenheiten meiner Person zu informieren.“

Langsam beugte sie sich vor. „Gib dich mit diesen ´Peanuts` zufrieden, mehr wirst du nicht bekommen.“

Dr. Kolbrink räusperte sich und stand auf. „Hier sind Kopien des Testamentes für Ihre Unterlagen. Sie können gerne Einsicht in das Original zu Vergleichszwecken hier in dieser Kanzlei und in meiner Gegenwart haben. “Mit diesen Worten gab er dem Patriarchen, Roland und Wolfgang Wieland sowie Gisela Baier jeweils eine Kopie. Dann blieb er stehen und blickte höflich auf den Patriarchen runter. Langsam stand dieser auf.

„Das war noch nicht das letzte Wort, Sondra!“, zischte er, ohne Sondra anzusehen.

Hastig eilte die Familie dem Patriarchen hinterher. Gregor blieb an der Tür stehen.

„Ich hoffe, du denkst über eine sinnvolle Verteilung deines Erbes nach“, sagte er.

„Und ich hoffe, du denkst daran, nicht mehr alkoholisiert Auto zu fahren.“

Wutschnaubend drehte Gregor Baier sich um und verließ den Raum.

Andreas Laurenz bemerkte, das Sondra scharf die Luft einsog. Ihre Hände zitterten leicht und auf den Wangen bildeten sich plötzlich hektische rote Flecke. Unter diesen Flecken nahm er etwas anderes wahr, ein leichtes Schimmern.

>Was ist das?<, fragte er sich, schüttelte dann aber den Kopf. Vermutlich nur eine Täuschung, hervorgerufen durch das diffuse Sonnenlicht, das durch die Fenster drang.

Die Chefsekretärin, die die ganze Zeit unbemerkt im Hintergrund gearbeitet hatte, stand schnell auf, goss einen Cognac in ein Glas und überreichte ihn Sondra.

Dankbar lächelte Sondra die ältere Dame an.

„Herr Laurenz, ich hätte noch ein paar persönliche Dinge mit Frau Wieland zu besprechen. Wären Sie so freundlich und würden im Vorzimmer Platz nehmen?“

Dr. Kolbrink war höflich, aber Andreas wusste, dass das keine Frage, sondern eine direkte und unmissverständliche Aufforderung war.

„Selbstverständlich, Dr. Kolbrink.“

Eine Stunde, zwei Bonbons und drei Zeitschriften später kam Sondra aus dem Büro des Anwalts. Andreas bemerkte, dass sie erschöpft und müde, aber auch zufrieden wirkte.

„Vielen Dank für alles, Onkel Holger“, hörte er sie sagen.

Dr. Kolbrink grinste leicht und umarmte Sondra Wieland.

„Onkel Holger?“, fragte Andreas, als er und Sondra auf die Straße traten.

Sondra kicherte und Andreas war über diese Reaktion erstaunt. Sie wirkte so mädchenhaft und das passte eigentlich gar nicht zu der taffen jungen Frau neben ihm. Er betrachtete sie, während sie mit geschlossenen Augen in der Spätsommersonne stand und die frische Luft tief einatmete. Das Licht reflektierte und brach in ihrem Haar und die eben noch blassen Lippen und Wangen bekamen Farbe.

„Holger Kolbrink und mein Vater kannten sich sehr lange. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre mein Vater in der Nervenheilanstalt vor über 30 Jahren gestorben und ich wäre nie geboren worden. Er war auch maßgeblich daran beteiligt, dass mein Vater das Sorgerecht für mich behielt. Außerdem waren seine Tochter Karin und ich beste Freundinnen und wenn mein Vater verreist war, kümmerten die Kolbrinks sich um mich und ich wohnte bei ihnen.“

„Waren Freundinnen?“

Sondras Gesicht zuckte kurz. „Sie starb vor drei Jahren. Leukämie.“ Sie sah Andreas in die Augen und einen Moment schwiegen sie in bewusstem Einverständnis.

„Darf ich meinen Bodyguard noch zu einem Mittagessen beim Italiener oder so einladen oder müssen Sie wieder zum Dienst?“

Das leichte Lächeln brach das Eis und Andreas grinste zurück. „Ich dachte schon, Sie würden mein Magenknurren überhören.“

Der Italiener zwei Straßen weiter war gut, solide Küche und nettes Ambiente. Sondra trank Tee und Andreas Wasser ohne Kohlensäure.

