Wahnsinnig verliebt - April Morgan - E-Book

Wahnsinnig verliebt E-Book

April Morgan

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Beschreibung

Ella erwacht, fixiert an einem Bett, ohne Erinnerungen. Ein Arzt informiert sie, dass sie bewusstlos an einem Flussufer gefunden wurde und niemand ihre Identität kennt. Gefangen in einer psychiatrischen Klinik, darf Ella diese nicht verlassen und beginnt, unheimliche Visionen zu bekommen. Immer wieder wird sie von Erscheinungen einer blutverschmierten Gestalt heimgesucht. Inmitten dieses Chaos trifft sie auf Blue, einen weiteren Patienten ohne Erinnerungen. Er ist überzeugt, dass sie sich bereits kennen und ihnen nicht geholfen werden soll. Gemeinsam versuchen sie, einen Ausweg aus der Anstalt zu finden. Doch wer ist die, blutige Gestalt, die immer wieder auftaucht? Gefangen zwischen Realität und Wahn, muss Ella herausfinden, wem sie trauen kann – wenn sie sich selbst oft nicht einmal vertrauen kann. Wer ist Ella wirklich? Trigger Warnung bitte beachten! Psychische Erkrankungen und Suizid spielen in dieser Geschichte eine Rolle.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Wahnsinnig verliebt
Im Blackmoor Institut
April Morgan
Psychothriller mit Romance
Triggerwarnung
In diesem Buch werden sexuelle Inhalte, Gewalt und Missbrauch eindeutig beschrieben.
Auch psychische Erkrankungen und Suizid spielen in dieser Geschichte eine Rolle.
Alle Orte, Charaktere und Handlungen sind frei erfunden, dennoch empfehle ich das Buch nicht, wenn man sich mit einem dieser Themen nicht wohlfühlt.
Vielen Dank, dass du dich getraut hast, mein Buch zu holen.
Wenn du dir ein Bild von den Charakteren machen möchtest, findest du am Ende die Abbildung von ihnen.
Viel Spaß beim Lesen.
In Liebe
April
Inhaltsangabe
PrologDas ErwachenEtwas stimmt nichtWo ist Abgial?Verschlafene ZeitNächtlicher BesuchWer bist du?Wo bin ich?Was war das?Was zählt, sind wirAlles löst sich aufDu musst aufwachenWo ist Blue?IsolationEr ist WegNeuanfangVerrückte TräumeWas hat es mit Blue auf sich?Fallen lassenWas ist Real?Wo bin ich?Blue ist zurückAufwachenDie Realität
Prolog
„Tschh, Ella. Ich bin es nur“, sagt eine mir bekannte Stimme nahezu flüsternd, ein Schatten steht vor meinem Bett. „Beruhige dich, du darfst nicht schreien, sonst kommen sie.“
Hektisch atme ich in seine Hand und nicke. Endlich nimmt er die Hand weg, sodass ich besser Luft holen kann.
„Was machst du hier?“ frage ich Blue überrascht.
„Du warst heute Abend nicht beim Essen, ich habe mir Sorgen gemacht.“
Ich lasse mich unsanft zurück in mein Kissen fallen. Da verpasst man einmal das Abendessen, und alle machen direkt ein Fass auf.
„Tut mir leid, ich bin eingeschlafen“, sage ich zum wiederholten Mal. Da mich noch immer eine Müdigkeit gefangen nimmt, rolle ich mich zusammen und schließe die Augen. Ich habe keine Kraft, um jetzt einen Kampf mit Blue auszufechten, um ihn abermals zurechtzuweisen, dass er in meinem Zimmer nichts verloren hat und mich nicht immer so überrumpeln soll.
„Nicht so schlimm, ich wollte nur wissen, ob du noch du bist“, sagt er kryptisch.
„Ich bin noch ich“, erwidere ich gähnend.
Er hebt die Decke an, will anscheinend in mein Bett schlüpfen. „Was machst du da, Blue, verschwinde.“
Doch er verschwindet nicht, legt sich zu mir unter die Decke. Dieser Typ kennt keine Grenzen. Zärtlich zieht er mich in eine Umarmung.
