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Obwohl Hauptmann diesen Roman in einer Rekordzeit von nur zwei Monaten schrieb, entstand ein meisterhaftes Werk, das von Aufstieg und Fall eines Künstlers sowie den zwei Seiten der Liebe handelt.Der Bildhauer Paul Haake verliebt sich in die 16-jährige Bettlerin Wanda und beschließt sie zu heiraten. Doch Wanda ist rastlos und lässt sich nur ungern festhalten. Sie kehrt Paul den Rücken, um mit einem Wanderzirkus mitzuziehen. Der Bildhauer jedoch ist fest entschlossen, für seine Liebe zu kämpfen und reist ihr hinterher - mit tragischen Folgen.-
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Seitenzahl: 298
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Gerhart Hauptmann
Roman
Saga
Wanda
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1928, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726956573
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Paul Haake war bei dem schlesischen Bildhauer Toberentz angestellt und hatte, als der Meister starb, dessen von der Stadt Görlitz bestellten Monumentalbrunnen selbständig vollendet. Haake war achtundzwanzig Jahre alt. Aus dem Stukkateurfach hervorgegangen, fühlte er in sich den Beruf zur Kunst, besuchte Gewerbe- und Kunstschulen und hatte es schließlich so weit gebracht, daß er jetzt in Görlitz den großen Monumentalbrunnen aufstellen konnte, als dessen Vollender von der Stadt geehrt und bezahlt.
Man schrieb den achtundzwanzigsten Mai, als ein Mensch in einem der nahen Dörfchen um Görlitz auf einem Prellsteine saß und sich mit einem Bauernmädchen unterhielt, das nicht über vier Jahre zählte. Er lallte nicht. Seine Trunkenheit war in unaufhaltsame Redseligkeit ausgeartet. Er hatte durchaus nichts Furchtbares, sonst hätte ihm das kleine Mädchen, dem der Rotz aus der Nase lief, nicht so andächtig, mit dem Finger im Munde, zugehört. Er mischte Hochdeutsch mit Dialektbrocken. Sein Anzug war so, daß man glauben konnte, er habe eine lange Wanderung durch Straßenstaub und Straßenkot bei Regen und Sonnenschein, Wärme und Frost hinter sich.
»Gut, Hulda heißt du!« sagte er zu dem Kinde. »Das freut mich zu hören. Du mußt mir zugeben, Hulda, daß ich im Rechte bin! Du mußt mir unbedingt zugeben, daß ich im Rechte bin! Nein! Nein! Nein! Kein Wort weiter! Ich schweige! Ich schweige auf der Stelle, oder wir müssen darüber einig sein. Das halte fest! Das halte du eisern fest! Das laß dir von keinem Menschen ausreden, Hulda, daß ich im Rechte bin!«
Hulda sah ihren eben aus dem Munde gezogenen Finger an und führte ihn sinnend in die Nase.
»Wenn du einen Augenblick Zeit hast, Hulda, will ich dir erzählen, will ich dir haargenau und Wort für Wort erzählen, wie alles gekommen ist. Beim Grabe meiner Mutter, Hulda, verstehst du mich!« Er blitzte sie an und hob zwei Finger wie zum Eide: »Ich habe sie von der Straße aufgelesen. Sie hatte erfrorene Hände, Hulda. Sie hatte nichts an außer einem nassen Kattunröckchen, aus einer alten gestohlenen Kaffeedecke oder so was gemacht. Sie war verlaust. Jedes einzelne ihrer langen blauschwarzen Haare sah wie eine Perlenkette aus. Ein Eiergeschäft hätte ich können aufmachen, so viel Läuseeier saßen an einem einzigen Haar, an einem einzigen Haar, bei Gott, Hulda! So sah sie aus, und doch habe ich sie mit nach Hause genommen. Weißt du also nun, was sie war? Weißt du nun, was sie eigentlich und ohne jeden Zweifel nachgewiesen war, Hulda? Weißt du, daß sie eine ganz gemeine, aber auch schon ganz gemeine Schnepfe war? Schnepfe sagen wir oder Schnebbe, wenn wir den echten deutschen Ausdruck, der Hure heißt, nicht gebrauchen wollen. Aber, Hulda, bei Gott! sie war eine. Sie sah wie ein Engel Gottes aus. Du hast ja vielleicht noch keinen gesehen. Ich habe auch noch keinen gesehen. Aber ich will nicht selig werden, oder sie sah wie ein Engel Gottes aus. Ein Engel, der aus Versehen aus dem Himmel heruntergefallen ist, wie ein junger Stieglitz aus dem Nest. Ich habe die Hure ins Bett gelegt. Ich habe ihr heißen Tee, heißen Grog und so weiter eingeflößt. Gewaschen, gelaust, von oben bis unten gereinigt habe ich sie, diesen Engel Gottes, wollte ich sagen. Und dabei habe ich sie nicht berührt: nein, Hulda, zum Donnerwetter nein! und nein, Hulda! Ich habe sie nicht einmal mit einem unsauberen Blick berührt. Sie ist hernach mein Modell geworden. Dann freilich – dann freilich: ich bin kein Unmensch, Hulda! dann habe ich mir die Bezahlung geholt. Aber nicht, ohne daß ich die Bezahlung wiederbezahlt hätte. Ich habe bezahlt, bezahlt und bezahlt! Ich habe für das Luder bezahlt, Hulda, bis mir nur noch ein Buckel voll Schulden übriggeblieben ist! Ich bereue nichts. Ich bereue nichts. Der kleinste Gedanke, der mir etwas von Reue aufreden will, der fliegt in den Dreck wie mein Kalabreser, und ich trample ohne Gnade auf ihm, du siehst's, wie auf meinem Hute herum!«
Er war aufgestanden und tat, wie er sagte.
