Vampirjagd - Heike Möller - E-Book

Vampirjagd E-Book

Heike Möller

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Beschreibung

Jannik Cerný leitet seit einigen Monaten in Berlin eine Zweigstelle des tschechischen Konzerns Blood and Health Development. Da erfährt er vom Verschwinden einiger Vampire, unter anderem einem langjährigen Gecshäftspartner. Die Vampire werden verschleppt, gefoltert und letztendlich getötet. Jan und befreundete Vampire, Tristan Kadian, Tobias Kerner und Rowena Mc Dougall, machen sich daran, das Geheimnis hinter den Gräueltaten zu entdecken und geraten dabei selbst in Gefahr. Währenddessen lernt Jannik bei einem geschäftlichen Treffen Helena Kapodistrias kennen. Er verliebt sich in die schöne Deutsch-Griechin. Auch sie ist ihm nicht abgeneigt, scheint aber - genau wie Jannik - Geheimnisse zu haben. Werden die beiden aller Geschehnisse und Gefahren zum Trotz zueinander finden? Und wie wird Helena mit der Tatsache umgehen, dass der Mann, in den sie sich verliebt hat, ein Vampir ist?

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Heike Möller

Vampirjagd

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1: Neues Terrain

Kapitel 2: Griechischer Frühling

Kapitel 3: Manipulationen

Kapitel 4: Geschwisterbande

Kapitel 5: Wer ist der Feind?

Kapitel 6: Beobachtungsposten

Kapitel 7: Spree-Spaziergang

Kapitel 8: Freundschaftliche Analyse

Kapitel 9: Mehr als nur Anziehung?

Kapitel 10: Ein vorsichtiger Beginn

Kapitel 11: Kriegswunden

Kapitel 12: Schuldbekenntnisse

Kapitel 13: Ein perfektes Dinner

Kapitel 14: Albträume

Kapitel 15: Wettlauf mit der Zeit

Kapitel 16: Bittere Erkenntnis

Kapitel 17: Die Peinliche Befragung

Kapitel 18: Flucht

Kapitel 19: Einsichten

Kapitel 20: Elvis und Dolly

Kapitel 21: Trügerische Sicherheit

Kapitel 22: Das Ritual

Kapitel 23: Nächste Runde

Kapitel 24: Offensive

Kapitel 25: Die Wandlung

Kapitel 26: Ein neues Leben beginnt

Epilog

Impressum

Prolog

Bertrand Leclerc hörte jemanden schreien. Derjenige musste unglaubliche Qualen erleiden, unsägliche Schmerzen haben. Dann merkte Leclerc, dass er geschrien hatte.

Panisch riss er die Augen auf, aber nur ein Auge konnte etwas erkennen. Das andere war zugeschwollen und die Art seiner Verletzungen, die er jetzt spürte, ließ ihn vermuten, dass eine Selbstheilung nicht wirken konnte. Er hing bäuchlings in Ketten, Arme und Beine kreuzförmig gestreckt. Unter ihm hatte sich eine riesige Blutlache gebildet. Sein Blut.

Leclerc stöhnte auf. Zu mehr war er im Moment nicht fähig. Sein Körper war von tiefen Schnitten überzogen, sein Kiefer mehrfach gebrochen. An einigen Stellen waren frische Brandwunden zu erkennen. Nichts an dem geschundenen Körper erinnerte an den stolzen und manchmal arroganten Franzosen, der im Jahr 1734 geboren worden war.

Wütend knurrte Bertrand Leclerc. Er hatte die Französische Revolution überlebt, Napoleon Bonaparte, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Und hier, in einem mit kaltem Neonlicht erhellten Keller, sollte er nun zu Grunde gehen? In einer letzten Kraftanstrengung bäumte sich der Vampir auf, zerrte an seinen Ketten. Ein hämisches Lachen war die Antwort.

„Sieh an, sieh an!“ Die Stimme des Mannes, den Leclerc nicht sehen konnte, tropfte nur so vor Verachtung und Hass. „Du lebst ja immer noch? Erstaunlich zäh!“

Leclerc zwang sich, seinen Peiniger anzusehen. Der Mann vor ihm hatte einen Kittel an, der die Kleidung darunter vor den Blutspritzern schützen sollte. Die Hosenbeine, die unter dem Kittel hervorguckten und auch die Schuhe sagten über seinen Träger aus, dass er einen erlesenen und teuren Geschmack haben musste. Die Hände, die jetzt ohne Gummihandschuhe zu sehen waren, waren gepflegt. Ein großer und schwerer goldener Ring zierte den manikürten Ringfinger der linken Hand. Das Gesicht von Leclercs Peiniger war gut geschnitten, beinahe aristokratisch. Ein kurzer und gepflegter dunkler Vollbart mit einigen grauen Strähnen gaben dem Mann etwas Gebieterisches. Die dunklen Augen blickten Leclerc gefühllos an.

„Warum tust du das?“, quetschte Leclerc hervor.

Der Mann schürzte amüsiert die Lippen. „Du bist ein Monster. Widernatürlich. Ein Dämon. Du darfst nicht existieren.“

Bitter lachte Leclerc auf. „Ich bin ein Monster? Mich zu foltern ist also legitim?“ Der Vampir bekam vor Anstrengung einen Hustenanfall.

„Du wärst schon längst tot und erlöst, wenn du mir Namen gegeben hättest.“

Irritiert sah Leclerc den Mann an. „Was für Namen?“, keuchte er.

Wieder schürzte der Mann seine Lippen. „Natürlich die Namen anderer Dämonen wie dir. Und wo ich sie finde.“

Verblüfft sah Leclerc den Mann an, dann dämmerte es ihm. „Du bist für die verschwundenen Brüder und Schwestern der letzten Jahre verantwortlich, nicht wahr?“

Der Mann verbeugte sich vor seinem Gefangenen. „Ganz recht. Aber leider hat bisher keiner mehr als ein oder zwei Namen genannt. Du bist der erste, der bisher nicht mal einen genannt hat. Kompliment, du bist sehr willensstark.“

Leclerc knurrte, wusste aber, dass ihm das nichts nützen würde. „Bring es hinter dich, Mensch!“, sagte er verächtlich. „Man kann Vieles über mich sagen und manche Dinge sind weder schmeichelhaft noch übertrieben. Aber ich verrate niemanden!“

Der Mann legte seinen Kopf schräg und lächelte. „Irgendwie wusste ich, dass du das sagen würdest.“ Er nahm ein Messer von dem kleinen Tisch, der in seiner Reichweite stand. Es war ein Messer, mit dem man Schlachtvieh ausweidete. Leclerc erkannte es und holte entsetzt Luft.

„Willst du es dir nicht noch mal überlegen? Nur drei Namen, Franzose, und ich gewähre dir einen schnellen Tod!“

„Was zum Teufel tust du da?“

Leclercs Kopf ruckte hoch und er sah in die Richtung, aus der die weibliche Stimme kam. Er erkannte sie. „Du?“ Die Erkenntnis kam unvermittelt und er lachte ein bitteres Lachen. „Du hast mich in die Falle gelockt, Weib!“

Die Frau starrte den an Ketten hängenden Mann erschrocken an. „Ich wusste nicht, dass ….“

„Hier mein Kind. Du hast die Ehre diesem Monster den Bauch aufzuschlitzen!“ Der gepflegte Mann gab der Frau das Ausweidemesser in die Hand. Die Frau starrte auf das Messer.