„Bitte verlass mich nicht, Ella. Ich ertrage das alles hier nicht ohne dich. Du musst bei mir bleiben.“
Vermutlich sollte ich ihn direkt aus meinem Bett werfen, aber seine gebrochene Stimme hindert mich. Also nehme ich seine Hand, die mich umklammert, in meine. Erneut das Gefühl von Vertrautheit, wodurch die Situation nicht annähernd so unangenehm ist, wie sie mit einem eigentlich Fremden sein sollte.
„Werde ich nicht“, flüstere ich zu ihm.
Seufzend zieht er mich noch ein Stück fester zu sich und aufs Neue wird mir bewusst, wie sehr ich die Nähe zu einem Menschen benötige und wie sehr ich die Nähe jetzt genieße. Oder ist es die Nähe zu ihm?
Ich weiß nicht, wie lange ich schon wirklich hier bin, aber es kommt mir vor, als wären es bereits Monate oder vielleicht sogar Jahre, als wäre ich schon immer hier gewesen in der grauen, tristen Klinik, im Nichts und Nirgendwo. In kompletter Emotionslosigkeit und dem sinnlosen Dasein. Als wäre ich aus einem langen Traum erwacht oder in einem Albtraum gefangen.
Der Gedanke, nicht komplett alleine zu sein, dass wenigstens einer hier ist, treibt mir Tränen in die Augen. Vor Glück oder vor Traurigkeit, das kann ich nicht genau sagen. Ich drehe mich in seiner Umarmung um, sehe ihn an oder blicke zumindest dahin, wo ich seine Augen vermute. „Danke“, sage ich leise.
Er streicht mir eine Strähne aus meinem Gesicht und fährt sanft mit der anderen Hand über meinen Rücken. „Für dich würde ich alles tun, Ella.“
Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, könnte versuchen zu lesen, was er meint und ob es nur leere Worte sind. „Aber wieso?“, frage ich ihn mit ehrlichem Interesse.
„Ich weiß es nicht, es ist das Gefühl, als würde ich dich bereits kennen, als wenn wir uns schon vorher kannten, vor all dem hier. Vermutlich denkst du, ich bin verrückt. Aber ich bin mir ganz sicher, wir kannten uns schon vorher. Als ich dich gesehen habe, da hatte ich so ein Gefühl der Vertrautheit. Ich kann es nicht genau erklären. Aber du musst mir glauben, ich bin nicht verrückt.“
Jetzt bin ich es, die ihre Hand an seine Wange legt. Er schmiegt sich in meine Berührung. Gefühlvoll streicht seine Hand über meinen Arm, fährt die vielen unebenen Narben entlang, was mich dazu bringt, den Arm wegziehen zu wollen, doch er hält ihn fest und hindert mich daran, sie zu verstecken.
„Du musst dich nicht dafür schämen. Auch ich habe Narben.“ Er nimmt meine Hand und führt sie zu seinem Oberkörper, unter sein T-Shirt, bis meine Finger die unebenen Stellen ertasten. Wie selbstverständlich streiche ich zaghaft über die Erhebungen.
„Siehst du? Es spielt keine Rolle, wie viele Narben wir haben. Sie erzählen Geschichten von Kämpfen, die wir ausgetragen haben, egal ob körperlich oder seelisch. Unsere Narben machen uns zu dem, wer wir sind. Jede Narbe ist ein Kampf, den wir gewonnen haben.“
Ich denke über das Gesagte nach. Wenn ich mir die Narben an meinem Körper selbst zugefügt habe, habe ich wahrscheinlich wirklich einen Kampf geführt, gegen innere Dämonen, und habe ihn gewonnen, denn ich bin noch hier. Und wenn sie mir jemand anderes zugefügt hat, auch dann habe ich den Kampf gewonnen, denn wer auch immer es war, er konnte mich nicht besiegen.
Ein Gefühl von Hoffnung macht sich in mir breit. Die Hoffnung, dass ich diese Hölle irgendwie überstehe und hier herauskomme. Dass ich zurück in das wahre Leben kann und noch eine Chance bekomme. Egal, was in meinem vorherigen Leben schiefgegangen ist, ich will eine Möglichkeit haben, es besser zu machen und frei von all dem zu sein.
Ich muss wissen, wer ich war und was passiert ist. Wer war Ella, bevor sie hier angekommen ist und warum ist sie hier gelandet? Blue und ich schmiegen uns eng aneinander. Er gibt mir den Halt, den ich jetzt brauche, und ich nehme ihn und alles, was er mir jetzt geben kann, an.