Er fuhr fort, indem er den Hut aus dem Drecke nahm und so, wie er war, aufstülpte: »Weißt du, was die Pointe von der ganzen Sache ist, Hulda? Ein Engel Gottes von der Straße hat mich ums Leben gebracht! Das ist die Pointe, der Punkt, der Kneller, das Punctum saliens, Hulda. Das nennt man nämlich den springenden Punkt. Ha, hahaha, der springende Punkt! der springende Punkt!« lachte der Betrunkene wahnsinnig. »Erst hat sie mich ausgesogen, ausgezehrt wie ein Iltis, ein Marder, ein Puma, mir mit heißen Lefzen das Blut aus den Adern herausgeholt. Sie hat mir das Mark aus den Knochen geleckt. Dann hat sie mir wie einem Hühnchen den Hals umgedreht, wie wenn ich ein kleines Hähnchen wäre, a kleenes Hähnchen, hahaha! Sie hat mich vergiftet, erstochen, erschlagen, Hulda, mich auf hundert verschiedene Arten und Weisen umgebracht, damit ich auch ja recht mausetot wäre. Oder weißt du es besser? Weißt du es besser, Hulda?«
Er stand abermals auf und suchte verschiedene Sachen zusammen, Taschenmesser, Stock und dergleichen, was er achtlos um sich herum verstreut hatte. Dann reckte er sich und ging von dannen. Seine letzten Worte waren: »Sie ist mir mit einem Lausekerl von einem Pferdejungen durchgebrannt!«
Eine Viertelstunde später wurde der singende und torkelnde Mann von einem mit zwei Pferden bespannten geschlossenen Wagen aufgenommen. Der Kaufmann, dem er gehörte und der darin fuhr, erkannte in der schwankenden Gestalt den Bildhauer Haake wieder, jenen Paul Haake, der den Brunnen von Toberentz vollendet hatte. Sein kunstliebendes Haus hatte den Künstler wiederholt zu Gaste gehabt. Er nahm ihn wiederum mit dorthin, damit er nicht zum Gespötte der Stadt würde, und gab ihm Gelegenheit auszuschlafen.
Was der betrunkene Künstler dem Bauernkinde erzählt hatte, beruhte auf Wirklichkeit. Er hatte ein sechzehnjähriges Mädchen, Wanda, von der Straße hereingenommen, benutzte es als Modell und wollte es zu seiner Frau machen. Aber Wanda lief ihm davon.
Sie ging eines Morgens – es war in Breslau – wie immer, um etwas für das Mittagessen einzuholen, aus dem Atelier und war seitdem nicht wieder erschienen.
Er fragte überall nach ihr, er suchte alle Spelunken ab, er legte sogar die Polizei mit Hilfe eines befreundeten Kommissars auf ihre Spur, alles und alles leider vergebens.
Er hatte Aussicht, wenn die Brunnenangelegenheit in Görlitz zu aller Zufriedenheit verlief, an der Breslauer Kunstakademie Professor zu werden. Wenn dies sich verwirklichte, wollte er heiraten. Er hatte himmlische kleine Bronzen nach Wanda gemacht. Das Mädchen war klug und bildungsfähig. Man würde eine Wohnung beziehen, mit der Kleinen ein Hauswesen gründen, man hätte eine entzückende Frau und würde von aller Welt beneidet.
Jetzt aber war der Boden seiner Pläne dem werdenden Meister weggesunken.
Er schlief nicht mehr, konnte nichts mehr arbeiten, ergab sich mehr und mehr dem Trunke und stellte eben noch seinen Mann, bis der Auftrag in Görlitz erledigt war. Dann aber brach er völlig zusammen.
Aus der Villa des Kaufmanns Muscatblut völlig ausgeschlafen am nächsten Morgen hervortretend, begab er sich auf die Wanderschaft. Schon der Gedanke, Wanda zu suchen, erleichterte ihn. Er nahm es als seinen Lebensberuf. Was kümmerte ihn die Professur, oder daß er nur noch etwa dreihundert Mark in der Tasche hatte. Sie gehörten zehn- oder zwölfmal genommen den Gläubigern: nun, so mochten sie denn auch ihn suchen, wie er Wanda zu suchen gezwungen war.
Paul Haake war ein außerordentlich begabtes Proletarierkind. Der Glückswechsel war erst mit der Arbeit am Toberentz-Brunnen eingetreten. Er lag bis dahin bei einer Bahnschaffnersfrau in Schlafstelle. Zwei Betten standen in einem Loch. Er benutzte das leere des Bahnschaffners, der manchmal die dritte, manchmal die vierte Nacht zu Hause zubrachte.
Auf dem leeren Bauplatz, unter den Fenstern der Vorstadtmietskaserne, hatten sich eines Abends fahrende Kunstreiter eingefunden. Am Abend darauf war die Vorstellung.
Die Gesellschaft war in zwei wackeligen Wohnwagen untergebracht. Der Aufzug war äußerst jämmerlich, die Vorstellung weniger jämmerlich. Es wurde ehrliche Arbeit geleistet. Nagelneues Programm natürlich. Der Zirkus Flunkert durfte, ohne unbescheiden zu sein, von sich rühmen, daß er bereit sei, mit Renz und Busch, ja selbst mit dem großen Barnum furchtlos in die Schranke zu treten.
Ein älterer Flunkert, Träger der Tradition, mußte vor kurzem verschieden sein. Seine Witwe, über zwei Zentner schwer, die an der Kasse saß, trug jedenfalls einen Trauerflor, und ein jüngerer Flunkert, ein langer, etwa dreißigjähriger Mann, schien Erbe und Leiter des Ganzen zu sein. Dieser junge Flunkert ... hol' ihn der Teufel!
