16,99 €
Ihr Gehirn ist nicht größer als eine Nuss, und dennoch sind ihre geistigen Fähigkeiten mit denen von Schimpansen oder Walen vergleichbar: Vogel gehören zu den klügsten Tieren auf diesem Planeten. Krähen zum Beispiel tricksen ihre Artgenossen bewusst aus, um sich den größten Futteranteil zu sichern. Und Kohlmeisen verstehen und lösen komplizierte Aufgaben schneller als Hund und Katze. Mit Respekt, Witz und Bewunderung berichtet der bekannte Verhaltensforscher von den geistigen Glanzleistungen, die man noch vor kurzem ins Reich der Fabel verwiesen hatte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 280
Mein Elternhaus war ein offenes Haus, Freunde gingen ein und aus. Selbst Vögeln war der Zugang nicht versperrt. Oft saßen zwei bis drei Rabenvögel in der Küche. Aber erstaunlicherweise entwickelte sich meine Liebe zu den Vögeln erst recht spät. Dagegen war mein älterer Bruder Günter ein Vogelfan. Er zähmte Krähen und Elstern. Die Vögel lebten in Freiheit. In einem Baum gegenüber der Küche unserer Wohnung hatte er einen Unterstand gezimmert, und wann immer sie Lust hatten, kamen sie. Mit lautem Gekrächze nahmen sie Kontakt mit ihm auf, wurden gefüttert und gestreichelt. Auch meine Mutter liebte die Vögel. Eine Elster namens Pius hatte es ihr besonders angetan. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Pius in die Küche flog, meiner Mutter hinterhertrippelte und um Futter bettelte, was er prompt bekam. Pius bediente perfekt das Klischee der diebischen Elster. Als meine Mutter in der Küche in einem großen Zuber Wäsche waschen wollte, zog sie ihren Ehering aus und legte ihn auf den Küchentisch. Pius hatte es gesehen und schnappte sich das Schmuckstück. Er hatte allerdings nicht lange seine Freude daran. Meine Mutter kannte seine Schatzkammer.
Zurück zu meinem Bruder: Sein Lieblingsvogel war die Rabenkrähe Jakob. Sie begleitete ihn täglich zur Schule. Nachdem die Haustür ins Schloss fiel, flog sie heran und landete auf seiner Schulter. Kurz vor der Schule verließ sie ihn. Manchmal hatte er Glück und sie holte ihn sogar wieder ab. All das hat mich als kleiner Junge interessiert, aber der Funke sprang nicht über. Meine Tierwelt waren die Säuger. Später habe ich mir oft darüber Gedanken gemacht, warum die unglaublichen Vogelgeschichten meines Bruders mir nicht die Tür zu den Vögeln aufschlossen. Ich vermute, für die meisten Kinder ist es schwer, zu Vögeln eine Beziehung aufzubauen. Vögel lassen sich nicht streicheln wie Hunde oder Meerschweinchen. Wenn es ihnen nicht gefällt, fliegen sie weg. Sie können sich jederzeit den Liebkosungen entziehen. Das mögen viele Kinder nicht. Zudem haben sie harte Federn und kein weiches Fell. Sich in ein weiches Fell zu kuscheln, ist der Inbegriff der Geborgenheit. Nicht umsonst haben Kinder einen Kuschelbären, -hund oder -katze und keinen Kuschelspatzen oder eine -ente. Ich vermute, die erste Annäherung eines Kindes an eine andere Tierart wird größtenteils durch Gefühle geleitet. Und da haben Säuger im Vergleich zu Vögeln die Nase vorn. Ist es die unbewusste Erinnerung an eine alte Vergangenheit und unsere gemeinsamen Vorfahren? Die trugen schließlich auch ein Fell. Oder sind uns Säuger näher, weil wir selbst Säugetiere sind und sie dadurch vielleicht schneller und besser verstehen können? Vermutlich ist dieses Gefühl in unseren Genen verankert. Zugegeben, das ist eine gewagte Hypothese, aber vieles spricht für sie, ebenso wie die Verkaufszahlen der deutschen Zoogeschäfte: Der Renner für Kinder sind Kaninchen und Meerschweinchen. Auch mein vogelbegeisterter Bruder hatte als erste tierische Freunde drei Mäuse, die er vor meiner Mutter versteckte, weil sie sich vor ihnen ekelte.
Für mich hatte gegen meine Chow-Chow-Hündin kein Vogel eine Chance, auch nicht, als ich am Anfang meines Studiums Otto Köhler begegnete und er mir von seinen spannenden Experimenten in der Vogelforschung erzählte. Erst als ich den Wellensittich Mickey geschenkt bekam, änderte sich meine Vorliebe schlagartig. Das enge Zusammenleben mit diesem putzmunteren Gesellen in einer engen Studentenbude öffnete mir die Augen. Mickey wurde sehr schnell zahm und immer frecher. Alles, was ihm zwischen den Schnabel kam, wurde untersucht. Sogar wenn ich schrieb, saß er wie ein Artist auf Bleistift und Hand und knabberte am Holz des Stiftes. Manchmal wurde es mir zu viel, aber er ließ sich nicht abschütteln. Zu seinen Lieblingsspielen gehörte Verstecken und Finden. Ich versteckte unter Pappbechern Futterkörner. Er trippelte eilig heran, überlegte kurz, wo ich das Korn versteckt haben könnte, warf schließlich mit dem Schnabel den Becher um und fraß das Korn. Es ging ihm gar nicht um das Futter, sondern um unser Spiel. Auch wenn ich kein Futter darunter versteckte, spielte er mit. Wenn er müde wurde, setzte er sich auf meine Schulter, schloss die Augen und schlief, während ich Chemie büffelte. Dieser grüne, 30 Gramm schwere Begleiter schlich sich in mein Herz. Ich verdanke ihm sehr viel, sogar einen Teil meiner beruflichen Karriere.