„Ich habe noch so viele Überstunden, und da im Moment relativ wenig passiert und zwei meiner Fälle vor Gericht sind, habe ich mir für heute frei genommen.“

„Und Ihren freien Tag verbringen Sie ausgerechnet mit den Verwandten der Adams-Family?“

Sie lachten beide. Andreas hörte, dass es ein offenes und ehrliches Lachen war, kein höfliches.

„Sie lachen hoffentlich bald wieder öfter, das steht Ihnen.“

Sondra lächelte, streckte sich ein wenig und lehnte sich zurück.

„Ich danke Ihnen. Nicht nur für das Kompliment, sondern auch dafür, dass Sie heute da waren. Ich, äh…“ Sie brach ab und suchte nach Worten. Zum ersten Mal seit langer Zeit fiel ihr keine weitere Antwort ein.

>Verlegenheit? Sondra, du schwächelst!<, dachte sie bei sich.

„Was sagt denn Frau Laurenz dazu, wenn Sie Ihre Freizeit mit anderen Frauen verbringen?“

„Na, die findet das ganz toll. Eine sehr tolerante und weltoffene Frau ist das.“

Sondra starrte ihn an. Andreas sah sie völlig unbekümmert an. Dann zuckte es verdächtig um seinen Mundwinkel und er fing an zu lachen. Es machte ihm sichtlich Vergnügen, sein sonst so selbstsicheres Gegenüber reingelegt zu haben.

„Tut mir leid, das war zu verlockend“, sagte er unter leisem Lachen. Sondra wurde von seinem Lachanfall angesteckt und musste auch Schmunzeln, versuchte sich aber noch zu beherrschen.

„Darf ich die Pointe erfahren?“

„Frau Laurenz ist meine Mutter.“

Jetzt musste Sondra doch Lachen. „Okay, ich habe das verdient.“

„Ich habe auch noch zwei Schwestern, diverse Tanten und Onkel mütter- und väterlicherseits, Cousins, Cousinen und Nichten und Neffen.“

„Schon mal an einen Stammbaum gedacht, den Sie immer in Ihrer Brieftasche bei sich tragen?“

Andreas Laurenz griff in die Innenseite seiner Jacke und zog die Brieftasche raus. Dabei sah er völlig ernst aus. Sondra musste Lachen.

„Meine Familie ist anders als Ihre, eher wie die Waltons.“

Sondra fühlte sich plötzlich warm und leicht. „Es ist schön, das es Familien gibt, die diesen Titel auch verdienen. Es freut mich für Sie.“

Eine Weile sahen sie sich an. Andreas unterdrückte den Impuls, Sondras Hand zu nehmen.

„Tja, ähm… brauchen Sie noch Begleitschutz bis nach Hause?“

>Mann, Andi, wie blöd kannst du eigentlich sein? Du tropfst ja schon vor Gier!<

„Ich glaube, es reicht, wenn Sie mich bis zu meinem Auto begleiten“, antwortete Sondra mit leichtem Lächeln.

An dem alten Käfer aus den 1970er Jahren verabschiedeten sie sich.

„Darf ich Sie irgendwann vielleicht mal anrufen?“ fragte Andreas, als Sondra gerade ihren Wagen aufschloss.

>Wieder dieses Schimmern!< Es war kaum wahrnehmbar und nur kurz.

„Das würde mich freuen.“

Er grinste und drehte sich um.

„Heißt, das, das Sie keine weiteren Ermittlungen anstellen werden?“, fragte Sondra.

„Nein. Ich glaube nämlich nicht, das ich das Geheimnis um Thorben Wieland und seinen Tod durch normale Polizeiarbeit herausfinden kann.“

Sondra sah ihn stirnrunzelnd an. „Wie meinen Sie das?“

Andreas atmete tief und geräuschvoll ein. „Weiß ich noch nicht, aber wenn ich eine Vermutung habe, sind Sie die Erste, die es erfährt.“

Sondra starrte Andreas Laurenz einen Moment lang an. >Verdammt. Er kommt dem Ganzen zu nah.<

„Ich werde demnächst für ein oder zwei Monate verreisen. Ich bin dann nicht erreichbar. Wenn Sie in der Zeit eine Idee haben sollten, wenden Sie sich an Dr. Kolbrink.“ Sondra klang härter, als sie eigentlich wollte.

