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Die Frage nach der Ursache und der Steuerung menschlicher Bewegung ist eine zentrale Frage für das menschliche Selbstverständnis. In dem phänomenologisch orientierten Werk wird das Zustandekommen von Wahrnehmung und Bewegung grundlegend analysiert. Selbstbewegung zeigt sich dabei als der zentrale und konstitutive Faktor, der nicht aus anderem abgeleitet werden kann. In konsequenter Verfolgung dieses Ansatzes wird in diesem Werk das menschliche Bewegen als intentionaler Akt eines erlebenden und leiblichen Wesens zugänglich, das im Handeln einen sinnhaften und zielorientierten Weltbezug realisiert. Die Bedeutung des Gehirns und des Nervensystems dabei wird ebenso analysiert wie die Tragfähigkeit von Embodiment-Konzepten. "Friedrich Edelhäuser legt eine weit gespannte, auf breiter klinischer Erfahrung und theoretischer Kenntnis beruhende Konzeption vor, die der Zielsetzung einer integrativen, phänomenologisch und anthropologisch fundierten Bewegungslehre in der Medizin in herausragender Weise gerecht wird. (...) Das Buch erweitert und bereichert unser Verständnis der biologischen, medizinischen und therapeutischen Prozesse, die auf menschlicher Bewegung beruhen, in wertvollster Weise." (Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs)
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Der Autor
Prof. Dr. med. Friedrich Edelhäuser ist Neurologe und Leiter der Abteilung für Frührehabilitation am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Er ist Inhaber der Professur für Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Anthroposophischen Medizin an der Universität Witten/Herdecke. Mit Kollegen hat er seit 2004 das Integrierte Begleitstudium Anthroposophische Medizin mit vielen studentisch impulsierten und mitgestalteten Projekten an der Universität Witten/Herdecke aufgebaut. Ein Ziel ist dabei, auszuloten und auszuprobieren, was die Anthroposophische Medizin zur Weiterentwicklung der Medizin und der ärztlichen Ausbildung im Sinne einer humanistischen Vertiefung beitragen kann. Seine thematischen Schwerpunkte sind der Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen, Introspektionsforschung im Sinne einer Ausdifferenzierung der Erste-Person-Perspektive, moderne aktivitäts- und teambasierte Unterrichtsdidaktik, Teambildungs-, Aus- und Weiterbildungsfragen in der Medizin.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036270-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036271-0
epub: ISBN 978-3-17-036272-7
Dieses Buch stellt eine einzigartige Zusammenschau und Weiterentwicklung zentraler Ansätze der phänomenologischen und medizinischen Anthropologie dar. Zurückgreifend auf Konzeptionen der Leibphänomenologie, des Gestaltkreises von Viktor von Weizsäcker, der Dreigliederung des menschlichen Organismus von Rudolf Steiner ebenso wie auf aktuelle Embodiment-Theorien in den Kognitionswissenschaften entwickelt Friedrich Edelhäuser eine umfassende Anthropologie der menschlichen Bewegung. Als ein zentraler Ausgangspunkt seiner Analyse kann das aristotelische Konzept der spontanen Selbstbewegung des Lebendigen gelten, die sich nicht auf physikalische Mechanismen oder im Gehirn fixierte Programmabläufe reduzieren lässt, und die beim Menschen durch spontane Selbstinitiierung, willentliche Leitung und bewusste Gestaltung auf eine neue Stufe gehoben wird. Goethes Sicht der lebendigen Natur bietet Edelhäuser eine zusätzliche Leitlinie, um die phänomenologische Analyse aus der Ersten- und die naturwissenschaftlichen Befunde aus der Dritten-Person-Perspektive zusammenzuführen.
Der Reichtum der darauf gegründeten Untersuchungen kann hier allenfalls angedeutet werden. Der unauflösliche Zusammenhang der menschlichen Sensomotorik, im programmatischen Satz »Wahrnehmen ist Bewegen« hervorgehoben, wird nicht nur hinsichtlich der Visuomotorik, sondern auch der anderen Sinne in umsichtiger und subtiler Weise dargestellt. Die damit im Einzelnen untersuchte sensomotorische Kohärenz führt Edelhäuser zu einer umfassenden Konzeption der wechselseitigen Ermöglichung ebenso wie Ausblendung von Wahrnehmung und Bewegung. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Analyse menschlicher Bewegungshandlungen; hier gelingt ihm unter anderem die Entdeckung eines Hiatus von Unbewusstheit zwischen Handlungsideation und -vollzug. Diese Selbstverborgenheit des eigentlichen Willensmoments ändert nichts daran, dass der Handelnde sich als Verursacher der Bewegung erfährt und sie darüber hinaus in ihrem Ablauf zu modifizieren und zu leiten vermag. Damit ist dem Gestaltkreis von Wahrnehmung und Bewegung eine inhärente Zukünftigkeit zu eigen, die Wahrnehmung schlechthin als aufgegebene, nicht vorgegebene Wirklichkeit erweist.
Folgerichtig ergibt sich aus dieser dynamischen Konzeption die Untersuchung der therapeutischen Wirksamkeit von Bewegung, durchgeführt anhand der von Steiner entwickelten Methode der Eurythmie, die Bewegungsvorstellung und -ausführung in spezifischer Weise verknüpft. Eine vom Autor vorgestellte Studie zur physiologischen Wirksamkeit der Eurythmie bzw. intensivierter Bewegungsvorstellungen belegt eine signifikante Beeinflussung physiologischer Parameter im Sinne einer verbesserten Selbstregulationsfähigkeit des Organismus. Indem er den Bogen zur therapeutischen Praxis schlägt, vermag Edelhäuser die klassischen und die aktuellen Theorien der Verkörperung überzeugend zu einer integrativen medizinischen Konzeption von Wahrnehmung und Bewegung zusammenzuführen.
Friedrich Edelhäuser legt eine weit gespannte, auf breiter klinischer Erfahrung und theoretischer Kenntnis beruhende Konzeption vor, die der Zielsetzung einer integrativen, phänomenologisch und anthropologisch fundierten Bewegungslehre in der Medizin in herausragender Weise gerecht wird. Er kann zudem zeigen, dass ältere Konzeptionen wie die des Gestaltkreises oder der Dreigliederung des Organismus durchaus anschlussfähig an aktuelle Theorieentwicklungen sind, wenn sie unbefangen betrachtet und genutzt werden. Das Buch erweitert und bereichert unser Verständnis der biologischen, medizinischen und therapeutischen Prozesse, die auf menschlicher Bewegung beruhen, in wertvollster Weise. Es wird ohne Zweifel interessierte, aufmerksame, ja begeisterte Leser finden.