Natürlich kaufte ich ihm eine Partnerin. Die beiden bekamen viele Kinder und blieben dennoch zahm. Darüber hinaus suchte Mickey immer den Kontakt zu mir. Für ihn änderte sich durch seine eigene Familie nicht das Geringste an unserer Beziehung. Für mich schon: Ich wollte immer mehr über diese kleinen Vögel wissen. Besonders interessierte mich, wie sie ihre Jungen im Brutkasten versorgen und wie die Vogelkinder aus dem Ei schlüpfen. Aber darüber später mehr. Seit Mickey habe ich immer Wellensittiche gehalten, und sie werden bei mir leben, bis ich sterbe.
Warum soll dieses Buch mit dieser sehr persönlichen Geschichte beginnen? Sie zeigt in meinen Augen wunderbar, dass Gefühl und Verstand zusammenarbeiten müssen, wenn sie in die innere Welt des anderen vorstoßen und mehr von ihm begreifen wollen.
Warum hat man die Intelligenz der Vögel so lange verkannt?
Dafür gibt es natürlich viele Gründe. Aber einer war sicherlich der anatomische Aufbau des Vogelgehirns. Evolutorisch alte Gehirnteile sind bei Vögeln größer als bei intelligenten Säugern. Sie galten als Sitz der Instinkthandlungen, und demzufolge nahm man auch an, Vögel wären überwiegend nur dazu fähig, ihren Instinkten zu folgen. Ein Umdenken in der Wissenschaft fand durch die Erkenntnisse in der Neurobiologie statt. Man stellte fest, dass auch die »alten« Hirnteile in ihrer inneren Architektur genauso komplex vernetzt sind wie die von Säugetieren. Ähnlich einem sehr alten Haus mit modernster High-Tech-Inneneinrichtung.
Der Erfolg des Films »Kluge Vögel«, den Sie gemeinsam mit Volker Arzt gemacht haben, hat Sie selbst überrascht. Wie erklären Sie sich das große Interesse eines breiten Fernsehpublikums am Thema Vögel?
Jeder kennt Vögel und ist ihnen auf die eine oder andere Weise begegnet. Man nimmt sie wahr, ohne etwas Genaues von ihnen zu wissen, und pflegt seine Vorurteile. Elstern und Krähen haben z. B. bei vielen Menschen einen schlechten Ruf. Sie gelten als Nesträuber unserer Singvögel. In unserem Film zeigten wir die Vögel von einer ganz anderen Seite, und das war vielleicht die große Überraschung. Wer konnte sich vorstellen, dass sich die Elster Gertie im Spiegel erkennt? Sich im Spiegel selbst zu erkennen gehört zu den geistigen Topleistungen tierischer Intelligenz, und nur wenige Tierarten wie die Menschenaffen, Delfine und Elefanten sind dazu in der Lage. Dass die Krähe Betty Werkzeuge benutzt, zu der erst drei- bis vierjährige Kinder in der Lage sind, und dass ein kleiner blauer Vogel eine Zeitvorstellung hat, war bis dahin einfach unvorstellbar. Auch für mich selbst hat sich während der Dreharbeiten die Sicht auf die gefiederten Mitgeschöpfe verändert. Wer mit so intelligenten Wesen zu tun hatte, empfindet Respekt und Ehrfurcht vor ihnen.
Herr Birmelin, wie sind Sie auf den Vogel gekommen?
In meiner Kindheit und Jugend fesselten mich Hunde, Großkatzen wie Löwen und Tiger, aber auch Elefanten. Ich konnte sie stundenlang beobachten. Salopp ausgedrückt: Ich war auf Säugetiere geprägt. Vögel waren nicht in meinem Fokus. Sie faszinierten mich erst zu Beginn meines Biologiestudiums. Mickey, der kleine grüne Wellensittich, öffnete mir die Augen. Seine mentalen Fähigkeiten, ob Gefühl oder Denken, standen denen von Hunden in nichts nach. Der Zufall wollte es, dass an der Universität Freiburg einer der führenden Verhaltensforscher jener Zeit, Otto Köhler, die Intelligenz von Vögeln untersuchte. Seine eleganten und bestechenden Intelligenzexperimente mit Vögeln bewiesen ihre unglaublichen geistigen Fähigkeiten. Für mich war dies Neuland und äußerst spannend. Seitdem sehe ich die Vögel mit anderen Augen.
Ihre Forschungsaufgaben sind das eine, Ihr engagiertes Eintreten für unsere Mitgeschöpfe das andere. Welches Anliegen steckt hinter diesen beiden Seelen in Ihrer Brust?
Meine Triebfeder war von Kindesbeinen an die Liebe zu Tieren. Mit fünf Jahren drangsalierte ich meine Eltern so lange, bis sie mir einen weißen Chow-Chow schenkten. Seit diesem Tag habe ich bis heute nie mehr einen Tag ohne Tiere gelebt. Am Anfang waren Gefühle und Emotionen der Kitt, der mich mit den Tieren verband. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich wissen, was in ihren Köpfen vor sich geht. Aber ist das nicht ein Geheimnis? Wie kann man erfahren, was sie fühlen und was sie denken? Im Detail wird man es vermutlich nie genau wissen, aber intelligent geplante und durchgeführte Experimente verraten viel über die innere Welt unserer Mitgeschöpfe. Aufgrund dieser Versuche wissen wir heute, dass Vögel logische Schlüsse ziehen können, dass sie zählen können, dass sie ein technisches Verständnis haben, dass sie in die Zukunft und Vergangenheit blicken und dass sie sogar sinnvoll sprechen können.