Sie wollte gerade in ihr Auto steigen, als sich seine Hand auf ihre legte.

„Wann verreisen Sie?“, fragte Andreas ruhig. Kein Unterton, kein Vorwurf, kein Verdacht.

Nur eine einfache Frage.

>Mann, ist der gut!<, dachte Sondra. „So um den 10. rum.“

Sie stieg ins Auto und ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

Als sie losfuhr, sah sie Andreas stehen, mit Händen in den Jackentaschen und den Kopf leicht schräg.

Kapitel 3: Eine Verzweiflungstat

Gregor Baier war verzweifelt. Der Buchmacher ließ sich nicht mehr länger hinhalten und er musste die 300 Riesen so schnell als möglich auftreiben.

Aber wie?

>Läppische 150.000! Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten bei diesem Sonderling<, dachte Gregor.

Nervös zog er an seiner Zigarette. Geistesabwesend starrte er durch die Windschutzscheibe seines BMW Z4. Seit einer Stunde stand er vor der Auffahrt von Sondra Wielands Haus.

>Ihr Haus!< Er lachte verzweifelt.

Drei Tage waren vergangen und Gregor hatte alles versucht um Geld zu beschaffen.

Er war bei seiner Mutter, die ihm jedoch ihr Leid klagte, dass sie ja arm wie eine Kirchenmaus war.

Er war bei seinem Bruder Paul, der ihm einfach nur die Tür vor der Nase zuschlug.

Er war sogar bei dem Patriarchen, bettelte förmlich auf Knien um das Geld.

Der Patriarch hatte nur gelacht. Kalt und humorlos.

Als Gregor ihn anflehte und ihm sagte, dass er sonst durch den Buchmacher eventuell zum Krüppel geschlagen oder einige Körperteile verlieren würde, ja sogar vielleicht getötet, da sagte der Patriarch: „Das ist dein Problem, nicht meines. Wende dich doch an deine Cousine. Vielleicht hat die ja Mitleid.“

Gregor hasste die Vorstellung, vor Sondra zu Kreuze zu kriechen, aber ihm blieb einfach keine Wahl.

Langsam fuhr er die offene Auffahrt hoch und parkte das Auto ein wenig abseits von der Haustür. Es war ein ungewöhnlich kalter und nasser Septemberabend. Gregor hasste dieses Wetter und wollte lieber auf Ibiza in der Sonne liegen.

>Südafrika wäre auch mal toll<, dachte er.

Gregor nahm noch rasch das Mundspray aus dem Handschuhfach und versuchte damit, seinen Alkoholgeruch zu überdecken.

Er klingelte, wusste, dass sie da war.

Das Licht im Flur ging an. „Wer ist da?“, hörte Gregor Sondras Stimme fragen.

„Ich bin es, Gregor. Bitte Sondra, ich muss mal mit dir reden. Ich werde auch ganz artig sein!“

>Artig? Was ist denn das jetzt, du Hornochse<, dachte er. Irgendwie sind ihm diese Worte einfach raus gepurzelt, bevor er nachdachte.

Aber offensichtlich verfehlten sie ihre Wirkung nicht.

Sondra öffnete die Tür. „Du kannst artig sein? Na dann, versuchen wir´s mal.“

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Gregor war schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen und war umso erstaunter, wie stilvoll es eingerichtet war.

„Wow! Ich muss schon sagen, ihr beide habt es euch hier richtig schön gemacht.“

„Danke. Aber du bist doch nicht hier, um mir Komplimente zu machen oder Smalltalk zu halten?“

>Ich unterschätze sie jedes Mal<, dachte Gregor.

„Nein.“ Gregor holte tief Luft, wagte es aber nicht, Sondra in die Augen zu sehen. Sein Blick blieb auf ihrem T-Shirt hängen.

Besser gesagt, an ihrem Ausschnitt.

>Ich wusste ja gar nicht, dass sie so ´ne tolle Figur hat<, dachte er.

„Ich warte“, sagte Sondra.

Gregor fühlte sich zwar ertappt, versuchte aber wieder seine ´Prince-Charming`-Masche.