Das Erwachen
Piep...Piep...Piep
Was ist das für ein Geräusch?
Piep...Piep...Piep
Woher kommt dieses unerträgliche Piepen?
Piep...Piep...Piep
Mein Kopf dröhnt unerträglich, als ob er jeden Moment explodieren könnte. Kann dieses Geräusch nicht einfach aufhören?
Piep...Piep...Piep
Alles, was ich möchte, ist ein wenig Schlaf.
Piep...Piep...Piep
Die Schmerzen in meinem Kopf sind inzwischen zu unerträglichen Qualen geworden, doch das Piepen durchdringt gnadenlos die Stille. Trotz meiner verzweifelten Versuche, meinen pochenden Schädel zu berühren, scheinen meine Hände wie festgewachsen und unerreichbar.
Piep...Piep...Piep
Langsam öffne ich die Augen. Ein blendendes Licht trifft mich, verursacht ein stechendes Brennen in meinen Augen. Tränen schießen hervor und der Bohrhammer, der sich durch meinen Kopf zu graben scheint, legt noch einen Zahn zu.
Piep...Piep...Piep
Wenn doch nur endlich Ruhe einkehren könnte.
Piep...Piep...Piep
Mit Mühe öffne ich erneut die Augen. Es ist grell und alles um mich herum verschwimmt zu schemenhaften Konturen. Ich kann nichts klar erkennen.
Erneut versuche ich, meine Hände zu heben, doch ein unsichtbarer Widerstand hält mich zurück. Auch diesmal scheitere ich daran, meinen Kopf zu erreichen.
Die gesamte Situation überwältigt mich und wirkt surreal, doch das unaufhörliche Piepen drängt mich zum Handeln.
Ich schaue an mir hinunter und sehe, dass ich offenbar in einem Bett liege. Eine helle Decke ist über mir ausgebreitet. Als ich versuche, meine Beine zu bewegen, fühlen sie sich ebenfalls wie festgewachsen an.
Mit starrem Blick fixiere ich die Stelle, wo ich meine Hände vermute. Stück für Stück ziehe ich die raue Decke zur Seite, bis ich meine Arme freilege.
Ein brauner, fester Gurt liegt um mein Handgelenk und verhindert, dass ich mich bewegen kann.
„Verdammt“, denke ich mir. Wo bin ich hier?
Noch einmal lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und schaffe es langsam, die einzelnen Gegenstände zu fixieren.
Es muss eine vernünftige Erklärung für diese Situation geben. Ich drehe mich in die Richtung, aus der das Piepen kommt, und sehe einen Kasten, auf dem eine Linie mit wiederkehrenden Ausschlägen zu erkennen ist, begleitet von verschiedenen Zahlen. Ein Vitalmonitor, schließe ich.
Warum bin ich an dieses Gerät angeschlossen und warum bin ich an diesem Bett fixiert?
Gründlich prüfe ich den Raum: weiße, schlichte Wände, ein Rollwagen, auf dem ein dicker Ordner liegt, eine graue Tür, die verschlossen ist, und ein Fenster, das mit weiß-grau gestreiften Vorhängen verhangen ist und mir den Blick nach draußen verwehrt.
Wie bin ich hierhergekommen?
Mit angestrengtem Nachdenken versuche ich, das Rätsel zu lösen und mir irgendwelche Bilder ins Gedächtnis zu rufen, aber da ist nur Dunkelheit.
Ich muss in einem Krankenhaus sein, da bin ich mir absolut sicher. Aber wie ich hierher gelangt bin, kann ich mir in keiner Weise erklären. Je angestrengter ich darüber nachdenke, warum ich hier bin, umso mehr wird mir klar, dass da überhaupt nichts ist. Ich habe keinerlei Erinnerung, absolut gar nichts. Es ist, als ob ein dichter, dunkler Nebel meinen Kopf umhüllt und mich von jeder noch so kleinen Erinnerung abschirmt. Keine Frage, die ich mir selbst stelle, kann ich auch nur ansatzweise beantworten.
Was ist passiert? Wo bin ich? Woher komme ich? Und die wichtigste Frage: Wer bin ich?
