Waidlertod - Sonja Silberhorn - E-Book

Waidlertod E-Book

Sonja Silberhorn

4,0

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Großstadtpflanze ermittelt in ländlicher Einöde ... und stößt auf ein tödliches Familiengeheimnis. In einer Jagdhütte in den Tiefen des Bayerischen Waldes wird ein aufgebahrtes menschliches Skelett gefunden. Die Spur führt Kommissarin Lene Wagenbach auf einen Einödhof, von dem Jahrzehnte zuvor die junge Theresa verschwand. Tatsächlich bestätigt sich die Identität der Toten, doch was ist dem Mädchen damals zugestoßen? Erst als ein neues Unglück geschieht, zeichnet sich vor den dunklen Wipfeln des Bayerwalds die Auflösung eines schrecklichen Familiengeheimnisses ab.

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Seitenzahl: 414

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Sonja Silberhorn, Jahrgang 1979, ist in Regensburg geboren und aufgewachsen. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Hotellerie, unter anderem auf den Kanaren und in Berlin, doch dann überwog die Liebe zu ihrer Heimatstadt. Heute lebt sie dort mit ihrer Familie und schickt seit 2011 ihre Kriminalkommissare erbarmungslos durchs lokale Verbrecherdickicht.www.sonja-silberhorn.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Stihl024/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-384-4 Originalausgabe

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Meinem lieben Onkel Gerd gewidmet,

dem ich diesen Roman nur zu gern persönlich überreicht hätte

Ich kann schon lang nichts mehr erzählen,

bin kalt und stumm und trist und leer.

Ich suche noch nach meinem Frieden,

ob er mir jemals ist beschieden?

Denn die Geschichte brennt so sehr.

Eine Geschichte von der Liebe

und Geistern, die in Wäldern ruhn,

und von der Angst in diesen Jahren

und von der Sehnsucht, zu bewahren,

und Dingen, die aus Furcht wir tun.

Doch falls ihr nach der Wahrheit sucht,

der Wald ganz leis die Worte spricht.

Wer ist es, der die Schuld muss tragen?

Wer ist es, den die Schatten plagen?

Ich schlafe, doch ich ruhe nicht.

EINS

»Warum schickt der eigentlich immer mich ins Niemandsland?«

Kriminalhauptkommissarin Lene Wagenbach drosselte das Tempo ihres Dienstwagens und versuchte mittels Hypnoseblick, dem schon seit einer Weile ratlos wirkenden Navigationsgerät auf die Sprünge zu helfen. Nach Schorndorf im Naturpark Oberer Bayerischer Wald hatte es sie noch zielsicher geführt, aber seit Erreichen des kleinen Ortes lotste es sie mit scheinbar zunehmender Verzweiflung durch die dünn besiedelte Umgebung, von Waldweg zu Gemeindegrenze zu Weiler und wieder zurück.

»Kein Wunder, dass du hier den Überblick verlierst«, murmelte sie, schaltete das Gerät nach einem verständnisvollen Tätscheln ab und drehte die Musik leiser. James Hetfield in voller Lautstärke hob zwar Lenes Stimmung, schmälerte aber leider ihre Konzentrationsfähigkeit.

Schon seit einer knappen Stunde war sie unterwegs, hatte die Zivilisation Regensburgs und das aus der Stadt herausführende Stück Autobahn längst hinter sich gelassen und schlängelte sich seither über endlose Landstraßen durch die hügelige Landschaft des Bayerischen Waldes, vorbei an kargen Dörfern, vereinsamten Bushaltestellen, Abzweigschildern zu abgelegenen Einödhöfen und natürlich Bäumen, Bäumen, Bäumen.

Dass sich die Sonne an diesem Junimorgen nicht durch die dicke Wolkendecke zu kämpfen vermochte, unterstrich die Eintönigkeit der Landschaft noch zusätzlich, und auch die am Straßenrand in schöner Regelmäßigkeit auftauchenden Marterl und Kreuze für die Verunfallten waren nicht dazu angetan, Lenes Stimmung aufzuhellen.

»Das muss doch hier irgendwo–« Als sie den parkenden Streifenwagen zu ihrer Rechten bemerkte, bremste sie abrupt ab, riss das Steuer herum und kam auf dem Waldweg neben einem uniformierten Kollegen zum Stehen, der an der Seitentür des Autos lehnte und sich die Rotzbremse zwirbelte.

»Morgen«, sagte sie beim Aussteigen. Mit einem schnellen Griff an die Brusttasche ihrer Lederjacke vergewisserte Lene sich, dass sie ihr Smartphone eingesteckt hatte, dann zog sie das Zopfband heraus und band die braunen Locken zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Wagenbach, Kripo Regensburg.«

»Ich wart hier schon eine Zeit lang«, tat der Kollege kund.

»Ich bin ja auch eine Zeit lang gefahren, Herr…?«

Das Streifenhörnchen ignorierte Lenes Interesse an seiner Identität, kniff die faltenumrahmten Augen zusammen und sah hinauf in den trübgrauen Himmel. »Pack ma’s«, raffte er sich schließlich auf und deutete zu dem Traktor, der keine fünfzig Meter entfernt am Waldrand stand.

Lene seufzte. Herr Packmas und ein Traktor. Ihr blieb auch nichts erspart.

»Dann erzählen Sie mal«, sagte Lene und trabte neben Packmas den Waldweg entlang.

Er zuckte die Achseln, als wolle er andeuten, dass er das für überflüssig hielt, ließ sich dann aber doch zu einer kurzen Zusammenfassung herab. »Zwei Wanderer haben in der alten Hütte Knochen gefunden. Menschliche Knochen, da sind wir uns recht sicher. Aber der Kopf fehlt halt.« Damit hatte sich seine Auskunftsfreudigkeit erschöpft.

Lene nickte, sie war ja ohnehin hier, um sich ein eigenes Bild zu machen, und zwischenzeitlich war auch der Traktor erreicht. Vom Fahrersitz sah ihr ein sonnengegerbter Mittfünfziger in schmuddelig brauner Arbeitskleidung neugierig entgegen.

»Das ist der Mulzer«, erklärte Packmas und deutete auffordernd auf den schmalen Spalt zwischen Kotflügel und Fahrersitz. »Setzen Sie sich ruhig rauf. Ich fahr auf der Ackerschiene mit.«

»Ihnen gehört dieses Waldstück?«, fragte Lene den Mann am Steuer, erklomm das Plateau der Kabine und quetschte sich zum über dem Reifen liegenden Sitz hindurch. Ohne große Begeisterung beäugte sie die schmutzige Decke, die das Sitzpolster ersetzte.

»Nein.« Mulzer wandte sich um und beobachtete Packmas, der etwas ungelenk auf die Querstrebe am Heck des Traktors stieg. Dann startete er den Motor. »Das nebendran. Aber ich kümmer mich hier auch ein bisschen, sonst wuchert ja alles zu.« Er machte eine wegwerfende Bewegung, als hielte er dennoch alle Mühe für vergebens. »Das werden Sie jetzt gleich sehen, wenn wir zur Jagdhütte fahren.«

Der Traktor setzte sich rumpelnd in Bewegung, einen schmalen, von Wurzeln und Steinen durchzogenen Weg entlang, bis nur noch Grün, Braun und das Tuckern von Mulzers Gefährt sie einhüllten. Lene sah sich um. Wenn das der halbwegs gepflegte Zustand eines Waldstücks war, wollte sie den verwilderten gar nicht erst kennenlernen.

Zu gern hätte sie die Zeit genutzt, um ein paar weitere Details aus dem maulfaulen Kollegen herauszupressen, aber das wilde Holpern auf diesem Höllengefährt hielt sie davon ab. Ihre Zähne brauchte sie schließlich noch. Sie klammerte sich an der stählernen Seitenlehne fest und hoffte auf ein baldiges Ende der unkomfortablen Spritztour.

Endlich kam der Traktor mitten im Dickicht zum Stehen. »Hier kommen wir nicht mehr weiter«, sagte Mulzer.

»Ein Stückerl müssen wir noch laufen«, fügte Packmas hinzu und schwang sich erstaunlich behände von der Ackerschiene.