Heidelberg, im Frühjahr 2022Prof. Dr. Dr. Thomas FuchsKarl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Heidelberg
Die sogenannte Embodied-Cognition-Forschung hat in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur in der Psychologie und in der Medizin, sondern auch in der Pädagogik zunehmend Beachtung gefunden. Dabei geht es eigentlich nicht um Forschungen zur »Verkörperung« beispielsweise kognitiver Aktivitäten, sondern um den Nachweis der konstitutiven Bedeutung unserer gesamten Leiblichkeit für geistige Aktivitäten. Denn mit dem Begriff Embodied Cognition wird die wissenschaftliche Entdeckung bezeichnet, dass unsere sämtlichen Erkenntnisprozesse, selbst sehr abstrakte Gedanken, ihre Wurzeln in elementaren körperlichen Vorgängen auch außerhalb des Gehirns haben. Die Forschungen machen deutlich, dass die menschliche Denk- und Vorstellungstätigkeit in erheblichem Ausmaß durch unsere Art der Bewegung im Raum, unsere wechselnde Körpertemperatur und Herztätigkeit, unsere Gesten und Gebärden und viele andere Körperaktivitäten bestimmt wird. Ein Grundgedanke mit Blick auf »Verkörperungen« von Erkenntnistätigkeiten besteht in einer Körperfeedback-Hypothese: Indem wir beispielsweise die Gesten und Gebärden anderer Menschen nicht nur zentralnervös registrieren, sondern in einer sehr feinen, äußerlich in der Regel nicht bemerkbaren Weise körperlich imitieren bzw. simulieren, kommt es erst zu einem wirklichen Wahrnehmen von oder zu empathischen Gefühlen für Mitmenschen. Man kann hier auch von einer Resonanz bestimmter Körperprozesse sprechen, durch die unsere Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse in maßgebender Weise bestimmt werden.
In diesem Zusammenhang entsteht die für medizinisch-therapeutische und pädagogische Zusammenhänge wichtige Frage, worin der anthropologische Sinn einer Ausbildung solcher Resonanzfähigkeiten bestehen könnte. Dem Resonanzmodell zufolge wird beispielsweise die Mimik eines Gesichts zwar zentralnervös registriert: Der Seheindruck gelangt über das Auge und den Sehnerv in das Gehirn. Würde er aber nur zentral registriert, wäre dies vermutlich ein die Ereignisse gleichgültig registrierender Seh-Akt – ein »stumpfes Hinschauen« auf die Phänomene. Das engagierte Wahrnehmen, das Bewerten, Akzentuieren (z. B. nach der Erlebnisqualität eines neugierigen oder konzentrierten Gesichtsausdrucks) kommt nach dieser Theorie vielmehr erst dadurch zustande, dass ein zentralnervöser Impuls in die Peripherie erfolgt, wo sich beispielsweise der Muskeltonus oder die Hauttemperatur verändert. Durch Temperatur- und kinetische Sinne wird dieser periphere Prozess »zurückgespiegelt« in entsprechende Areale des Gehirns. Der periphere Leib fungiert, wie man in einem Bild sagen könnte, als eine Art Resonanzkörper, vergleichbar dem Resonanzboden der Violine, der die Saitenschwingung erst zum Klang verwandelt. Entsprechend werden Wahrnehmungen durch die synästhetische Aktivierung des gesamten Sinnessystems zu jener engagierten Weltzuwendung konfiguriert, die uns ein differenzierendes, akzentuierendes, ablehnendes oder zustimmendes, warmherziges oder kühles Beurteilen unserer Welt erst möglich macht. Eine sich auch neuroanatomisch manifestierende allseitige Sinnesbildung ist daher immer zugleich Bildung unserer Urteilsorgane. Damit wird die neurozentrische Blickfeld-Verengung einiger Hirnforscherinnen und -forscher evident: So ist beispielsweise das »Feuern« sogenannter Spiegelneurone beim Ansehen eines weinenden Menschen wahrscheinlich nicht nur eine bloße Spiegelung jenes beobachteten mimischen Phänomens, sondern ebenso der dadurch aktivierten eigenen leiblichen mimetischen und synästhetischen Wahrnehmung. Wir bilden das physiognomische Gegenüber selbst – wenn auch unmerklich – physiognomisch nach und kommen erst dadurch in die Lage, nicht »stumpf«, sondern anteilnehmend und urteilend auf jenes Gesicht zu schauen.
Der Grad dieser Anteilnahme – d. h. die Stärke der Körperresonanzen – kann allerdings, um beim Empathie-Beispiel zu bleiben, nach der einen Seite hin so abgedämpft werden, dass beispielsweise eine unberührte bzw. gleichgültige Betrachtung von Schmerzen entsteht, die anderen Menschen zugeführt werden (sogenanntes Aggressive-Conduct-Disorder-Syndrom, ACD). Auf der anderen Seite kann die mimetische bzw. empathische Resonanz allerdings so ausgeprägt werden, dass Mitmenschen dauernd imitiert werden, ohne seelische Distanz. Das wird als Krankheitsbild der Echopraxie bezeichnet. Auch diese hemmenden Impulse, die uns den inneren Abstand und die Erkenntnisfähigkeit dem anderen Menschen gegenüber ermöglichen, sind erforscht worden. In der heute verbreiteten mechanistischen Sprache vieler Hirnforscher wird von einem »Sperrmechanismus« gesprochen, der verhindert, dass wir uns mit dem anderen Menschen zu distanzlos identifizieren. Es ist jedoch offensichtlich, dass es hier um eine Ich-Tätigkeit geht, die je nach Situation stärker imitativ oder defensiv wirksam wird. Es geht im Leben ja darum, jeweils situationsangemessen und sozial nicht destruierend mal ein eher distanziertes, mal ein eher engagiertes Mitgefühl entwickeln zu können. Diese Beispiele mögen deutlich machen, dass es unerlässlich ist, aus einer medizinisch-therapeutischen und bildungstheoretischen Perspektive stets den ganzen Menschen zu betrachten und den professionellen Blick nicht auf Gehirnprozesse oder kognitive Fähigkeiten zu verengen. Ein solcher umfassender Blick auf die menschlichen intentionalen Resonanzphänomene ist es nun auch, den uns Friedrich Edelhäuser am Beispiel der Analyse von Wahrnehmen und Bewegen vorführt.
Es scheint mir für den Diskurs um die Embodiment-Theorie wegweisend zu sein, dass in der vorliegenden Publikation in einer ungewöhnlich komplexen Weise die Wechselbeziehung physiologischer Prozesse mit der menschlichen Intentionalität und der Einbettung menschlicher Handlungen in das jeweilige Umgebungsmilieu untersucht wird, zum Teil aus neuartigen epistemologischen Perspektiven. Der Autor greift aus dem umfangreichen möglichen Themenrepertoire der Embodiment-Forschung eine bestimmte und grundlegende Fragestellung heraus: Die nach dem Zusammenhang von Körperbewegung und Wahrnehmung, dem er eine zentrale Bedeutung im menschlichen Lebenslauf, aber auch für das Selbstverständnis des Menschen zuschreibt. Neben der umfassenden Sichtung von Forschungsliteratur zu diesem Thema sowie feinfühligen phänomenologischen Beschreibungen von Alltagswahrnehmungen (etwa in der Natur) eröffnet Friedrich Edelhäuser auch exemplarische Perspektiven für neue anthropologische Sichtweisen auf diesen Zusammenhang. So greift er beispielsweise das Modell einer funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus auf: in Sinnes- und Nervensystem, rhythmisches System (Herz, Atmung) und Bewegungs- bzw. Stoffwechselsystem mit ihren psychischen Korrespondenzen von Vorstellen, Fühlen und Willensaktivitäten; sehr detailliert wird dann untersucht, wie sich die Frage nach dem Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung von dieser Systematik her tiefergehend und wissenschaftlich begründet beantworten lässt.
