Wahl der Waffen - Judith Kuckart - E-Book

Wahl der Waffen E-Book

Judith Kuckart

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Beschreibung

Wie eine junge Frau zur Terroristin wird

Die Journalistin Katia entdeckt auf einem Fahndungsplakat das Foto ihres ehemaligen Kindermädchens. Sie verfolgt die Spur dieser Frau: Jette hat sich Mitte der sechziger Jahre aus der Kleinstadt nach Tübingen davongemacht, später nach Berlin. 1967/68 gerät sie über Liebschaften in den Untergrund, als Bankräuberin steigt sie Anfang der Siebziger zur „meistgesuchten Frau Deutschlands“ auf. Katia will verstehen, warum sich Jette für die Gewalt, den Untergrund, die Angst entschieden hat, will herausfinden, was damals wirklich geschah …

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Inhaltsverzeichnis
Buch
Autorin
Judith Kuckart bei btb
Lob
Widmung
Kapitel 1
Copyright
Buch
Die junge Journalistin Katja entdeckt auf einem Fahndungsplakat politischer Terroristen das Foto ihres ehemaligen Kindermädchens. Sie verfolgt die Spur dieser Frau, sie ist fasziniert von Jettes Mut, der sie Mitte der sechziger Jahre aus der Kleinstadt nach Tübingen, später nach Berlin führt. In den heißen Sommern von 1967 und 68 gerät Jette über Liebschaften in den Untergrund, als »Bankräuberin im weißen Anzug« wird sie Anfang der Siebziger zur »meistgesuchten Frau Deutschlands«. Sie wird verhaftet, gegen einen entführten Politiker ausgetauscht und findet im Nahen Osten Unterschlupf bei den Palästinensern, auf deren Seite sie Anfang der achtziger Jahre bei einem israelischen Angriff ums Leben kommt.
In ihren Recherchen kommt Katia Jette immer näher. Jette wird ihr zur großen Schwester, deren Lebenslauf sie aus der Perspektive einer Nachgeborenen verfolgt. In die Faszination mischt sich Unverständnis gegenüber dem Haß, mit dem Jette ihren Kampf führte. An welcher Stelle entscheidet sich solch ein Leben, was löst den politischen Aktionismus aus, und warum mußte er in Gewalt münden?
Judith Kuckarts Debütroman ist ein Dialog zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen, eine zärtlich wilde Frage nach der Zwangsläufigkeit von Lebensentwürfen.
Autorin
Judith Kuckart, geboren in Schwelm (Westfalen), lebt nach dem Studium der Literatur- und Theaterwissenschaften und einer Tanzausbildung als Autorin und Regisseurin in Zürich und Berlin. Neben Theaterstücken erschienen von ihr u. a. die Romane »Der Bibliothekar«, »Lenas Liebe« und »Kaiserstraße«, für die sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde.
Judith Kuckart bei btb
Die Autorenwitwe (73567) Lenas Liebe. Roman (73690) Kaiserstraße. Roman (73621)
Zähle die Mandeln zähle, was bitter war und dich wachhielt zähle mich dazu
Celan
Für J. A. 13. März 1990
1
- Habe dich lange nicht gesehen, könnte sie sagen.
- Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden.
Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern.
Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen.
- Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. »Ich« bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. »Im Libanon ums Leben gekommen«. Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: »L« schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
- Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
- Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt.
An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
- Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
- Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
- Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
- Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht.
Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen.
Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. »Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht... im Libanon ums Leben gekommen«. Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in »Liberation« nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht. Nur so? Nein. So nur.