Lene quetschte sich erleichtert an Herrn Mulzer vorbei, stieg ab und folgte Packmas auf einem Weg, der nur mit viel Phantasie als Trampelpfad durchging. Immer wieder blieb sie an den ungebremst wuchernden Sträuchern zu beiden Seiten hängen; ein Glück, dass die ausgebeulte Jeans, in die sie heute Morgen geschlüpft war, ihre besten Zeiten längst hinter sich hatte.

Lene sah nach oben, in das Gewirr aus Stämmen, Ästen und Blättern, das kein Stückchen Himmel freigab. Die Stille, die jetzt allumfassend schien, wirkte nach dem lautstarken Dröhnen des Traktors beinahe unwirklich.

Sie stolperte über eine aus dem Boden ragende Wurzel, balancierte sich wieder aus, kämpfte sich durch zwei mannshohe Sträucher hindurch und atmete erleichtert auf, als eine kleine Lichtung mit besagter Hütte vor Kollege Packmas auftauchte. Wobei die Bezeichnung Hütte untertrieben schien. Das Gebäude war zwar nicht groß, aber solide gebaut. Lene hatte einen Verschlag erwartet, das hier sah eher nach einem Einfamilienhaus in Miniatur aus. Die rohen Ziegel wirkten nur wenig verwittert, das Glasfenster war verdreckt und blind, aber intakt, und auch die Holztür hing noch stabil in den Angeln.

Auf einer mit Unkraut und flachen Sträuchern überwucherten Freifläche von rund zehn Quadratmetern standen direkt neben dem Häuschen zwei weitere Beamte sowie ein Pärchen, beide um die dreißig, von Kopf bis Fuß in Outdoor-Kleidung gehüllt.

»Da«, sagte Packmas überflüssigerweise und deutete auf das Haus. Dann wandte er sich an die beiden Wanderer. »Das ist, wie angekündigt, die Kollegin aus der Stadt«, erklärte er überdeutlich, als würde er mit frisch immigrierten Kleinkindern sprechen. »Sie wird sich um alles Weitere kümmern.«

Lene konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie stellte sich vor. »Sie beide haben die Knochen gefunden?«

Die sportliche Blondine mit langem Pferdeschwanz unter dem Jack-Wolfskin-Cap nickte. »Wir machen jedes Jahr hier Urlaub. Wir lieben das bayerische Essen.«

»Und die großen Portionen«, fügte ihr Mann hinzu.

»Aber tagsüber wandern wir am liebsten durch den Wald, erforschen entlegene Ecken und genießen die Stille.«

Die Geschmäcker waren nun einmal verschieden. »Und heute haben Sie beim Erforschen die Hütte entdeckt?«

»Da waren wir natürlich neugierig«, sagte die Blondine. »Die Tür ließ sich ganz leicht öffnen, also sind wir reingegangen. Aber dass wir so etwas entdecken–«

»Haben Sie in der Hütte etwas angefasst oder gar verändert?«, fragte Lene. Hobbyforscher waren schließlich zu allem fähig.

Eifrig schüttelte die Frau den Kopf.

Lene wandte sich an Packmas. »Gut, dann nehmen Sie doch bitte die Personalien, den momentanen Aufenthaltsort und die Aussagen der Herrschaften auf, Herr–« Lene konnte sich gerade noch bremsen. »Herr Kollege. Und dann«, wandte sie sich an das Paar, »können Sie gehen. Sie stehen sich ja nun schon lange genug die Beine in den Bauch.«

»Ach, das war eigentlich ganz aufregend«, antwortete der Mann, aber Lene hatte bereits den Weg zur Holztür eingeschlagen und die Plastikhandschuhe aus ihrer Jackeninnentasche gezogen. Sie streifte sie über und zog an der Tür, die mit einem kleinen Ruck nachgab.

***

»Guten Morgen, Schatz. Gut geschlafen?«

Mit einem Nicken, gefolgt von einem herzhaften Gähnen, ließ Julia Bauernfeind sich am Frühstückstisch nieder.

»Obst?« Ihre Mutter Lydia hielt ihr den Teller mit aufgeschnittenen Äpfeln und Melonen vor die Nase, und Julia griff lächelnd zu.

An manchen Tagen beneidete sie ihre Kommilitonen um das Leben in den WGs und die Tatsache, dass sie sich vor niemandem rechtfertigen mussten. Manchmal war sie aber auch zutiefst dankbar dafür, mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch im Hotel Mama zu logieren. Sie hätte es wirklich schlimmer treffen können. »Danke. Papa ist wohl schon weg?«

Lydia schmunzelte. »Das ist eine rhetorische Frage, nehme ich an?«

Als selbstständiger Schreiner verließ Papa das Haus werktags spätestens um acht. Als selbstständige Lehramtsstudentin stand Julia werktags frühestens um neun auf.

Julia zuckte die Achseln und griff nach der »Mittelbayerischen Zeitung«, die auf dem dunkel gebeizten Esstisch lag.

Ihre Mutter stand auf, balancierte ihre Kaffeetasse, den Teller mit Besteck und die Wurstdose, die Julia ohnehin nicht brauchte, in die offene Küche und begann, lautstark klappernd den Geschirrspüler auszuräumen. »Soll ich dich eigentlich mitnehmen, Schatz?«, fragte sie. »Meine Schicht fängt um zehn an.«

Julia schüttelte den Kopf, was ihre Mutter, dem Geschirrspüler zugewandt, natürlich nicht sah. »Julia! Ich hab dich was gefragt.«

»Ich hatte gerade den Mund voll«, entgegnete Julia kauend. »Aber nein, danke, ich fahre mit dem Bus.«

»Hast du keine Vorlesungen?«

Schon war der Moment gekommen, in dem der Neid auf die Mitstudenten in ihren Wohngemeinschaften und Ein-Zimmer-Appartements wieder überwog. »Nö. Muss bloß in die Bib.«

Lydia kam aus ihrer gebeugten Haltung hoch und warf das kräftige blonde Haar zurück– die einzige äußerliche Gemeinsamkeit der beiden Frauen der Familie, ansonsten schlug Julia mit dem runden Gesicht und den braunen Augen, zum eigenen Leidwesen, eindeutig nach ihrem Vater.

»Ihr habt am Wochenende übrigens sturmfrei«, sagte Julia. »Morgen Nachmittag fahr ich wieder raus zur Oma.«

Wie üblich fiel ein Schatten über das Gesicht ihrer Mutter. »Ich verstehe dich nicht, Schatz. Da wohnst du in einer Großstadt mit allen nur vorstellbaren Annehmlichkeiten, hast eine Menge Freunde, die sicher Partys veranstalten oder in die Disco gehen, und was machst du? Fährst ständig in diese triste Einöde.«

Diese Diskussion führten sie zu Julias Leidwesen nicht zum ersten Mal. Dabei konnte sie es sich nicht erklären. Warum freute sich Mama nicht einfach, dass sie bei allem Studentenleben ihre Wurzeln nicht vergaß? Die doch eigentlich auch Mamas Wurzeln waren, schließlich stammte sie ebenfalls aus dem Bayerischen Wald. »Ich bin nun mal gern auf dem Hof«, antwortete sie. »Außerdem kann ich dort ungestört lernen. Und die Oma freut sich, wenn ich da bin.«

»Das glaube ich gern«, antwortete ihre Mutter spröde. »Würde ich ja auch.«

»Komm schon, Mamutschka«, schmeichelte Julia. »Andere Eltern wären froh, wenn ihre Kinder nicht andauernd steil gehen würden. Nächstes Wochenende bleibe ich hier, okay? Versprochen.«

Lydia kam zurück zum Esstisch und drückte ihrer Tochter einen liebevollen Kuss auf die Stirn. »Ich muss los, mein Schatz. Einen schönen Tag wünsche ich dir!«

»Ich dir auch.« Julia registrierte erleichtert, dass sich Mamas Gesichtszüge wieder entspannt hatten. »Lass dich nicht von Oberschwester Hildegard ärgern!«

Die Querelen zwischen der Pflegedienstleiterin auf Mamas Station am Regensburger Uniklinikum und grundlegend allen dort beschäftigten Krankenschwestern waren ein ständiger Quell des Ärgers.

»Ich gebe mir Mühe«, antwortete ihre Mutter leichthin und verließ mit einem kurzen Winken den Raum. Eine Minute später hörte Julia die Haustür ins Schloss fallen.