Welche Verhaltensforscher haben ihre Arbeit geprägt oder beeinflusst?
Wissenschaftliches Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, dass man mit vielen Kollegen vernetzt ist. Ohne Wissens- und Erkenntnissaustausch ist man im Wissenschaftsbetrieb verloren. Dieser Austausch ist spannend und das Salz der Wissenschaft. Und dennoch hat jeder seine Vorlieben. Meine Favoriten waren Wissenschaftler, die Tiere in freier Wildbahn oder in tiergerechten Gehegen wissenschaftlich beobachteten und die sich daraus ergebenden Fragen durch Experimente zu lösen suchten. Zu ihnen zählte mein Doktorvater Prof. Beat Tschanz von der Uni Bern, der Primatologe Prof. Hans Kummer, Prof. Otto Köhler, Prof. Hassenstein und natürlich der Übervater der Verhaltensforschung Konrad Lorenz. Aber auch durch meine Filmtätigkeit lernte ich viele herausragende Wissenschaftler mit ihren Tieren kennen, die meinen Weg indirekt mitbestimmten. So waren die Begegnungen mit Kanzi, dem Bonobo, Gertie, der Elster, Betty, der Neukaledonischen Krähe, Rico, dem Boarder Collie und Alex, dem Graupapagei, Erlebnisse der besonderen Art. Sie alle gelten als die Einsteins im Tierreich.
Otto Köhler war eine der großen Persönlichkeiten in der Verhaltensforschung. Er arbeitete akribisch genau und äußerst sorgfältig, und auch im hohen Alter verließ ihn sein scharfer Verstand nicht. Seine Fragen waren unter den Referenten der zoologischen Kolloquien gefürchtet. Ich habe selbst miterlebt, wie manch einer von ihnen ins Schwitzen geriet, wenn er eine Frage zu Versuchsablauf oder -aufbau stellte. Er war einfach ein Forscher mit Leib und Seele und eines meiner großen Vorbilder.
Otto Köhler und sein Team waren Pioniere auf dem Gebiet der experimentellen Untersuchungen zur Erforschung der geistigen Fähigkeiten der Vögel. Eine ihrer wichtigsten Fragestellungen war, ob Vögel eine Vorstellung von einer Menge haben.
Können Vögel beim Anblick von fünf Körnern oder fünf Münzen oder fünf Punkten von den jeweiligen Objekten abstrahieren und die Anzahl fünf als gemeinsame Eigenschaft erkennen? Wir Menschen können, ohne zu zählen, acht Gegenstände, z. B. Kugeln, Löffel oder Gabeln, auf einem Tisch sofort wahrnehmen. Ab dem neunten Gegenstand läuft es im Kopf anders: Wir erkennen acht Objekte sofort und addieren eines dazu. Wenn wir an diese Aufgabenstellung herangehen, zählen wir. Wie werden Vögel reagieren, wenn man ihnen Aufgaben aus der Mengenlehre stellt?
Otto Köhler und sein Team wollten es wissen. Sie machten sich an die Arbeit. In eine Reihe stellten sie z. B. acht Futterschälchen auf. Jedes wurde mit einem Pappdeckel zugedeckt, der wiederum jeweils mit einer anderen Anzahl von Punkten versehen war. Die Punkte waren nicht regelmäßig wie die Punkte auf einem Würfel, sondern unterschiedlich gezeichnet. D. h., einige Punkte waren größer als die anderen, wieder andere hatten unregelmäßige Ränder. Man ließ der Fantasie freien Lauf. Zuerst wurde eine Elster auf die Anzahl von fünf Punkten dressiert. Wie man das macht? Das ist gar nicht so schwer, wie man zunächst glauben könnte. Köhler zeigte der Elster ein Musterkärtchen mit fünf Punkten. Nachdem sie es lange genug inspiziert hatte, musste sie unter den acht Schälchen dasjenige auswählen, auf dessen Deckel fünf Punkte gezeichnet waren. Die Elster trippelte zum richtigen Schälchen, stieß gekonnt mit dem Schnabel den Deckel mit fünf Punkten weg und holte sich das Futter als Belohnung heraus. Überraschend schnell hatte sie gelernt, worum es ging.
Das oberste Gebot in der Verhaltensforschung ist es, Fehler durch unabsichtliche menschliche Einflussname zu verhindern. Das ist nicht immer ganz einfach und erfordert viel Anstrengung. Bei den Versuchen, ob Vögel Mengen erkennen, durfte keiner der anwesenden Forscher das Ergebnis kennen. Zudem wurden immer wieder Kontrollexperimente durchgeführt, bei denen die Forscher den Raum verließen und nur eine Filmkamera den Versuchsablauf filmte.
Zu den Spitzenkandidaten beim Erfassen von Mengen gehören Kolkraben, Elstern, Graupapageien und Amazonen (eine Papageienart). Sie können auf einen Blick eine Menge von sieben erfassen. Wellensittiche und Dohlen schaffen es bis zu sechs und Tauben bis zu fünf Objekten. Alle Vögel besitzen also einen abstrakten Mengenbegriff. Das Erkennen von Mengen ist aber etwas vollkommen anderes als Zählen, auch wenn es oft nicht unterschieden wird.