„Nein!“ Angewidert schleuderte sie das Messer in die Ecke des Kellers. „Du hast gesagt, du würdest ihn töten, nicht foltern. Warum tust du das?“

Der gepflegte Mann lächelte der jungen Frau milde ins Gesicht. „Du brauchst kein Mitleid mit ihm haben. Er und die anderen sind Monster, Dämonen! Was glaubst du denn, was die mit uns tun? Denke an deine Eltern!“

Leclerc hatte für einen kurzen Moment Hoffnung geschöpft, als die Frau das Messer in die Ecke geworfen hatte. Doch er sah in ihren Augen, dass er keine Gnade zu erwarten hatte.

„Wenn wir sie foltern, stellen wir uns auf dieselbe Stufe mit denen. Töte ihn und lass es gut sein!“

Der gepflegte Mann lächelte wieder, nahm ein weiteres Messer von dem Tisch und eine Kurzsichel. Wortlos drückte er die Sichel in die Hand der Frau.

„Töte du ihn, denn ich werde sonst noch ein bisschen mit ihm plaudern.“

Die Frau sah den älteren Mann mit großen Augen an, die Stirn vor Entsetzen gerunzelt. „Du wolltest mich da raus lassen. Du hattest es mir versprochen!“

„Nun, ich werde auch nicht jünger. Ich brauche jemanden, der mein Vermächtnis fortführt, wenn ich nicht mehr bin. Du sollst das tun. Also ist es Zeit für dich zu lernen, hart zu werden und keine Gnade zu kennen.“

Lange funkelte die Frau den gepflegten Mann an. „Es ist falsch!“

Der Mann zuckte nur mit den Schultern, drehte sich um und stieß Leclerc das Messer in den Bauch. Leclerc schrie, wimmerte, als der Mann das Messer langsam nach oben zum Brustbein zog.

„Halt!“ Die Frau warf sich dem gepflegten Mann regelrecht in die Arme, schubste ihn zur Seite. Dann sah sie den Vampir an.

Leclerc erkannte hinter seinem blutigen Tränenschleier, dass die Frau ihn mitleidig ansah.

„Verzeih mir, Vampir. Gott möge deiner Seele gnädig sein!“

Leclerc brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. „Wenn die anderen dich und den Mann finden, möchte ich nicht in eurer Haut stecken!“, presste er hervor und schloss die Augen.

Die Frau holte mit der Sichel aus und trennte dem Vampir mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf. Schwer atmend starrte sie eine Weile auf den Schädel, der vor ihren Füßen lag. „Das war das letzte Mal, dass ich dir einen ausgeliefert habe. Ich werde nicht mehr den Lockvogel spielen. Das ging zu weit!“ Die Frau drehte sich um und stapfte aus dem Keller. Der gepflegte Mann sah ihr hinterher, lächelte zynisch.

„Das werden wir ja sehen!“, murmelte er.

Kapitel 1: Neues Terrain

Jannik Cerný stand in seinem Badezimmer vor dem Spiegel und strich sich prüfend über seinen blonden Vollbart. Der Bart war kurz geschnitten und bedeckte die Wangen nicht vollständig, sondern rahmte vielmehr sein hübsches Gesicht ein, machte es markanter, reifer. Zufrieden grunzte er und legte seinen Barttrimmer weg.

Sein blondes Haar war in modernem Stil kurz geschnitten, ein leichter Seitenscheitel lockerte sein ernstes Auftreten ein wenig auf. Jannik nahm etwas Gel und zähmte damit sein Haar, da seine Naturlocken ihm einen Strich durch die Rechnung machen würden, sobald das Haar trocken war. Kurz blickte er auf die Armbanduhr, die neben dem Spiegel lag.

„Verdammt!“

Rasch sprang er aus dem Bad, zog sich in wenigen Sekunden an und stürmte zurück ins Bad, um seine Armbanduhr zu holen. Dabei bemerkte er, dass seine dunkelblaue Krawatte, ein Geschenk von Nicole, schief saß.

„Später!“, grunzte er, hetzte in sein Wohnzimmer und überprüfte den Inhalt seines Aktenkoffers. Er nahm seine Autoschlüssel und überlegte kurz, ob er den Fahrstuhl nehmen sollte, der sein Loft mit der Tiefgarage verband. Dann schüttelte er den Kopf und ging zur Wohnungstür, die ins Treppenhaus führte. Während er die vier Etagen zum Eingang der Tiefgarage hinunter lief, stöpselte er die Freisprechanlage seines Handys ans Ohr.

„Kurzwahl. Marie.“ Das Handy reagierte auf den Befehl und nach kurzem Klingeln meldete sich eine warme Frauenstimme.

„Cerný Blood and Health Development, Marie Schraner am Telefon.“

„Guten Morgen, Marie!”

„Guten Morgen, Herr Cerný.“

„Ich bin in etwa zwanzig Minuten im Büro. Wenn Leclerc auftaucht, becircen und bewirten Sie ihn nach allen Regeln der Kunst, sonst haut er ab. Er ist ein wenig schwierig.“

Jannik erreichte die Tür zur Tiefgarage und öffnete sie. Mit langen Schritten ging er zu seinem S-Klasse Mercedes, schwang sich hinter das Steuer und ließ fast gleichzeitig den Motor an.

„Wird gemacht, Herr Cerný. Möchten Sie Kaffee oder Tee zum Meeting?“

„Leclerc trinkt Cafe´ au Lait, ich nehme einen normalen Kaffee. Danke, Marie. Sie sind ein Engel! Ende!“ Während er losfuhr fiel ihm ein, dass die Gurtpflicht in Deutschland sehr streng gehandhabt wurde. Rasch schnallte er sich an, während er mit der anderen Hand das Lenkrad betätigte.

Das Loft befindet sich in der Nähe des Mehringdamm, im Bezirk Kreuzberg. Nordwärts, durch dichten Berufsverkehr ging es in den Bezirk Mitte. Dort, nur einen Steinwurf vom Monbijoupark entfernt, liegt die deutsche Zweigstelle des Unternehmens, das Jannik und Adolar Cerný vor einigen Jahren in der Tschechischen Republik gegründet hatten. Der Schwerpunkt des pharma­zeutischen Unternehmens lag in der Erforschung von Blutkrankheiten, Therapien und zukunfts­weisenden Anwendungen von Blutpräparaten. Zusätzlich hatte die Firma eine eigene Blutbank, und das war nicht ganz uneigennützig.

Jannik und Adolar Cerný waren schließlich Vampire.

Jannik stellte einen der beliebtesten Radiosender der Stadt ein und lauschte einer Satire über die Politiker Deutschlands. Bei der Pointe setzte er ein breites Grinsen auf. Er stand an einer Ampel und tippte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Rhythmus der Musik mit, die jetzt gespielt wurde. Neugierig sah er in das Auto links neben sich. Eine junge Frau mit kurzen, igel-gegelten platinblonden Haaren grinste ihn an, flirtete eindeutig mit ihm. Gutgelaunt zwinkerte er ihr zu, drang in ihre Gedanken ein.