Panik ergreift mich, meine Atmung beschleunigt sich, und das Gerät neben mir piept immer schneller. Was zum Teufel ist hier los? Erneut reiße ich an meinen Händen und blicke auf sie hinab. Schmale Hände, mit abgeblättertem, orangefarbenem Nagellack.
Immer hektischer reiße ich an meinen Fesseln, die sich schmerzhaft in meine Gelenke schneiden und die Haut an den Stellen röten lassen. Plötzlich öffnet sich die Tür. Ein älterer Herr, Mitte 50 muss er sein, mit kurzen, zurückgekämmten grauen Haaren, einer runden Brille und einem weißen Kittel, tritt ein. Füllt den Raum mit einer unangenehmen, dominanten Präsenz.
Augenblicklich schreie ich ihn an: „Machen Sie mich los! Machen Sie mich auf der Stelle los!“
Gelassen nähert er sich, scheinbar unbeeindruckt von meinem Gefluche, stellt sich an meinem Bett und blickt auf mich herab. „Beruhigen Sie sich, dann können wir uns unterhalten und schauen, ob wir die Fixierung entfernen können.“
Wir? Ich scheine hier kein Mitspracherecht zu haben, bin ihm vollkommen ausgeliefert.
Hektisch schüttele ich den Kopf: „Machen Sie mich sofort los, ich will hier raus, bitte lassen Sie mich gehen.“
Nun ist er es, der entschlossen den Kopf schüttelt und wiederholt beruhigend auf mich einredet: „Das kann ich nicht. Zuerst müssen Sie sich beruhigen, und dann besprechen wir alles. Die andere Option ist, dass ich Ihnen etwas zur Beruhigung gebe, und wir es morgen erneut probieren.“
Morgen? Was soll das alles? Man kann mich doch nicht gegen meinen Willen hier behalten und ans Bett fesseln, ich habe doch Rechte.
Entschlossen schließe ich die Augen und versuche, meinen Körper und Geist zu beruhigen, indem ich den Anweisungen des Mannes folge. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Zögerlich öffne ich erneut die Augen.
Der Mann im Kittel steht immer noch da und beobachtet mich skeptisch. Ich kann ihn jetzt schon nicht leiden; irgendetwas an ihm verunsichert mich, und alles in mir schreit nach Flucht. Dennoch besinne ich mich auf Ruhe, da es meine Lage nur verschlimmern würde, wenn ich eine Szene machen würde.
„Mein Name ist Doktor Harris, ich bin der leitende Arzt dieser Klinik. Wissen Sie, was vorgefallen ist oder wo Sie sich aktuell befinden?“
Harris, denke ich. Diesen Namen habe ich noch nie gehört. Angespannt erwidere ich: „Nein, ich weiß rein gar nichts. In was für einer Klinik bin ich, dass Sie Leute gegen ihren Willen ans Bett fixieren?“
„Interessant“, sagt er nur und kritzelt sich Notizen auf die Akte.
Es macht mich wütend, dass ihm meine Situation so egal zu sein scheint und lediglich „Interessant“ ist. Aber ich besinne mich weiter auf Ruhe, da ich von diesem Mann abhängig bin und nur er mich hier losmachen kann.
Unbeirrt redet er weiter: „Können Sie mir sagen, wie Sie heißen? Welchen Tag wir haben oder woher Sie kommen?“
Warum muss er mir diese ganzen bescheuerten Fragen stellen? Ich habe doch schon gesagt, dass ich rein gar nichts weiß.
Etwas genervt erwidere ich: „Wie ich bereits sagte, ich kann mich an nichts erinnern. Weder meinen Namen noch, woher ich komme, noch warum ich verflucht noch einmal hier bin und an diesem Bett gefesselt wurde. Vielleicht können Sie mir ja etwas auf die Sprünge helfen?“ frage ich schnippisch.
Ein weiteres Mal notiert er sich etwas, und wäre ich nicht festgeschnallt, würde ich ihm das Aktenbrett aus der Hand schlagen.
Wer auch immer ich bin, ich scheine eine kurze Zündschnur zu haben. Oder aber vielleicht würde auch jeder so reagieren. Wer wäre in so einer Situation nicht gereizt?
Einmal mehr sieht er von seinen Notizen auf: „Ich kann Ihnen leider auch nicht helfen. Sie wurden hier als ‚Unbekannt‘ eingeliefert, und bisher konnte Ihre Identität nicht geklärt werden. Wir hatten gehofft, dass Sie uns sagen können, wer Sie sind.“
Meine Brust schnürt sich zu. „Unbekannt?“ Eingeliefert?