Alltagsbeobachtungen und Forschungen zur »Verkörperung« geistiger und seelischer Aktivitäten werden in der vorliegenden Publikation also in einen fundierten anthropologischen Zusammenhang gestellt und für die medizinische Wissenschaft wie für deren Menschenbild und ihre therapeutischen Perspektiven fruchtbar gemacht – aber es dürfte kaum Probleme bereiten, solche Überlegungen auch auf pädagogische Embodiment-Ansätze der beschriebenen Art zu beziehen. Denn wie die zahlreichen empirischen Studien zu diesem Thema in der medizinischen Wissenschaft oder in der Psychologie einer anthropologischen Einbettung bedürfen, um für eine humane ärztliche bzw. therapeutische Praxis nutzbar gemacht werden zu können, so gilt dies analog auch für die Embodiment-Forschung in der Pädagogik. Zahlreiche Hinweise und Akzentsetzungen des Verfassers machen deutlich, dass diese leibanthropologische Studie letztlich einer menschenwürdigen ärztlichen Praxis Orientierung geben soll. Ein derartiges Anliegen kann auch wegweisend für analoge Überlegungen in der Pädagogik sein. Die eben beschriebene Resonanz-Theorie könnte in diesem Zusammenhang ein tieferes Verständnis der »verkörperten Erkenntnis« im Zusammenhang von Erziehungs- und Bildungsprozessen ermöglichen.
Göttingen, im Frühjahr 2022Prof. Dr. Christian RittelmeyerInstitut für Erziehungswissenschaft, Universität Göttingen
Die Frage nach der Ursache und der Steuerung der menschlichen Bewegung ist eine zentrale Frage für das menschliche Selbstverständnis. Je nach der Beantwortung dieser Frage wird dabei der sich als bewusstes Selbst erlebende Mensch in seiner Urheberschaft und seiner Verantwortung für menschliches Handeln entweder beiseite geschoben, zur Illusion erklärt und gänzlich aus der Verantwortung genommen oder er muss sich als Urheber seiner Handlungen gegen die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse zur Physiologie der menschlichen Bewegung und der Bewegungssteuerung behaupten und sich mit diesen Ergebnissen in Einklang bringen. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, hat an unterschiedlichen Stellen in seinem Werk die verursachende Rolle der motorischen Nerven und Nervenzentren für die Bewegung in Frage gestellt. Er hielt die Frage nach der Funktion des Nervensystems beim Zustandkommen von Bewegungen für eine wichtige Frage der Physiologie, die unter der Methodik der modernen Naturwissenschaft erarbeitet wird. Dem Autor der vorliegenden Abhandlung war diese Fragestellung über mittlerweile fast 35 Jahre eine wesentliche Begleitung – durch das Studium, die Weiterbildung zum Neurologen und die konzeptionelle Arbeit für eine Erweiterung des Medizinstudiums durch die Einbeziehung der geistigen Aspekte des Menschen, wie sie die anthroposophische Medizin ermöglicht. In unterschiedlichen Bearbeitungen hat er versucht, diesen Überlegungen einen Niederschlag zu geben. Dann ergab sich die Möglichkeit, das Thema als Habilitationsschrift in einem umfassenden Zusammenhang auszuarbeiten. Eine überarbeitete und gekürzte Fassung liegt diesem Buch zu Grunde.
»Es ist an der Zeit, dass in den biologischen und psychologischen Wissenschaften und insbesondere in der Humanmedizin, die sich ja dem Menschen widmet, neu und ernsthaft über das Wesen des Menschen nachgedacht wird. Denn die erfolgreiche Aufklärung der materiell-körperlichen Bedingungen des Lebens, des Seelischen und des Geistigen im Menschen haben zum Glauben geführt, Leben, Seele und Geist seien durch Materie verursacht und entbehrten einer eigenständigen Realität. […] Damit wurde aber das Menschliche im Menschen zunehmend aus dem Auge verloren« (Heusser 2011, S. VII).
So Peter Heusser in der Einleitung seiner »Beiträge zu einer Integrativen Medizinischen Anthropologie«, die als »Anthroposophische Medizin und Wissenschaft« die Buchfassung seiner Habilitationsschrift darstellen. Daran möchte die vorliegende Ausarbeitung anschließen. Sie tut dies, indem die Frage nach der Bewegung des Menschen in ihren unterschiedlichen Dimensionen verfolgt wird – als ein wesentlicher Aspekt einer umfassenden medizinischen Anthropologie.
Es wird versucht, eine Übersicht zur Bewegungsphysiologie zu skizzieren, orientiert an und aufbauend auf einer allgemeinen Sinnesphysiologie, wie sie Herbert Hensel, der frühere Lehrstuhlinhaber für Physiologie an der Universität in Marburg und Gründungsmitglied der Universität Witten/Herdecke für die Wahrnehmung in einem integrierenden Zusammenfügen von phänomenologischer und empirisch-naturwissenschaftlicher Forschung als Grundlagenwissenschaft erarbeitet hat (Hensel 1966). Die allgemeine Sinnesphysiologie kommt in ihrem Geltungsbereich vor den Detailausarbeitungen der speziellen Sinnesphysiologie zum Tragen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, in vergleichbarem Sinne eine allgemeine Bewegungsphysiologie zu entwickeln, die als Voraus- und Grundlagenbetrachtung vor den Untersuchungen zu Einzelfragestellungen im Zusammenhang mit der Bewegung des Menschen Orientierung geben kann.
Es zeigte sich, dass sowohl in leiblicher wie auch in seelischer und in geistiger Hinsicht der Selbstbewegung eine zentrale Rolle im Verständnis des jeweils zu untersuchenden Phänomenbereichs zukommt. Wie weit die gesamte Konzeption tragfähig ist, muss die Rezeption zeigen. Unabhängig von den hier vorlegten Ergebnissen wurde durch die Bearbeitung in jedem Fall deutlich, dass eine allgemeine Bewegungsphysiologie ein notwendiges Desiderat für die umfangreichen Einzelbetrachtungen darstellt, die heute auf diesem Gebiet durchgeführt werden. Weiterhin wurde deutlich, dass dem Gestaltkreisansatz von Viktor von Weizsäcker und dem Ansatz einer funktionellen Dreigliederung von Rudolf Steiner auch mehr als 75 Jahre (bei von Weizsäcker) bzw. mehr als 100 Jahre (bei Steiner) nach ihrer Erstdarstellung noch immer eine strukturierende, konzeptionelle und grundlegende Fragen anregende Potenz innewohnt, die noch längst nicht ausgeschöpft ist. Sie lässt für die Zukunft hoffen, dass diese beiden Ansätze in die zunehmend sich verbreitende Embodiment-Forschung einbezogen werden und bei ihrer Ausgestaltung hilfreich werden können.