>Süßer Kerl und flottes Auto. Würde ich nicht von der Bettkante schubsen.<

Jannik lachte auf, da die Verbindung seines Äußeren mit dem Statussymbol Auto ihn einfach amüsierte. Die Ampel schaltete auf Gelb und er winkte der jungen Frau zu, als er anfuhr.

„Es hat doch sein Gutes, die Gedanken der Sterblichen lesen zu können“, murmelte er.

Die nächste Ampel wartete schon auf ihn. Diesmal sah er zu dem Auto rechts neben sich. Ein Mann mit schütterem Haar popelte gedankenverloren in seiner Nase und starrte dabei auf die Ampel.

>Wenn ich heute schon wieder vergesse, das Geschenk zu besorgen, macht mir Susanne die Hölle heiß!<

Jannik war froh, dass er diese Probleme nicht hatte. Er war Single und glücklich. Er konnte tun und lassen was er wollte und mit wem er wollte. Keine Verpflichtungen.

Jannik fuhr weiter in dem zähfließenden Verkehr, musste bald wieder an einer Ampel halten. Links neben ihm in einem alten Ford saß eine Frau Mitte vierzig. Ihre Stirn war besorgt in Falten gelegt und sie hatte Tränen in den Augen. Jan drang sanft in ihre Gedanken ein.

>Wenn nicht bald ein Spender gefunden wird, ist sie tot. Herr im Himmel, bitte nimm mir nicht mein einziges Kind!<

Die Frau fuhr los und Jannik merkte sich das Kennzeichen. Er hatte die tiefe Verzweiflung der Frau gespürt, ihre Angst. Er wollte wissen, wer sie war und welches Schicksal sie bedrohte. Vielleicht konnte er über die Zulassungsstelle den Namen der Frau erfahren und dann weiter ihre Geschichte. Er war neugierig geworden, wollte helfen.

>Verdammt! Ich kann nicht die ganze Welt retten!< Über sich selbst verärgert gab er Gas und bog wenige Minuten später in die Straße ein, in der die Tiefgaragen standen, die für Geschäftsleute, deren Angestellte, Gäste und einige Anwohner reserviert waren, da in den Straßen selbst kaum Parkplätze zu bekommen waren. Die Tiefgaragen waren durch ein Tunnelsystem mit den drei größten Bürokomplexen des Straßenzuges miteinander verbunden, sodass man nicht erst auf die Straße gehen musste, um in das Haus zu gelangen, in das man wollte.

Jannik Cerný schnappte sich seinen Aktenkoffer, verließ sein Auto und betätigte die elektro­nische Verriegelung. Das Piepen verriet ihm, dass sein Mercedes verschlossen war. Mit langen Schritten durchquerte er das Parkdeck, eilte auf den Aufzug zu.

>Hoffentlich ist Leclerc noch nicht da!<, dachte Jan. Er mochte den Franzosen nicht, aber die Cernýs hatten nun mal des Öfteren mit ihm geschäftlich zu tun. Er war einer der wichtigsten Lieferanten für die Plastikbeutel, in denen die Blutspenden gesammelt und gelagert wurden.

Und auch unter den Vampiren bei Bedarf verteilt wurde.

Jannik Cerný betrat den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf mit der Zahl vier. Dann nahm er seine Freisprechanlage von seinem Ohr, holte Luft und pustete im Rhythmus der nervtötenden Fahrstuhlmusik.

>Hoffentlich ist Leclerc nicht mehr verstimmt wegen des Vorfalls in der Oper im letzten Jahr<, dachte Jan.

Er, sein Mentor Adolar und Nicole, die damals noch nicht mit Adolar verheiratet und noch sehr sterblich war, hatten sich in der Prager Oper Tosca angesehen. In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt trafen die drei auf Bertrand Leclerc, der ein unverhohlenes Interesse an Nicole gezeigt und auch versucht hatte, sie Mental zu beeinflussen. Aber Nicole hatte einen unglaublich starken Willen und war nicht so leicht zu beeinflussen. Sie hatte den Franzosen zurückgewiesen. Adolar und Jannik hatten sich zusätzlich schützend neben sie gestellt und Leclerc somit gezeigt, dass er verbotenes Terrain betreten habe.

Bertrand Leclerc war sichtlich wütend davon gerauscht. Jannik schmunzelte bei der Erinnerung, dem blasierten Gockel eins ausgewischt zu haben.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Jannik Cerný ging auf die großen Milchglastüren des rechten Korridorflügels zu, der zu ´Cerný Blood and Health Development` führte`. Daneben befand sich ein Decodiergerät mit einem Tastenfeld von 0 bis 9 sowie Raute- und Sternchentaste. In diesem Gerät befand sich auch ein Schlitz für eine Keycard, die Jannik jetzt benutzte. Ein leises Summen der Tür sagte ihm, dass die Tür freigegeben war und er zog sie auf.

Ein dunkelblauer Teppich aus einer edlen Faser lag im ganzen Foyer. Geradezu befand sich der Empfang, bestehend aus einem fast brusthohen Tresen aus hellem Kirchbaum. Dahinter saßen zwei attraktive Damen unter dreißig, die die Gäste willkommen hießen und den Besuch den entsprechenden Abteilungen zuführten. Sie nahmen auch Lieferungen entgegen und zentrale Telefonate.

„Guten Morgen, meine Damen!“ Jannik Cerný lächelte die beiden Frauen freundlich an.

Sofort schmolzen die beiden, eine Brünette mit Brille und eine Dunkelblonde mit Stupsnase und Sommersprossen, förmlich dahin.

„Guten Morgen, Herr Cerný!“, flöteten sie zurück, waren dabei absolut synchron. Jannik hätte schwören können, dass die beiden sich regelrecht in die Brust warfen, um ihre Weiblichkeit zu präsentieren.

Innerlich grinste Jan, ließ sich aber nichts anmerken. Er ging an der kleinen Sitzgruppe aus schwarzem Leder und Chrom mit dem kleinen Couchtisch vorbei und wendete sich nach Links, um zu seinem Büro zu gelangen. Der Teppich in Blau ging auch in diesem Korridor weiter, vorbei an kleineren Büros, deren Türen aus einem Gemisch aus Klar- und Milchglas war. Wenn man direkt vor der Tür stand, konnte man hineinsehen, ob der Mitarbeiter gerade im Raum war. Einen Schritt weiter zurück, und man hatte keine Einsicht in den Raum. Andererseits konnten die Mitarbeiter in den Räumen auch nicht sehen, wer gerade über den Korridor lief. Lediglich die Beine waren zu sehen.

Jannik ging durch die letzte Glastür auf der rechten Seite ohne anzuklopfen. „Noch mal einen schönen Guten Morgen, Marie!“, sagte er und lächelte seine Chefsekretärin freundlich an.

Marie Schraner war eine Frau Mitte vierzig, verheiratet, zwei Kinder im Teenageralter, leicht rundlich, aber elegant und attraktiv. Die dezent braun gefärbten Haare waren auf Kinnlänge und tadellos frisiert. Nur kleine, goldene Ohrringe, eine goldene Kette mit ihrem Sternzeichen, der Ehering und eine schmale goldfarbene Uhr schmückten die Frau. Ihr Make-up war unauffällig, farblich perfekt auf ihre Kleidung abgestimmt. Marie Schraner bevorzugte klassische Kostüme und Hosenanzüge im Büro, variierte sie aber immer mit einer anderen Bluse oder einem schicken Halstuch.