„Sondra, Liebes. Ich weiß, dass wir nie besonders nett zu deinem Vater und zu dir waren. Ich war auch ein totaler Idiot und habe viele Fehler gemacht. Aber ich habe mich geändert. Ich weiß jetzt, dass der Patriarch ein kaltherziger Mistkerl ist. Es tut mir wirklich leid. Alles, was ich dir jemals angetan habe.“

Sondra sah Gregor an. Sie wusste genau, worauf er hinaus wollte, dachte aber, dass sie ihn aussprechen lassen sollte.

Gregor wusste, dass er jetzt sein Anliegen vorbringen musste, oder sie würde ihn rausschmeißen.

„Sondra, ich bitte dich, nein, ich flehe dich an! Ich schulde einem Buchmacher eine Menge Geld und ich habe schon in der ganzen Familie gebettelt. Selbst dem Patriarchen bin ich schon zu Kreuze gekrochen, aber der hat mich kalt abserviert. Bitte, Sondra!“

Soviel Ehrlichkeit hatte sie so schnell nicht von ihrem Cousin erwartet. „Wie viel?“, fragte sie ruhig.

„Etwa 300.000 Euro.“

Leise pfiff Sondra durch die Zähne. Gregor war erstaunt, dass sie das konnte.

„Was bietest du mir als Gegenleistung?“

Auf diese Frage war er nicht vorbereitet.

„Ich kann die meinen Z4 als Sicherheit geben oder ich kann dir das Geld wiedergeben, wenn der Patriarch tot ist und ich meinen Anteil bekommen habe.“

Sondras grüne Augen funkelten leicht.

„Nein. Ich will keine Rückversicherung finanzieller Art. Ich mache dir einen Vorschlag. Nimm ihn an und du bist alle deine Schulden los. Lass es sein, und dein Buchmacher kann seine Jungs auf dich hetzen.“

Gregors Mund wurde trocken und er spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg. „Was verlangst du?“

Sondra nahm einen Schluck von ihrem Tee. „Als erstes meldest du dich in einer Suchtklinik für Alkohol- und Spielerprobleme an. Dann gehst du zur Polizei und stellst dich wegen dem Unfall mit Fahrerflucht, den du vor zwei Jahren begangen hast. Ich werde dir dafür sogar noch einen guten Anwalt besorgen und bezahlen, wenn du es möchtest. Du musst für das, was du getan hast Verantwortung übernehmen. Dann helfe ich dir.“

Gregor vergaß zu atmen. „Woher weißt du von dem Unfall?“

Seine Stimme war fast gebrochen. Sondra beobachtete ihn und dachte bei sich, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war, Gregor eingelassen zu haben.

„Hör mal. Wir machen alle mal Fehler. Steh zu deinem und du kannst ganz neu von vorn anfangen.“

Mit dem plötzlichen Überfall hatte Sondra nicht gerechnet. Gregors Hand schloss sich um Sondras Hals, er warf sie zu Boden und kniete fast auf ihrer Brust.

„Du sagst mir jetzt, woher du das weißt!“, brüllte er.

Sie röchelte. „Lass mich los. Bist du irre?“, quetschte sie hervor. Sie schlug nach ihm, aber Gregor schlug mit der Faust zurück und traf ihre Wange. Er ließ ihren Hals los, packte ihre Arme und verdrehte sie so, dass sie unter ihrem Rücken waren. Sondra merkte erst jetzt, dass sie von der Couch auf den Boden gerutscht waren.

„Du blödes Flittchen! Ich mach dich fertig!“

Sondra spuckte ihn an, das einzige, was sie im Moment tun konnte. Wieder schlug Gregor zu, diesmal mit dem Handrücken. Sondra schmeckte Blut auf ihrer Lippe und wurde wütend.

„Du sollst mich loslassen, Gregor!“, brüllte sie.

Dann tat Gregor etwas, womit sie gar nicht gerechnet hatte. Hart presste er seinen Mund auf ihren, so dass die Zähne aneinander knirschten. Seine freie Hand zerrte an ihrem T-Shirt bis es riss.

>Das kann doch nicht wahr sein! Er will mich vergewaltigen!<, dachte sie erschrocken.

„Wenn sie dich finden, werden die denken, dass ein Einbrecher im Haus war. Ich werde alles so aussehen lassen“, keuchte Gregor.

Er versuchte mit seiner freien Hand seine Hose zu öffnen und ließ dadurch eine kleine Lücke zwischen seinen Beinen. Sondras Knie schnellte mit aller Kraft, die sie hatte hoch und traf seinen Unterleib.

