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Hermann Hesses Betrachtungen und Gedichte über seine Wanderung in das Tessin gehören zu den schönsten Texten des Dichters. Nach mehrjährigem poetischen Verstummen (durch Hesses Einsatz im Dienst der Kriegsgefangenenfürsorge) in den Jahren 1917/18 entstanden, schildern diese Reiseimpressionen gleichnishaft die Grenzüberschreitung aus der Kühle und Abstraktion des Nordens in die Wärme und kreative Sinnlichkeit des Südens, seine Abkehr vom Bürgerlichen zum Vaganten und Abenteurer. Gleichzeitig zeigen sie seinen Wechsel von der Vita activa zur Vita contemplativa: Sie bilden den Auftakt zu den kurz darauf in rascher Folge entstehenden »Klingsor«-Erzählungen, zu »Siddhartha« und »Steppenwolf«.
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Seitenzahl: 45
Hermann Hesse
Wanderung
Aufzeichnungen mit farbigen Bildern vom Verfasser
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2018
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe der Insel-Bücherei 1403.
© Insel Verlag Berlin 2015
Dieser Band entspricht in Text und Bild der Erstausgabe, die 1920 im S. Fischer Verlag, Berlin, erschien.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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Umschlagmotiv unter Verwendung eines Aquarells von Hermann Hesse
eISBN 978-3-458-75862-4
www.suhrkamp.de
Bei diesem Hause nehme ich Abschied. Lange werde ich kein solches Haus mehr zu sehen bekommen. Denn ich nähere mich dem Alpenpaß, und hier nimmt die nördliche, deutsche Bauart ein Ende, samt deutscher Landschaft und deutscher Sprache.
Wie schön ist es, solche Grenzen zu überschreiten! Der Wanderer ist in vielen Hinsichten ein primitiver Mensch, so wie der Nomade primitiver ist als der Bauer. Die Überwindung der Seßhaftigkeit aber und die Verachtung der Grenzen machen Leute meines Schlages trotzdem zu Wegweisern in die Zukunft. Wenn es viele Menschen gäbe, in denen eine so tiefe Verachtung für Landesgrenzen lebte wie in mir, dann gäbe es keine Kriege und Blockaden mehr. Es gibt nichts Gehässigeres als Grenzen, nichts Stupideres als Grenzen. Sie sind wie Kanonen, wie Generale: solange Vernunft, Menschlichkeit und Friede herrscht, spürt man nichts von ihnen und lächelt über sie – sobald aber Krieg und Wahnsinn ausbricht, werden sie wichtig und heilig. Wie sind sie uns Wanderern in den Kriegsjahren zur Pein und zum Kerker geworden! Der Teufel hole sie!
Ich zeichne das Haus in mein Notizbuch, und mein Auge nimmt von deutschem Dach, deutschem Gebälk und Giebel, von mancher Traulichkeit und Heimatlichkeit Abschied. Noch einmal liebe ich all dies Heimatliche mit verstärkter Innigkeit, weil es zum Abschied ist. Morgen werde ich andere Dächer, andere Hütten lieben. Ich werde nicht, wie es in Liebesbriefen heißt, mein Herz hier zurücklassen. O nein, ich werde mein Herz mitnehmen, ich brauche es auch drüben über den Bergen, zu jeder Stunde. Denn ich bin ein Nomade, kein Bauer. Ich bin ein Verehrer der Untreue, des Wechsels, der Phantasie. Ich halte nichts davon, meine Liebe an irgendeinen Fleck der Erde festzunageln. Ich halte das, was wir lieben, immer nur für ein Gleichnis. Wo unsere Liebe hängen bleibt und zur Treue und Tugend wird, da wird sie mir verdächtig.
Wohl dem Bauern! Wohl dem Besitzenden und Seßhaften, dem Treuen, dem Tugendhaften! Ich kann ihn lieben, ich kann ihn verehren, ich kann ihn beneiden. Aber ich habe mein halbes Leben daran verloren, seine Tugend nachahmen zu wollen. Ich wollte sein, was ich nicht war. Ich wollte zwar ein Dichter sein, aber daneben doch auch ein Bürger. Ich wollte ein Künstler und Phantasiemensch sein, dabei aber auch Tugend haben und Heimat genießen. Lange hat es gedauert, bis ich wußte, daß man nicht beides sein und haben kann, daß ich Nomade bin und nicht Bauer, Sucher und nicht Bewahrer. Lange habe ich mich vor Göttern und Gesetzen kasteit, die doch für mich nur Götzen waren. Dies war mein Irrtum, meine Qual, meine Mitschuld am Elend der Welt. Ich vermehrte Schuld und Qual der Welt, indem ich mir selbst Gewalt antat, indem ich den Weg der Erlösung nicht zu gehen wagte. Der Weg der Erlösung führt nicht nach links und nicht nach rechts, er führt ins eigene Herz, und dort allein ist Gott, und dort allein ist Friede.
Von den Bergen weht ein feuchter Fallwind mir vorüber, jenseits blicken blaue Himmelsinseln auf andere Länder nieder. Unter jenen Himmeln werde ich oftmals glücklich sein, oft auch Heimweh haben. Der vollkommene Mensch meiner Art, der reine Wanderer, müßte das Heimweh nicht kennen. Ich kenne es, ich bin nicht vollkommen, und ich strebe auch nicht es zu sein. Ich will mein Heimweh kosten, wie ich meine Freuden koste.
Dieser Wind, dem ich entgegensteige, duftet wunderbar nach Jenseits und Ferne, nach Wasserscheide und Sprachgrenze, nach Gebirge und Süden. Er ist voll Versprechung.
Lebe wohl, kleines Bauernhaus und heimatliche Landschaft! Von dir nehme ich Abschied wie ein Jüngling von der Mutter: er weiß, es ist Zeit für ihn, von der Mutter fort zu gehen, und er weiß auch, daß er sie niemals ganz und gar verlassen kann, ob er auch wollte.
Über schiefen Kreuzen Efeuhang,
Sanfte Sonne, Duft und Bienensang.
Selig ihr, die ihr geborgen liegt,
An der guten Erde Herz geschmiegt,
Selig, die ihr sanft und namenlos,
Heimgekehrte, ruht im Mutterschoß!
Aber horch, aus Bienenflug und Blust
Singt mir Lebensgier und Daseinslust,
Aus der Tiefe Wurzelträumen bricht
Längst erloschener Wesen Drang ans Licht,
Lebenstrümmer, dunkel eingescharrt
Wandeln sich und heischen Gegenwart,
Und die Erdenmutter königlich
Rührt in drängenden Geburten sich.
Süßer Friedenshort in Grabes Schacht
Wiegt nicht schwerer als ein Traum der Nacht.
Trüber Rauch nur ist der Traum vom Tod,
Unter dem des Lebens Feuer loht.