Katia steht auf. Der lange Rock schlägt ihr zwischen die Beine, als sie mit großen Schritten erneut die Bahnsteigkante abmißt. Kummer mehr, mehr als Kälte kriecht an ihr hoch. So ist sie, was kann sie dagegen tun. Denen, die ohne Abschied gehen, bleibt sie erst recht treu.
Ein älterer Mann in Hut und weißem Schal sucht, ihren Blick zu fangen. Katia ist dreiundzwanzig, bewegt sich entschieden ungelenk, denkt an ihre Topfpflanzen in Sektkübeln.
Trinkt lieber Whisky.
Lieber mehr. Mehr Mädchen als Frau.
Sie zögert, bleibt stehen. »... im Libanon auf der Seite der Palästinenser ums Leben gekommen. Eine amtliche Todesmeldung will die Staatsanwaltschaft jedoch vorläufig...« Sie ist aus dem Takt geraten. Alles, was sie bisher gewollt, hat kein Gewicht mehr gegen diese Schwere. Sie bewegt die Lippen, als ziehe sie Kugeln einer endlosen Kette durch die Finger. Etwas so lange wiederholen, bis es sichtbar, so lange wiederholen, bis die nächste Bewegung zwangsläufig, zwangsläufig richtig.
Zieh’. Aus.
Sie drückt die Fäuste gegen die Augäpfel, bis ihr Bilder kommen, in einem hohen Weiß, auf einem spitzen Ton. Eine neununddreißig Jahre alte Frau stirbt in der Mittagshitze von Sidon. Die Sonne steht so hoch, daß die Frau im Fall keinen
Schatten wirft. Das Bild ist gelb. Die Frau heißt. Da fehlt die Bildunterschrift. So ein Gesicht, gar kein Gesicht mehr, über ein offenes Grab gebeugt. Hätte sie davon ein Bild, hätte sie ein geglücktes Photo vom Unglück, sie würde es niemandem zeigen.
Sitze in einem Geisterhaus, die Läden klappern, der Boden knarrt, niemand kommt, und ich erwarte alles. Ich verstehe, wie ich will. Fiktion mag Verleumdung sein in diesem Fall. Nicht die Erinnerung, nein, sondern das, was ich besser nicht weiß, warnt mich vor weiterem Wort.
Ahne, in gewissen Nächten gegen Morgen streift mich der Atem einer Frau, die sich ans Fensterkreuz geknüpft hat, um endlich schlafen zu können.
Der Mann im Hut sucht sie zu grüßen. Katia starrt zurück. Die Geste gefriert ihm in den Adern. Stirbt ein Mensch, läßt er den anderen nicht weiterleben wie zuvor. Katia sieht eine ratlose Katia. Im Libanon ums Leben gekommen. Was tun? Es lassen. Ja, sprachlos und mit dem gebührenden Abstand einer alten Nähe sich dem Trauerzug anschließen, bei dem der Sarg längst fort und nur den Weg läßt. Jette mit Worten, die, gleich verworfen, in die Unverständlichkeit folgen. Katia wickelt einen Kaugummi aus dem Stanniolpapier. Vielleicht, am Ende, wird ein halber Satz übrigbleiben. Katia findet sich gar nicht mehr und begabt. Es lassen, das Schreiben. Worüber.
Ein Löffel kann ohne den anderen Löffel nicht leben, sagte Jette und schob das Kind mit seinem Hintern in ihren Schoß. So lagen sie da, eine Weile im Gras. Dann versuchten sie es noch mal. Jette drückte dem Kind einen Kochlöffel in die rechte Hand, stellte es auf die kurzen, noch krummen Beine.
Die Windeln hingen tief. Dann gab sie ihm einen Schlag auf den gepolsterten Hintern, sagte, »los, lauf hinter dem Löffel her«.
Das Kind streckte den Arm aus, lief. Lief so noch Monate. Bisweilen stahl Jette ihn aus der kleinen Faust, wenn Katia richtig in Schwung gekommen, im Laufschritt selbst Treppen und andere Hürden nahm. Ein letzter verzögerter Schritt, das Gesicht verzog sich weinerlich, und Katia fiel rückwärts in ein vorwurfsvolles Sitzen.
- Du willst doch jetzt nicht wieder mit Kriechen anfangen, stachelte Jette Ehrgeiz an. Doch Katia riß nur den Mund auf, legte den Kopf in den Nakken und heulte Jette an. Zu dritt setzten sie ihren Weg fort.
Katia läßt sich zurückziehen von hinter den Augenäpfeln, entlang des Blickes, den der Mann im weißen Schal nicht läßt. Lächelnd erwidert sie, daß sie eine Zigarette möchte. Sie stößt den Rauch durch die Nase.
Eine Zigarette lang, und alles ist verbrannt. Der Druck auf den Schläfen bleibt, Erschöpfung, und mit dem Zittern in der linken Hand steigt ein ungekanntes Glücksgefühl in ihr auf: daß alles, was sich nicht verwerten läßt, um so kostbarer ist.
Katia nickt dem Herrn im weißen Schal zu, als habe sie sich mit ihm geeinigt. Am Ende vielleicht, ein halber Satz.