Wie solche Leute zustande kommen?! Im Grunde genommen ein schöner Kerl, eines seiner langen Beine manchmal wie ein angeschossener Panther nachschleppend, gänzlich furchtlos, überaus dreist der Blick. Wenn man mit ihm eine Wette einginge, hoch genug, seine Habgier zu reizen, er würde auf einem Königstiger spazierenreiten. Höchst wahrscheinlich würden seine eigentlichen Vorväter mehr außerhalb als innerhalb der Familie Flunkert zu finden sein. Unter den Offizieren des Leibkürassierregiments hier am Orte gab es solche Erscheinungen.
Von Anfang an war Herr Flunkert dem jungen Bildhauer unangenehm. Seine Abneigung steigerte sich, als der Zirkusdirektor – die Vorstellung fand unter freiem Himmel statt – mit seiner endlos langen Peitsche bis unter die Nase Wandas heraufknallte, die neben Paul Haake im Fenster lag. Wanda machte das förmlich wahnsinnig. Jetzt war es beinahe mit Händen zu greifen, daß sie früher in einem Zirkus gearbeitet hatte. Flunkert führte nicht nur seine abgetrabten Gäule vor, er schwang sich am Ende sogar aufs Trapez und zeigte wahrhaft tollkühne Dinge. Man mußte gestehen, daß Flunkert junior das beste Pferd in seinem eigenen Stalle darstellte. Übrigens hatte auch er schon Nachkommen. Seine Frau war die bereits mit etwas zu spitzen Knien behaftete Drahtseilkünstlerin.
Wanda hatte geschworen, sie habe mit niemand, durchaus mit niemand in der fahrenden Truppe gesprochen. Paul Haake aber stand es fest, er werde Wanda gefunden haben, wenn er den Zirkus gefunden hätte.
Was dann mit ihm werden sollte, war ihm gleichgültig, oder er dachte gar nicht daran.
Es war überhaupt ein höllenmäßiger Zustand, in dem er auf der Landstraße vorwärtstorkelte. Nachdem der Halt, den eine unabweisbare Pflicht ihm gegeben hatte, nicht mehr vorhanden war, trat die ganze fürchterliche Verwirrung und Sucht in Kraft, in die ihn die Flucht der Geliebten gestürzt hatte. In seiner Tasche befand sich ein Brief des befreundeten Polizeikommissars, der ihm die Richtung und Route mitteilte, welche die kleine Flunkert-Truppe wahrscheinlich genommen hatte. Es konnten Plätze wie Herrnhut, Muskau, Spremberg, Kottbus, Lübben in Betracht kommen und dazwischenliegende kleinere Ortschaften.
Bei jedem der Flecken, die er erreichte, fing das Fragen an. Weniger um zu trinken als um zu fragen und sich zu betäuben, verweilte er in den Wirtshäusern. O ja, ein solcher Zirkus sei gestern vorbeigekommen. Ein paar Affen, ein Pudel, einige Schecken. Und wenn Haake nur hinreichend Kornschnaps an den Berichterstatter austeilte, so war es der leibhaftige Zirkus Flunkert, mit seinen zwei Wagen und seiner von dem langen Menschen geführten Künstlerschaft, jenem, der das Bein wie ein verwundeter Panther nachschleppte. Er kam dann immer auf Wanda zu sprechen und brauchte nur mit Schnaps nachzuhelfen, um eine genaue, aber auch haargenaue Schilderung seiner durchgebrannten Geliebten zu erhalten.
Am Ende des Dorfes sei ein Zirkus, sagte man ihm nach tagelanger Wanderung, als er, durchnäßt und frierend, in einen sogenannten Kretscham getreten war. Nur das geübte Auge hätte ihn noch von einem wirklichen Stromer unterschieden. Er hatte ihrer viele getroffen und sich gelegentlich, in der Wirrnis eines Fiebernden, ihnen angeschlossen. Ganz fremd war ihm ja schließlich auch ihr Rotwelsch nicht. Er kannte es von seiner Handwerksburschenwanderschaft, zu der ihn der Vater genötigt hatte, weil er der veralteten Meinung war, sie gehöre zum Lehrgang eines Handwerkers.
Paul Haake konnte nicht daran denken, sofort nach dem Ende des Dorfes aufzubrechen. Er mußte sich setzen. Die frostroten, nassen Hände auf dem Tisch übereinandergelegt, ließ er den Kopf darauf niedersinken, so maßlos stieß ihm das Herz in der Brust. Er dachte: Was wissen die Menschen von so etwas?! Ganz gewiß, ich krepiere dran, ich gehe daran unbedingt zugrunde!
Er sah ein Zelt, als er schließlich am Ausgang des Dorfes war. Er hielt sich wie ein geprügelter Hund hinter einem Baum, gut tausend Schritt entfernt davon. Aber die Leute hatten nicht recht gesehen, oder sie hatten ihn angelogen, denn es war nur ein Karussell.
Drei Tage später war der Zirkus Flunkert in der Nähe von Königswusterhausen wirklich erreicht. Ganz plötzlich tauchte er vor Paul Haake auf, als er fast gar nicht mehr an ihn dachte. Nämlich an den wirklichen Zirkus Flunkert hatte er kaum noch gedacht, nur noch an den in seinem Kopfe. Dieser war ununterbrochen im Gange. Die Schecken galoppierten im Kreise herum, ein kleines Mädchen schwang sich durch Reifen, zwei lumpige Spaßmacher grinsten ihn an, und der verdammte Direktor Flunkert junior hing am Trapez oder knallte mit seiner langen Peitsche. Aber da! da! da! auf dem Drahtseil stand nicht mehr mit spitzen Knien die Direktorin, sondern was da stand, war ein zerbrechliches Geschöpf von sechzehn Jahren, schwarzhaarig und glutäugig, Antlitz und Körper blaß wie der Tod.