Witten/Herdecke, im Frühjahr 2022Friedrich Edelhäuser
Geleitwort
von Thomas Fuchs
Geleitwort
von Christian Rittelmeyer
Vorwort
1 Einleitung
2 Zur Bedeutung der richtigen Fragen
2.1 Wie bewegt sich der Mensch?
2.2 Fragen, den Bereich der Wahrnehmung betreffend
2.3 Fragen, den Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen betreffend
2.4 Fragen, die Bewegung, insbesondere die Bewegungssteuerung und die Bewegungsverursachung, betreffend
2.5 Fragen, die leibliche, die therapeutische, die medizinische und die didaktische Dimension von Wahrnehmen und Bewegen betreffend
2.6 Fragen zur Methodik der Untersuchung
3 Zur Methode
3.1 Als Ausgangspunkt dient eine phänomenologischlebensweltliche Betrachtung
3.2 Zum Zusammenhang von phänomenaler und naturwissenschaftlicher Vorgehensweise
3.3 Erfordernis einer allgemeinen Bewegungsphysiologie oder Bewegungslehre
3.4 Erfahrungsorientierte Erkenntniswissenschaft als übergeordneter Ausgangspunkt
3.4.1 Denken und Denktätigkeit
3.4.2 Begriffe und Ideen
3.4.3 Wahrnehmen
3.4.4 Wahrnehmen und Denken
3.4.5 Erkennen
3.4.6 Vorstellen
3.5 Bezugnahmen und Anknüpfungen
3.5.1 Leib- und Beziehungsphänomenologie bei Thomas Fuchs
3.5.2 Anthropologische Medizin und der Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen bei Viktor von Weizsäcker
3.5.3 Allgemeine Sinnesphysiologie und deren Aufbau bei Herbert Hensel
3.5.4 Anthropologie als Zusammenwirken von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Zugangsweisen bei Peter Heusser
4 Wahrnehmen
4.1 Erleben
4.2 Das Wahrnehmen beobachten
4.3 Differenz der erlebbaren Wahrnehmungswelt zur objektivistischen Sinnesphysiologie
4.4 Notwendige Bedingungen für das Zustandekommen einer Wahrnehmung
4.5 Reflexion auf das sinnesphysiologische Wahrnehmungsmodell – die Eigenständigkeit des Phänomenalen
4.6 Innen und Außen sind nicht räumlich zu denken
4.7 Sinnesbereiche als Erscheinungsweisen der Welt
4.8 Allgemeine Sinnesphysiologie als Reflexion auf die Voraussetzungen positiver Wissenschaften
4.9 Der Fokus der Aufmerksamkeit – wo verorten wir uns beim Wahrnehmen?
5 Wahrnehmen und Bewegen
5.1 Das Sehen von Formen
5.2 Blick und Körperbewegung
5.3 Hören und Bewegung
5.4 Vergleich von Seh- und Hörwahrnehmung
5.5 Weitere Sinne und Bewegung
5.5.1 Geruchsinn
5.5.2 Geschmackssinn
5.5.3 Wärmesinn
5.5.4 Leibgerichtete Sinne
5.6 Wechselweise Ursache – zirkuläre statt lineare Kausalität
5.7 Wahrnehmen ist Bewegen
5.8 Erbilden der Objektwelt
6 Zur gegenseitigen Ermöglichung von Wahrnehmen und Bewegen
6.1 Der Gestaltkreis von Viktor von Weizsäcker als Einheit von Wahrnehmen und Bewegen
6.2 Äquivalenz von Form und Bewegung
6.3 Der Gestaltkreis als intentionaler Akt
6.4 Intentionale Differenzierung: Zentrum – Peripherie
6.5 Intentionale Differenzierung: Vordergrund – Hintergrund
6.6 Zeitintegration
6.7 Grundlegende intentionale Bewegungen
7 Bewegen
7.1 Phänomenologische Analyse und Physiologie der Bewegungssteuerung
7.2 Die Bedeutung der peripheren Afferenzen für die Bewegung
7.3 Verlust der Bewegungswahrnehmung des Körpers (Propriozeption)
7.4 Die Bedeutung der phänomenalen Wahrnehmung für die Bewegung
7.5 Zur Problematik einer adäquaten Prägung der Begriffe (»motorische Nerven«)
7.6 Zum Begriff der Information in der Bewegungssteuerung
7.7 Selbst-Erfahrung, Ich-Erfahrung und Bewegungsinitiierung
7.8 Die Bewegungssteuerung des Menschen erfolgt aus der psychischen Ebene der Wahrnehmung
8 Wahrnehmen und Bewegen als zentrale Elemente von Embodiment – die funktionelle Dreigliederung des menschlichen Organismus
8.1 Konzept
8.2 Rhythmus als Vermittler zwischen Lebens- und Bewusstseinsprozessen
8.3 Die leibliche Realisierung von Vorstellen, Fühlen und Wollen
9 Wahrnehmen und Bewegen – zentrale Prozesse der Leibgestaltung im Lebenslauf
10 Zur therapeutischen Physiologie der Bewegung
10.1 Bewegung und ihre Bedeutung für Prävention und Kuration in der Medizin
10.2 Zum Körperbezug von Bewusstsein und Emotionen
10.3 Bewegungsvorstellung, Bewegung und autonomes Nervensystem
10.4 Eurythmie als Therapie durch innere und äußere Gestaltung der Bewegung
10.5 Untersuchungen zur therapeutischen Physiologie der Bewegung
10.5.1 »Ich denke die Rede«
10.5.2 »Migräne B«
10.5.3 Bewegungsrepetition und ihr Abdruck in der Herzschlagfolge
10.6 Zusammenschau der Untersuchungen
11 Embodiment-Konzepte als Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaft
11.1 Begriffe sind leiberfahren
11.2 Verständigung zwischen Anthropologie und Anthroposophie
12 Zusammenschau und Resümee
Dank
Literatur
Sachwortverzeichnis
»Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt,die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut,schließt ein neues Organ in uns auf.«
Johann Wolfgang von Goethe (2002a, S. 38)
Ist der Mensch ein bewegter Beweger oder bewegt er sich selbst?
Ist die menschliche Bewegung und damit auch menschliches Handeln die reine Fortsetzung intentionslos wirkender Naturkräfte oder kann Bewegen und Handeln des Menschen auch – in unterschiedlichen Graden – als Ergebnis eines intentionalen, gerichteten Bezugnehmens des Individuums auf die Um- und Mitwelt verstanden und untersucht werden?
Die naturwissenschaftliche Analyse, die in der Natur nur die quantifizierbaren Größen der mathematisierten Physik und Chemie kennt, fördert bei ihrer Anwendung auf den menschlichen Organismus ebenfalls nur physikalische und biochemische Sachverhalte zutage. Die für das menschliche Selbstverständnis lange Zeit wesentlichen Begriffsbildungen des »Lebens«, der »Seele« und des »menschlichen Geistes« verlieren unter dem naturwissenschaftlichen Zugang zunehmend Substanz, Bedeutung und Tragfähigkeit für das Bild des Menschen in Wissenschaft, Kultur, Medizin und Allgemeinverständnis.
Descartes’ Trennung in res extensa für die leiblichen und res cogitans für die seelisch geistigen Aspekte des Menschen hat zu einem folgenreichen Auseinanderdriften von geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen auf der einen und den handlungs- und technikorientierten Naturwissenschaften auf der anderen Seite geführt. Die so veranlagte Abtrennung des Geistes von Leib und Natur hat aber gleichzeitig auch die Herausbildung eines individuumszentrierten Ich-Begriffs befördert und damit »zu einer Auffassung des Menschen als eines selbstständigen, freien und autonomen Individuums« (Fingerhut et al. 2013, S. 42) beigetragen und so eine Konzeptualisierung des Individuums bis hin zu der Formulierung »Die Würde des Menschen ist unantastbar« erst ermöglicht.