Sie lächelte ihren Chef an und zeigte dabei gepflegte und gerade Zähne. „Guten Morgen, Herr Cerný.“ Sie stand auf und nahm einen kleinen Packen Briefe von der Ecke ihres Schreibtisches. Dann begleitete sie Jannik in sein Büro, das an ihrem angrenzte.

Sein Büro war das einzige in der Firma, das keine Glastür hatte, sondern eine aus hellem Kirschbaum. Eine cremefarbene Auslegeware von hoher Qualität bedeckte den Boden, die Wände waren teils in dem hellem Holz getäfelt, aus dem auch die Tür bestand, teils lugten immer wieder die Backsteinwände des Gemäuers hindurch, zeigten die Struktur des Denkmal geschützten Gebäudes. Überall standen Grünpflanzen, in kleineren Töpfen und größeren Kübeln. Ein kleiner Couchtisch und vier Sessel aus hellbraunem Leder und Chrom standen im ersten Drittel des Raumes. Hier pflegte Jannik seine Geschäftspartner zu empfangen, sich mit ihnen zu unterhalten, Verträge abzuschließen. Auf der rechten Seite an der Holztäfelung waren einige Flachbildmonitore angebracht. Zwei Fernseher, die auf die Börsenkanäle eingestellt waren, ein Computermonitor mit Internetkamera, um mit Geschäftspartnern in aller Welt von Angesicht zu Angesicht reden zu können. Auch mit Adolar, seinem Urgroßvater mit sechzehn Urs davor, Mentor und Mitinhaber von ´Cerný Blood and Health Development`.

Ein kleinerer Monitor zeigte ihm in wechselnden Bildern den Betrieb im Foyer, den Korridor direkt vor seinem Büro und den Fahrstuhl. Gegenüber den Monitoren stand sein Schreibtisch aus hellem Kirschbaum. Der Schreibtischsessel war modern und ebenfalls aus hellbraunem Leder, passend zu den Sesseln der Sitzgruppe. Auf dem Schreibtisch stand ein neuerer PC mit Flachbildmonitor und allem, was dazu gehörte.

>Ein Hoch auf die modernen Zeiten!<, dachte Jannik. >Was haben wir nur vor einhundert Jahren gemacht, als es noch keine Computer gab?<

„Herr Cerný, Monsieur Leclerc ist noch nicht eingetroffen. Möchten sie Ihren Kaffee schon haben?“

„Ja, Marie. Bitte sehr. Sie wissen doch, ohne mein Koffein am Morgen bin ich nur ein halber Mensch.“ Jannik stellte seinen Aktenkoffer auf den Schreibtisch und öffnete ihn gleichzeitig. Dabei lächelte er seine Chefsekretärin dankbar an. Sie wusste einfach, was er am frühen Morgen benötigte. Er nahm Marie die Briefe ab und legte sie erst einmal neben seinen Aktenkoffer.

„Wenn Leclerc kommt, führen Sie ihn bitte umgehend herein.“

„Selbstverständlich, Herr Cerný.“ Marie drehte sich um und ging hinaus, schloss leise die Holztür.

Jannik schaltete seinen Computer und die Monitore an, hörte seinen Anrufbeantworter ab. Nur wenige hatten die direkte Nummer seines Büros, Adolar und Nicole gehörten selbstverständlich dazu.

„Guten Morgen, du Langschläfer!“ Die weiche, leicht heisere Stimme Nicoles ließ Jannik lächeln. Er mochte die Frau seines Mentors, war sogar ein wenig in sie verliebt. Aber natürlich war sie tabu für ihn und somit begnügte er sich mit einer tiefen und ehrlichen Freundschaft zu der Frau.

„Magda lässt fragen, wann du endlich mal wieder zur Burg kommst. Sie vermisst dich, ebenso Regula und einige andere Damen. Vielleicht schaffst du es ja zu Ostern. Falls du dir wieder eine Ausrede einfallen lassen solltest, komme ich persönlich nach Berlin und zieh dich an den Ohren nach Tschechien! Tschüss!“

Das Knacken aus dem Gerät sagte Jannik, dass Nicole mit ihrer kleinen Ansprache fertig war. Er schmunzelte, konnte sich Nicole mit blitzenden Augen aus Lapislazuli vorstellen. Seitdem Adolar sie gewandelt hatte, vermischte sich oft in dem Blau mit dem goldenen Ring um die Iris noch ein Hauch Silber.

Jannik seufzte, als er daran dachte. Es klopfte an der Tür und Marie Schraner kam ohne Aufforderung herein. Jannik hatte ihr gleich am ersten Tag gesagt, dass sie jederzeit eintreten durfte und nicht auf ein Kommando seinerseits warten sollte. In der Hand hielt Marie ein kleines Tablett mit einer Tasse Kaffee, die kleine Dampfschwaden von sich gab. Jannik roch sofort das kräftige Aroma und sein Appetit stieg an.

„Danke, Marie. Ich sehe mir die Briefe durch und sage Ihnen in einer halben Stunde Bescheid, was wichtig ist und was noch warten kann.“

„Ist gut, Herr Cerný.“ Marie ging wieder in den Vorraum.

Jannik trank inzwischen seine dritte Tasse Kaffee, hatte die Post durchgesehen, einige Angebote durchgearbeitet, die meisten wieder verworfen und abgelehnt und sah sich die Börsengänge an. Dabei sah er immer wieder auf seine Uhr, runzelte die Stirn. Unruhig stand er auf, ging zu einem der drei Fenster und sah auf die Spree hinunter. Gedankenverloren zupfte Jannik an den Blättern eines Ficus Benjamin.

>Wo bleibt nur Leclerc? Das ist nicht seine Art!<

Trotz allem war Bertrand Leclerc ein zuverlässiger Geschäftspartner, egal, welch persönliches Manko er hatte.

Die Sprechanlage summte. „Herr Cerný, Herr Kerner ist hier und möchte sie dringend sprechen.“ Maries Stimme klang eindringlich.

Jannik runzelte erneut die Stirn. Sein Freund Tobias Kerner hatte die Firma bisher nur einmal betreten, als Jannik ihm die Räume zeigte. Ansonsten trafen sie sich Abends oder am Wochenende, zogen um die Häuser, suchten sich ihr Vergnügen. Das Tobi jetzt hier aufkreuzte, konnte nicht wirklich etwas Gutes bedeuten. Zudem Marie etwas anders klang als sonst, wenn sie unangemeldeten Besuch ankündigte.

„Danke, Marie. Er kann reinkommen.“ Jannik wandte sich der Tür zu, die kurz darauf aufging. Marie ließ einen jungen Mann hinein, verschloss die Tür dann wieder von außen. Tobias Kerner war eins-fünfundsiebzig groß, hatte dunkelblondes, kinnlanges Haar mit hohem Haaransatz, das er meistens, so wie jetzt auch, als streng zurück gekämmten Pferdeschwanz trug. Die grün­braunen Augen lagen etwas weiter auseinander, die Nase kurz und schmal, dafür aber einen ungewöhnlich sinnlichen Mund. Seine Körperhaltung war gerade, aufrecht und grazil. Ein Tänzer, das verriet jede seiner Bewegungen.