Wie kann man dann also in einem Experiment zeigen, dass Vögel zählen können? So weit ich weiß, waren Otto Köhler und seine Forschungsgruppe die Ersten, die dieser Frage nachgegangen sind. Und das mit großem Erfolg. Er zeigte einem Vogel ein Musterkärtchen mit einer Anzahl von Punkten, z. B. fünf. Dann wurde es wirklich schwierig. Der Vogel musste an einer Reihe von Futterschälchen entlanglaufen. Wie beim Mengenversuch waren sie mit einem Pappdeckel verschlossen, auf dem die Punktzahl zu sehen war. War auf dem Deckel ein Punkt gezeichnet, befand sich im Futterschälchen ein Futterkorn, bei zwei Punkten zwei Futterkörner usw. Dem Vogel wurde nun ein Musterkärtchen mit fünf Punkten gezeigt. Er trippelte los, entfernte mit seinem Schnabel den Deckel mit der Punktzahl eins und holte sich das eine Futterkorn. Dann trippelte er weiter, traf auf drei Punkte und fraß drei Körner. Er trippelte weiter, suchte ein Futterschälchen mit einem Punkt und fraß das darunterligende Futterkorn. Sobald der Vogel fünf Körner gefressen hatte, durfte kein weiteres Schälchen geöffnet werden und er musste das Versuchsgelände verlassen.
Jako, ein besonders kluger Graupapagei, brachte es in dieser Versuchreihe sogar auf acht. Er legte allerdings großen Wert darauf, dass ausschließlich seine Lieblingsleckereien im Angebot waren – aufgeweichte und dann wieder getrocknete Keksstücke. Bei diesen Leckerbissen konnte es gar nicht ausbleiben, dass beim Fressen mal ein Stück abbrach und hinunterfiel. Die Frage war jetzt: Würde er die beiden Hälften doppelt zählen? Jako ließ sich zwar den hinuntergefallenen Bissen nicht entgehen und hob ihn sorgfältig wieder auf – jedoch ohne ihn mitzuzählen. Offenbar betrachtete er die selbst verschuldete Zweiteilung als Artefakt, und Artefakte zählen nicht bei einem guten Experiment.1› Hinweis Um wirklich sicherzugehen, dass Jako zählte, und um zu verhindern, dass womöglich eine unbewusste Einflussnahme zwischen den beteiligten Forschern und dem Vogel stattfand, ließ Otto Köhler den Papagei völlig auf sich allein gestellt die Zählaufgaben lösen. Er hielt währenddessen eine Vorlesung.
Kurt Schiemann, einer seiner Mitarbeiter, untersuchte das Zählvermögen einer Dohle. Sie sollte bis fünf zählen, durfte also fünf Futterkörner fressen. Im ersten Schälchen fand sie eines, im zweiten waren es zwei und im dritten eines. Insgesamt also vier. Ein Futterkorn hätte ihr noch zugestanden, aber sie verließ den Versuchsaufbau durch die offene Tür.
Jetzt wurde Schiemann Zeuge eines unglaublichen Vorgangs. Sein Versuchstier zeigte ihm, was in seinem Kopf vor sich ging. Die Dohle machte plötzlich eine Kehrtwendung um 180 Grad, trippelte zurück und wiederholte den Versuchsablauf. Am ersten Schälchen mit einem Körnchen – das Schälchen war natürlich leer – nickte sie einmal mit dem Kopf. Beim zweiten nickte sie zweimal, beim dritten einmal. Es ist anzunehmen, dass sie in Gedanken nochmals durchzählte und diesmal zu einem anderen Ergebnis kam, denn ohne zu zögern trippelte sie weiter und öffnete ein weiteres Schälchen. Darin befand sich aber kein Futter. Unbeirrt öffnete sie ein weiteres, in dem sich tatsächlich ein Korn befand. Jetzt war die Aufgabe gelöst und sie verließ schnurstracks die Bühne. Deutlicher als durch die beobachtete Nickbewegungen des Kopfes konnte sie das Zählen kaum demonstrieren. Klingt unglaublich, ist aber wahr. Nur einmal noch hat Kurt Schiemann diese »Leerlauf-Nickbewegungen« bei seiner Dohle beobachtet.