Gleichwohl wird heute die Überwindung eines ausschließend dualistischen, auf Descartes fußenden Konzepts der Anthropologie für eine zentrale Aufgabe in der zunehmend von naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften geprägten Welt gehalten. Dies zeigt sich kaum irgendwo deutlicher als in der Medizin, wo die Aspekte des technisch Machbaren mit der Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen, nach seinem Verständnis als Person, seiner Würde und seinen Gestaltungswünschen bei Fragen zum Vorgehen bei Intensivbehandlung, Pränataldiagnostik, menschenwürdigem Sterben, Organtransplantation und anderen Maßnahmen nach tragfähigen Antworten rufen, die die wesentlichen Aspekte des Menschen und seine Beziehung zum Leib erfassen und in diesen Situationen zur Geltung kommen lassen. Zusammenfassend kann man formulieren: Woher nimmt die Medizin in der Anwendung der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise ihr menschengemäßes Maß (Maio 2014)?
Vielleicht kann eine erneute philosophische und reflexive Hinwendung auf Begriffsbildungen, Modelle und Annahmen der Naturwissenschaft in Bezug auf ein Verständnis des menschlichen Leibes eine Erkenntnis des Menschen in der Natur ermöglichen, das der Mehrdimensionalität des Menschen als leibliches, seelisches und geistiges Wesen gerechter wird und das spezifisch Humane eingebettet in die Natur und den Leib des Menschen beschreiben und erfassen lässt (Heusser et al. 2012; Weger und Wagemann 2015; Weger und Herbig 2019). Ein umfassendes und die leiblichen, seelischen und geistigen Aspekte ergreifendes Verständnis von Wahrnehmen und Bewegen des Menschen ist dabei von relevanter Bedeutung.
Die res cogitans der philosophischen Moderne wird heute von den biologischen Neurowissenschaften – in der Regel unbemerkt – durch die ausschließliche Gehirnzentrierung in der Forschung nach den seelischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen ersetzt (Churchland 2013; Roth und Strüber 2014). Alle psychischen und mentalen Funktionen (von Seele und Geist wird nicht mehr gerne gesprochen, man hält sie für überholte Begriffsbildungen aus der Philosophiegeschichte) werden als ausschließlich vom Gehirn des Menschen ursächlich hervorgebracht gedacht und untersucht. Das Gehirn wird so zur modernen res cogitans, es bringt alle nicht-räumlichen Besonderheiten des Geistes hervor und birgt sie in sich (Seung 2013; Gazzaniga 2012). Seung spricht vom »Konnektom« und meint damit die räumliche und zeitliche Verortung seelisch geistiger Fähigkeiten ausschließlich in den Gehirnfunktionen. »Um die Theorie einfacher neu zu formulieren: Du bist mehr als deine Gene. Du bist dein Konnektom. […] Du bist die Aktivität deiner Neuronen« (Seung 2013, S. XVII f.). Als inhaltlich zugespitzte Metapher findet diese Denkfigur als das »Gehirn im Tank«-Modell Ausdruck, das unterstellt, dass ein isoliertes Gehirn bei geeigneter Reizung alle kognitiven, emotionalen und Willens-Aspekte hervorbringt, die den Menschen ausmachen (Brueckner 2016).
Der naturwissenschaftliche Ansatz der Gehirnzentierung bei der Suche nach den seelischen Fähigkeiten des Menschen führt zum gleichen trennenden Dualismus wie der philosophische, allerdings jetzt zwischen dem Gehirn (das dabei als alles Mentale hervorbringend gedacht wird) und der restlichen Welt einschließlich des menschlichen Leibes außerhalb des Gehirns, und damit in eine ähnlich inkompatibel dualistische Position (wenn auch materialisch oder naturalistisch konzipiert), wie die strikte Trennung in res cogitans und res extensa bei Descartes (Müller 2003; Fuchs 2013).
Dem entgegengesetzt entwickeln sich in den Embodiment-Konzepten der neueren Philosophie, Neurobiologie, Psychologie und Physiologie in Bezug auf die menschliche Leiblichkeit und ihre Einbettung in die Umwelt Gedankenfiguren der Überwindung der cartesianischen Spaltung und des ausschließlichen Gehirnzentrismus (Varela et al. 1991; Fuchs 2013; Storch und Tschacher 2014). Vorläufer dieser modernen Diskussion des Leibbezugs der seelischen und geistigen Fähigkeiten finden sich auf Seiten der Philosophie in der Phänomenologie Husserls und darauf aufbauend bei Heidegger und bei Merleau-Ponty (2011). Eine ausführliche Übersicht zu den historischen Vorläufern und den aktuellen Embodiment-Konzepten bieten Fingerhut et al. (2013).
In der Biologie und Medizin hat sich bei der Analyse der Nervenfunktionen früh eine Aufgliederung in ein motorisches und ein sensorisches Nervensystem entwickelt (Buchanan 1992; Sandkühler 1992). Einhergehend damit wurden und werden die Sinnesorgane und das Wahrnehmungssystem getrennt vom Bewegungssystem behandelt und analysiert. Diese Trennung findet sich in der Forschung, in der dazugehörigen Begriffsbildung und in der Lehre der zugehörigen Gebiete tief eingegraben. Die in der lebensweltlichen Erfahrung unmittelbar gegebene Einsicht des Zusammengehörens von Wahrnehmen und Bewegen fand in der naturwissenschaftlichen Erforschung der Leibesfunktionen des Menschen keine wirkliche Entsprechung und bis auf wenige Ausnahmen keine Konzeptualisierung.
Der Neurologe und Sinnesphysiologe Viktor von Weizsäcker entwickelte um die Mitte des letzten Jahrhunderts einen breit angelegten Versuch, die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen konzeptuell zu fassen und mit der daraus folgenden »notwendigen« Einbeziehung des Subjekts und der Umwelt in einer umfassenden Betrachtung zusammenzubringen. »Jede Bewegung ist im Dienste einer Handlung, und diese setzt irgendeine Fühlungnahme mit dem äußeren Objekt voraus, also auch eine rezeptive Leistung. Und jede Wahrnehmung ist auch eine bestimmte Zuwendung, enthält also auch einen (meist motorischen) Akt, ist ein Tun. Indem dann die Untersuchungstechnik jeweils die gleichzeitige Beobachtung von Sinneserlebnis, Bewegungsgeschehnis und Gegenstand erfordert, wirkt es sich aus, dass es keine Untersuchung ohne die Anerkennung oder Einführung des Subjektes geben kann« (v. Weizsäcker 1990, S. 622). Mit seinem grundlegenden Werk »Der Gestaltkreis«, einer »Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen« (v. Weizsäcker 1968) und weiteren fundamentalen Überlegungen zu zentralen Fragen der Medizin wie in seiner »Pathosophie« (v. Weizsäcker 2005) gilt er als der Begründer der »anthropologischen Medizin« in Deutschland. Sein Konzept greift lange vor den aktuellen Überlegungen des Embodiment-Ansatzes die Forderung nach einer Einbeziehung von Wahrnehmen und Bewegen des Menschen in die kognitiven Konzepte – explizit wurde diese Forderung in neuerer Zeit u. a. von Susan Hurley in »Perception and Action« entwickelt (Hurley 2013) – in fundamentaler Weise auf und harrt noch immer einer Einbeziehung in die aktuelle Diskussion und einer weiteren Aufarbeitung in der Forschung (Zybowski 2009).