Wer ihn nicht kannte, konnte ihn durchaus für homosexuell halten, aber Tobias Kerner war dem weiblichen Geschlecht genauso zugetan wie Jannik Cerný. Sie genossen es beide, Frauen zu erobern ohne eine ernste Bindung einzugehen.

„Was ist los, Tobi?“ Janniks Stimme war leise. Er sah, dass das Gesicht seines Freundes ungewöhnlich ernst und angespannt war.

>Halt mich nicht für dämlich, aber ich habe heute Nacht einen üblen Traum gehabt. Einen richtig üblen Traum!<

Jannik horchte auf. Wenn Tobias anfing sich mit ihm gedanklich zu unterhalten, war es alarmierend.

>Was ist los?<, wiederholte Jannik in Gedanken.

>Einer von uns ist gefoltert worden. Übel gefoltert. Und wurde dann getötet.<

Jannik erschauerte. Tobias Kerner war kein Fantast oder Schwarzseher. Jan hatte ihn in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts kennen gelernt, als in Berlin das leichte Leben tobte. Dann, als die Nazis kamen, hatten die beiden viele Juden und politische Flüchtlinge außer Landes gebracht und so manchen Kampf Seite an Seite ausgefochten. Dabei hatte Jannik viel von den Fähigkeiten seines neuen Freundes kennen gelernt und wusste auch, dass Tobi gelegentlich Träume oder Visionen hatte, die sich dann bewahrheiteten. Er konnte das Wesen der Dinge unter der Oberfläche erkennen, wenn er sich darauf konzentrierte. Tobias konnte nicht nur die Gedanken der Menschen lesen, sondern eben auch ihren Charakter.

>Einer von uns? Weißt du wer?<

Tobias schloss kurz die Augen, ein Frösteln schien durch seinen Körper zu jagen. >Der Franzose.<

Schockiert setzte sich Jannik hin, starrte seinen Freund an. „Ich hatte mit ihm einen Termin heute Vormittag. Bist du sicher?“

Tobias ging auf Jannik zu. >Lass mich dir zeigen, was ich gesehen und gefühlt habe. Verzeih bitte, aber es ist wirklich grausam.< Er legte seine kühlen Finger an die Schläfen des Tschechen, holte tief Luft und übermittelte ihm die Bilder der letzten Nacht.

Jannik keuchte, als er die Qualen des Franzosen fühlte wie seine eigenen.

Ein Kellergewölbe in kaltem Neonlicht.

Ketten.

Ein gesichtsloser Mann, der mit verschiedenen Gegenständen Unvorstellbares an dem Franzosen beging.

Schmerzen, die einen nahezu wahnsinnig machten.

Und dann nichts mehr.

„Verdammt!“ Jannik riss sich seine Krawatte vom Hals, knöpfte sein Hemd auf. Er schwitzte, sah Tobias entsetzt an. „Wer tut so etwas?“

Tobias hob Schulter zuckend die Hände. „Ich weiß es nicht, mein Freund. Ich weiß nur, dass in den letzten Jahren immer wieder mal einer unserer Brüder hier in Berlin verschwunden ist. Und das war jetzt das dritte Mal, das ich eine Vision von Folterung und Tod hatte.“

Entgeistert sah Jannik seinen Freund an. „Das dritte Mal? Willst du damit sagen, dass es schon mehrere von uns erwischt hat?“

Tobias Kerner nickte. Seine Augen wurden so schwarz wie Obsidian, seine Fänge entblößten sich. „Ich habe genug davon, Jannik. Einmal kann passieren. Zweimal auch noch. Aber jetzt ist es kein Zufall mehr. Da verfolgt uns jemand.“

Kapitel 2: Griechischer Frühling

Jannik Cerný stand auf der Dachterrasse seines Lofts und trank ein Glas Blut. Die Freisprechanlage seines Handys war an seinem Ohr befestigt und er sah in den südwestlichen Abendhimmel, während er mit Adolar telefonierte.

„Das klingt gar nicht gut, was du mir da erzählt hast, Jan.“ Adolars Stimme klang besorgt und nachdenklich. „Wenn ich Nicole davon erzähle wird sie darauf bestehen, dass du sofort nach Tschechien zurückkommst, damit du aus dem Gefahrenbereich bist.“

Jannik grinste. „Du brauchst deine Frau nicht vorzuschieben, um deine Ängste und Wünsche zu äußern, Alter.“

Adolar grunzte irgendetwas, dann seufzte er. „Du hast ja Recht. Ich möchte einfach nicht, dass dir etwas passiert, Jan.“

„Addi, ich verspreche dir, dass ich auf mich aufpasse. Ich halte meine Augen offen und melde mich täglich bei dir, Tobi oder Tris. So können wir uns auch gegenseitig absichern.“

„Rowena ist auch vor einem Jahr nach Berlin gezogen. Sie hat eine Galerie in Zehlendorf eröffnet.“

Jannik zog überrascht die Brauen hoch. „Rona ist hier? Das ist schön. Vielleicht kann man sich mal zwanglos treffen und ….“

„Das ist keine Einleitung zu einem amourösen Abenteuer, Jannik!“

Die Strenge in Adolars Stimme überraschte Jan. „Entschuldige. So war das nicht gemeint. Ich würde mich einfach nur freuen, Rowena mal wieder zu sehen, Addi. Ohne irgendwelche Hintergedanken.“

Adolar grunzte wieder irgendetwas. „Entschuldige, Jan. Ich bin einfach nur nervös, weil ich nicht vor Ort bin. Irgendwie ist innerhalb des letzten Jahres unglaublich viel passiert und ich werde davon regelrecht überrannt.“

„Na na! Bereust du es etwa, Nic geheiratet und gewandelt zu haben?“

„Nein! Das meine ich auch nicht. Du bist in Deutschland, ich schmeiße die Firma in Prag allein, arbeite Nic ein wenig ein und ich bin gerade in das Konzil berufen worden. Soviel Aufregung habe ich in den letzten zwanzig Jahren nicht gehabt.“

Jannik grinste. „Du wirst alt!“ Dann stutzte er. „Sagtest du gerade, du bist ins Konzil berufen worden?“

„Ja, sagte ich.“

Das Konzil war sozusagen das Parlament der Vampire. Weltweit. Das Konzil wurde einberufen, wenn zum Beispiel ein Vampir gegen die Gesetze der Gemeinschaft verstoßen hatte. Waren die Verstöße eher nichtig, regelte das Konzil die Sache allein. Waren es aber schwerwiegende Straftaten, zum Beispiel ein sinnloses Abschlachten von Sterblichen, dann kam der Angeklagte vor das Triumvirat. Das Triumvirat bestand aus drei Vampiren, die alle dreißig Jahre neu gewählt wurden. Niemand wusste, wer gerade im Triumvirat saß, das wurde streng geheim gehalten. Nur die Mitglieder des Konzils waren bekannt, tauschten sich untereinander aus.