Er treibt sein Unwesen vor der Zoologie der Universität Freiburg, und Otto Köhler und sein Team hätten an dieser Rabenkrähe ihre helle Freude gehabt. Er taucht unregelmäßig auf. Man weiß nie, wann: Konrad hat einen besonderen Tick. Er liebt es, Parkscheine von der Windschutzscheibe parkender Autos zu entfernen. Sehr zum Leidwesen der Gemeindevollzugspolizei, aber zur Freude der Parker. Ist es Absicht oder Zufall? Hat er Angst, bei seinem Treiben erwischt zu werden? Man weiß es nicht. Hat er genug Parkscheine entfernt, besucht er ab und zu die Patienten der psychiatrischen Klinik neben der Zoologie und treibt seinen Schabernack mit ihnen. Wenn er ganz dreist wird, bedient er sich einfach und stibitzt eine leckere Traube vom Mittagstisch. Als mir Florian, ein Biologiestudent, diese Geschichte erzählte, konnte ich sie kaum glauben, denn Konrad ist eine Rabenkrähe. Ich habe diesen Vögeln viel zugetraut, aber so weit hat meine Fantasie nicht gereicht. Wie dem auch sei. Es war der richtige Zeitpunkt, an dem ich von dieser Geschichte erfuhr, denn wir hatten gerade den Auftrag erhalten, einen Film über kluge Vögel zu drehen. Kein Zweifel, Konrad wäre ein genialer Start für den Film. Die Story ist lustig und verrät viel über das geistige Potenzial dieser Tiere. Aber wie lässt sich so eine Geschichte filmen? Das hört sich einfach an, ist aber in Wirklichkeit mit ungeheuren Schwierigkeiten gespickt. Probleme über Probleme. Man muss Stunden oder Tage warten, man weiß nicht, wie er auf eine Kamera reagiert. Ich kann mir nur einen vorstellen, der dies schafft. Kurt Beuret, er hat ein Händchen, schwierige Tierszenen mit der Kamera einzufangen. Ich sprach mit Kurt und er nahm die Herausforderung an. Wohl wissend, auf was er sich einließ. Warten, Warten und nochmals Warten. Wir hatten Glück und konnten alles filmen, was wir uns erträumten. Und Konrad gab uns noch eine Zugabe seiner Dreistigkeit. Zu seiner Spezialität gehört es, Personen die Münzen zu klauen, die sie in den Parkautomaten werfen wollten. Wie macht er das? Er beobachtet den Autofahrer, wie er, vor dem Automaten stehend, in seiner Geldbörse nach Münzen sucht. In dem Moment, in dem die Person die Münze in den Schlitz stecken will, fliegt er auf den Automaten. Die Reaktion der Person ist immer dieselbe: Sie erschrickt und zögert für einen kurzen Augenblick, die Münze einzuwerfen. Diese kurze Pause nützt Konrad aus, reißt ihr mit dem großen schwarzen Schnabel die Münze aus der Hand und fliegt davon. Ganz schön clever, dieser Konrad.
Lora und Rocky sind zwei Graupapageien. So wie viele ihrer Artgenossen hatten sie eine lange Odyssee hinter sich, bis sie eine ständige Heimat fanden. Schließlich sind sie bei meiner ehemaligen Frau Monika gestrandet. Sie liebt sie und kümmert sich rührend um diese beiden. Sie haben ein eigenes, sonniges Zimmer für sich, in dem sie alles auf den Kopf stellen dürfen. Vor ihren Schnäbeln ist nichts sicher. Selbst Parkettleisten werden angeknabbert. Wenn Monika von der Arbeit nach Hause kommt, wird zuerst geschmust und dann das Zimmer geputzt. Während dieser Prozedur ist es passiert. Die beiden Vögel saßen auf ihrer Schulter und sie holte den Staubsauger aus einem anderen Raum. Das Wohnzimmerfenster war weit geöffnet. Sie hatte vergessen, es zu schließen. Die Vögel machten keine Anstalten, wegzufliegen. Sie fühlten sich auf der Schulter wohl und knabberten an ihrem langen schwarzen Haar. Und Monika war auch nicht beunruhigt; seelenruhig ging sie zum Fenster, um es zu schließen. Doch plötzlich ertönte von draußen eine Polizeisirene, die instinktive Fluchtreaktion der Vögel wurde ausgelöst und mit kräftigen Flügelschlägen flogen sie durch das Fenster ins Freie. Zum Glück war es Mai, es herrschten warme Temperaturen. Beide Papageien hatten in einer fahrbaren Außenvoliere schon einmal die Welt außerhalb wahrgenommen. Sie kannten also den Himmel und die nahe Umgebung. Den meisten aus Versehen wegfliegenden Vögeln wird diese mangelnde Kenntnis zum Verhängnis. Die große Freiheit flößt ihnen Angst ein. Alles ist unbekannt, jeder Baum, jeder Strauch. Sie fliegen, sie fliegen und fliegen bis zur totalen Erschöpfung. Sie trauen sich nicht zu landen. Auch Lora und Rocky waren für einen Tag verschwunden. Zwei Nächte und einen Tag hielt die Ungewissheit an, dann tauchten die beiden laut krächzend auf einem benachbarten Baum auf. Kein Zweifel, sie riefen nach Monika, und die kam auch sofort mit einem Käfig in der Hand und den beliebtesten Leckerli. Sie wollte die Vögel in den Käfig locken. Aber ohne Erfolg, alle Bemühungen, diese versehentlichen Ausreißer zu fangen, schlugen fehl. Sie entschlossen sich, in Freiheit zu bleiben, aber in der Nähe von Monika. Jeden Spätnachmittag tauchten die Vögel auf, kletterten die Zweige des Baumes hinab, sodass Monika sie streicheln, aber nicht fangen konnte. Natürlich brachte sie ihnen Futter mit, und Lora fraß genüsslich ihre Leberwurstbrotschnitten und zum Nachtisch Apfelstückchen. Dieses Schauspiel ereignete sich nahezu jeden Tag. Es wurde August und Monika wollte in den Urlaub fahren, ich sollte die Fütterung übernehmen. Die Vögel waren mit dieser Entscheidung nicht einverstanden. Sie nahmen von mir kein Futter an, also fiel Monikas Urlaubsreise ins Wasser. Irgendwann machten wir uns Sorgen, was wohl im Winter passieren würde. Immerhin, sie waren zu zweit. Wo immer ein Papagei flog, der andere war nicht weit.