***

Der Anblick, der sich Lene bot, stimmte mit Packmas’ knapper Erklärung überein und war dennoch völlig anders als erwartet. Es war duster in der Hütte, das verdreckte Fenster ließ nicht viel Licht herein, und es dauerte einen Moment, bis Lenes Augen sich an die neuen Sichtverhältnisse gewöhnt hatten. Ein staubiger, abgestandener Geruch stieg ihr in die Nase, jedoch kein Hauch des fauligen Verwesungsodeurs, das man, einmal gerochen, nie mehr aus der Erinnerung getilgt bekam.

Das Inventar der Hütte mit ihrem Dielenboden bestand lediglich aus einem Holztisch und zwei Stühlen auf der einen sowie einer Pritsche auf der gegenüberliegenden Seite. Genau dort, auf der blanken Holzfläche der Pritsche, lagen die Knochen. Fein säuberlich arrangiert. Entsprechend der menschlichen Anatomie. Wie aufgebahrt. Und, Tatsache, der Kopf fehlte. Lene trat näher.

Selbst in diesem schlechten Licht konnte sie erkennen, dass die Knochen ungewöhnlich sauber waren. Keine einzige noch im Verwesen begriffene Faser, kein Haar klebte daran. Ein leichter Grauschleier lag auf ihnen, dennoch war gut sichtbar, dass die typische gelbbraune Färbung der Knochen fehlte. Stattdessen leuchteten sie in fast einheitlichem Weiß. War dieses Skelett überhaupt echt? Oder hatte sich hier irgendein Idiot mit einem Produkt aus dem Scherzartikelladen einen Witz erlaubt? Lene beugte sich über die Pritsche und suchte nach Unregelmäßigkeiten, die die Echtheit der Knochen bewiesen. Ein schlecht verheilter Bruch, eine Abnutzung, eine Kerbe.

Nicht nur der Schädel fehlte, fiel ihr auf, sondern auch ein paar einzelne kleine Knöchelchen an den Händen und Füßen, so wenige zwar, dass es das Gesamtbild nicht beeinträchtigte, aber doch so viele, dass es bei genauerer Betrachtung offensichtlich war. Einige Knochen schienen vertauscht worden zu sein, auch war ihre Farbe, entgegen dem ersten Eindruck, nicht ganz einheitlich. Manche Stellen hatten sich einen zartgelblichen Schimmer bewahrt. Lenes Blick blieb an der Hüfte hängen. Sie konnte es nicht an einem bestimmten Bereich festmachen, aber irgendetwas störte den Eindruck der Symmetrie, die sie von einem Scherzartikel erwartet hätte.

Sie trat näher, nahm die Knochen der linken Hand ins Visier und betrachtete sie eingehend. Dabei gab es kaum noch Zweifel: Wenn sich hier nicht jemand zum Ziel gesetzt hatte, mit unglaublichen Mitteln eine perfekte Nachbildung zu konstruieren, dann waren die Knochen echt. Und weshalb sollte sich jemand diese Mühe machen, dann aber auf die vollständige Rekonstruktion, inklusive Schädel und aller Hand- und Fußknochen, verzichten? Das machte keinen Sinn.

»Wer bist du?«, murmelte Lene in die Stille. »Und was ist mit dir passiert?«

Mit einem schnellen Rundumblick überprüfte sie, ob es im Inneren der Hütte Weiteres zu entdecken gab, spähte unter die Pritsche, den Tisch und die Stühle, entdeckte nichts als Schmutz und Staub und verließ mit einem letzten Blick auf die Leiche, denn das waren die Knochen nun für sie geworden, die Hütte.

Von den Findern war inzwischen nichts mehr zu sehen, die drei Kollegen standen aber nach wie vor herum und warteten anscheinend auf weitere Anweisungen. Die konnten sie haben. »Ich brauche Verstärkung, Herr…«, sagte Lene und zog ihr Handy aus der Brusttasche. Kein Netz. Natürlich.

Packmas und seine Kollegen grinsten sich mit einer schwer erträglichen Mischung aus Überheblichkeit und Nachsicht an. Na wartet.

»Herrgott noch mal, jetzt verraten Sie mir halt endlich Ihren Namen!«, platzte Lene genervt heraus.

Packmas schaute verwirrt. »Beham.«

Na also, geht doch. »Herr Beham, Sie begeben sich jetzt wieder in die Zivilisation und rufen mir bitte die Spurensicherung. Ein Kollege vomK1 soll auch mitkommen. Und dann klären Sie bitte noch mit der Rechtsmedizin in Erlangen ab, ob die sterblichen Überreste fotografiert und dorthin gebracht werden sollen oder ob sich das jemand vor Ort anschauen will. Danke.«

Beham nickte mit stoischer Gelassenheit und setzte sich in Bewegung.

»Und wir–«

»Ranzinger«, sagte der jüngere der beiden verbliebenen Kollegen eifrig.

»Seiler«, schloss sich der ältere an.

»Sehr erfreut. Sie erzählen mir jetzt erst mal alles, was Sie über die Hütte und dieses Waldstück wissen. Und danach sehen wir drei uns hier um.«

Zu Lenes Zufriedenheit hatte sich die Hütte mit Umgebung innerhalb weniger Stunden von einem Ort der Stille zu einem Zentrum emsiger Betriebsamkeit entwickelt. Die Kollegen von der Spusi hatten den Fundort ausführlich auf Video festgehalten und wuselten nun in ihren weißen Overalls suchend durchs Unterholz. Der Bereich war abgesperrt worden, auch wenn Lene bezweifelte, dass sich so schnell wieder jemand hierher verirrte.

Moritz Lochbihler, Lenes Kollege vomK1, trug bereits die ersten Erkenntnisse zusammen. Demnach hatte das Waldstück inklusive Hütte nach dem Tod des Vaters vor einigen Jahren ein Peter Oswald geerbt, der allerdings seit Jahrzehnten in Berlin lebte. Lene hatte dafür volles Verständnis. Nachdem der neue Eigentümer, das hatte der Unterholzchauffeur Mulzer zwischenzeitlich beigetragen, kein Interesse an seinem Hab und Gut im Bayerischen Wald hatte, hatte eben er selbst notgedrungen die inoffizielle Pacht des Gebietes übernommen, sah regelmäßig nach dem Rechten und hielt das Areal halbwegs in Schuss. Wobei er sich bei seiner Tätigkeit auf den Bereich um die Waldwege herum konzentrierte. In die tieferen Waldbereiche, also auch in die Nähe der Jagdhütte, war er selbst schon seit Jahren nicht mehr vorgedrungen.

Dass Mulzer sich für seine Dienste mit Holz aus dem oswaldschen Waldstück entlohnte, hatte er zwar erst auf Nachfrage, dann aber immerhin bereitwillig eingeräumt.

»Lene, kommst du?« Dr.Heribert Melchior vom rechtsmedizinischen Institut Erlangen-Nürnberg steckte seinen kahlen Kopf aus der geöffneten Tür der Hütte.

»Gleich, Bertl.« Mit einem schnellen Blick stellte Lene sicher, dass alle beschäftigt waren, dann folgte sie dem Ruf in die Hütte.

Bertl hatte, den Fotoapparat in der Hand, wieder vor der Pritsche Position bezogen und sah ihr mit einem freudigen Lächeln entgegen. »Hochinteressant, Lene. Da hast du mir jetzt aber wahrlich den Tag versüßt.«

»Bei anderen Leuten schafft man das mit Donuts. Kannst du mir schon Genaueres sagen?«

»Allerdings«, antwortete er und legte den Fotoapparat auf seinem Arbeitskoffer ab. »Das Becken und die augenscheinlich geringe Körpergröße lassen keinen Zweifel daran, dass wir hier eine Frau vor uns haben.«

»Welchen Alters?«

Bertl neigte abwägend den Kopf. »Leider fehlt der Schädel mit den Zähnen, was die Bestimmung des Sterbealters natürlich erschwert. Allerdings sieht man hier«, sagte er und deutete wild auf einzelne Knochen, »dass die Fugen bereits verknöchert sind, die Frau war also erwachsen. Hier an der Hüfte haben wir einen Abrieb, den muss ich mir aber noch genauer anschauen.«

»Eine Verschleißerscheinung?«

»Möglich«, antwortete er und kratzte sich am Kopf. »Könnte aber auch bei der Präparation passiert sein. Was natürlich das Ungewöhnlichste an der ganzen Sache ist.«

Und Lenes Beobachtungen bezüglich Zustand und Farbe bestätigte. »Diese Knochen wurden also bearbeitet? Wie?«

»Sämtliches Weichgewebe wurde vollständig entfernt, vielleicht durch Auskochen oder sogar mit Hilfe chemischer Zusätze. Und im Anschluss muss noch ein Bleichvorgang durchgeführt worden sein.«

»Was die ungewöhnlich helle Farbe erklärt«, schloss Lene. »Ein Profi?«

»Das wage ich zu bezweifeln«, erwiderte Bertl ein wenig verächtlich. »Die Knochen sind nicht einheitlich weiß, das hätte man besser machen können. Und außerdem ist das Skelett nicht nur unvollständig…« Er blickte sinnierend auf die Knochen.