„Gratuliere, mein Mentor. Endlich mal jemand, der den Überblick hat.“

„Ha ha!“, machte Adolar trocken. Jannik konnte sich die Miene seines Blutsverwandten bildlich vorstellen. Die Augenbrauen zusammengezogen, die grauen Augen blitzten und die Lippen zusammengekniffen.

„Aber jetzt mal was ganz anderes. Morgen triffst du auf den Griechen, nicht wahr?“ Adolar wollte sachlich bleiben, um von dem Thema Konzil abzulenken.

„Kapodistrias? Ja. Er und seine Nichte haben morgen einen Termin in der Geschäftsstelle mit mir.“

„Seine Nichte?“

Jannik ging in das Wohnzimmer. Auf dem Wohnzimmertisch lag die Akte, die er vorhin studiert hatte. „Dimítrios Kapodistrias. Er ist Gründer und Hauptanteilnehmer von `Hellas Health´, einem Unternehmen, dass unter anderem Gerinnungsmittel herstellt, die für unser Unternehmen interessant sein könnten. Dimítrios ist zweiundfünfzig Jahre alt, ledig, hochintelligent und gilt als charismatisch. Sein Partner und rechte Hand ist seine Nichte Helena, eine fünfundzwanzigjährige Frau. Hat BWL, Pharmazie und europäische Mythologie studiert. Die Frau hat einen IQ von 160!“

„Heureka!“ Adolar klang sarkastisch. „Du hast doch bestimmt ein Foto von den Beiden vor dir zu liegen, oder?“

Jannik grinste breit. „Der Alte ist ein typischer Geschäftsmann, seinem Äußeren nach. Distinguiert, gepflegt, weltmännisch. Wirkt entschlossen und auch ein wenig … grausam. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.“

„Hhm.“ Adolar schien etwas auf seinem PC in seinem Prager Büro zu tippen, denn Jannik hörte das Klappern der Tasten. „Was ist mit der Nichte?“

Jannik stockte, als er das Bild von Helena Kapodistrias betrachtete. Schon beim ersten Mal war er von dem Bild sehr angetan. Die junge Frau auf dem Foto war faszinierend und wunderschön. Ein edles, schmales Gesicht mit dunklem, südländischem Teint, umrahmt von schwarzem, langem Haar. Die Augen dunkel, fast schwarz, die Brauen formvollendet. Eine schmale und gerade Nase mit zarten Nasenflügeln. Aber die Lippen waren eine Einladung. Voll und sinnlich, leicht geöffnet, perfekt geschwungen.

„Jannik, bist du noch dran?“ Adolars Stimme riss Jan aus seinen Betrachtungen.

„Entschuldige, Addi. Ich war in Gedanken. Ähm, Helena Kapodistrias könnte als Lockvogel eingesetzt werden. Extrem attraktiv und sinnlich. Würde mich nicht wundern, wenn sie für einen Geschäftsabschluss als Joker benutzt würde.“

„Dann pass bloß auf, dass du deine Hormone bei dir behältst. Soll ich kommen und dir zur Seite stehen?“

Jannik zog gekränkt die Brauen zusammen. „Addi, ich bin zwar dem schönen Geschlecht schnell zugetan, das gebe ich gern zu. Aber ich weiß sehr wohl Geschäftliches und Privates zu trennen!“ Sein Ton war schärfer, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

„Schon gut, schon gut, Jan!“ Adolar lachte ein wenig. „Wow! Das ist ja wirklich eine wunderschöne Frau!“

Offensichtlich hatte Adolar Cerný die Akte über die Kapodistrias ebenfalls auf seinem PC aufgerufen und sah sich gerade das Bild von Helena Kapodistrias an.

„Du solltest morgen früh kalt duschen und dir Eiswürfel in deine Unterhose packen, Jan!“

„Sehr witzig, Adolar. Wirklich sehr witzig. Seitdem du mit Nic zusammen bist, denkst du kaum noch an etwas anderes als an Sex, ist dir das eigentlich bewusst?“

Adolar ließ ein kleines Lachen hören. „Danke für den Tipp. Wird Zeit, dass ich nach Hause fahre. Ach, und Jannik!“

Jan zog eine Augenbraue hoch. „Ja, Meister?“ Er hatte keine Lust auf irgendeinen weisen Ratschlag ob seines Sexuallebens.

„Pass auf dich auf. Die Lage ist ernst, wenn wir wirklich gejagt werden sollten.“

Verblüfft beendete Jannik Cerný das Gespräch, nahm den Kopfhörer vom Ohr. Adolar war öfter um seinen Schützling besorgt, wusste aber, dass dieser sich im Notfall durchaus sehr gut verteidigen konnte. Während des Zweiten Weltkrieges kämpften die beiden Blutsverwandten an verschiedenen Fronten, Adolar als Partisan in Tschechien und Jannik überall, wo er sich gerade aufhielt, hauptsächlich aber in Deutschland, Griechenland und in Frankreich.

Die jetzige Situation war aber eine andere. Da ging es nicht darum, Sterbliche vor anderen Sterblichen zu beschützen und Unrecht zu verhindern, sondern um die Existenz der eigenen Art. Die Vampire der Welt hatten bisher hauptsächlich deshalb überlebt, weil sie sich bemühten, ihre Existenz geheim zu halten. Die Sterblichen würden nicht verstehen, dass die meisten der Vampire überhaupt kein Interesse an dem Tod der Sterblichen hatten. Schließlich ernährten sich die modernen Vampire seit geraumer Zeit hauptsächlich von Blutkonserven und benötigten nur in Notfällen frisches Blut.

Ansonsten wandelten die Unsterblichen unter den Sterblichen wie normale Menschen. Sie arbeiteten, auch am Tag, aßen ganz normales Essen, tranken normale Getränke, liebten wie andere auch, tanzten und lachten. Sie unterschieden sich nicht von den anderen Menschen.

Wer war also dahinter gekommen, dass es Vampire wirklich gab? Und wie hatte er Leclerc und die beiden anderen, von denen Tobias Kerner erzählt hatte, gefunden?

Jannik beobachtete neugierig den Bildschirm, der das Foyer der Firma zeigte. Gerade waren seine Gäste eingetroffen: Dimítrios Kapodistrias, seine Nichte Helena und zwei Männer, die offensichtlich Bodyguards waren. Kapodistrias deutete den beiden Männern an, hier im Foyer zu warten. Zögernd setzten die beiden sich auf die Sessel.

„Show time“, murmelte Jannik und schaltete den Monitor aus. Er wollte nicht, dass seine Gäste bemerkten, dass er sie so früh wie möglich beobachtet hatte. Dann öffnete Jannik eine Schublade seines Schreibtisches und holte eine kleine Schachtel mit farbigen Kontaktlinsen heraus. Die Farbe der Linsen entsprach exakt seiner natürlichen Augenfarbe und normalerweise hätte er sie auch nicht benutzt, aber er wollte vermeiden, dass er auf die Frau unbewusst reagiert.

Wenn das nämlich der Fall war, würden seine Augen silbrig zu leuchten anfangen und Fragen aufwerfen, die er nicht beantworten wollte. Zwar hatte er seine Gefühle sehr gut im Griff und meistens waren seine Emotionen eher von amouröser Natur, aber nach seiner Reaktion auf das Foto von Helena Kapodistrias zog er es vor, auf Nummer Sicher zu gehen.