- Jette wird Schauspielerin, sagte Katias Mutter, behauptete es noch lange, nachdem alles anders gekommen war.
Jette, schwanger, mit Abitur, verließ die Stadt mit einem Mann, der nicht der Kindesvater war. Solange man nichts von ihr hörte, glaubten alle sie in Vorbereitung großer Taten. Dann stand sie wirklich in der Zeitung; ein mehrspaltiges Photo, Jette im weißen Hosenanzug, die Haare hinter die Ohren geklemmt, ein Bein lässig vorgestellt, auf dem Weg, die meistgesuchte Frau Deutschlands zu werden. Von da an sprach jeder leiser, fiel ihr Name, als könnten sie und andere hinter einer Hausecke versteckt mithören, als mache jeder sich verdächtig, der sie nur erwähnte.
Jette wurde berühmt, verhaftet, verschwand. Wurde verhaftet und verschwand wieder. Wurde immer berühmter und verschwand endgültig.
Vergessen.
Selten hatte sie an Jette gedacht, hatte vielleicht von ihr geträumt, ohne morgens davon zu wissen. Schrecklich, sagten die einen, tragisch die anderen. Manche sagten nichts. Kein Sterbenswort.
Bin ich eine verläßliche Quelle? Beginne ich zu suchen, wo andere aufgeben?
Mit klammen Fingern und den Handschuhen zwischen den Zähnen zählt Katia Kleingeld in eine fremde Hand, wühlt in den Manteltaschen, die voller Münzen, wie Sparschweinbäuche so dick. Sie schiebt den Reiseproviant unter die linke Achsel, ärgert sich, daß der Verkäufer, jünger als sie, ›Mademoiselle‹ sagt und daß sie versäumt, Handschuhe im Mund, zu widersprechen. Sie schüttelt den Kopf. Keine Beute. Langsam geht sie zu ihrer Tasche zurück, die sie einer Frau untergeschoben hat. Den weißen Schal läßt sie im Augenwinkel links liegen, der Mann gibt auf. Sie lächelt in die kalte Luft hinein.
Ostersonntag, die Leute lassen das elektrische Licht gegen den hellen Tag anbrennen, als könnten sie sich vom Winterschlaf nicht trennen. In der Küche rührt die Mutter die Soße mit Mehl dick. Der Vater hat Sonntagsdienst in der Apotheke. Jette wartet, auf dem Sofa, beim Kaffeetrinken, auf der Toilette und später dann, mit den Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt. Sie kneift die Geranienköpfe, die noch nicht aufgeblüht. Die leere Straße und das Mädchen öden sich an. An der Ecke wandern Kuchentabletts aus der Bäckerei.
Jette wartet weiter, auf dem Rücksitz, im Urlaub, am Wörthersee. Der Vater gibt sein Geld nicht im Ausland aus.
Sie wartet. Zum 13. Geburtstag wünscht sie sich die Schallplatte, auf der ihre ganze Sehnsucht eine Melodie spielt. Unten in der Apotheke geht die Notklingel. Der Vater streift den weißen Kittel über den Pullover. Seit sie um ihn bettelt, trägt er ihn im Haus auf. Jette beißt an der Nagelhaut. Sie ist jung in Wallerfang, und das kommt nie wieder.
Kindermann sagt, es sei eine politische Entscheidung, wenn einer behauptet, ein Pferd zu sein. Jette hat darüber gelacht, so wie er nie lachen kann, wenn er nicht versteht. Er ist der Sohn des Uhrmachers, trägt Schwarz und eine Ahnung mit sich herum. Ihre Eltern sitzen bei Heimatfesten nebeneinander auf der Ehrentribüne. Er redet viel mit den Händen, hockt dabei auf einem Stuhl, ein hungriger eingesperrter Vogel. Zu faul, den Mund richtig zu öffnen, zischt er die halben Sätze in einem Tempo, das sich der Geschwindigkeit seines Denkens anzupassen sucht. Zwei Reihen Zähne im Mund werden zum natürlichen Damm, an dem sich die Denkflut bricht, verlangsamt. Jette kennt den Vogel aus den Schulpausen, wenn er die Seinen in der Ecke am Turnhalleneingang um sich schart, aus der Eisdiele am Samstagnachmittag, wenn sie Espresso trinken mit kalten Blicken, als sei nichts für sie gut genug hier. Schwarze Rollkragen, die sich am Gesicht hochziehen. Freitag nachmittag, Gewitter liegt in der Luft. Noch regnet es nicht. Der Gesprächskreis, den der Griechischlehrer anbietet, läßt das Wochenende überleben. Dr. von Stahl mit dem langen Schädel füttert seine Schüler und ahnt nicht, womit. Wofür. Was daraus wird.
1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe März 2008
Copyright © by Judith Kuckart
eISBN : 978-3-641-03499-3
www.btb-verlag.de
Leseprobe

www.randomhouse.de