»Du brauchst die Spannung nicht zu erhöhen, ich bin auch so schon neugierig«, sagte Lene.

»Die Anordnung der Knochen stimmt nicht. Abgesehen davon, dass der obere Teil der Halswirbelsäule und einige kleine Knöchelchen fehlen, sind auch ein paar vertauscht worden, zum Beispiel hier bei den Mittelhandknochen oder hier am Fuß oder sogar bei den Wirbeln.« Bertl lächelte trotz falscher Anordnung liebevoll auf die Knochen hinab. »Es war also ein Pfuscher am Werk, der die Knochen nicht ordentlich vorsortiert hat. Aber für einen Laien ist das Ergebnis trotzdem ganz ansehnlich, er hat sich also wahrscheinlich Mühe gegeben.«

»Wie lange liegt sie hier schon, was meinst du?«

»Das ist schwer zu sagen. Eine gründliche Reinigung und das Bleichen erhöhen die ohnehin schon lange Lebensdauer von Knochen noch einmal.« Bertl sah sich in der Hütte um. »Und sie sind hier vor Tieren und Verwitterung geschützt gewesen.«

»Anscheinend ist die Hütte schon vor Jahren mehr oder weniger in Vergessenheit geraten.« Schade eigentlich. Lene fehlte zwar der Vergleich, für eine Waldhütte erschien ihr diese hier aber außerordentlich komfortabel. »Der Eigentümer des Waldstücks interessiert sich überhaupt nicht dafür, der Nachbar hält wohl nur die Wege befahrbar, und das wirre Dickicht um die Hütte zeugt davon, dass sich hier schon ewig niemand mehr hergewagt hat. Sagt wenigstens der Kollege Beham.«

»Ja, kann durchaus sein, dass sie schon jahrelang auf dieser Pritsche liegt«, stimmte Bertl den bisherigen Erkenntnissen zu.

»Dann braucht es also zwei Nordlichter mit Forscherdrang, damit wir unsere heimischen Leichen finden.« Lene schickte ein schiefes Grinsen hinterher. »Was kannst du mir noch sagen, Bertl?«

»Die leichte Verschmutzung, also den Grauschleier, kann ich mir noch nicht ganz erklären, das ist nämlich nicht nur loser Staub. Deutet aber auf jeden Fall darauf hin, dass die Präparation schon eine ganze Weile zurückliegt.«

»Kannst du etwas zur Todesursache sagen?«, fragte Lene wider besseres Wissen. Damit hätte selbst Bertl nicht so lange hinterm Berg gehalten.

»Bisher nicht. Alles, was hier liegt, sieht auf den ersten Blick unversehrt aus.«

»Ein eingeschlagener Schädel wäre aber natürlich ein guter Grund, ihn verschwinden zu lassen«, fügte Lene leise hinzu.

»Das Gleiche gilt für frakturierte Halswirbel.« Bertl griff nach dem Henkel seines Koffers. »Ich bin dann durch, den Rest mache ich im Institut. Von mir aus kann die Spusi wieder rein.«

»Soll nicht lieber ich fahren?«, fragte Moritz und unterbrach damit Lenes Schimpftiraden über die lausigen Straßenverhältnisse.

»Nix da. Gib mir bitte die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach.« Fehlte noch, dass dieser sich selbst überschätzende Jungspund den Wagen in den Graben setzte und sie beide diese Nacht in der Pampa campieren mussten. Warum konnte eigentlich nicht endlich das Beamen erfunden werden?

Der Gedanke an ein Glas guten Weißweins, genossen auf dem hoch gelegenen Balkon ihrer Regensburger Altstadtwohnung, den Blick abwechselnd in den Sternenhimmel und auf den Hinterhof gerichtet, während Marek sich hin und wieder eine Streicheleinheit bei ihr abholte und ansonsten drinnen über die Parkettböden strich, erfüllte Lene mit Sehnsucht. Stattdessen bekam sie das Kontrastprogramm serviert: eine endlos erscheinende Fahrt durch die Prärie, dazu noch der Umweg über die Dienststelle, wo Moritz’ Wagen stand, die anschließende Fahrt in die Altstadt, die um diese Uhrzeit langwierige Suche nach einem halbwegs akzeptablen Bewohnerparkplatz möglichst nah an der Glockengasse, sodass ihr, endlich in ihrer Wohnung angekommen, nichts mehr bliebe als ein schneller Sprung unter die Dusche und das Auffüllen von Mareks Fressnapf, bevor sie ins Bett fiele, um am nächsten Tag wieder fit für die anstehende Reise in die Wildnis zu sein.

Moritz kramte das Brillenetui umständlich unter der Tüte Katzenleckerlis hervor, die Lene am Morgen noch schnell besorgt hatte. Hoffentlich trug der eigensinnige Marek seinem Frauchen die lange Abwesenheit– von Frauchen und Leckerlis– nicht nach.

Erleichtert setzte Lene gegen die erst in den Abendstunden in Erscheinung getretene, dafür aber umso stechendere tief stehende Sonne ihre Sonnenbrille auf. Liebend gern wäre sie allein zurück nach Regensburg gefahren und hätte die Erkenntnisse des Tages in Ruhe Revue passieren lassen. Ob es sich negativ auf den Teamgeist auswirkte, wenn sie in voller Lautstärke James Hetfield aus den Boxen röhren ließe?

»Seltsam ist das schon, oder?«, ließ Moritz sich vernehmen.

Zu spät. Na gut, dann eben gemeinsames Brainstorming. »Die meisten Todesfälle, die auf unserem Schreibtisch landen, sind seltsam. Aber du hast recht, dieser hier ist schon besonders kurios.«

»Was, glaubst du, ist passiert?«

Lene warf Moritz ein nachsichtiges Lächeln zu. Er preschte eilig voran, wie immer zu Beginn neuer Ermittlungen. Dafür fehlte ihm nach den ersten schnellen Erkenntnissen aber auch regelmäßig der lange Atem. »Ich denke, wir müssen zwei Dinge unterscheiden. Was der Frau geschehen ist, bevor ihre Knochen präpariert wurden, können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal grob abschätzen. Ein natürlicher Tod mit anschließender Grabschändung, Mord, Selbstmord… Nichts ist unmöglich.«

»Toyota.«

»Danke für diesen hilfreichen Beitrag.«

Die Spurensicherung hatte bisher zu Lenes Bedauern nichts gefunden, was den Fundort als Tatort auswies– keine Blutspuren, keine Chemikalien, keine Fußabdrücke, keine weiteren verstreuten Knochen, Reste von Kleidungsstücken oder sonstigen Spuren. Somit blieben zunächst einzig und allein die Knochen, die eine Geschichte erzählten, die es zu verstehen galt.

»Deshalb lautet die Frage, die wir uns momentan stellen müssen«, fuhr Lene fort und warf den düsteren Baumriesen, die sie umzingelten, einen feindseligen Blick zu, »weshalb tut das jemand? Weshalb reinigt und präpariert man die Knochen einer verstorbenen Frau und drapiert sie an diesem Ort?«

»Vielleicht, weil man krank in der Birne ist?« Moritz kratzte sich unter dem dichten braunen Lockenschopf.