Kaum hatte er die Linsen eingesetzt, als es an seiner Bürotür klopfte. Mit einem Satz war er an seiner Sitzgruppe, rückte noch einmal seinen Anzug und die Krawatte zurecht und sagte: „Herein!“

Mit einem leichten Lächeln öffnete Marie Schraner die Tür, ließ Dimítrios Kapodistrias und seine Nichte Helena eintreten.

Der Grieche war genauso groß wie Jan, kräftig gebaut, aber nicht dick. Dimítrios hatte einen mächtigen Brustkorb und als er Jannik begrüßte, ertönte eine volle Stimme, die aber sehr aristokratisch klang. Sein Gesicht war klassisch griechisch geschnitten, ein gepflegter Vollbart umrundete Wangen und Kinn, schloss sich über der Oberlippe dünn zueinander. Die Augen waren dunkel, fast schwarz, die Brauen offensichtlich gezupft. Die Hand, die sich Jannik zur Begrüßung entgegen streckte war schmal und wies gepflegte, manikürte Fingernägel auf.

„Herr Kapodistrias, es ist mir ein besonderes Vergnügen, sie kennen zu lernen und in der deutschen Niederlassung von ´Cerný Blood and Health Development` zu begrüßen.“ Jannik hätte der Höflichkeit halber lieber zuerst die Frau begrüßt, aber der Grieche war der eigentliche Chef und somit musste Jannik zuerst ihm den Respekt und die Aufmerksamkeit zollen.

„Herr Cerný, es ist immer wieder höchst interessant, mögliche neue Geschäftspartner kennen zu lernen.“ Er wandte sich seiner Nichte zu, die durch ihre Absatzschuhe den Männern auf beinahe gleicher Augenhöhe begegnete.

„Darf ich Ihnen meine Nichte Helena vorstellen? Sie ist meine Teilhaberin und meine rechte Hand. Falls wir ein geschäftliches Übereinkommen treffen sollten, wird Helena in Zukunft alle weiteren Gespräche mit Ihnen führen.“ Dimítrios hatte den Namen seiner Nichte griechisch ausgesprochen. Ein gewisser Stolz war in seiner Stimme zu hören und er trat einen halben Schritt zur Seite.

Jannik war froh, das er sich für die Kontaktlinsen entschieden hatte. Nicht nur das Gesicht der Frau war wunderschön, ihre ganze Erscheinung war eine einzige Versuchung. Eine schlanke, aufrechte Gestalt steckte in einem eleganten Hosenanzug in dunkelbraun. Die weiße Bluse hob ihren dunklen Teint noch hervor, eine kleine goldene Kette mit einem orthodoxen Kreuz baumelte an ihrem schlanken Hals. Die Hände schmal, die Finger schlank und ohne Ringe, dafür aber die Nägel im French-Style manikürt, poliert und nicht lackiert. Jannik konnte erkennen, dass das Helenas echte Nägel waren, als er sich respektvoll über ihre Hand beugte und einen Handkuss andeutete.

„Sie sind ein Gentleman“, sagte Helena und lächelte Jannik freundlich an.

„Ich bemühe mich einer zu sein, Frau Kapodistrias. Aber bitte sehr, nehmen Sie doch Platz.“

Jannik wies auf die Sitzgruppe und ließ seine Gäste Platz nehmen. Marie klopfte, kam herein und brachte ein Tablett mit Kaffee und Gebäck.

„Möchte einer der Herrschaften vielleicht etwas anderes trinken als Kaffee?“, fragte sie freundlich.

>Einen doppelten Schnaps bitte!<, dachte Jannik und musste sich zusammen reißen.

„Wären Sie so freundlich und bringen mir bitte ein Glas Stilles Wasser?“ Helena lächelte Marie sanft an.

„Sehr gern, Frau Kapodistrias.“

Als Helena an Jannik vorbeiging, nahm er einen schwachen Duft an ihr wahr, der ihn an Pinienwälder und wildem Honig erinnerte. Er stellte fest, dass das kein Parfum war, sondern ihre ganz eigene Duftnote, die von ihrer Haut und ihrem Haar ausging.

Nachdem Marie das Wasser für Helena gebracht hatte, begannen die Verhandlungen. Jannik bekundete sein Interesse, das Gerinnungsmittel, das ´Hellas Health` herstellte, beziehen zu wollen und es in der Forschung bei ´Cerný Blood and Health Development´ einzusetzen. Sie diskutierten eine Weile über die Menge, die Jannik jährlich beziehen wollte und den entsprechenden Preis. Nach einer Stunde waren die drei sich einig und die Männer gaben sich die Hände.

„Unsere Notare und Anwälte müssen noch die Papiere aufsetzen und dann müssen wir uns noch einmal zur Unterschrift zusammenfinden, Herr Cerný.“ Dimítrios Kapodistrias lächelte ein Geschäftslächeln. Jannik hatte den Eindruck, dass das Lächeln seine Augen nicht erreichte.

„Großartig“, sagte er. „Darf ich Sie und Ihre Nichte abschließend zu einem Lunch einladen?“ Täuschte sich Jannik oder zuckte Dimítrios Kapodistrias kurz überrascht mit den Augenbrauen?

„Ich muss leider zurück in mein Büro, aber vielleicht kann Helena Ihnen Gesellschaft leisten?“ Fragend sah der Grieche seine Nichte an.

Verblüfft starrte die Frau ihren Onkel an, dann: „Aber gern. Dann können wir uns vielleicht ein wenig näher kennen lernen, Herr Cerný.“

Vorsichtig tastete Jannik sich in die Gedanken seiner beiden Gesprächspartner, aber er fand nur Rezitierungen von Gedichten. Das beunruhigte Jannik ein wenig, aber er ließ sich nichts anmerken. „Ich hole nur meinen Mantel und begleite Sie hinaus, Herr Kapodistrias. Ich werde Ihre Nichte dann nachher gern zu Ihrer Firma fahren.“

Der Grieche lächelte etwas. „Das wäre sehr freundlich, Herr Cerný.“

Im Hinausgehen sagte Jannik Marie Bescheid, dass er mit Helena Kapodistrias zu Mittag Essen würde und erst gegen Nachmittag wieder im Büro sei. „Hier sind die ganzen Unterlagen, die zum Firmennotar müssen, damit er die Verträge aufsetzen kann.“

„Sehr wohl, Herr Cerný.“ Marie nahm die Papiere wie immer freundlich lächelnd entgegen, lächelte aber etwas zu süffisant, wie Jannik fand, als sie einen Blick zu ihm und Helena warf. Aber Jannik sagte nichts, dachte sich nur seinen Teil.

Die Bodyguards im Foyer sprangen auf, als ihr Chef und seine Nichte durch den Korridor kamen. Jannik begleitete noch Kapodistrias und seine Bodyguards zusammen mit Helena in die Tiefgarage auf das Besucherparkdeck und verabschiedete sich dort von seinem neuen Geschäftspartner.

„Worauf hätten Sie Lust?“, fragte Jannik und sah Helena in die dunklen Augen.