Der wirkliche Zirkus Flunkert war nicht im Gang. Auf einem Grasplatz standen die beiden bekannten ausgedienten Wohnwagen: ihren Ofenröhren entqualmte Rauch. Von der ganzen Zirkusgesellschaft schienen die Pferde und eine Bulldogge die einzigen im Freien befindlichen Artisten zu sein.
Es dauerte lange, bevor Paul Haake es sich glaubte, daß auf der Breitseite jedes der Wagen Zirkus Flunkert zu lesen stand. Dann drang eine Klarheit auf ihn ein, wie wenn ein Schlafender von einer stechenden Sommersonne geweckt würde, deren Strahl ihm schmerzend ins geöffnete Auge fällt.
Dieses Erwachen bewirkte, daß er fester auf seinen Füßen stand. Der Instinkt eines Tieres, eines Schakals, einer armen, bestaubten Hyäne, die im Müll in der Nähe von Menschenwohnungen Beute machen will, mahnte ihn, auf der Hut zu sein. Wenn er etwas entdecken und die Entdeckung ausnützen wollte, durfte er selbst nicht zur Unzeit entdeckt werden. Er schlich sich also zunächst davon.
Bald aber besann er sich eines anderen.
Er kehrte um, das Äußere eines müden Stromers bewußt verstärkend, in der rührenden Annahme, daß es überhaupt noch nötig sei, und faßte Fuß hinter einem halb abgeladenen Heuwagen. Vielleicht war es auf diese Weise möglich, schon jetzt jene Klarheit zu erhalten, die für sein nächstes Schicksal bestimmend war. Sein Herz begann wieder schrecklich zu arbeiten, als er das Quarren und Greinen eines Säuglings hinter der Verschalung eines der Wohnwagen zur Kenntnis nahm. Und er stand wie vom Donner gerührt, als gleich darauf die nackte Faust eines Mannes durch eines der kleinen Fenster fuhr und einen irdenen Topf von unverkennbarer Form ausleerte.
Damit war nun nichts weiter anzufangen. Es warteten seiner vielleicht hier Aufgaben, zu denen er mehr als gewöhnliche Kraft brauchte. Wenn er sie aber gewinnen wollte, so durfte er sich nicht planlos verhalten und im ersten Zustand der Bestürzung ins Bockshorn jagen lassen.
Er quartierte sich also für die Nacht im Kretscham ein, nachdem er dem Wirt, der ihm sonst mißtraut hätte, eine Banknote vorausbezahlt hatte. Da er den Mann noch andere Scheine sehen ließ, nahm dieser keinen Anstand, den großen Kachelofen im Zimmer des Fremden auf dessen Bestellung in Glut setzen zu lassen. Zum erstenmal, seit er die Wanderung angetreten, bekam Paul Haake die Kleider vom Leibe. Er selbst war verwundert, daß es so lange nicht geschehen war. Aber erst hier, und sonst nirgend in der Welt, lag etwas in der Luft, was ihn wieder zum Menschen machte. Er kroch ins Bett, zog das rotkarierte, schwere Deckbett über sich und schlief ohne Traum bis zum nächsten Morgen.
In dem Rausche und Rauschen seines Innern, in den Illuminationen und Betäubungen durch Alkohol hatte er den Beschluß nicht fahren lassen, eine Summe Geldes als eiserne Ration für den Notfall aufzubehalten. Er vergewisserte sich, daß sie vorhanden war. Mit getrockneten und gereinigten Kleidern ging er ins Gastzimmer. Gegen drei Uhr nachmittags, da es Sonntag war, gab der Zirkus seine erste Vorstellung. In zwei Kreisen hatte man Bretterbänke um die Arena herumgeführt, zwischen ihnen und einer umgebenden Schnur war der Raum für die Stehplätze. In der Arena balgten sich Hunde und Sperlinge, pickten Hühner und Tauben herum. Die Dorfjugend lärmte. Die Landleute waren zahlreich gekommen. Die meisten standen, auch Paul Haake zog das vor: er verschwand so besser unter den Zuschauern. Wie es auch geschehen mag, sprach er zu sich, wir werden, verzweifelt und todesmutig, wie wir sind, auf jede nur irgend erdenkliche Weise versuchen, unser Gut zurückzuerobern! Und ich werde jedenfalls, wenn es nicht möglich sein sollte, aus der Welt nicht eher gehen, als bis ich einen Quartiermacher vorausgeschickt habe. Wer dies sein wird, muß man erst feststellen.
Da sagte plötzlich ein Bauer: »Nanu?!« und starrte seinen Nachbar Paul Haake an, der ihn wild in den Arm gekniffen hatte. Er war gestört. Er hatte gerade den stieren Blick auf einen langen Menschen gerichtet, der, in einem aus vielen Flicken bestehenden Frack, peitscheknallend in die Manege getreten war. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte nicht derselbe Mann den wütenden Blick des Landmanns von seinem Nachbar ab und abermals auf sich gezogen, Flunkert junior tanzte vor Haakes Augen herum.
Mehrmals hatte er sich schon am Vormittag um die ganze Anlage herumgeschlichen. Aus den Mitteilungen der Dorfleute war für ihn nicht zu entnehmen, ob ein Mädchen, Wanda ähnlich, sich bei der Truppe befand. Es gab eine Drahtseilkünstlerin. Daß es nicht mehr Frau Direktor Flunkert junior, sondern eine andere wäre, schien festzustehen. Die Flunkert war in anderen Umständen, sie konnte derzeit überhaupt nicht mitwirken.