»Durchaus möglich. Aber auch Menschen mit kranken Birnen handeln nach einer ihnen eigenen Logik.«

»Es könnte um Aufmerksamkeit gehen«, sagte Moritz. »Um das Inszenieren eines spektakulären Fundes?«

»Du hast den Mörder der Frau im Kopf, der über sich selbst in der Zeitung lesen will, richtig?« Lene winkte ab. Einerseits arbeitete sie gern mit jüngeren Kollegen, männlichen wie weiblichen, weil diese meist kooperativer agierten und frische Ideen einbrachten. Andererseits galt aber gerade bei den Kollegen unter dreißig leider viel zu oft das Motto: erst reden, dann denken.

Moritz nickte wie ertappt.

»Wenn ich Aufmerksamkeit erregen will, dann lege ich das Skelett dorthin, wo es in absehbarer Zeit gefunden wird, oder?«, fragte Lene. »Darauf konnte sich der Präparator aber bei unserer abgelegenen Hütte nicht verlassen, im Gegenteil. Anscheinend wurde sie ewig nicht mehr betreten. Auch der Melchior sagt, die Knochen liegen vermutlich schon seit Jahren auf dieser Pritsche.«

»Dann hat die Hütte vielleicht eine besondere Bedeutung?«, mutmaßte Moritz. »Für denjenigen, der die Knochen arrangiert hat? Oder für die Tote?«

»Ja, das erscheint mir sinnvoll. Auch weil ich denke, dass der Verantwortliche mit der Präparation die Knochen bewahren wollte, ihnen Respekt zollen. Und sie gewissermaßen auf dieser Pritsche zur Ruhe betten.«

»Auf dem Stuhl wären sie auch kaum mehr sitzen geblieben«, wandte Moritz ein.

Lene lachte, brach aber ab, als sie Moritz’ erstaunten Seitenblick auf sich ruhen spürte.

»Guck mal, hier geht’s nach ›Noth‹«, sagte er und deutete auf den so beschilderten Abzweig. »Klingt auch nicht gerade wohnlich.«

»Wäre dir ›Elend‹ oder ›Jammer‹ lieber?«, fragte Lene. »Liegt beides direkt nebendran.« Sie warf Moritz, der sie unsicher ansah, einen schnellen Blick zu.

»Kein Witz, stimmt wirklich. Also, nachdem unser Präparator die Hütte kennt, muss er ortskundig sein«, fuhr sie geschäftsmäßig fort. »Und damit weiß er, dass die Hütte von niemandem mehr genutzt wird und die Tote hier wohl für lange Zeit ihren Frieden hat. Es sei denn, ein paar neugierige Norddeutsche tauchen auf.«

»Aber warum hat er die Knochen nicht einfach vergraben?«

Das war tatsächlich fraglich. »Vielleicht möchte er nicht, dass die Tote vergessen wird. Oder er kommt selbst ab und an in den Wald, um sich ihr wieder näher zu fühlen.«

»So eine Art Totenkult?« Moritz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wir sind hier im Bayerischen Wald, nicht im südamerikanischen Dschungel.«

»Wie du weißt, macht das für mich manchmal keinen großen Unterschied«, gab Lene zurück. »Außerdem ist doch alles, was mit Verstorbenen gemacht wird, eine Form von Kult. Mit Weihwasser besprenkeln, monotones Rosenkranz-Geleier, einbuddeln. Fehlt nur noch der Hahn mit durchtrennter Kehle, den man über dem Sarg ausbluten lässt.«

»Das klingt nicht gerade, als wärst du begeisterte Katholikin«, konstatierte Moritz.

»Genau genommen bin ich gar keine.« Lene zuckte die Achseln und deutete auf das nächste Marterl am Straßenrand, das sie in diesem Augenblick passierten. »Wahrscheinlich hängen mir deshalb hier auch eindeutig zu viele Gekreuzigte rum. Das ist doch nichts anderes als eine gesellschaftlich akzeptierte Sekte. Wie im Übrigen jede andere Weltreligion auch.«

»Jedes neue Puzzleteil macht das Bild interessanter«, sagte Moritz kryptisch.

Lene warf ihm einen irritierten Blick zu. »So viele Puzzleteile haben wir noch nicht.« Im Geiste sehnte sie sich nach der Autobahn, die sie endlich schnell und geradlinig zurück nach Regensburg bringen würde.

»Ich meine nicht das Skelett, sondern dich.«

Gern hätte Lene ihm vorgeschlagen, wieder zum »Sie« zurückzukehren. Stattdessen überging sie seine Aussage. »Morgen lassen wir den Wald um die Hütte herum weitflächiger absuchen. Außerdem hoffe ich sehr, dass der Melchior sich sputet. Und wir machen uns ein bisschen mit der Umgebung vertraut und durchforsten die Datenbank. Vielleicht gibt’s Vermisstenfälle in der Gegend.«

»Morgen erst?«, fragte Moritz mit unverhohlener Enttäuschung.

ZWEI

Durch das geschlossene Fenster hörte Lene die Harley auf den Parkplatz vor der Dienststelle in der Bajuwarenstraße knattern. Sie sah von ihrem Monitor auf und aus dem Fenster, als Dr.Henning Adam die Maschine aus- und abstellte, den Helm vom Kopf zog und sich durch das kurze blonde Haar wuschelte. Er stieg ab, öffnete die schwarze Lederjacke, die über seinem breiten Kreuz und den muskulösen Armen spannte, und trabte auf seinen langen Beinen Richtung Haupteingang. Was wollte der denn hier?

Moritz war Lenes Blick gefolgt. »Findest du den gut?«, fragte er ein bisschen zu betont leichthin.

Lene musterte ihn prüfend. Fehlte gerade noch, dass der Kleine ernsthaft ein Auge auf sie warf. »Für einen Staatsanwalt finde ich ihn ganz entspannt«, sagte sie. »Für mich persönlich allerdings zu jung. Ich stehe auf reifere Männer.« Damit hatte sich das Thema hoffentlich ein für alle Mal erledigt.

»Der ist doch bestimmt Mitte vierzig«, stellte Moritz fest.

»Eben«, antwortete Lene. »Ich übrigens auch.« Nur für den Fall, dass Moritz es vergessen hatte. »Kümmerst du dich jetzt bitte um die Vermisstenfälle? In einer halben Stunde fahren wir.«

»Morgen«, dröhnte der vibrierende Bass Dr.Adams an der Bürotür. »Ich wollte nur kurz mit der leitenden Ermittlerin sprechen, bevor ich nach Straubing fahre. Ihr Chef war gestern nicht besonders informativ.«

Obwohl er, soweit Lene wusste, nach wie vor in Regensburg wohnte, arbeitete Adam seit einiger Zeit bei der Zweigstelle der Staatsanwaltschaft in Straubing. Die mit Ermittlungen im Landkreis Cham eigentlich nichts zu tun hatte, denn diese fielen in den Zuständigkeitsbereich der Regensburger Staatsanwälte.

»Ist in Niederbayern nix los?«, fragte sie. »Oder warum mischen Sie jetzt hier mit?«

»Ich komme zurück nach Regensburg«, sagte er und bedachte Moritz mit einem Kopfnicken, dann wandte er sich wieder Lene zu. »Sitze praktisch schon auf gepackten Kisten. In Zukunft arbeiten wir wieder öfter zusammen. Also genau genommen ab jetzt.«

Moritz ließ ein leises, aber zweifelsfrei unwilliges Grunzen vernehmen.

»Ach«, sagte Lene leidlich interessiert.

»Hoffentlich nimmt mir die Eva das nicht übel«, fuhr Adam ungebremst fort, rieb sich über den kurzen Vollbart und fläzte sich in den Besucherstuhl.

Wer Adam seine Versetzung übel nahm, war Lene gelinde gesagt ziemlich wurscht. »Ja, hoffentlich«, murmelte sie und unterließ es notgedrungen, sich wieder ihrem Monitor zuzuwenden.

»Sie hat sich inzwischen an die täglichen Ausritte gewöhnt.«

Lene hob konsterniert die Augenbrauen. Auf welcher Straubinger Kollegin Adam sich verlustierte, wollte sie nun wirklich nicht wissen.

Mit einem verliebten Lächeln deutete er auf seine Harley vor dem Fenster.