Eines Tages sollte dieses Verhalten Lora das Leben retten. Ich ging mit meinem Schäferhund Teddy im Dreisamtal in Ebnet bei Freiburg spazieren und beobachtete, wie die beiden elegant und vollkommen entspannt durch die Luft segelten, so wie sie es vielleicht in ihrer afrikanischen Heimat tun würden. Es war ein schöner, friedlicher Anblick. Aber ich war scheinbar nicht der Einzige, der die beiden beobachtete. Plötzlich tauchte ein großer Bussard auf und flog über Lora. Kein Zweifel, er wollte Lora schlagen. Rocky, in etwa 30 Meter Abstand hinter Lora, beobachtete das Geschehen. Und dann legte er los. Er schrie und krächzte so laut, wie nur ein Graupapagei schreien kann. So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gehört, und der Bussard scheinbar auch nicht. Er erschrak, geriet ins Trudeln und wäre um ein Haar abgestürzt. Lora war gerettet und ich glücklich. Die Papageien flogen zum nächsten Baum und erholten sich von der Strapaze. Nach diesem Erlebnis wuchs meine Angst um diese beiden Geschöpfe. Aber es gelang uns einfach nicht, sie einzufangen. Am ersten November schaffte ich es, Rocky nachts zu überlisten und einzufangen. Ich sperrte Rocky in einen Käfig und ließ die Balkontür auf. Morgens um 10 Uhr kam Lora angeflogen. Und wie als wenn nichts wäre nahm das Pärchen wieder Besitz vom Zimmer. Selbst alte Gepflogenheiten nahmen sie wieder auf. Nie mehr nahmen sie einen ganzen Apfel an. Er musste, bitte sehr, in Stücken serviert werden. Dabei hatte ich sehr wohl gesehen, wie sie sich im Herbst ganze Äpfel vom Baum geholt und sie auch gefressen hatten.
Schauplatz Serengeti. Hier in diesem Paradies der Tiere fühle ich mich wohl, hier bin ich so glücklich wie nirgendwo sonst. Über dem Horizont geht die rote Sonne auf – ein Bild, wie man es von zahlreichen kitschigen Postkarten kennt. Hier aber ist die Wirklichkeit nicht kitschig, nur einfach unglaublich schön.
In dieser Stimmung waren wir an diesem Morgen, der für uns eine besondere Überraschung bereithalten sollte. Wir beobachteten einen Schmutzgeier, der gelassen, aber zielgerichtet auf ein unbewachtes Straußeneiergelege zutrippelte. Vom Straußenvater, der in aller Regel die Brut bewacht, war keine Spur. Wir suchten mit unseren Ferngläsern die ganze Gegend ab – kein Strauß weit und breit. Das wusste der Schmutzgeier vermutlich auch. Seelenruhig suchte er nach einem passenden Stein. Nach etwa zwei Minuten hatte er einen gefunden, nahm ihn in den Schnabel und ging zum Gelege. Der riesige Vogel postierte sich vor dem Ei, hob den Kopf so hoch es ging und ließ den Stein fallen. Daneben. Ein Minischritt nach links. Kurskorrektur: Wieder nahm der Geier den Stein in den Schnabel und ließ ihn fallen. Getroffen. Aber die Schale blieb unversehrt. Neuer Anlauf. Erst nach dem fünften Versuch schlug der Stein ein Loch in die Eischale. Mit seinem Schnabel vergrößerte der Geier das Loch, löffelte Eiweiß und Eigelb heraus und ließ es sich schmecken.
Diese Geschichten von Konrad, von Lora und Rocky und die vom gefräßigen Schmutzgeier werfen ein klares Licht auf unterschiedliche Fähigkeiten der Vögel. Sie lassen vermuten, dass manche Vogelarten über Gefühle verfügen, über Intelligenz oder die Fähigkeit zu denken. Treibt Konrad seine Späße mit dem Menschen in bewusster Absicht? Weiß er, was er tut? Lieben sich Rocky und Lora? Oder welche partnerschaftliche Beziehung besteht zwischen diesen beiden Vögeln? Setzt der Schmutzgeier den Stein gezielt als Werkzeug ein oder handelt es sich dabei um eine angeborene Instinkthandlung? Fragen über Fragen.
Vögel haben vor etwa 180 Millionen Jahren die Bühne des Lebens betreten. Seitdem setzt sich ihr Siegeszug fort. Sie kommen überall zurecht, in der Luft, an Land und im Wasser. Ihre Erfolgsstory kann sich mit der der Säugetiere messen. Wer so erfolgreich plötzlich auftretende Probleme meistert, die sich im Lauf des Lebens in den Weg stellen, muss auch etwas im Köpfchen haben. Bislang standen die Menschenaffen im Mittelpunkt der Intelligenzforschung. Das liegt auf der Hand: Sie sehen uns am ähnlichsten und sind genetisch am nächsten mit uns verwandt.
Die intelligente Seite der Vögel wurde lange übersehen.