„Wann und wohin wurde ich denn genau eingeliefert? Was ist passiert?“
Er lässt die Notizen sinken. „Gestern wurden Sie hier eingeliefert. Sie hatten einiges an Beruhigungsmittel genommen und wurden an einem Flussufer nicht weit von hier gefunden. Die Polizei geht von einem missglückten Selbstmordversuch aus. Sie haben Narben an den Armen, die darauf hinweisen, dass Sie vermutlich bereits in der Vergangenheit psychische Konflikte hatten. Aktuell befinden Sie sich im Blackmoor Institut, und ich bin hier der leitende psychiatrische Arzt dieser Klinik. Da wir nicht wussten, in was für einer Verfassung Sie aufwachen würden, hielten wir es für das Beste, Sie zu fixieren, damit Sie sicher sind.“
Erneut sehe ich zu meinen Armen hinunter und erkenne sie jetzt auch, meine Arme sind übersät mit Narben. Selbstmord? Kann ich das wirklich versucht haben? Aber warum sollte ich so etwas machen, und warum erinnere ich mich einfach nicht?
Ich muss schwer schlucken: „Warum weiß ich nichts mehr? Ich müsste doch irgendetwas noch wissen?“
Dr. Harris rückt seine Brille zurecht und macht die Vitalmonitore aus. Wenigstens das furchtbare Piepen ist endlich weg.
„Manchmal kann es sein, dass man etwas so Traumatisches erlebt hat, dass der Geist alles wegschiebt, um sich vor dem Geschehenen zu schützen. Vielleicht liegt es aber auch an den Medikamenten oder Sie haben sich den Kopf verletzt. Genau können wir das nicht sagen. In den meisten Fällen kommt die Erinnerung nach und nach wieder, und wir können Ihnen dabei helfen. In einigen Fällen ist es jedoch komplizierter.“
Ich denke über seine Worte nach. Das alles macht doch keinen Sinn, oder?
„Wenn ich die Erinnerungen wirklich verdrängt habe, will ich dann eigentlich wissen, was geschehen ist?“ frage ich unsicher, während er endlich die Gurte löst und mich vom Bett befreit. Er räuspert sich und spricht weiter: „Wenn wir Ihnen helfen sollen und Sie hier bald entlassen werden wollen, dann müssen wir das aufarbeiten. Wir können Sie so nicht wieder hinauslassen. Ich mache Sie nun erst einmal frei von den Gurten und dann können Sie sich etwas ausruhen. Es wird ein Zimmer für Sie vorbereitet, außerhalb der Überwachungsstation, und wir können dann mit Ihrer Therapie beginnen.“
Endlich hat er auch den letzten Gurt entfernt und ich streiche über meine wunden Handgelenke. „Und was ist, wenn ich mich nie wieder daran erinnern kann? Wie lange muss ich hier bleiben?“ Er sieht mich nachdenklich an: „Solange, bis wir meinen, dass Sie stabil genug sind, um uns wieder zu verlassen.“
Ohne noch ein weiteres Wort von mir abzuwarten, dreht er sich um und geht. Ich starre noch eine ganze Weile zur grauen Tür, unentschlossen, was ich nun tun könnte. Dann fällt mir ein, dass ich nicht mehr gefesselt bin und mich frei bewegen kann. Vermutlich hätte ich ihn um ein Schmerzmittel bitten sollen, mein Kopf schmerzt noch immer unerträglich, aber das kann ich hoffentlich später nachholen.
Entschlossen schiebe ich meine Beine vorsichtig über die Bettkante, richte mich auf und setze mich an den Rand. Schwindel überkommt mich augenblicklich, also starre ich auf einen Punkt auf dem grauen PVC-Boden. Kurz scheint sich die graue Masse zu bewegen und zu verformen, weshalb ich meine Augen schließe. „Alles ist gut, bald fällt mir wieder ein, wer ich bin. Bald komme ich hier raus“, spreche ich mir Mut zu.