Gregor jaulte auf und sein Griff lockerte sich. Das reichte Sondra. Sie befreite ihre Arme aus der rückwärtigen Stellung und stieß ihn von sich. Schnell sprang sie auf und wollte aus dem Zimmer rennen, aber Gregor warf sich ihr japsend in den Weg. Ohne nachzudenken nahm sie die Holzfigur mit afrikanischem Motiv von dem Sideboard und schlug damit zu.

Sie traf Gregor am Kopf und er fiel um wie ein nasser Sack.

Keuchend stand Sondra da, mit der zerbrochenen Holzfigur. Schnell ließ sie sie fallen, rannte zu den Vorhängen und riss die Schnüre und Kordeln runter.

Gregor stöhnte, war aber zu benommen, um sich zu wehren, als Sondra ihn fesselte.

Als er wie ein Postpaket verschnürt am Boden lag, widerstand Sondra dem Verlangen, nach ihm zu treten. Zitternd ging sie zum Telefon. Sie war gerade dabei, die Handynummer von Andreas Laurenz einzutippen, als sie innehielt.

>Das bringt ihn vermutlich in Schwierigkeiten<, dachte sie.

Sie rief bei Holger Kolbrink an und berichtete kurz.

„Du rufst sofort die Polizei an, machst dich nicht sauber oder so. Die Spuren an dir müssen so bleiben. Ich bin unterwegs zu dir.“

Sondra tat das, was Holger ihr geraten hatte. Sie legte sich lediglich eine Decke um die Schultern, weil sie auf einmal entsetzlich fror.

Zehn Minuten später war der erste Streifenwagen da, wenig später ein zweiter und die Spurensicherung. Dann kam noch ein ranghoher Polizist dazu und endlich tauchte Holger Kolbrink auf.

Alles um Sondra herum passierte wie in einem Film. Der ranghöchste Beamte stellte Fragen, Sondra antwortete wahrheitsgemäß. Die Spurensicherung nahm Fingerabdrücke, machte Fotos vom Wohnzimmer und von Sondra, insbesondere ihre Verletzungen und Blutergüsse.

Dann wurden diverse Gegenstände wie die kleine Holzfigur und auch Sondras Kleidung sichergestellt. Eine Beamtin war mit Sondra in ihr Schlafzimmer gegangen und tütete die Kleidung ein.

Danach wusch sich Sondra erstmal, zog sich saubere Kleidung an und packte einen kleinen Rucksack. Sie wollte heute Nacht nicht hier bleiben. Bestimmt konnte sie bei Holger und Renate Kolbrink übernachten.

Auf dem Weg zu Kolbrinks Haus schwiegen sie. Holger konzentrierte sich auf die Straße, aber sein angespanntes Gesicht und die Knöchel an seiner Hand, die weiß hervortraten, als sie das Lenkrad des Mercedes umklammerten, sprachen für sich.

Sondra hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf den Geruch des Leders der Autositze. Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte.

Holger Kolbrink bemerkte das leichte Lächeln, als Sondra das Display las und ran ging.

„Hallo, Andreas….Ja, ich bin in Ordnung. Mir ist nichts passiert….Ich übernachte bei Holger und seiner Frau….Morgen?...Ja, okay. Ich muss morgen früh noch eine Aussage auf dem Revier machen, aber morgen Nachmittag könnten wir uns treffen….Bei dem Italiener von neulich?... Gut. Also bis morgen.“

„Andreas Laurenz mag dich wirklich“, sagte Holger Kolbrink.

„Ja. Kann schon sein.“

„Warum war er nicht bei dem Polizeiaufgebot?“

Sondra musste wieder lächeln, bereute es aber gleich, da ihr Gesicht höllisch wehtat.

„Andere Abteilung. Wenn er gekommen wäre, hätte es eine Leiche gegeben.“

Sie schwiegen wieder. Sondra hörte an Holgers Atmung, dass er mit sich kämpfte.

„Spuck es aus“, forderte sie ihn auf.

„Warum hast du Gregor überhaupt ins Haus gelassen? Bist du so leichtsinnig? Was sollte das?“

Sondra seufzte. „Ich weiß auch nicht. Ich hatte diese kleine Idee, dass er vielleicht bereit sein würde, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe diesen Glauben, das in jeden Menschen etwas Gutes steckt.“

Wieder Schweigen.