Lene konnte sich ein amüsiertes Kopfschütteln nicht verkneifen, während Moritz Adam einen scheelen Seitenblick zuwarf, sich dann aber wieder in die Datenbank vertiefte. Gut so. Back to business. »Auch ich kann übrigens noch nicht besonders viele Informationen liefern, Herr Staatsanwalt«, sagte sie betont sachlich.

»Haben wir irgendwelche Hinweise auf Fremdverschulden?« Adam sah interessiert an Lene vorbei auf ihren Monitor.

»Was die Todesursache angeht, haben wir leider noch überhaupt keine Hinweise.« Sie reichte Adam ein Foto des Skeletts auf der Pritsche. »Aber bei blank polierten, gebleichten und anatomisch weitgehend korrekt angeordneten Menschenknochen gehe ich davon aus, dass zumindest irgendwann irgendwer unrechtmäßig seine Finger im Spiel hatte.« Und jetzt troll dich, ich habe zu arbeiten, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Angesichts dieses Fotos schließe ich mich Ihrer Schlussfolgerung an, Frau Kollegin.« Adam erhob sich mit einem Lächeln und gab Lene das Foto zurück. »Sie mailen mir Ihren Bericht und halten mich auf dem Laufenden?«

»Wie immer.« Lene hob die Hand zum Gruß, als Adam das Büro verließ und im Stechschritt zu seiner Eva eilte. Zum Glück nahm er es erfahrungsgemäß niemandem übel, wenn er im Eifer des Gefechts neue Informationen erst mit einiger Verspätung erhielt.

»Arme Sau«, tat Moritz kund, kaum dass Adam außer Hörweite war. »Muss schon bitter sein, wenn man in Ermangelung einer Frau sein Motorrad Eva nennt.«

»Das ist nicht bloß ein Motorrad. Das ist eine Harley«, sagte Lene und verschwieg wohlweislich, wie oft sie in der Vergangenheit Kater Marek ein Upgrade zum menschlichen Lebensgefährten gegönnt hatte, um sich unliebsame Bekanntschaften vom Leib zu halten. Vielleicht wäre das auch im Umgang mit Moritz, der ihr für die Dauer der aktuellen Ermittlungen fest zugeteilt worden war, eine gute Idee gewesen. Diese Chance hatte sie leider vertan. Blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als ihm so viel Arbeit aufzuhalsen, dass er gar nicht erst auf dumme Gedanken kam.

»Wie sieht’s aus, hast du was gefunden, Kleiner?«

Beflissen wandte Moritz sich wieder der Datenbank zu.

***

Viel zu schnell zog die Umgebung an Lene vorbei. Nur widerwillig setzte sie den Blinker, um die Autobahn wie schon am Vortag bei Wörth an der Donau zu verlassen.

»Wir sollten uns vorbereiten, solange wir noch Netz haben«, sagte Moritz, der eingepfercht zwischen ein paar Akten unterschiedlicher Größenordnung, die er bis eben noch sortiert hatte, auf dem Beifahrersitz saß. Hoch motiviert hackte er auf sein Smartphone ein.

Im Geiste stimmte Lene ihm zu, auch wenn sie befürchtete, dass ihre Vorstellung von Vorbereitung sich stark von Moritz’ unterschied.

»Es gibt hier einen Sprachtest.« Er grinste Lene von der Seite an. »Magst du? ›Waidlerisch– verstehst du den Dialekt im Bayerischen Wald?‹«

»Du meinst, im ›Woid‹«, korrigierte Lene. »Mir wäre es weitaus lieber, du würdest mir was über die dich umgebenden Akten erzählen.«

»Wenn ich fahren würde, könntest du selbst lesen«, antwortete Moritz, packte aber folgsam sein Smartphone zurück in die Hosentasche. »Soll ich’s spannend machen oder gleich mit dem Volltreffer loslegen?«

Angesichts der Tatsache, dass sie noch fast eine halbe Stunde Fahrt vor sich hatten, schien er tatsächlich tiefenentspannt zu sein. Ein bisschen zu entspannt und flapsig für Lenes Geschmack. »Was glaubst du denn?«, fragte sie spröde.

»Ist ja schon gut.« Er hob abwiegelnd die Hände. »Es gibt natürlich einige offene Vermisstenfälle, vor allem, da wir den Zeitraum nicht eingrenzen können. Da könnte der eine oder andere durchaus passen, wobei allerdings keine Spur direkt in den Bayerischen Wald führt.« Mit Begeisterung klopfte er auf die oberste Akte, ein altertümliches Exemplar der äußerst umfangreichen Sorte. »Außer in diesem Fall. Theresa Bauernfeind ist vor neunundzwanzig Jahren spurlos verschwunden. Und jetzt halt dich fest: Der Einödhof, auf dem sie gelebt hat, liegt nur ein paar hundert Meter Luftlinie von der Hütte entfernt.«

Der Pkw vor Lene scherte trotz fehlender Sicht aus, um den enervierend langsamen Lastwagen zu überholen, der in kürzester Zeit eine ellenlange Kolonne hinter sich verursacht hatte. »Penner«, fluchte Lene.

»Wie bitte?«

»Nicht du. Also weiter, Theresa Bauernfeind.«

»Genau.« Moritz beäugte skeptisch den Lkw, dessen wackelige Rückansicht sich nun direkt vor ihnen auftat, wandte sich dann aber wieder der Akte zu. »Sie war damals zweiundzwanzig, der Hof gehörte ihren Eltern. Dort ist sie auch zum letzten Mal gesehen worden.«

»Haben die damals das Waldstück abgesucht?«

Moritz blätterte in der Akte. »Ja, schon. Aber wer weiß, wie gründlich sich die Ermittler durch das Dickicht geschlagen haben.«

»Wird die Hütte erwähnt?«

Hektisch blätterte Moritz weiter. »Ja, hier.« Er tippte auf das Foto, das die aufgeschlagene Seite zierte. »Wurde in den Tagen nach Theresas Verschwinden gesichtet, damals war noch nicht alles so zugewuchert.«

»Die haben reingeguckt, festgestellt, dass die Hütte leer ist, und die Tür wieder zugemacht?«

»Sieht so aus. Kein Fund, keine erkennungsdienstliche Behandlung.« Er vertiefte sich weiter in den Bericht über die erfolgte Suche im Wald.

»Lass gut sein, das hat Zeit bis später«, winkte Lene ab.

Verdammt, warum musste ausgerechnet auf dem ersten halbwegs gut einsehbaren Streckenabschnitt ein Auto entgegenkommen? Und konnte dieser trottelige Lkw-Fahrer nicht endlich rechts ranfahren, um die Kolonne gnädigerweise überholen zu lassen? Nur rücksichtslose Idioten auf Deutschlands Straßen, wie üblich. »Erzähl mir lieber, was damals passiert ist.«

Moritz blätterte zurück zum Beginn der Akte und widmete sich der Personenbeschreibung. Lene warf einen Blick hinüber zu dem vergilbten Foto, das eine junge Frau mit langem dunklen Zopf und kindlich rundem Gesicht zeigte.

»Theresa Bauernfeind, genannt Resa, war eins fünfundsechzig groß, mollig, hatte braune Haare, braune Augen und trug zum Zeitpunkt ihres Verschwindens ein Goldkettchen mit Kreuzanhänger um den Hals, außerdem einen geblümten Rock, eine rote Bluse und rote Sandalen.«

»Falls sie noch lebt, hat sie sich zwischenzeitlich bestimmt umgezogen«, merkte Lene an.

Moritz lachte. Dabei wäre es Lene lieber gewesen, er hätte die versteckte Aufforderung kapiert, unwichtige Informationen direkt unter den Tisch fallen zu lassen.

Endlich ergab sich eine Gelegenheit, an dem Lastwagen vorbeizuziehen. Halleluja. Sie hatte schon nicht mehr darauf zu hoffen gewagt.