Erst einige Minuten später hat sich der Schwindel so weit gelegt, dass ich mich traue aufzustehen. Meine Beine fühlen sich wie Wackelpudding an, aber ich möchte gehen und nicht weiter in diesem Bett liegen. Als ich es endlich geschafft habe, mich aufzurichten und die Schwindelattacken besser geworden sind, halte ich mich noch zur Sicherheit am Bett fest. Ich trage nur ein Krankenhaushemd, ein leichtes Frösteln überkommt mich. Ob meine Kleidung noch irgendwo ist? Was ich wohl für Kleidung anhatte?
Auch an meinen Beinen erkenne ich Narben. Was stimmt nur nicht mit mir? War ich das wirklich alles selbst? Der Gedanke, mich selbst zu verletzen, wirkt jetzt in diesem Moment so absurd. Warum sollte ich mir selbst so etwas antun?
Langsam gehe ich auf wackeligen Beinen zum Fenster, ziehe die Vorhänge zur Seite und blicke hinaus. Die Klinik scheint in einem Wald zu sein, überall stehen Laubbäume und leuchten in bunten Farben. Herbst kommt es mir sofort in den Sinn. Wieso weiß ich solche banalen Dinge, kann mich aber nicht einmal an meinen Namen erinnern? Der Name ist doch das, was man am längsten kennt und so prägend ist, dass er nicht einfach vergessen werden kann.
Vor der Klinik ist eine Art Park mit Wegen, Bänken, Tischen und einer grauen Betonmauer, die hoch genug ist, dass niemand hier hinauskommt. Als ich das Fenster öffnen möchte, muss ich frustriert feststellen, dass es sich nicht öffnen lässt. Aber vielleicht ist das auch besser, wenn man in einer psychiatrischen Einrichtung auf einer Überwachungsstation ist – wer weiß, was für verrückte Leute hier normalerweise liegen, die würden sicherlich einfach hinausspringen.
Verrückte, denke ich mir. Vielleicht sollte ich nicht so über andere urteilen, anscheinend bin ich aktuell die Verrückte hier. Die Narben und der Gedächtnisverlust sind klare Anzeichen dafür. So gerne wäre ich jetzt draußen, würde die frische Luft atmen. Was würde ich ansonsten tun? Was habe ich an einem Herbsttag gemacht, bevor ich hier war? Die ganzen Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann, sorgen nur dafür, dass die Kopfschmerzen stärker werden und sich ein Kloß im Hals bildet.
In kleinen Schritten gehe ich wieder zurück zum Bett. Gerade als ich mich hinsetzen möchte, öffnet sich erneut die Tür und eine junge Frau stürmt hinein. Sie trägt eine graue Hose und ein graues Shirt. Blonde Haare hat sie zu einem Zopf gebunden und sie lächelt freundlich.
„Hallo, mein Name ist Ina, ich soll dich... Entschuldigung, darf ich ‚Du‘ sagen? Wir duzen uns mit unseren Patienten, wenn das kein Problem ist.“ Sie sieht mich erwartungsvoll an.
„Ähm, ja, mach ruhig“, antworte ich monoton. Ihr Grinsen wird noch breiter und wirkt irgendwie aufgesetzt.
„Wunderbar, ich soll dich in dein Zimmer bringen. Kannst du laufen oder soll ich einen Rollstuhl für den Anfang holen?“
Ich verdrehe die Augen, bleibe aber freundlich. „Laufen geht schon, danke.“
Sie kommt zu mir, hakt sich unter meinem Arm ein, als wären wir beste Freundinnen auf Shoppingtour. Ich hasse sie, denke ich mir.
Sie zieht mich behutsam mit sich, als ich noch einmal stoppe. „Wo ist meine Kleidung? Ich muss doch welche dabeigehabt haben?“
Erneut schaut sie mich mit ihrer künstlichen Freundlichkeit an. „Leider musste die Kleidung zerschnitten werden, als man dich versorgt hat. Aber das ist kein Problem, wir haben hier einiges in der Klinik und du wirst davon etwas erhalten.“
Ganz prima, wie soll ich wissen, wer ich bin, wenn nichts von mir übrig geblieben ist?
Ohne noch etwas zu sagen, lasse ich mich von ihr durch die tristen grau-weißen Gänge ziehen. Wenn man nicht schon vor dem Aufenthalt hier verrückt war, dann wird man es sicher spätestens hier.