Nach einer für Haake endlosen Kette von Nummern spannte man endlich das Drahtseil auf. Der Künstler, welcher mit hochgezogenem Mantelkragen und ins Gesicht gedrücktem Schlapphut zuschaute, wischte sich mehrmals die Augen aus, als ein schlankes Kindergeschöpf, ganz und gar in schwarzem Trikot, mit purpurroter Schleife am Halse und einer von ebensolcher Farbe im schwarzen, offen fließenden Haar, hereinhüpfte und auf dem bereitgestellten Kreideblock die Sohlen rieb.
Wer es war, konnte Haake zunächst nicht feststellen. Die Frau mit den spitzen Knien, die er in Breslau gesehen, jedenfalls nicht. Auf dem Plakate stand sie als Pipilada, die Mexikanerin.
Pipilada wurde von Flunkert junior, ihrem Dresseur, mehrmals aufs heftigste angeschrien, weil sie unzuverlässig arbeitete. Das Hocken auf dem Seile gelang ihr nicht. Als es ihr abermals nicht gelang, benutzte sie das Drahtseil als Schaukel, überschlug sich und kam so vor der Zeit auf die Erde herab. Er zwang sie, wieder hinaufzusteigen.
Als sie die kleine Plattform zwischen den gekreuzten Stangen, also die Ruhestellung, wieder erreicht hatte, wandte sich das Publikum unter hellem Gelächter einem Menschen zu, den es nach seinem Räuberhut und verwogen umgenommenen Mantel für einen Clown halten konnte. Er näherte sich von rückwärts Flunkert junior und machte, daß dieser infolge eines wohlgezielten Fußtrittes auf eine gewisse Stelle vornüber lang auf den Boden schlug. Nicht gefaßt und doch wieder gefaßt auf dergleichen Zufälle, kam Flunkert mit der Gewandtheit eines Panthers zu Fall und hatte sich, fast im gleichen Augenblick, mit derselben Gewandtheit wieder erhoben. Er blickte den Angreifer wütend an.
»Wer sind Sie?« schrie er. »Was wollen Sie?« – Der Jubel der Menge steigerte sich. Auch der als Dummer August fungierende Clown trat an den fremden Konkurrenten heran: »Wie heißt du, Cousin? Was willst du, Cousin? Wer hat dir erlaubt, hier hereinzukommen?« – Ein Tritt vor den Bauch, den er sogleich als Antwort erhielt, machte ihn drei- bis viermal Kobolz schießen.
Herrgott im Himmel, das war ja großartig! Die Menge schrie. Und wie um die Heiterkeit noch zu steigern, brach die Bank unter einigen strammen Bauernmägden entzwei, und sie zeigten Dinge, die belacht wurden.
Als Flunkert junior, der gewiegte Artist, sich über den Erfolg dieser im Programm nicht vorgesehenen Nummer klarwurde und sah, wie sich nicht nur die Zaungäste mehrten, sondern auch die trauernde Witwe Flunkert bar Geld einkassierte und wertlose Zettelchen wiedergab, glaubte er es mit einem Clown, der auf Engagement gastierte, zu tun zu haben, – oder aber, er tat wenigstens so: »Was willst du, Cousin? Womit kann ich dir ins Gesicht springen?«
»O well, ich uollen dir lieber mit Geld ins Gesicht springen! Ich sein Zirkusdirektor! Viel money! Viel Geld! In die Vereinigte Staaten von Amerika! Aus die Südstaaten, uo ist noch Sklaverei! Niggers, verstehst du? Schuarz wie das Mädchen auf dem Seil. Und ich bin gekommen aus die United States, um dir schuarzes Seilmädchen abzukaufen!«
Der Direktor wurde sehr ungehalten: »In Europa haben wir keine Sklaverei! Wir handeln hier nicht mit Menschenfleisch. Machen Sie augenblicklich, daß Sie fortkommen! Glauben Sie, daß ich mich mit Mädchenhandel abgebe?! Stören Sie nicht meine Vorstellung, sonst werde ich Mittel und Wege finden! Es gibt ja schließlich noch eine Polizei!«
Jetzt fiel auch der Fremde aus der Rolle. Er schrie: »Ja, die Polizei! Ja, die Polizei! Ja, ja, Sie Schuft! Ja, die Polizei! Sie Dieb! Sie Räuber! Sie Mädchenräuber! Die Polizei! Ja, die Polizei! Dieses Mädchen heißt Wanda Soundso, dieses Mädchen haben Sie mir gestohlen! Wanda, komm her! Ja, die Polizei! Ja, die Polizei!«
Jetzt waren die Zuschauer still geworden: diese Leute spielten ja wirklich, wie wenn's wirklich wär'! Das war doch beinah, möcht' man sagen, menschenunmöglich!
Der Skandal nahm zu. Pipilada, die Mexikanerin, war längst in einem der Wagen verschwunden. Nur noch wenig fehlte zu einer blutigen Prügelei. Man glaubte schon Messer blitzen zu sehen. Zwei haßerfüllte, blaugrauentfärbte Gesichter keuchten einander, fast Nase an Nase, rasend an. Beiden stand förmlich der Schaum vor dem Munde.
Da zeigte sich über der Menge, hoch zu Roß, der Landgendarm.