»Theresa sprach bayerischen Dialekt«, fuhr Moritz fort, »und… ach, das ist interessant.« Er sah auf. »Laut den Aufzeichnungen hier war sie geistig zurückgeblieben und hatte eine spastische Lähmung des linken Beins.«

Lene erinnerte sich an Bertls ungewöhnlich unentschlossene Bemerkung über den Abrieb an der Hüfte. »Ruf bitte schnell den Melchior an«, wies sie Moritz an, »und erzähl ihm davon. Dann kannst du ihn auch gleich fragen, ob er schon neue Erkenntnisse hat.«

Nur am Rande hörte Lene mit, wie Moritz pflichtschuldig mit dem Rechtsmediziner telefonierte. Stattdessen starrte sie auf die Straße und dachte wieder einmal darüber nach, wie hilf- und ratlos auch die vermeintlich allmächtige Polizei oft genug war. Sollte sich das Skelett als die sterblichen Überreste von Theresa Bauernfeind erweisen, und Lene hielt das nach den ersten Informationen für gut möglich, dann hatte man sie jahrelang gesucht und doch nicht gefunden, während jemand munter mit den Knochen sein Unwesen getrieben und sie schließlich sogar weniger als einen Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt aufgebahrt hatte. Dieser Vermisstenfall war längst ein sogenannter Cold Case, der zwar immer mal wieder nach neuen Anhaltspunkten durchforstet wurde, aber eine Suchaktion im großen Stil fand natürlich Jahre später nicht mehr statt.

Wenn diese Knochen also einst zu Theresa Bauernfeind gehört hatten, wo waren sie in der Zwischenzeit gewesen? Was hatte sich nach ihrem Verschwinden zugetragen, wo hatte sie sich aufgehalten? Und wer hatte sie in diese Hütte gebracht, die, da war Lene sich nunmehr sicher, nicht zufällig ausgewählt worden war?

»Also«, sagte Moritz und verstaute sein Handy in der Brusttasche seines Hemdes. Erst jetzt bemerkte Lene, dass er das Telefonat mit dem Rechtsmediziner beendet hatte.

»Der Melchior war ganz aus dem Häuschen, als ich ihm von Theresas Behinderung erzählt habe, denn das erklärt sowohl die starke Skoliose, die er zwischenzeitlich festgestellt hat, als auch die für ein verhältnismäßig junges Erwachsenenskelett ungewöhnliche Abnutzungserscheinung an der Hüfte. Er hat das Alter der Frau zum Sterbezeitpunkt nämlich auf ihre frühen Zwanziger festgesetzt.«

»Das passt perfekt«, stellte Lene fest.

»Du sagst es.« Moritz lehnte sich zurück und ließ seinen Blick schweifen. Obwohl es dort draußen eindeutig nichts Spannendes zu sehen gab. »Ansonsten müssen wir uns aber noch gedulden, bis das Labor konkrete Hinweise liefert«, fuhr er fort. »Er hofft, dass sich aus den Knochen brauchbare DNS gewinnen lässt.«

Lene nickte zufrieden. Wenn Bertl hoffte, dann selten vergebens.

»Außerdem arbeitet er gerade an einer Aufstellung der fehlenden Knochen, die schickt er dir später.«

»Eines ist klar.« Sie seufzte angesichts der neuerlichen Autokolonne, deren Ende sich nach einer lang gezogenen Kurve vor ihr auftat. »Wir müssen den kompletten Wald noch einmal absuchen. Wir brauchen den Schädel, die Halswirbel, alte Kleidungsstücke, eben irgendwelche Hinweise darauf, was damals passiert sein könnte. Mit wem hat Theresa Bauernfeind auf diesem Einödhof gelebt?«

Wieder vertiefte Moritz sich in die Akte. »Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens waren dort außer ihr noch drei Personen gemeldet: Sabina Bauernfeind, die Mutter, Johann Bauernfeind, der Vater, und Johann Bauernfeind…« Moritz stutzte. »Theresas älterer Bruder. Also Johann senior und Johann junior.«

»Und was ist am Tag ihres Verschwindens passiert?«

»Da fand eine Art Familientreffen auf dem Hof statt.« Moritz’ Blick huschte fieberhaft über den Bericht. »Zumindest hielt sich die ganze Sippschaft an diesem Sonntag im August auf dem Hof auf. Zusätzlich zu den Bewohnern waren das Konrad Bauernfeind, ein weiterer Bruder Theresas, der seit drei Wochen in der Heimat weilte, eigentlich aber schon vier Jahre lang in Australien lebte, sowie Wolfgang Bauernfeind, Theresas großer Bruder Nummer drei, mit seiner Freundin Lydia Hofmeister.« Er las weiter, die Stirn grüblerisch in Falten gezogen.

»Es waren also alle vier Kinder auf dem Hof der Eltern versammelt. Nach dem gemeinsamen Mittagessen um halb zwölf hat Johann Bauernfeind junior seinen Bruder Konrad nach Cham gefahren, der ist dann von dort aus weiter mit der Bahn zum Münchner Flughafen und hat die Heimreise nach Australien angetreten. Nach Johanns Rückkehr gab es noch für alle Kaffee und Kuchen, im Anschluss, es war wohl ein sonniger, warmer Tag, hat sich die Gesellschaft zerstreut. Theresa hat ihre Mutter informiert, dass sie spazieren gehen will. Danach wurde sie nicht mehr gesehen.« Moritz schluckte. »Nie mehr.«

Lene warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Was haben die anderen Familienmitglieder nach dem Kaffeekränzchen gemacht?«

»Sabina Bauernfeind saß auf der Bank vor dem Haus und hat Socken gestopft, bis es Zeit war, die abendliche Brotzeit herzurichten, und die ganze Mischpoke– außer Theresa natürlich– wieder eingetrudelt ist. Johann senior war in der Werkstatt, Johann junior hat sich mit Agnes Treml, seiner damaligen Flamme aus Schorndorf, getroffen. Konrad war auf dem Weg zurück nach Australien, Wolfgang und seine Freundin Lydia waren ebenfalls spazieren, aber natürlich nicht mit Theresa zusammen.«

»Also hat ihre Mutter sie zuletzt gesehen?«

»Zumindest steht das hier.«

»Wann wurde ihr Verschwinden gemeldet?«, fragte Lene weiter.

»Am Montag. Darüber, dass Theresa nicht zum Abendessen erschienen ist, hat sich noch niemand gewundert.« Angestrengt überflog Moritz die Zeilen. »Alle Familienmitglieder beschreiben sie als naiv und verträumt, und dass sie auf ihren Spaziergängen die Zeit vergessen hat, kam anscheinend öfter vor. Als sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit aber immer noch nicht zurück war, haben die zwei Johanns angefangen, nach ihr zu suchen. Am nächsten Tag sind die Eltern dann zur Polizei gegangen.« Moritz blätterte weiter.

»Man hat sich im Zuge der Suche wegen der Nähe zur Grenze auch an die tschechischen Kollegen gewandt, aber das ist natürlich wie damals üblich im Papierkrieg versandet. Als dann Jahre später die Zusammenarbeit besser war, hat man den Fall mit den Tschechen zusammen nochmals aufgerollt. Kam aber auch nichts bei rum.«

Lene winkte ab. Tschechien interessierte sie im Moment nicht die Bohne. »Wenn sie regelmäßig allein durch die Wildnis spaziert ist, kann ihre Behinderung nicht besonders stark ausgeprägt gewesen sein, oder?«

Moritz blätterte zurück und konzentrierte sich auf die Aussage der Mutter, wie Lene mit einem Blick auf die aufgeschlagene Seite feststellte. »Es kam bei der Geburt wohl zu einem Sauerstoffmangel, aber die Auswirkungen scheinen nicht allzu schlimm gewesen zu sein. Eben die leichte Spastik im linken Bein, und außerdem hatte sie Probleme mit dem Lernen, konnte auch erst spät sprechen und so weiter. Ansonsten betont ihre Mutter nur, dass sie sehr naiv und gutgläubig war.«

»Und damit ein leichtes Opfer«, schloss Lene. »Wurde Resas DNS sichergestellt?«

Resa war ein paar Jahre zu früh verschwunden, als dass die Sicherstellung des genetischen Fingerabdrucks standardmäßig zum technischen Repertoire gehört hätte. Bei den meisten ungeklärten Fällen war dies zwar zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden, aber beileibe nicht bei allen.

Endlich kam der Markt Falkenstein mit der hoch über dem Ort thronenden gleichnamigen Burg in Sicht, und wie üblich entspannte Lene sich ein wenig, sobald ihre Umgebung von dichterer Besiedelung zeugte.