Wir gehen eine Etage tiefer. Station 1, begegnen tun wir niemandem. Ina hatte schon in ihrer nervigen Stimme gesagt, ohne dass ich sie gefragt hätte, dass die anderen Patienten aktuell in ihren Therapiesitzungen sind.
Endlich kommen wir an dem Zimmer an, das wohl meines ist. 13, mein neues Zuhause.
Mit ihrer quitschigen, überfreundlichen Stimme heißt sie mich willkommen, und ich gehe hinein. Ein Bad direkt am Eingang, ein kleines Einzelzimmer mit einem Schreibtisch aus hellem Holz. Grauer billiger PVC-Boden, graue Vorhänge, ein weißer Schrank. Hinter dem kleinen Durchgang ist mein Bett in einer Nische. Weiße Bettwäsche. Alles schreit hier drinnen nach Krankenhaus und danach, dass ich wieder gehen will.
Erneut mischt sie sich ein. „Im Schrank liegen ein paar Kleidungsstücke für dich. Normalerweise kann man auch private Sachen zur Dekoration mitbringen, damit es wohnlicher wird. Das war bei dir ja leider nicht möglich. Aber vielleicht kannst du dir in den Therapiesitzungen etwas Hübsches basteln, damit es hier gemütlich wird.“
Bin ich ein verfluchtes Kindergartenkind oder was? Das spreche ich jedoch nicht aus, sondern bedanke mich nur, da ich möchte, dass sie so schnell wie möglich verschwindet. „Wir haben feste Essenszeiten: 08:00, 12:00, 18:00 Uhr. Ansonsten kannst du dich zwischen deinen Sitzungen frei bewegen und auch hinausgehen. Der Park ist wunderschön und du kannst dort gerne spazieren gehen.“
Ich nicke ihr zu, schaffe es auch, ein künstliches Lächeln aufzusetzen, und bedanke mich. Sie wirkt zufrieden darüber, erklärt mir noch den Alarmknopf und wo ich das Schwesternzimmer finde, bevor sie endlich verschwindet.
Die Müdigkeit nimmt mich gefangen, aber ich möchte mich erst frisch machen, bevor ich zurück ins Bett gehe. Wenigstens habe ich ein Einzelzimmer. Der Gedanke, mit einer fremden Person in einem Zimmer zu sein, die aus was weiß ich für Gründen hier ist, ist irgendwie beängstigend. Zuerst gehe ich zu dem Schrank und öffne ihn. Ein grauer Jogginganzug, ein weißes und graues Tanktop. Eine schwarze Leggings, ein blauer Wollpullover, weiße Unterwäsche, weiße Socken, graue Sporthose, weiße Sneaker. Keine Ahnung, was ich früher getragen habe, aber ich bin mir sicher, so etwas nicht.
Ich schnappe mir eines der Tops, Unterwäsche, die Leggings und den blauen Pullover und gehe ins Badezimmer. Dort angekommen stelle ich mich ans Waschbecken und sehe automatisch nach vorn. Ich weiß, dass es ein Spiegel ist, aber ich kenne die Person dort drinnen nicht. Natürlich weiß ich, dass ich das bin, aber es könnte auch irgendeine Fremde auf der Straße sein, der ich begegne. Nichts kommt mir bekannt vor.
Die fremde Frau hat warmes braunes, etwas schief geschnittenes schulterlanges Haar. Volle dunkle Augenbrauen, braune Augen, hübsche weiche Gesichtszüge, geschwungene Lippen und eine kleine Stupsnase. In der Nase steckt ein goldenes Piercing. Meine Haut ist leicht gebräunt. Die Frau sieht gut aus; es ist schwer zu verstehen, dass ich das sein soll. Ich habe kein Bild von mir im Kopf, aber eins zu sehen, wirkt befremdlich.
„Du bist also verrückt?“, frage ich die Person im Spiegel. Ein kurzes Flackern, ein Stechen im Kopf bewegen mich dazu, den Blick wieder abzuwenden, bevor ich erneut in den Spiegel schauen kann. Eine Schmerztablette, die benötige ich wirklich dringend. Sie sieht so gar nicht verrückt aus oder wie jemand, der sich umbringen will. Sie sieht aus, als wäre sie das nette Mädchen von nebenan. Vermutlich bin ich Anfang bis Mitte 20 oder aber ich habe mich gut gehalten und bin schon dreißig.