„Auch in Menschen der Familie väterlicherseits. Dieser Fehler wird mir nicht noch einmal passieren“, schloss sie.

Sie gelangten an die Sondra so vertraute Toreinfahrt zu dem Grundstück der Kolbrinks.

„Du wirst dein Gesicht kühlen müssen. Brauchst du eine Schmerztablette?“

Sondra verneinte. An der Haustür wartete schon Renate Kolbrink. Sie war der absolute mütterliche Typ. Etwas klein, etwas untersetzt und immer um alles bekümmert.

Sondra liebte diese Frau wie die Mutter, die sie nie hat kennen lernen dürfen.

Sanft nahm Renate Kolbrink Sondra in die Arme, führte sie hinein und brachte sie in das Gästezimmer, das immer für sie bereit stand.

>Ich blöde Gans<, schimpfte Sondra mit sich selbst, als sie später im Bett lag. Eiswürfel waren in Küchenhandtücher gewickelt und sie legte sie sanft auf ihr Gesicht.

Kurz bevor sie vor Erschöpfung einschlief, dachte sie noch an Andreas und seine sanften braunen Augen.

Den nächsten Vormittag verbrachte Sondra damit, auf dem Polizeirevier eine Aussage zu machen und Anzeige gegen ihren Cousin Gregor Baier zu stellen. Holger Kolbrink hatte ihr einen Strafverteidiger zur Seite gestellt, der mit Gewaltdelikten vertraut war.

„Ich bin zwar auch Anwalt, aber im Strafrecht kenne ich mich nicht mehr so aus. Sandmann ist genau der Richtige für dich, Sondra“, hatte Holger gesagt.

Sondra war gerade mit dem ganzen Papierkram fertig und wollte eine Unterschrift setzen, als eine durchdringende Stimme ihren latenten Kopfschmerz wieder hochfahren ließ.

Die Beschimpfungen, die Gisela Baier über Sondra ergoss, hätten so manche Bordsteinschwalbe der Reeperbahn erröten lassen. Sondra biss sich auf die Zunge, weil sie sich die Antworten einfach ersparen wollte. Thomas Sandmann, ihr Anwalt, ermahnte Gisela jedoch immer wieder, dass jede Beleidigung ihrerseits eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würde. Gisela war aber so hysterisch, dass Vernunft bei ihr abprallte.

Sondra konnte Gisela sogar ein bisschen verstehen, schließlich war Gregor Giselas Sohn und ihr Junge war in Schwierigkeiten. Nur war er erwachsen und inzwischen für seine Handlungen definitiv selbst verantwortlich.

Seufzend unterschrieb Sondra ihre Aussage und die Anzeige. Dann stand sie auf, nahm ihre Jacke und ging mit ihrem Anwalt aus dem Polizeirevier.

„Nette Verwandte haben Sie. Kolbrink hat mich ja schon gewarnt, aber die Live-Show war beeindruckend“, sagte er.

Sondra grinste, bereute es aber gleich wieder, da ihre rechte Wange höllisch wehtat.

Thomas Sandmann war Anfang dreißig und machte den Eindruck, als ob er Anwalt mit Leidenschaft war. Er wirkte nicht unbedingt wie jemand, der auf den Paragraphen herum ritt und das BGB und das StGB als Bibel betrachtete. Der Ring an seinem rechten Ringfinger war mehr als deutlich und innerlich seufzte Sondra deshalb ein wenig.

>Mann, musst du das nötig haben<, dachte sie.

„Kolbrink hat mir erzählt, dass sie verreisen wollten. Diese Pläne müssen Sie jetzt um mindestens einen, vielleicht sogar zwei Monate verschieben.“

Sondra wurde abwechselnd kalt und heiß. „Das geht nicht, ich … ich muss verreisen. Ich werde erwartet.“

Thomas Sandmann schüttelte den Kopf. „Ich versuche den Prozess so schnell als möglich zu bekommen oder auf das nächste Frühjahr zu verlegen. Ich weiß trotzdem erst in zwei bis drei Wochen - frühestens -, wann der Termin sein wird.“

Sondra überlegte und setzte sich ihre dunkle Sonnenbrille auf. An diesem trüben Septembertag war das eigentlich nicht nötig, aber Teile ihres Gesichtes nahmen langsam eine Färbung an, die man mit der Palette eines Malers vergleichen konnte.