Sehr lange war in der Wissenschaft umstritten, ob Tiere Gefühle besitzen oder nicht. Noch heute gibt es Wissenschaftler, die dies bestreiten, und ihre Argumente sind nicht einfach zu widerlegen. Woher soll ich wissen, was ein Tier fühlt? Schließlich fehlt ihm die Sprache, um uns seinen Gefühlszustand mitzuteilen. Die Sprache macht es uns leichter, etwas über die innere Welt unseres Gegenübers zu erfahren. Ist es also reine Spekulation oder Subjektivität, wenn wir von Trauer und Freude bei Tieren sprechen? Ich denke nicht, denn die Verhaltensbiologie und Neurobiologie haben inzwischen gutes Handwerkszeug entwickelt, um sich den Gefühlen der Tiere zu nähern. Die Sprache ist meines Erachtens nicht der einzige Botschafter unserer inneren Welt. Der innere Zustand spiegelt sich auch im äußeren Erscheinungsbild wider. Ein trauriger Mensch hat eine ganz bestimmte Körperhaltung und einen veränderten Gesichtsausdruck. Es fällt uns nicht schwer, seine innere Verfassung ohne Worte zu interpretieren. Wie gut wir das können, zeigt uns die hohe Kunst der Pantomime oder ein Karikaturist, der mit wenigen Strichen einen trauernden oder glücklichen Menschen skizzieren kann. Aber auch Tiere sind kein Buch mit sieben Siegeln. Wer Erfahrung mit Tieren hat, kann ihr Ausdrucksverhalten interpretieren und auf ihre innere Befindlichkeit und Stimmungslage schließen.
Manche Tierarten machen es einem schwerer als andere, und es waren im Wesentlichen die Vögel, die die Geburtsstunde eines neuen Wissenschaftszweiges, der Verhaltensforschung, einläuteten. Die Signale, die sie aussenden, sind für uns Menschen schwieriger zu interpretieren. Sie zeigen keine fletschenden Zähne, keinen wedelnden oder eingeklemmten Schwanz, keine anliegenden Ohren, geschweige denn eine Gesichtsmimik. Auch ihr Hornschnabel verrät uns selten etwas über ihre Gefühle. Und dennoch gibt es für mich keine Zweifel: Auch Vögel haben Gefühle und Empfindungen, die sie durch ihre Körperhaltung und Lautäußerungen ausdrücken. Man muss sie nur besser kennen und genauer beobachten, um in ihre innere Welt einzutauchen. Wem das gelingt, der erlebt Freude und innere Befriedigung und erkennt durchaus Ähnlichkeiten mit uns.
Einem, dem das zu hundert Prozent gelang, war der Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Die Bilder, wie er mit seinen Graugänsen im Starnberger See bei Seewiesen schwamm, gingen um die Welt. Ihnen widmete er einen Großteil seines Forscherlebens. Auf die Frage, warum Graugänse zum Gegenstand so ausgedehnter Studien wurden, antwortete er: »Ausschlaggebend ist der Umstand, dass die Graugans in vielen entscheidenden Punkten ein dem Menschen analoges Familienleben hat. Wohlgemerkt, wir vermenschlichen die Tiere keineswegs, sondern wir stellen völlig objektiv und nicht ohne gewisse Verwunderung fest, dass z. B. die Eheschließung bei Gänsen fast genauso verläuft wie bei uns selbst. Der Zeit des Verliebens eines jungen Männchens folgt eine intensive Werbung um ein bestimmtes junges Weibchen, manchmal stark behindert durch deren bösen Vater.«2› Hinweis
Konrad Lorenz beschreibt in seinen Büchern trauernde, hassende und eifersüchtige Graugänse. Er hat keine Skrupel und keine Angst vor der Vermenschlichung. Er ist sich seiner Arbeitsmethoden sicher und ist sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst. Wer so eng mit Tieren zusammenlebt und einen so guten Draht zu ihnen hat wie Konrad Lorenz, erlebt sie anders, vermutlich als Gesamtpersönlichkeit. Die Gänse zeigen »Gesichter«, die unter reinen Laborbedingungen verborgen bleiben. Daher scheut er sich nicht, von der Trauer der Graugänse zu schreiben: »Graugänse, die ihren Partner verloren haben, zeigen alle Symptome, die John Bowlby in seiner berühmten Arbeit ›Infant Grief‹ (kindliche Trauer) an kleinen Menschenkindern beobachtet und beschrieben hat. Der Sympathikustonus sinkt und infolgedessen erschlafft die Muskulatur, die Augen sinken tief in die Augenhöhle zurück, das ganze Individuum wirkt schlaff, es lässt im buchstäblichen Sinne ›den Kopf hängen‹. Wenn wir solches von einem Mitmenschen aussagen, so meinen wir damit eigentlich nicht seine Körperhaltung, sondern den Seelenzustand, dessen Ausdruck sie ist.«3› Hinweis
Ganz kleine Gössel, die ihre Eltern verloren haben, trauern nicht still, sondern weinen laut. Das heißt, sie äußern das Pfeifen des Verlassenseins. Sie sind völlig unfähig, irgendeine andere Tätigkeit auszuüben. Sie fressen nicht, sie trinken nicht, sie irren weinend umher. Wenn das Weinen kleiner Gänsekinder nicht bald gestillt wird, können sie schweren Schaden nehmen. Unter natürlichen Umständen haben solche ›Perditos‹ (Verlorenen), wenn sie ihre Eltern nicht wiederfinden, keine Aussicht auf Überleben. Nur in den allerseltensten Fällen finden sie Anschluss an eine andere Familie oder ein stellvertretendes Elternpaar. Daher ist es für kleine Gössel durchaus sinnvoll, den letzten Funken der ihnen verbleibenden Energie zum Wiederfinden der Verlorenen aufzuwenden.
Dagegen zeigen erwachsene, flugfähige junge Gänse, die ihre Eltern verloren haben, zwar tiefste Trauer mit allen von Bowlby beschriebenen Symptomen. Dennoch verhalten sich sich weitgehend normal und suchen nicht mehr rastlos nach den verlorenen Eltern.
Konrad Lorenz hätte seine Freude gehabt, wenn er erlebt hätte, wie seine Interpretation des Ausdrucksverhaltens durch biochemische Methoden bestätigt wurde.