Ein ebenfalls fundamentaler und bislang wenig beachteter Ansatz, kognitive und emotionale Funktionen verleiblicht zu denken, findet sich bei Rudolf Steiner in der von ihm sogenannten »Funktionellen Dreigliederung« des menschlichen Organismus. Die anatomische Seite dieses Ansatzes wurde von Johannes Rohen, dem langjährigen Lehrstuhlinhaber für Anatomie in den Universtäten Erlangen und Marburg, in seinen Lehrbüchern umfangreich ausgearbeitet und ist ein fester Bestandteil der funktionellen Anatomie geworden (Rohen 2001, 2005, 2007; Rohen und Lütjen-Drecoll 2000, 2004). In Steiners ursprünglicher Konzeption werden die drei Bereiche Kognition (Vorstellen), Emotion (Fühlen) und Handeln (Wollen) des Menschen mit Funktionen und Organsystemen des Organismus über das Nervensystem hinausgehend in Beziehung gebracht (Steiner 1983). Gleichzeitig wird das Übergreifen der seelischen und geistigen Funktionen in die Umwelt beim Wahrnehmen und Bewegen thematisiert. Den Begriffsprägungen der aktuellen Embodimentansätze folgend kann dabei von Überlegungen zu einem verkörperten und ausgedehnten Geist (»embodied mind« und »extended mind«) gesprochen werden (Fingerhut et al. 2013; Tschacher und Storch 2012; Niedenthal 2007).
Motiviert durch die grundsätzliche Frage nach der Verursachung und der Realisierung der menschlichen Bewegung hat sich der Autor des vorliegenden Buchs über viele Jahre mit den aktuellen Ergebnissen der physiologisch naturwissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema beschäftigt und sich gleichzeitig intensiv mit dem Werk Rudolf Steiners zu dieser Frage und mit dem Gestaltkreis Viktor von Weizsäckers auseinandergesetzt. Der Anstoß ergab sich durch die Begegnung mit dem Werk Gerhard Kienles und die darin enthaltene Anregung, den Begriff der Intentionalität in die Frage nach der Verursachung der menschlichen Bewegung und zu einem umfassenden Verständnis der menschlichen Wahrnehmung einzubeziehen (Kienle 1966, 1968). Beim Verfolgen des Themas ergab es sich, dass interessante gegenseitige Ergänzungen in den Werken von Viktor von Weizsäcker und Rudolf Steiner zum Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen zu finden waren. In den breit angelegten und physiologisch basierten Überlegungen und in den empirischen Arbeiten von Weizsäckers und den Untersuchungen seiner Mitarbeiter (z. B. Christian 1948 und Derwort 1948) fanden die prinzipiellen Überlegungen Steiners in gewissem Sinn eine (vermutlich bezüglich des Zusammenhangs nicht bewusste) physiologische Ausarbeitung. Gleichzeitig ergab sich durch die klare Gliederung Steiners eine Schärfung des Gestaltkreiskonzepts und die Anregung, die leibliche Seite des Gestaltkreises in der funktionellen Dreigliederung realisiert zu suchen.
Aus der Beschäftigung mit der Frage nach der Verursachung und der Gestaltung der menschlichen Bewegung und der Rolle des Nervensystems beim Wahrnehmen und Bewegen entstanden die wesentlichen in dieser Arbeit vorgestellten Gedanken. Die Ausrichtung auf ein umfassendes Organismuskonzept unter dem Aspekt von Wahrnehmen und Bewegen erfuhr die Bearbeitung in den letzten Jahren durch die Tätigkeit im Integrierten Begleitstudium Anthroposophische Medizin an der Universität Witten/Herdecke. Dazu gehört der Versuch einer anthropologischen Konzeption, die die Mehrdimensionalität des Menschen erfasst und die als Grundlage und Orientierung für eine integrative, d. h. die modernen naturwissenschaftlich orientierten und weitere relevante und traditionelle Konzepte umfassende Medizin, dienen kann. Andere medizinische Richtungen und deren Organismuskonzepte sollen daran anknüpfen können.
Die vorliegende Untersuchung schließt an die grundlegende Ausarbeitung von Peter Heusser »Anthroposophische Medizin und Wissenschaft – Erkenntniswissenschaftliche und konzeptionelle Beiträge zu einer ganzheitlichen medizinischen Anthropologie« an, die 2011 erstmals als Buch veröffentlicht wurde (Heusser 2011). Sie baut auf dem dort vorgestellten, in der Wissenschaftsmethodik verankerten Grundkonzept auf und stellt eine Ausarbeitung auf einem speziellen Feld dar: eine allgemeine Bewegungslehre und ein leibliche, psychische und geistige Aspekte integrierendes Verständnis von Wahrnehmen und Bewegen. Die vorliegende Untersuchung möchte damit einen Baustein für eine zukünftige medizinische Anthropologie beitragen, die die eigenaktiven und gestalterischen Aspekte des gesunden und des erkrankten Menschen konzeptionell einbezieht und fördert (Huber et al. 2011, 2016).
Die Arbeit versteht sich durch die Ausarbeitung einer anthropologischen Konzeption, die die Mehrdimensionalität des Menschen und die Frage nach dem Verständnis und der Bedeutung des Individuums in der Medizin einbezieht, auch als Beitrag zu den grundlegenden Fragen einer integrativen und personalisierten Gesundheitsversorgung, die den kranken Menschen als Individuum in einer auch allgemeinen Gesetzen gehorchenden Leiblichkeit zu verstehen erlaubt.
Der besseren Übersichtlichkeit halber wird hier zunächst eine kurze Orientierung über den Aufbau der Untersuchung gegeben: Die unterschiedlichen Aspekte, die für eine umfängliche Betrachtung der Frage nach der Verursachung und nach der Gestaltung der menschlichen Bewegung zu berücksichtigen sind, werden in den aufeinander aufbauenden Kapiteln 1 bis 8 herausgearbeitet und in ein Gesamtbild gebracht. Daran anschließend werden in den Kapiteln 9 bis 11 Themenfelder dargestellt, die durch dieses Gesamtbild fruchtbare inhaltliche Anregungen erfahren können und damit die Tragfähigkeit des Ansatzes belegen.
Zunächst werden im Kapitel 2 die Fragen entwickelt, die zu einer umfassenden Bearbeitung der Thematik notwendig sind. Ein methodischer Zugang, der die naturwissenschaftliche und die phänomenologisch-philosophische Betrachtungsweise zu verbinden erlaubt, wird im Kapitel 3 dargestellt. Für diese Zugangsweise wird in diesem Kapitel gleichzeitig die erkenntniswissenschaftliche Begründung erarbeitet.
Diesen Ansatz fortführend wird im Kapitel 4 mit einer Analyse des phänomenal Gegebenen bei der Frage nach der Bewegung begonnen. Dabei wird zunächst die menschliche Wahrnehmung untersucht und auf den Bewegungsaspekt hin analysiert, der zum Zustandekommen von Sinneswahrnehmungen erforderlich ist. Aufbauend darauf wird im Kapitel 5 die Bedeutung der Bewegung für das Wahrnehmen herausgearbeitet und im Kapitel 6 der Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegung als zirkuläre, sich gegenseitig bedingende Kausalität analysiert.
Im zentralen Kapitel 7 wird auf der Basis des bis dahin Entwickelten die menschliche Bewegung auf ihren Ursprung und ihre Gestaltung hin untersucht und es wird insbesondere die Rolle des Nervensystems befragt. Es zeigt sich, dass die auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnisse und Aussagen zur menschlichen Bewegung und zur Wahrnehmung in einen direkten Bezug zum Konzept der funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus gebracht werden können. Dies wird im Kapitel 8 dargestellt.