„In Ordnung“, sagte sie. „Versuchen Sie den Termin ins nächste Frühjahr zu verlegen. Ich muss diese Reise machen und werde einen oder zwei Monate weg sein. So bin ich dann garantiert zum Prozess wieder hier. Aber der Patriarch wird wahrscheinlich alles versuchen, um den Prozess entweder vorzuverlegen oder gar nicht stattfinden zu lassen.“

„Sondra!“

Die vertraute Stimme ließ sie lächeln. Andreas Laurenz kam gerade aus dem Gebäude raus. Sein Gesicht wirkte ein wenig besorgt und seine Augen blickten prüfend in ihr Gesicht.

Sondra machte die beiden Männer kurz miteinander bekannt.

„Wir sind ja soweit durch, Frau Wieland. Meine Karte haben Sie ja. Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt oder unklar ist, melden Sie sich bei mir, ja?“

Sondra fiel auf, das er das Wort ´Ja` gerne benutzte.

Beim Italiener suchte Sondra sich eine stille, kaum einsehbare und dunkle Ecke aus. Als ihr Wasser kam, fischte sie die Eiswürfel aus dem Glas, wickelte sie in die Serviette und presste das ganze gegen ihr Gesicht.

„Lassen Sie mal sehen“, forderte Andreas sie auf.

„Ich glaube, dass haben Sie in Ihrem Beruf schon mehrfach gesehen.“

Andreas Laurenz gab einen unbestimmten Laut von sich, griff über den Tisch und nahm Sondra sanft die Brille ab. Scharf zog er die Luft zwischen den Zähnen ein und schluckte krampfhaft. Vorsichtig setzte er die Sonnenbrille wieder auf Sondras Nase.

„Was ist passiert?“, fragte er leise.

Sondra erzählte noch einmal, was passiert war. Sie merkte auf einmal, dass es ihr jetzt schwerer fiel als vorher auf dem Polizeirevier. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute, aber sie beherrschte sich.

Andreas sah erneut ein Leuchten auf der Haut von Sondra, aber diesmal war es anders. Es wirkte eher dunkel, traurig. Verwirrt blinzelte der Kommissar.

„Ich könnte mich jetzt noch ohrfeigen, weil ich Gregor ins Haus gelassen habe“, sagte sie zwischen zwei Bissen gebratene Leber.

„Ich habe das mit der Fahrerflucht recherchiert. Die Frau, die Gregor damals angefahren hatte, hat zwar überlebt, muss aber für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzen. Das bedeutet, da kommt ein weiterer Prozess auf Gregor Baier zu. Da kann auch der Patriarch nicht viel machen.“

Andreas steckte sich das letzte Stück Thunfischsteak in den Mund und kaute geistesabwesend.

„Woran denken Sie?“, fragte Sondra nach einer Weile.

„An Ihre Reisepläne.“

Sondra runzelte die Stirn. Sofort zog ein heftiger Kopfschmerz von ihren Schläfen in den Nacken. Sie musste wohl einen Laut von sich gegeben haben, denn Andreas griff ihre Hand.

„Alles in Ordnung?“

„Er hat wohl heftiger zugeschlagen, als ich dachte“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

„Soll ich Sie in ein Krankenhaus bringen, oder ….“

„Nein, nein. Wirklich nicht nötig. Ich brauche nur etwas Ruhe und Schlaf“, unterbrach sie ihn.

>Ein Krankenhaus, das fehlte noch. Ein Blick auf mein Blutbild und dann werden Fragen gestellt, die ich nicht beantworten kann.<

Sie lehnte sich ein bisschen zurück und schloss die Augen. Dabei rutschte ihre Hand aus der Hand von Andreas, was sie irgendwie bedauerte.

„Ich muss meine Reisepläne um bis zu zwei Monate verschieben. Leider!“, sagte sie leise.

Sie öffnete ihre Augen wieder leicht und bemerkte, wie Andreas sie mit leicht schrägem Kopf musterte.

„Was?“, fragte sie verunsichert. Andreas hatte eine Art sie anzusehen, die sie bisher von keinem Menschen gewohnt war: direkt in die Augen, ohne zu blinzeln und eine Reihe von Fragen mit möglichen Antworten in seinem Blick.

Sondra bemerkte, dass ihr Mund trocken wurde.