Die Vorstellung wurde zu Ende geführt. Eine halbe Stunde darauf trafen sich die Parteien beim Amtsvorsteher. Paul Haake machte glaubhaft, wer er war. Er behauptete, daß Pipilada eine gewisse Wanda und so weiter sei, die er vom Tode des Verhungerns und Erfrierens gerettet habe, eine noch nicht Volljährige, mit der er verlobt gewesen sei, um sie in wenigen Wochen zu heiraten. Flunkert habe sie entführt und wahrscheinlich verführt und sein und des Mädchens Glück vernichtet, dem er eine angesehene bürgerliche Stellung als Frau eines Professors der Breslauer Kunstakademie zu verschaffen im Begriffe stand, denn seine Ernennung zum Professor stehe nahe bevor. Zum Belege konnte er Briefe vorlegen.
Flunkert leugnete alles das. Pipilada sei die Tochter der Schwester seiner Frau. Diese sei in Buenos Aires verheiratet. Kurz, er brachte eine lange Geschichte vor, die beweisen sollte, daß Pipilada mit jener Wanda durchaus nicht identisch sein könne.
Das Mädchen wurde herbeigerufen.
Schon auf dem Drahtseil war sie von dem Künstler erkannt worden. Als sie nun eintrat, ähnlich einem Schulmädchen in einem abgetragenen Paletot, war sie Wanda, konnte ebensowenig als auf dem Seil jemand anderes sein. Aber sie sagte, sie heiße Godoy, Catalina mit Vornamen, die verwitwete Flunkert sei ihre Tante. Sie bestritt, dem Herrn, den sie vor sich habe, also Paul Haake, jemals im Leben begegnet zu sein.
Dieser kam sich nun vor, als sei er in einen jener Träume versetzt, wo wir unsere nächsten Anverwandten, Vater, Mutter, sehen, ohne von ihnen erkannt zu werden, wo auf eine mystische Weise das Band, womit wir zutiefst verknüpft waren, zerrissen ist. Prüfend sah er die Kleine an. Unwillkürlich auf sie zutretend, konnte er sehen, wie sie errötete. Er prüfte den dunklen Haarschwall, der ihm so oft durch die Finger geglitten war. Er prüfte die schöne weiße Stirn. Er prüfte die seidig schwarzen Wimpern, das Näschen, dessen unendliche Feinheit er bisher vergebens in nassem Ton nachzubilden versucht hatte. Er prüfte den Mund, an dem er sich wieder und wieder festgesogen, ohne daß sein Nektar und sein eigener Durst sich vermindert hätten. Er kannte diesen feinen, zerbrechlichen Körper Glied für Glied, und es gab keine Stelle seiner blassen, duftenden Haut, die er nicht mit Lippen und Händen zärtlich berührt und gekost hatte. »Wanda, du willst mich nicht kennen?« fragte er. – »Ich kenne Sie nicht!« war die klare Antwort.
»Wer ist dieser Mann?« fragte der Amtsvorsteher das so seltsam umworbene Schulmädchen mit einem Hinweis auf Flunkert junior, der, in einem Ausmaß von beinahe zwei Metern, im dicken Jagdjackett, einen langen Wollschal um den Hals, ein wenig abseits stand. »Vetter Balduin!« klang es wie aus der Pistole geschossen. Der sagte heiser – er war erkältet und entschuldigte sich: »Der erste Sohn in unserer Familie heißt seit Jahrhunderten Balduin. Deshalb habe auch ich diesen Namen bekommen.« – Der Beamte meinte, das wäre hier gleichgültig, und schnitt ihm damit die Rede ab.
Auf alles war Haake gefaßt, doch er war nicht auf diese Wendung gefaßt. Er drohte darüber verrückt zu werden. Allein, das gerade durfte er nicht. Und so trat denn auch eine jedermann überraschende Ruhe bei ihm ein, eine Ruhe, welche die tückischen Blitze in Balduin Flunkerts Augen sowohl vermehrte als hastiger machte.
Haake wünschte zu Protokoll zu geben:
Dieses Mädchen sei Wanda Schiebelhut. Ihre Wiege habe in Oppeln gestanden. Der alte Schiebelhut sei dort Stellmacher gewesen, Wandas Mutter, die Witwe, als sie noch fortkonnte, Hebamme. Heut sei sie, völlig kontrakt, in einem Altersheim untergebracht. Sie habe einige Male mit der Polizei zu tun gehabt und Wanda, ihre Tochter, nicht minder. Trotzdem habe er, Paul Haake, demnächst Professor an der Kunstschule, sich die Rettung und Rehabilitierung des Mädchens in den Kopf gesetzt.
Es begann nun die Inquisition.
Sofern dieses Mädchen Wanda war, hatte man in ihr einen Ausbund von Gerissenheit, gleich groß im Erfinden wie im Ableugnen. Sie tat beides mit Lust, mit einem geradezu blendenden Übermut, als ob sie etwa am Trapez turne. Was ihr dabei aus den glimmenden Blicken sprühte, war Tollheit und Eulenspiegelei.
Flunkert meinte, er lasse es darauf ankommen. Diese Frau in Oppeln, diese Hebamme, deren Namen er nicht mehr wisse, möge getrost ihre Ansprüche geltend machen. Vor der Mutter weiche er gern zurück. Aber der Irrtum werde sich dann ganz klar herausstellen. »Im übrigen«, sagte er, »reiche ich morgen durch meinen Anwalt die Klage gegen diesen Menschen wegen Körperverletzung ein. Sein ungeschickter Fußtritt hätte mir einen Beckenbruch eintragen können. Einen Schaden – ich hinke stark – habe ich unbedingt wegbekommen. Ich kann mindestens acht Tage nicht auftreten, wenn die Sache damit überhaupt zu Ende ist. Das Gericht muß mir Schadenersatz, muß mir Schmerzensgeld zubilligen. Mein nächster Gang ist zum Arzt, der sich ja meinen blutunterlaufenen Hintern – es geht, wie meine Frau sagt, weit nach oben übers Gesäß – ansehen und die ganze Bescherung zu Papier bringen wird!«
Was Flunkert sagte, schien Haake gleichgültig. Er hatte Wanda oder Catalina angestarrt. Man sah, daß ein Gewitter sich sammelte.