„Wie meinen?“

Jannik stutzte. „Ich meine kulinarisch!“ >Verdammt, das klang beinahe wirklich zweideutig!<

Helena lächelte offen und perlweiße ebenmäßige Zähne blitzten hervor. Ein tiefes, weiches und melodiöses Lachen folgte. „Sie werden ja rot!“

Tatsächlich merkte Jannik, wie seine Gesichtsfarbe sich änderte und er sogar heiße Ohren bekam. Ergeben seufzte er. „Frau Kapodistrias, das liegt einfach daran, dass mir selten, wirklich sehr selten eine so umwerfende Frau wie Sie begegnet ist.“

„Helena.“ Sie sprach ihren Namen ebenfalls griechisch aus. „Und danke.“

„Also, Helena.“ Jannik bot ihr seinen Arm an und wandte sich zum Ausgang der Tiefgarage. „Wir haben hier in der Nähe einen Griechen, der nicht zu empfehlen ist. Einen Italiener und einen Chinesen, die leidlich gut sind, einen Thailänder der recht ordentlich ist und einen bombastischen Inder. Wonach ist Ihnen?“

Helena blinzelte schelmisch lächelnd zu ihren Gastgeber hinauf. „Bei der Reklame kommt nur der Inder in Frage, nicht wahr?“

Ihre Stimme verursachte wohlige Schauer auf Janniks Rücken. „Ihr Wunsch ist mir Befehl, Helena.“ Er hielt ihr die Garagentür auf und sie traten auf die Straße. Es war Februar und es nieselte etwas, aber Jannik holte wie von Zauberhand einen Regenschirm im Pocket-Format hervor und klappte ihn schnell auf, hielt ihn schützend über Helena Kapodistrias.

„Sie sind wirklich ein Gentleman, Herr Cerný.“

„Jannik. Oder Jan, wenn Sie möchten, Helena.“

Kapitel 3: Manipulationen

Das Bathura kam dampfend auf den Tisch, noch fettig vom Frittieren. Dazu wurde in einem kleinen Schälchen ein Joghurt-Kräuter-Dipp gereicht.

„Ich liebe dieses fluffige Brot!“, sagte Helena und griff zu, riss einfach ein wenig von dem Brot ab und aß es ohne den Dipp. „Hhm!“

Erstaunt betrachtete Jannik, mit welchem Genuss Helena das Brot kaute. Sie schloss dabei die Augen, schien jede Komponente der Zutaten im Mund zu zerlegen. Danach wischte sie sich die fettigen Finger an der Serviette ab.

„Sie sehen übrigens ganz anders aus als auf dem Foto. Der Bart macht Sie reifer, Jan.“

Innerlich schmunzelte Jannik. >Aha, die Kapodistrias haben also auch Erkundigungen eingeholt.<

„Der Bart ist ziemlich neu. Ich dachte mir, neues Land, neues Aussehen. Und hier habe ich nicht meinen Grund-seriösen Cousin neben mir, der sonst die Verträge abschließt.“

„Also dachten Sie sich, ich werde mich ein wenig raus putzen und Eindruck in der Geschäftswelt schinden?“

„So ungefähr. Ist doch gelungen, nicht wahr?“

Helena grinste. „Allerdings. Aber Ihre Kompetenz ist auch nicht zu verachten.“

Jan strich ein wenig von dem Dipp auf sein Bathura. „Wir haben jetzt genug ´Phishing-for-compliments` gespielt, finden Sie nicht?“ Sein Blick bohrte sich in ihre Augen.

Helenas Augenbraue zuckte kurz in die Höhe. „Wie meinen Sie das?“

Jannik schluckte sein Brot herunter, bevor er antwortete, wischte sich die Finger an der Serviette ab und trank einen Schluck Wasser.

„Ihr Onkel hat Sie mit Absicht auf mich losgelassen. Nicht, dass ich mich beschweren will. Im Gegenteil, Sie sind eine absolut angenehme und willkommene Gesellschaft. Aber Sie sollen mich – sagen wir – abtasten.“

Helena schmunzelte etwas. „Ich sagte Onkel Dim, dass man Ihnen nichts vormachen kann. Er meinte, Sie seien zu jung und unerfahren in der Geschäftswelt.“

„Onkel Dim?“

„Mein Bruder Stavros konnte als Kind nicht Dimítrios aussprechen. Also heißt er seit dem Onkel Dim.“

Janniks Mundwinkel zuckte kurz amüsiert, dann hatte er sich wieder im Griff. „Und Sie nennen ihn heute noch so?“

Helena wurde verlegen. „Eigentlich nur, wenn wir unter uns sind. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Dimítrios gegenüber das nicht erwähnen würden.“

Jannik grinste breit. „Schon vergessen. Ich habe über ihre Familie interessante Dinge gelesen, Helena.“

„Ach wirklich? Was denn zum Beispiel?“ Helena lehnte sich ein wenig vor und legte ihren Kopf zur Seite. Dadurch fiel ihr langes, schwarzes Haar wie ein Schleier zu der geneigten Seite.

„Dimítrios und sein Bruder Phillipos, Ihr Vater, gründeten ´Hellas Health` vor fast 25 Jahren. Hier in Deutschland. Sie fingen mit der Herstellung eines Reagenzglases an, das eine große Hitze aushält und somit in Laboratorien der ganzen Welt seinen Siegeszug begann. Inzwischen hat die Firma viele nützliche Produkte rund um die medizinische Forschung entwickelt und in Produktion.

Als Sie sechs Jahre alt waren und ihr Bruder drei wurden Ihre Eltern bei einem Überfall auf Ihr Zuhause getötet. Ihr Bruder Stavros wurde so schwer verletzt, dass er seitdem nur noch mit Gehhilfen laufen kann.“

Helenas Gesicht verdunkelte sich kurz und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Das war das Schlimmste, was Táwo und ich je durchmachen mussten“, sagte sie leise.

Jannik nickte verständnisvoll. „Ihr Onkel nahm Sie beide zu sich, zog Sie an Kindes statt auf. Die besten Privatschulen, ein Leben in Reichtum und Macht.“

„Aber auch mit Verantwortung, Jan.“ Helena nahm ihre Cola und trank einen Schluck.

Täuschte sich Jannik oder zitterte ihre Hand ganz leicht?

„Dimítrios zog uns in dem Wissen auf, dass es viele Menschen auf der Welt gibt, die nicht so privilegiert sind wie Táwo und ich. In den Ferien halfen wir in der Kirche aus, wir gaben den Armen Essen und Trinken. Kleidung, die uns zu klein geworden war, gaben wir direkt an hilfsbedürftige Familien. Ebenso Spielzeug, das wir nicht mehr wollten.

Dimítrios gab uns Taschengeld, aber immer nur einen Minimalbetrag. Er war der Meinung, dass wir lernen sollten, mit wenig auszukommen, damit wir schätzen lernten, was wir mehr hätten und es nicht als Selbstverständlich nähmen.“

„Das ist lobenswert. Ich habe nur eines in dem Bericht nicht verstanden, den ich gelesen habe.“ Jannik verschränkte die Arme und sah Helena direkt in die Augen.

„Und das wäre?“

„Sie und Ihr Bruder haben eine identische Ausbildung. Beide haben Sie einen fast gleich hohen IQ. Warum sind Sie Dimítrios rechte Hand geworden und nicht Ihr Bruder? Ich dachte immer, dass Griechen ihre Söhne bevorzugen!“