„Es ist jetzt nicht der richtige Augenblick, Sie mit meinen Fragen zu bombardieren. Das kann warten, bis es Ihnen besser geht.“

„Wenn es dienstliche Fragen sind, nur raus damit“, forderte sie ihn auf. Aber Andreas Laurenz schüttelte den Kopf. „Sie sind nicht dienstlich“; sagte er nur.

Einen Moment schwiegen sie, dann räusperte sich Andreas.

„Soll ich Sie noch zu dem Anwesen der Kolbrinks fahren oder wollen Sie zu sich nach Hause?“, fragte er.

„Es wäre sehr nett, wenn Sie mich zu Holger und Renate Kolbrink fahren würden.“

Er nickte, rief den Kellner und bezahlte. Dann stütze er Sondra, die beim aufstehen ein wenig schwankte.

„Ganz sicher, dass Sie keinen Arzt wollen?“, fragte er sanft.

„Ganz sicher.“

Vor dem Haus der Kolbrinks hielt er an und half Sondra aus dem Wagen.

„Ich glaube, jetzt kann ich alleine gehen“, murmelte sie und presste ihre Hand auf die Stirn. Sie hatte wirklich rasende Kopfschmerzen.

„Das glaube ich kaum“, sagte Andreas und fing Sondra gerade auf, als ihre Beine nachgaben.

Die Haustür ging auf und Renate Kolbrink stand in der Tür. Sie wurde schlagartig blass, als sie sah, das Sondra auf den Armen eines ihr fremden Mannes war. Andreas Laurenz stellte sich kurz vor und erklärte die Situation, während er Sondra hineintrug. Sie war nicht bewusstlos, aber kaum ansprechbar. Renate Kolbrink zeigte Andreas den Weg in das Gästezimmer und ging dann schnell in die Küche, um eine Kühlkompresse zu holen.

Vorsichtig legte Andreas Sondra auf das Bett. Sanft strich er über das Gesicht und einen kurzen Moment sahen zwei hellgrüne Augen dankbar in seine braunen Augen.

Dann schloss Sandra mit einem Seufzer die Augen, drehte sich um und war sofort eingeschlafen.

„Sie ist eingeschlafen, Frau Kolbrink. Vielleicht sollte später doch ein Arzt nach ihr sehen.“

Andreas Laurenz und Renate Kolbrink gingen zur Haustür.

„Sondra ist, was Ärzte betrifft, extrem misstrauisch. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie sah seinen prüfenden Blick in Richtung Gästezimmer, als er sich umdrehte, um sich von Renate Kolbrink zu verabschieden. „Keine Sorge, Herr Laurenz. Ich passe auf sie auf. Sondra ist für mich wie eine Tochter.“

Andreas lächelte und merkte, dass er rot geworden war.

„Sondra ist etwas besonderes, Frau Kolbrink. Ich habe noch nie jemanden wie sie getroffen.“

Renate Kolbrink sah dem jungen Mann lächelnd nach.

Andreas Laurenz kaute auf seiner Unterlippe, während er in seinem Golf zu sich nach Hause fuhr. Er grübelte immer noch, als er die drei Treppen zu seiner Wohnung hoch lief, die Wohnungstür aufschloss und hineinging. Automatisch schloss er die Tür, zog seine Jacke aus und warf sie über die Garderobe. Nachdem er seine Schuhe in die Ecke geworfen hatte, ging er zum Kühlschrank und schnappte sich eine Cola. Seine Mutter hätte ihm jetzt die Leviten gelesen, weil er direkt aus der Flasche trank, aber Andreas war mit seinen Gedanken woanders.

>Verdammt, ich kann doch nicht dermaßen falsch liegen<, dachte er sich.

Seufzend nahm er seine Lesebrille aus seiner Jacke und setzte sie sich auf die Nase.

>Warum wolltest du nicht in ein Krankenhaus, Sondra? Würden die Ärzte etwas finden, was nicht gefunden werden sollte?<

Seufzend ging er zu seinem Bücherregal im Wohnzimmer. Er griff nach einem Buch, das schon ziemlich abgenutzt aussah. Auf dem Einband stand ´Thorben Wieland – Weltenwanderer-Chroniken Band 1`.

„Dann fange ich eben noch mal von vorn an. Die Antworten liegen hier drin, das weiß ich!“