»Hier in der alten Akte steht nix von DNS«, antwortete Moritz nach einigem Suchen. »Aber nachdem man mit den Tschechen nochmals an dem Fall gearbeitet hat, denke ich schon. Soll ich in der Dienststelle anrufen?«

»Nicht nötig«, antwortete Lene. »Wir haben damit einen guten Vorwand, die Angehörigen der Vermissten aufzusuchen. Wohnen sie noch auf dem Hof?«

Moritz zuckte die Achseln.

»Dann schauen wir doch mal nach.« Lene lächelte zufrieden. So früh schon auf die mutmaßliche Identität der Toten zu stoßen war angesichts der kargen Faktenlage ein großes Geschenk. »Wo müssen wir hin?«

Moritz kniff seine Augen hinter der Brille zusammen und sah in die Akte. »Öd.«

»Ich finde das alles sogar ziemlich spannend.« Warum hörte der Kleine eigentlich nicht zu? »Also wo genau müssen wir jetzt hin?«

»Nach Öd«, sagte Moritz. »Das ist der Name des Einödhofs.«

»Wie passend.« Lene dachte an das weitgehend menschenleere Umland Schorndorfs. »Gehört das dann zur Gemeinde ›Fad‹?«

»Bestimmt«, antwortete Moritz trocken. »Und die liegt im Landkreis ›Dreckslangweilig‹.«

»Ich sehe, du verstehst das Prinzip.«

***

Mit schweren Schritten schlurfte Josefa Schnabel an den Sachen vorbei, die im sommers wie winters kühlen Flur an den Wänden lagerten. Die alte Tischlampe, die auf der Kommode mit der zerbrochenen Keramikschüssel stand, musste endlich repariert werden. Ob eine der Glühbirnen, die sie im Wohnzimmer aufbewahrte, passte? Später würde sie nachsehen, wenn sie es nicht vergaß. Wo hatte sie die Glühbirnen überhaupt zuletzt gesehen? Stand die Kiste auf dem Fensterbrett? Oder hinter der Couch? Egal, dann würde sie eben suchen. Das lief ihr nicht davon. Und zuvor musste sie ohnehin zu ihrem Briefkasten.

Sie richtete den Blick zu Boden, darauf bedacht, die Ameisen nicht zu zertreten, die sich wie jedes Jahr in der warmen Zeit ihren Weg nach drinnen bahnten. Solange sie nur an Essbarem knabberten und nicht an Josefa selbst, fühlte sie sich von ihrer Gesellschaft nicht gestört. Manchmal beobachtete sie die Tiere sogar eine Weile beim emsigen Organisieren von Leckereien, denn das lenkte Josefa von den Gelenkschmerzen ab, die auch bei sommerlichen Temperaturen kaum nachließen. Sie waren ganz plötzlich aufgetreten, damals, nachdem…

Josefa schüttelte unwillig den Kopf. Schlimmer war ohnehin der Juckreiz. Die rote, schuppige Haut am Körper bearbeitete sie so lange mit der alten Schuhbürste, bis sie blutete und das Jucken endlich nachließ. Zum Glück hatte sie die Bürste nicht weggeworfen, sie erwies ihr oft genug gute Dienste.

Am Ende des Flurs fiel ihr Blick auf die braune Mülltüte, die auf dem Stapel alter Gemüsekisten lag. Was hatte sie darin gleich wieder verstaut? Sie streckte sich, um an die Tüte zu gelangen, und sah neugierig hinein. Ach ja, die Kirschkerne. Die wollte sie eigentlich schon im Frühjahr in den Garten einbuddeln, aber bisher war sie noch nicht dazu gekommen. Ein paar leere Cremetuben. Die würde sie mitnehmen, wenn sie das nächste Mal zum Wertstoffhof ging. Zwei zerbrochene Gläser, an einem klebte noch ein Rest Marmelade. Josefa fuhr mit dem Finger am Glas entlang und leckte ihn ab. Noch gut. Weshalb hatte sie das Glas dann in die Tüte gepackt?

Verwundert stellte Josefa die Tüte zurück auf die oberste Kiste, drehte dann den Schlüssel im Schloss der Haustür und öffnete sie langsam.

Das grelle Sonnenlicht stach in ihren Augen, es dauerte einen Moment, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Sie sah die Straße entlang, an deren Ende sie wohnte. Leer. Keine tobenden Kinder, kein Gassi gehendes Herrchen mit Hund, kein einziges Auto, und auch von Anna, dem Nachbarsmädchen, war nichts zu sehen. Wahrscheinlich besuchte sie eine Freundin. Bei diesem Gedanken zuckte Josefa ein wenig zusammen. Mit dem langen Daumennagel der linken Hand kratzte sie fest über die schuppende Stelle an ihrem rechten Handgelenk, der Juckreiz ließ nach.

Josefa beugte sich vor, ohne vor die Haustür zu treten, hob den Deckel ihres Briefkastens an und spähte hinein. Nichts. Schade.

Wie immer zu Beginn des neuen Monats hatte sie sich schon beim Aufstehen auf ihre Post gefreut. Dann würde der Brief halt morgen kommen, beruhigte sie sich. Ja, sicher morgen. Der Absender hatte sich schließlich bisher als sehr zuverlässig erwiesen.

Josefa zog die Tür zu, schloss ab und seufzte erleichtert. Es tat den Augen gut, das grelle Sonnenlicht auszusperren.

»Dann eben morgen«, nuschelte sie, als sie langsam zurück in die Küche ging. »Hast du gehört?« Sie griff nach dem schmutzigen Stoffbären, den sie bei ihrem letzten Spaziergang zum Wertstoffhof vor dem überfüllten Altkleidercontainer gefunden hatte, und streichelte vorsichtig über das zerfledderte Ohr. »Dann eben morgen.«

***

Die Sonne kämpfte sich durch das Wolkendickicht, als Lene, dem mickrigen Schild mit der Aufschrift »Öd« folgend, auf eine einspurige, schlecht geteerte Straße einbog. Zumindest war klar, weshalb sich der Briefkasten direkt an der Abzweigung befand. Die Fahrt auf dieser Straße konnte man im tiefsten Winter keinem noch so pflichtbewussten Briefträger zumuten. Und wenn ihr jetzt jemand entgegenkam, würde sie mit dem Dienstwagen durch die Wiese ackern müssen.

Wenige Meter hinter der Kurve kam am Fuß eines bewaldeten Hügels ein Haus in Sicht, mit niedrigem Dach, einer Bank neben der hölzernen Eingangstür, schlecht gepflegten Büschen und Blumenrabatten sowie einer angebauten windschiefen Scheune aus verwittertem Holz. Neben der Scheune parkte ein Traktor, der ebenfalls seine besten Tage hinter sich hatte. Auch der Hochsitz direkt am Waldrand sah nicht so aus, als könne man ihn noch ohne akute Lebensgefahr erklimmen.

»Idyllisch«, murmelte Lene, stellte den Wagen in der geschotterten Einfahrt ab und zog beim Aussteigen die Lederjacke aus. Sobald sich die Sonne blicken ließ, stellten sich sommerliche Temperaturen ein. Sie schob die Ärmel ihres T-Shirts hoch bis zu den Schultern und fing Moritz’ neugierigen Blick auf ihre Oberarme auf. Herrgott noch mal. Mit einer schnellen Bewegung schob sie die Ärmel wieder nach unten.

»Wollen wir denen sagen, dass wir glauben, Theresa gefunden zu haben?«, fragte Moritz besorgt.

Lene konnte seine Bedenken verstehen. Fast dreißig Jahre nach dem Verschwinden einer Angehörigen die Familie wieder in Aufruhr zu versetzen, das kostete auch sie einige Überwindung. Andererseits hielt sie es für wahrscheinlich genug, Theresa gefunden zu haben, um ein derartiges Vorgehen zu riskieren.

»Nach so langer Zeit dürfte die Hoffnung, Theresa noch lebend zu finden, auch bei der Familie gegen null gehen«, antwortete sie. »Aber es wird in ihrem Interesse liegen, endlich damit abschließen zu können, oder?«

Moritz nickte, wenn auch mit einem leisen Zweifel im Blick. Angesichts der ihm eigenen Oberflächlichkeit war ein solcher Moment, in dem sich seine Empathie zu Wort meldete, durchaus erstaunlich.