»Wanda!« sagte er, »kennst du mich nicht? Hast du nicht in der Januarkälte Streichhölzer hinter den Buden am Schweidnitzer Keller feilgehalten? Immer in Angst vor der Polizei? Habe ich dir nicht dazumal Wiener Würstel gekauft und dich mit mir in einen warmen Keller genommen?« – Und so ging es weiter: Habe ich nicht ...? und: Hast du nicht ...? und: Habe ich nicht ...? und: Hast du nicht ...?, ohne daß Haake eine andere Antwort erzielt hätte als das gleiche befremdet verneinende Kopfschütteln.
Nun aber trat etwas Neues ein.
Der Mann für alles, Dummer August, Pferdeknecht, Kutscher, Wagenreiniger, Pudelko, erschien, augenscheinlich ein treuer Diener seines Herrn, der Flunkert junior etwas ins Ohr brummte, worauf dieser sich für eine Minute entschuldigte.
Das Verhör wurde fortgesetzt, aber plötzlich durch einen Wortwechsel unten im Hausflur unterbrochen. Als der Streit einer weiblichen und einer männlichen Stimme einen gewissen Grad erreicht hatte, mußte der Wachtmeister nach dem Rechten sehen. Jetzt hörte man Schläge und eine Haustür zukrachen, worauf Pipilada-Catalina-Wanda bis in die Wurzel des Näschens blaß wurde. Das laute Heulen einer weiblichen Stimme entfernte sich. Der Gendarm berichtete, wieder eintretend: »Er hat seine Frau durchgebleut und hinausgeschmissen. Die Sache scheint nicht ganz koscher zu sein.«
Die Aussagen widersprachen einander. Eine Entscheidung war nicht zu treffen. Das Recht einzugreifen hatte der Amtsvorsteher nicht, weil ja schließlich, auch wenn die Angaben Paul Haakes zutreffend gewesen wären, damit ein solches Recht noch nicht gegeben war. Überdies legte Balduin Flunkert, der im Auftrage seiner Mutter den Zirkus leitete, Papiere vor, die auf Catalina Godoy lauteten und ein Engagementsverhältnis Catalinas bewiesen, vertraglich mit den Eltern geregelt, welches Catalina mit dem Zirkus verband.
Paul Haake war wie vor den Kopf geschlagen. Er ging, in das Gasthaus zurückgekehrt, sofort in die Schenkstube, wo er hinter einem Ecktisch, düster brütend und vor sich hinglotzend, Stunde um Stunde ein Seidel Bier nach dem andern, einen Kornschnaps nach dem andern in sich hineinschüttete. Was er mit seinem inneren Auge sah, war immer wieder der Augenblick einer schweren Gewalttat, an ein und demselben Menschen begangen, Befriedigung eines brennenden Rachedurstes, auf alle möglichen Arten und Weisen durchgeführt.
In der entgegengesetzten Ecke der Schenkstube saß ein Mensch, den der stiere Trinker nicht wiedererkannte, obgleich es der Fahrer, Wagenputzer und Dumme August Pudelko war, den er im Zimmer des Amtsvorstehers gesehen hatte. Flunkert hatte ihn abgeordnet, den Bildhauer zu beobachten. Als einige Leute aufstanden, um in den Zirkus zu gehen, erhob sich auch Haake, um das gleiche zu tun. Weder auf der Dorfstraße, noch weniger, als er sich dem dicken Menschenringe annäherte, der diesmal die Manege umgab, wurde er von Pudelko aus den Augen gelassen. Als er, nach vorn und hinten wiegend, seine Eintrittskarte forderte, stand Pudelko neben der Direktorin.
Nun fing der Skandal von neuem an.
Paul Haake war ein kräftiger und entschlossener Mann. Der göttliche Funke glühte in ihm. Einst ein armer Handwerksgesell, waren ihm heut die Michelangelos, Donatellos, die Schlüters, die Schadows, die Klingers, die Gauls Vettern geworden. Der Tod seines Meisters und die Vollendung seines Werkes hatten seine Tüchtigkeit mit einem Schlage bekanntgemacht, und es warteten seiner große Aufträge. Sein Kopf hatte bereits die Prägung einer höheren Bestimmung angenommen. Das fiel ganz besonders auf, wenn man seine Züge mit denen Flunkerts verglich, dieser Visage, aus der die Gemeinheit hervorleuchtete. Was aber nun geschah, das zeigte den Künstler Paul Haake im Zustand allertiefster Entwürdigung. Weil man ihm den Eintritt verweigerte, fing er zu krakeelen an. Es hieß, er störe die Vorstellung und sei überdies total betrunken. Da meldete sich in Paul Haake, unter lauten Ausbrüchen, ein altes, längst nicht mehr gebrauchtes Wörterverzeichnis an, das seine Herkunft nicht verleugnete. Er brüllte laut und bombardierte damit die Direktorin. Er selbst erschrak über seine Ausdrücke. Gern hätte er jetzt seinen Rückzug genommen, aber ein Dämon peitschte ihn, und so kam es ihm vor, er wußte es nicht, als ob er mit seinem Stocke nach der Direktorin geschlagen habe. Diese Vorstellung ärgerte ihn, während er, mit dem Rücken in einer Pfütze, alle viere von sich streckte, es aber trotz aller Mühe nicht weiterbrachte, als auf allen vieren durch dieselbe Kotlache hinzukriechen. Pudelko hatte an dem Schwerbetrunkenen auf billige Weise die Tritte gerächt, die sein Direktor hinten, er vorn erhalten hatte.