Sein Nachfolger an dem nach ihm benannten Institut ›Der Konrad-Lorenz-Forschungsstätte‹ in Grünau, Prof. Kurt Kotrschal, bedient sich dazu eines neuartigen Verfahrens. Es misst die innere Anspannung, die nervliche Belastung, kurzum den psychischen Stress, unter dem ein Lebewesen steht. Wir, das heißt Volker Arzt und ich, arbeiten gerade an dem Film »Aus Lust und Liebe« und sind mit unserem Filmteam dabei und werden Zeuge dieses spannenden Versuches. Elke Wunsch, unsere Kamerafrau und Vogelnärrin, hat die Drehgenehmigung und versucht das Geschehen mit der Kamera einzufangen.
Jeden Morgen im Sommer fliegt eine wilde Graugänseschar in Grünau ein, wohl wissend, dass es hier Futter gibt. Menschen und Vögel haben sich aneinander gewöhnt. Beim näheren Hinsehen bemerkt man, dass die Schar aus mehreren einzelnen Paaren besteht. Gans und Ganter. Ehepaare könnte man sagen. Sie bleiben ein Leben lang zusammen, ziehen jedes Jahr Kinder groß und behaupten sich gegen andere Paare. Dann startet der Versuch. Katharina Hirschenhauser, eine Mitarbeiterin von Prof. Kotrschal, hat die unangenehme Aufgabe, die Frau von Ganter Max zu »entführen«. Sie nähert sich vorsichtig und bedächtig dem Paar. Plötzlich, ohne hastige Bewegungen, packt sie die Gans und bringt sie weg. Max bleibt allein zurück. Wie fühlt er sich, was geht in seinem Inneren vor?
Stress, oder genauer Disstress, ist fortdauernd anhaltender negativer Stress. Er entsteht in einem Organismus, wenn dieser die Umweltreize und Situationen nicht mehr adäquat verarbeiten kann und mit der Verarbeitung überfordert ist. Das psychische und physiologische Gleichgewicht gerät in Schieflage. Der Körper reagiert mit einer erhöhten Nebennierentätigkeit und sendet Hormone ins Blut. Bei andauerndem Stress werden die Fortpflanzungsrate und das Immunsystem heruntergefahren. Es kommt zu Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts oder des Herz-Kreislauf-Systems. Das Tier oder der Mensch fühlt sich nicht mehr wohl.
Ein Indikator für Unwohlsein eines Individuums sind Stressmessungen mittels Cortisol. Eine Kotprobe von Max soll über seine innere Belastung Aufschluss geben. Sie enthält das Stresshormon Cortisol, das Max aus seinem Körper ausscheidet. Die Menge an Stresshormonen ist ein Maß für seine psychische Belastung. Je schlechter Max sich fühlt, desto größer ist der Anteil des Stresshormons in seinem Kot. Die chemische Analyse der Kotprobe ist kompliziert, aber das Ergebnis ist eindeutig. Seine Stresshormone jagen nach der Entführung in die Höhe. Offenbar macht ihm die Trennung von seiner Partnerin zu schaffen. Sein Hormonpegel wird erst wieder normal, als er seine Partnerin zurückbekommt. Zumindest auf der Ebene der Stresshormone sind uns Gänse erstaunlich ähnlich.
Dieser kleine, etwa 20 Gramm schwere, hübsche Vogel mit schwarzem Kopf und weißen Wangen, olivgrünem Rücken und gelbem Bauch bewohnt unsere Wälder, Parks und Gärten. Man kennt ihn und freut sich immer wieder, ihn zu sehen. Vermutlich sind Kohlmeisen eine der am meisten untersuchten Vogelarten.
Wer sich die Zeit nimmt, diese munteren Gesellen an einer Futterstelle zu beobachten, wird feststellen, dass es unter ihnen Neugierigere und Scheuere gibt. Kleine Piepser mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, so wie wir es von Katzen und Hunden kennen. Dieser Unterschied ist zum großen Teil in den Genen verankert. Seit Neuestem untersucht auch die Wissenschaft die Persönlichkeit der Tiere. So auch die der Kohlmeise. Das Team um den holländischen Verhaltensforscher Pieter Drent züchtet schon seit 1996 besonders mutige (schnell reagierende) und besonders scheue (langsam reagierende) Vögel. Gibt es bei diesen beiden Charaktertypen messbare Unterschiede in ihrer Hormonausstattung? Dieser Frage ging Mareike Stöwe von der Veterinärmedizinischen Universität in Wien nach. Sie bestimmte wie Katharina Hirschenhauser zuvor die Hormonkonzentrationen im Kot der Vögel. »Im Labor wurden etwa 50 Kohlmeisenjungen aus den Zuchtlinien der mutigen und scheuen Vögel aufgezogen. Dabei saßen jeweils vier Junge gemeinsam in einem Nest im Brutkasten. Sie wurden jede halbe Stunde gefüttert, gleichzeitig wurden Kotproben gesammelt. Dabei wurden zwar die Nester, nicht aber die Vögel in der Hand gehalten, denn das Berühren der Kohlmeisen löst bei ihnen Stress aus. Folglich wurde das »In-die-Hand-Nehmen« als Testmethode gewählt: »Für den Stresstest nahmen wir die Jungen aus dem Nest und hielten sie eine Minute in der Hand. Wieder zurück im Nest wurden die Jungen wie an Kontrolltagen gefüttert und Kotproben gesammelt.«4› Hinweis