Die durch diese Analyse erreichte anthropologische Konzeption mit Aussagen zum Ursprung, zur Gestaltung und zu den leiblichen Grundlagen der menschlichen Bewegung wird in den anschließenden Kapiteln für Bereiche, in denen die menschliche Bewegung bzw. Wahrnehmen und Bewegen eine zentrale Rolle spielen (menschliche Entwicklung, Therapie), auf ihre Relevanz und Gestaltungsfähigkeit hin untersucht.
Dabei wird im Kapitel 9 zunächst die Bedeutung der Bewegung für die Entwicklung im menschlichen Lebenslauf beschrieben. Daran anschließend wird im Kapitel 10 eine umfängliche Analyse der therapeutischen Wirksamkeit von Bewegung in der Prävention und in der Therapie von Erkrankungen vorgenommen. Die dabei gefundene Wirksamkeit von Bewegung wird als »therapeutische Physiologie der Bewegung« beschrieben. Ergänzend wird dazu eine spezielle therapeutische Ausformung von Bewegung, die Eurythmie als Bewegungstherapie, vorgestellt. In dieser Therapieform werden die Bewegungsvorstellungen und die Bewegungsdurchführung in besonderer Weise angesprochen. Eigene Studien, die die Eurythmie und die Rolle von intensivierten Bewegungsvorstellungen bei Bewegungen gezielt untersuchten, werden an dieser Stelle dargestellt.
Im abschließenden Kapitel 11 wird die in der Arbeit entwickelte Konzeption der menschlichen Bewegung mit den Ergebnissen aktueller Embodimentforschung in Zusammenhang gebracht. Dabei zeigen sich die Konzeption der zirkulären Verbundenheit von Bewegen und Wahrnehmen, ihre leibliche Abbildung im Konzept der funktionellen Dreigliederung und der intentionale Gebrauch dieses Zusammenhangs als gut integrierbar in die gegenwärtige Embodiment-Forschung und als eine sinnvolle Erweiterung bestehender Embodiment-Konzepte.
Der Gestaltkreis Viktor v. Weizsäckers als Verschränkung von Wahrnehmen und Bewegen erweist sich im Fortgang der Untersuchungen als zentrales Konzept ihres Zusammenhangs. Er wird wiederholt an erforderlicher Stelle im Untersuchungsgang angeführt. Der Gestaltkreis v. Weizsäckers liegt als Nachdruck der 4. Auflage von 1950 vor, die wiederum einen weitgehend unveränderten Nachdruck der Erstauflage von 1940 darstellt (Weizsäcker 1968). Der von v. Weizsäcker übernommene Grundgedanke der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen wird an allen erforderlichen Stellen mit aktuellen physiologischen Forschungsergebnissen und aktuellen Forschungsrichtungen (z. B. den Untersuchungen zu den Mikrobewegungen der Augen beim Betrachten von Gegenständen) in Bezug gebracht und auf seine gegenwärtige Tragfähigkeit hin untersucht.
Die spezifische Bedeutung der Wahrnehmung für die Bewegungsgestaltung wird systematisch anhand publizierter Kasuistiken von Menschen mit besonderen Wahrnehmungsstörungen und darauf aufbauend anhand der Arbeiten von Franz Mechsner untersucht. Aufgegriffen werden weiterhin die Darstellungen von Rudolf Steiner zur Erkenntniswissenschaft und sein Konzept einer funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus. Diese beiden Bereiche bilden in den analysierten und dargestellten Aspekten ebenfalls wesentliche Anknüpfungspunkte für die folgenden Untersuchungen.
Der vorgelegte Versuch, den Umriss einer »allgemeinen Bewegungsphysiologie« für die menschliche Bewegung als Teilbereich der medizinischen Anthropologie darzustellen, analog zur »Allgemeine[n] Sinnesphysiologie« von Herbert Hensel, wurde nach Kenntnis des Autors in dieser Art und Ausführung bisher nicht unternommen. Das gewählte Vorgehen einer Zusammenschau von naturwissenschaftlichen und phänomenologisch-philosophischen Ergebnissen wird im übernächsten Kapitel 3, dem Methodenkapitel, ausführlich dargestellt. Zunächst wird die Bedeutung der richtigen Fragestellung gewürdigt. Die relevanten und zu beantwortenden Fragen werden im folgenden Kapitel systematisch erarbeitet und zusammengestellt.
Wahrnehmend bewegt sich der Mensch in der Welt. Bewegend und handelnd erfährt und gestaltet er die Welt. Wahrnehmen und Bewegen und deren Ausdifferenzierung ermöglichen wesentliche Etappen der leiblichen und seelisch-geistigen Entwicklung und der Fähigkeitsbildung des Menschen: Saugen, Blickfixierung, Kopfkontrolle, Sitzen und Greifen, Stehen und Gehen, Lautbildung und Sprachbeginn markieren wichtige Entwicklungsschritte der frühen Kindheit (König 2013). Später folgen ein zunehmend freies Verfügen über Vorstellungen, die aus der unmittelbaren Gegenwart abgelöst werden können, vor und zu Beginn der Schulzeit, dann schulische und berufliche Lernprozesse und schließlich gelingt in der späten Jugendzeit zunehmend ein selbstverantwortliches und intentionsgeleitetes Handeln im sozialen Kontext. Dies skizziert in wenigen Bildern wesentliche Schritte in der leiblich-seelisch-geistigen Entwicklung des Menschen im Lebenslauf.
Alle diese Entwicklungsschritte sind mit zunehmenden Fähigkeiten in der Wahrnehmungs- und Bewegungsorganisation des Menschen verbunden. Dies wird exemplarisch in den frühen Phasen der Kindesentwicklung deutlich, wo nach der Geburt und in den ersten Monaten der aufeinanderfolgende Erwerb der Augen-, Kopf- und Rumpfkontrolle beim Säugling zunehmend die Exploration der Umgebung, vor allem mit dem Sehsinn, ermöglicht und die so gewonnene neue Wahrnehmungsfähigkeit wiederum neue Handlungsmöglichkeiten fördert und fordert (Stern 2010).
Aus diesen Vorüberlegungen sind die zentralen Fragen entwickelt, denen sich die vorliegende Untersuchung widmet. Die Fragen sind zunächst absichtlich in großer Allgemeinheit gestellt, weil sie auf die zentralen Grundvoraussetzungen für menschliches Wahrnehmen und Bewegen abzielen sollen. Denn die Grundvoraussetzungen ergeben sich nicht aus der Beantwortung von anatomischen, physiologischen und funktionellen Detailfragen. Gefragt wird nach einem grundsätzlichen Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen für die Bewegungsgestaltung. Erst nach dieser basalen Analyse sollen weitere relevante Aspekte von Wahrnehmen und Bewegen konkreter und im Detail verfolgt werden.
Eine Orientierung zu den wichtigen Fragen der Handlungsinitiierung, der Bewegungssteuerung und Bewegungsgestaltung und der Bedeutung von Wahrnehmen, Vorstellen und Willenstätigkeit wird dabei unter dieser übergeordneten Fragestellung gesucht. Da die umfängliche Sichtung des in Frage kommen Feldes bereits die Wahrnehmung und folgend deren Zusammenspiel mit der Bewegungsfähigkeit in den Blick rückt, wird als erstes in der Analyse die Wahrnehmung einschließlich der Frage nach der Bedeutung der Bewegung für die Wahrnehmung näher untersucht, dann das Zusammenspiel von Wahrnehmen und Bewegen thematisiert und auf dieser Basis schließlich die Frage nach der Urheberschaft, der Gestaltung und den Voraussetzungen für die menschliche Bewegung behandelt.