Am Morgen erwachte Haake mit einem Brummschädel. Er hatte keine Ahnung davon, was an der Zirkuskasse geschehen war. An verschiedenen Körperteilen empfand er Schmerzen. Er war erstaunt, als er eine Anzahl blutunterlaufener Stellen an seinem Leichnam feststellte. Hatte er seine Uhr eingebüßt? Aber nein, er fand sie in seiner Hosentasche. Etwas sehr Übles, etwas sehr Beschämendes mußte ja doch geschehen sein. Bei Wanda konnte ihn das nicht einheben, in seinem Kampfe um sie nicht nützlich sein. Überhaupt: der Tiefpunkt seiner Versumpfung war erreicht. Er sagte zu sich: Du bist ein Schwein! In der Tat, um dies sich zu bestätigen, brauchte Haake nur um sich zu blicken. Die Diele, sein Bett, sein Hemd, seine Kleider starrten gleichermaßen von Unflätigkeit. Es stank wie in einem Raubtierzwinger. Es überkam ihn ein Grauen der Scham. Er wußte nicht, wie er die ganze Schmach, den ganzen Unrat, der ihn umgab, vor den Leuten verbergen sollte. Sein Schlund war so trocken, als hätte ihn eine Wüstensonne ausgedörrt. Aber der kleine Wasserkrug, der im Waschbecken stand, erwies sich als leer, als er ihn gierig an den Mund setzte. Was doch die Vergeßlichkeit einer Magd für entsetzliche Folgen haben kann! Schließlich und endlich half ihm die Magd. Er gab ihr Geld, aber auch ohne das hatte sie Mitleid mit ihm: sie wußte von seiner Liebesgeschichte. Auf versteckte Weise setzte sie Bett und Kleider instand, brachte wieder und wieder in Eimern Wasser herein, und Haake faßte gute Vorsätze. Er schwor sich, daß dieser Sturz der tiefste sein sollte, den er getan hätte. Nun müsse es wieder aufwärtsgehen.
Er dachte über den Zustand nach, der ihn auf so unbegreifliche Weise verändert hatte. Während Wanda noch bei ihm war, wußte er eigentlich nichts von seiner schrecklichen Hörigkeit. Es gibt Lemuren, es gibt Vampire. Hatte sie nicht bei ihrer Flucht, außer einer hübschen Summe Geldes, seine ganze Lebenskraft mit sich genommen? Er blieb zurück als ein leerer Schlauch, den er, sollte er eine Gestalt behalten, einen Inhalt bekommen, immer wieder mit Bier, Wein oder Schnaps füllen mußte. Das beste wäre, du ließest sie laufen! denkt er bei sich. Und nun fängt er an, sich dies Luder, dies Laster zu entwerten. Nie und nimmer wird er um ihretwillen vor die Hunde gehn!
Noch immer beträgt seine Barschaft mehrere hundert Mark. Das weiß der Wirt und behält ihn deshalb, obgleich die Skandale, die er anzettelt, ihn geneigt machen, den Gast vor die Tür zu setzen. Nun aber, nach der zweiten Nacht, am dritten Tage seiner Gegenwart, tritt Ruhe ein. Ich werde mich selbst, hat der Künstler zu sich gesagt, am Schopf fassen und aus der Kloake herausziehen.
Er begibt sich alsbald zu Bett und ist am vierten Morgen, mit neuem Hemd, neuem Kragen, neuen Schuhen, gereinigten und geplätteten Kleidern, beinahe ein Gentleman. Aber er bleibt: er denkt nicht an Abreise.
Paul Haake war Ortsgespräch geworden. Es schwirrten Gerüchte widersprechendster Art über ihn herum. In der Apotheke ließ man ihn einen reichen, übergeschnappten Engländer sein. Andere machten ihn gar zum Mädchenhändler. Selbst Frau Direktor Flunkert, die ihn am vierten Tage gebügelt und geschniegelt hatte durch den Ort schreiten sehen, wurde irre an ihm. Schließlich gab es nicht viele, die Zeit und Geld genug hatten, einer Dirne durch dick und dünn nachzusteigen.
Die geprügelte Frau von Flunkert junior, die in Breslau auf dem Drahtseil gestanden hatte und mit Vornamen Elsa hieß, war auf Catalina eifersüchtig, die sie in jeder Beziehung zu ersetzen schien. Schließlich waren ihre Umstände so, daß sie ihrem Manne weder auf dem Seil noch auch sonst mehr genugtun konnte. Weil aber ihre Eifersucht stärker als ihre Klugheit war, so empfing Paul Haake am vierten Morgen einen Brief, den sie geheimzuhalten ersuchte und in dem sie klipp und klar mitteilte, daß Catalina keineswegs eine geborene Catalina Godoy, sondern selbstverständlich Wanda sei.
Darüber hegte nun zwar der Künstler keinen Zweifel, aber mit diesem Briefe lag eine nicht zu unterschätzende Tatsache vor, deren Verwertung aufs beste durchdacht sein wollte. Die Frau seines Feindes nahm seine Partei. Sie hatte ihm außerdem ein wichtiges Dokument in die Hand gespielt. Auch das war klar: sie wünschte das Mädchen abzuschieben. Nur wenig später als dieser Brief traf ein Schreiben aus Oppeln ein, worin die Mutter dem Künstler eine Menge Guttaten an ihrer Tochter und die Absicht bestätigte, sie zu heiraten. Mit diesen Belegstücken in der Hand, schien es dem verlassenen und verschmähten Liebhaber das einzig Richtige, den weiblichen Chef dieses fahrenden Lumpengesindels, die verwitwete Flunkert, ins Vertrauen zu ziehn und mit ihr die Sachlage zu beraten.