Die Fragen zu Wahrnehmen und Bewegen des Menschen führen und gehören in einen anthropologischen Gesamtzusammenhang. Um diesen Zusammenhang nicht zu verlieren, ist im Blick auf die übergeordnete Frage »Wie bewegt sich der Mensch?« zu beachten, ob und inwieweit durch die analytisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich im historischen Verlauf der sich entwickelnden Naturwissenschaft und in der gegenwärtigen Forschung vorwiegend auf die leiblichen Grundlagen und deren Teilaspekte stützen, nicht logisch nur notwendige Voraussetzungen verkürzend zu verursachenden Gründen gemacht werden. Erforschte Teilaspekte eines größeren Funktionszusammenhangs können auf diesem Weg überbetont werden. Einzelne Elemente der anatomischen oder physiologischen leiblichen Grundlagen sind damit in der Gefahr begrifflich überladen zu werden. (Ein Beispiel für eine solche Begriffsüberladung ist der sogenannte »Primäre Motorkortex« – eine bestimmte Region der Großhirnrinde – als gedachter »Verursacher« der menschlichen Willkürbewegungen. Mit einer gewissen Suggestionskraft durch die Namensgebung ausgestattet, wird die an jeder Stelle des menschlichen Nervensystems anzutreffende somatotopische Gliederung am Motorkortex als »motorischer Homunkulus«, als »motorisches Menschlein« bezeichnet.)
Als nächstes werden die untergeordneten Teilfragen aufgeführt und erläutert, die für eine differenzierte Untersuchung der übergeordneten Frage sinnvoll zu stellen sind und im Fortgang der Arbeit untersucht werden.
Wie kommt das Wahrnehmen der Welt und des eigenen Körpers zustande?Wie kommt es zu den komplexen Wahrnehmungs-Bildern der Welt, die ein integriertes Zusammensein unterschiedlicher Wahrnehmungsaspekte in einem gefügten Ganzen (z. B. der optischen Bilder) zeigen, wie wir es in der Erinnerungsvorstellung und im gegenwärtigen Erleben kennen? Anknüpfend an die phänomenale Eigenerfahrung kann das Wahrnehmungsgeschehen reflektiert und auf seine Voraussetzungen und Einbettungen hin untersucht werden. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei für unsere Untersuchung die Frage nach der Bedeutung der Bewegung für die Wahrnehmung.
Welche Rolle spielt die Bewegung beim Zustandekommen von Wahrnehmungen, insbesondere beim Sehen?Diese Frage ist besonders für die visuelle Wahrnehmung relevant, da der Sehsinn im Normalfall den wesentlichen Sinn für die Umwelterfahrung und die Orientierung des Menschen in der Welt darstellt. Wir wählen im Folgenden den Sehsinn als Modellfall für unsere Untersuchung.
Welche Rolle spielt die Bewegung in weiteren Sinnesbereichen, z. B. dem Hören, dem Riechen, dem Schmecken, demGleichgewichtssinnusw.?Neben dem Sehen soll die Bedeutung der Bewegung für die anderen Sinnesmodalitäten untersucht werden.
Welche Rolle spielen Wahrnehmen und Bewegen und deren Zusammenspiel beim Zustandekommen der gegenständlichen Welterfahrung?Zusammenfassend sollen Wahrnehmen und Bewegen auf ihre Funktion und Verwendung beim Erbilden der Objektwelt hin untersucht werden.
Wie spielen Wahrnehmen und Bewegen des Menschen zusammen?Diese Blickrichtung stellt eine zentrale Frage der vorliegenden Abhandlung dar. Entsprechend liegt der Fokus der hier behandelten Analysen und Untersuchungsschritte auf der Frage nach dem prinzipiellen Zusammenspiel von Wahrnehmen und Bewegen. Die gegenseitige Beziehung zwischen Wahrnehmen und Bewegen bei der Realisierung dieser Funktionen wird untersucht.
Welche Rolle spielt die intentionaleAufmerksamkeitslenkungbeim Wahrnehmen und Bewegen und bei deren Zusammenspiel?Dazu wird die Frage verfolgt, inwieweit die beiden Funktionen Wahrnehmen und Bewegen Ausdruck eines gemeinsamen Prozesses sind, der der intentionalen Gestaltung zugänglich ist. Die Berechtigung dieser Fragerichtung ergibt sich unter anderem aus der Beobachtung, dass die begriffliche Unterscheidung in Wahrnehmen und Bewegen und die in der Regel getrennt laufenden und sich immer weiter in Einzelaspekte aufgliedernden wissenschaftlichen Untersuchungen der motorischen und sensorischen Systeme möglicherweise bereits eine Folge des analytischen und damit in Unteraspekte trennenden Vorgehens darstellen, das eventuell auf einen gemeinsamen Ausgangpunkt bezogen werden kann.
Was sind die prinzipiellen Voraussetzungen für die effizient in die Welt eingepassten menschlichen Bewegungen? Wie gestaltet und steuert der Mensch seine Bewegungen?Im nächsten Schritt sollen auf der Basis des anhand der Analyse des Wahrnehmungsprozesses Gewonnenen die Voraussetzungen für das Gelingen der menschlichen Bewegung untersucht werden. Welche elementaren Gegebenheiten sind erforderlich für das Zustandekommen, die Umwelteinpassung und Ausdrucksgestaltung der menschlichen Bewegung?
Welche Rolle spielt die Wahrnehmung beim Zustandekommen von Bewegungen?Analog zum Vorgehen bei der Analyse der Wahrnehmung soll für die menschliche Bewegung die Frage nach der Bedeutung der Wahrnehmung für die Bewegungsausführung untersucht werden. Verbunden damit ist die Frage nach dem Beitrag und der Bedeutung der unterschiedlichen Sinne für die Bewegungsausführung.
Wer oder was ist Verursacher der menschlichen Bewegung? Wo ist die Bewegungsverursachung anzusiedeln?In welchem Verhältnis steht beim Bewegen das Selbsterleben des Menschen als Urheber der Bewegung (Handelnder) und als Wahrnehmender – und das das Selbsterleben bündelnde menschliche Ich – zur Leibesorganisation und zur Umwelt?
Gibt es ein Embodiment-Konzept für Wahrnehmen und Bewegen?Welche leiblichen und welche seelisch-geistigen Funktionen des Menschen sind beim Wahrnehmen und Bewegen und deren Zusammenspiel involviert?Nach der grundlegenden Analyse stellt sich die Frage nach den leiblichen Voraussetzungen von Wahrnehmen und Bewegen und einem Organismuskonzept, das den gefundenen Ergebnissen Rechung trägt. Die emotionalen, kognitiven und willensmäßigen Aspekte und umfassender die leiblichen, seelischen und geistigen Grundlagen beim Wahrnehmen und Bewegen sollen in ihrem Zusammenwirken und in Bezug auf ihre physiologischen Entsprechungen untersucht werden. Daran anschließend kann dann die Bedeutung von Wahrnehmen und Bewegen für die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten im Blick auf den Lebenslauf betrachtet werden.
Welche Bedeutung haben Wahrnehmen und Bewegen und deren Zusammenspiel für die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten im Lebenslauf