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Neues von Hans Fallada entdecken: Die hier versammelten Anekdoten, Berichte, Erzählungen und Reden, die von der Mitte der 1920er Jahre bis zu seinem Tod 1947 reichen, sind zum Teil wenig bekannt oder noch gänzlich unveröffentlicht. Sie offenbaren, in welchem Maße der Autor ein einzigartiges Gespür für soziale Problemlagen entwickelt, sensibel Wirklichkeit beobachtet und künstlerische Mittel findet, um mit wenigen Strichen welthaltige Geschichten zu entwerfen – humorig, ironisch, manchmal auch sarkastisch. Falladas Glaube an die "Anständigkeit des Menschen" zeigt sich dabei jedoch stets unerschütterlich. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 428
Hans Fallada
Erzählungen und Berichte
Herausgegeben von Carsten Gansel
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961870-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014081-9
www.reclam.de
I Ich übe mich im Dialog
Ich übe mich im Dialog
Stimme aus den Gefängnissen
Tscheka-Impressionen
Stahlhelm-Gemüs
Was liest man eigentlich so auf dem Lande?
II Ansehen kostet ja nichts
Liebe Ordensgeschwister!
Die Verkäuferin auf der Kippe
Rache einer Hamburgerin
Eine vom Mädchenklub
Wer kann da Richter sein?
Geschlagene Pferde, gehetzte Menschen
Mein Freund, der Ganove
Der Strafentlassene
Otsches Fluchtbericht
Besuch bei Tändel-Maxe
Liebe Lotte Zielesch,
Ich rate Preisrätsel
Auch eine Kriegsgeschichte
Bei uns, in der Kleinstadt
III Das Medusenantlitz des Lebens
Vorweihnachtliche Betrachtungen
Geistesgegenwart
Im Auto zur Brandstätte
An der Schwale liegt ein Märchen …
Sieben Kinder spielen im Stadtpark
Der verlorene falsche Taler
Rückschau des Kritikers
IV Der heimliche Dichter
Warnung vor Büchern
Gespräch zwischen Ihr und Ihm über Ernest Hemingway
Der heimliche Dichter
Ich bekomme Arbeit
Fröhlichkeit und Traurigkeit
Gegen jeden Sinn und Verstand
Frühling in Neuenhagen
Wie vor dreißig Jahren
Christkind verkehrt
Eine Königskrone geht auf Reisen
V Das Todeshaus formt einen Dichter
Essen und Fraß
Meine Damen und Herren!
Ja! – Aber … Nein, doch lieber nicht
Osterfest 1933 mit der SA
Noch einmal Osterfest 1933 mit der SA
Das Todeshaus formt einen Dichter
Kalendergeschichten
Deine Frau
Wie ich Schriftsteller wurde
Zu dieser Ausgabe
I Ich übe mich im Dialog
II Ansehen kostet ja nichts
III Das Medusenantlitz des Lebens
IV Der heimliche Dichter
V Das Todeshaus formt einen Dichter
Nachwort
»Bücher sind ja überhaupt die treuesten Freunde« – Hans Fallada als Erzähler
»Ich denke nie an meine Leser, wenn ich ein Buch schreibe« – Fallada und das Schreiben
»Dafür gibt es eben kein Publikum« – Fallada auf der Suche nach einem Neuansatz
»Ich übe mich im Dialog« – Fallada und seine »Großstadttypen«
»Ich sitze also tatsächlich zwischen zwei Stühlen« – Fallada und journalistisches Schreiben
»Er ist diesmal spannend wie ein Kriminalroman« – Fallada auf der Erfolgsspur
Vom Erfolgsrausch ins Dritte Reich – Kleiner Mann – was nun?
Nach 1945 – Versuchter Neuanfang
Ich weiß, ich kann keinen Dialog schreiben. Ich möchte aber auch gern solch witzigen, überraschenden, schlagfertigen Dialog schreiben können, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben. Ich muss mich üben. Also:
Ich wunderte mich gleich über ihn. Im Café waren ein Haufen Tische frei, er kam aber direkt auf meinen Tisch zu und setzte sich daran. Indes ich eifrigst mit der Zeitung beschäftigt tat, sah ich doch, dass er seinen Hut, einen steifen schwarzen Hut, aufbehalten hatte, was in deutschen Kaffeehäusern nicht üblich ist.
»Ist das Berliner Tageblatt frei?« fragte er.
Dies war stark, ich las gerade die erste Seite.
»Wie Sie sehen, nein«, antwortete ich.
»Ich muss dringend etwas nachsehen«, sprach er weiter, ohne auf meine Antwort zu achten.
»Nein«, sagte ich beharrlich.
»Vielleicht steht nämlich etwas von Charlotta drin« – und nahm mir die Zeitung aus der Hand.
Nun hätte ich aufspringen müssen und ihn ohrfeigen, ich gebe das zu. Was wurde dann aus meinem Dialog? Eine Schlägerei. Nein.
»Ober, bringen Sie dem Herrn zu seiner Zeitung einen Kognak«, rief ich und lehnte mich zurück.
Er warf die Zeitung wutbebend auf die Erde und sah mich zornfunkelnd an: »Sie wollen mich beleidigen?« rief er. »Mein Herr!« rief er.
»Ich will Ihnen einen Kognak bezahlen«, sprach ich.
»Hier ist meine Karte!« schrie er und warf sie auf den Tisch.
[12]Gerade kam der Ober mit dem Kognak. »Lesen Sie das Dings vor«, sagte ich zum Ober.
Der Ober stellte den Kognak vor den Herrn mit der Melone, nahm die Karte, kniff einen Klemmer auf die Nase und las mir vor wie folgt: »Eberhard, Graf von Waldelfingen, Oberst der Reserve, Ritter vieler Orden, pe – pe –«
»Es ist gut«, sagte ich, »geben Sie dem Herrn sein Eigentum zurück.«
Der Ober legte die Karte neben den Kognak vor den Oberst und entfernte sich. Mein Gegenüber lächelte plötzlich: »Ich sehe, Sie sind ein starker Gegner. Sie haben natürlich gleich gemerkt, dass ich mit Ihnen Streit anfangen wollte. Es war mir, weil ich mich über Charlotta geärgert hatte …«
»In der Tat …?« fragte ich höflich. Ich wusste nichts anderes zu bemerken.
Er redete nicht weiter. Er nahm seinen steifen schwarzen Hut ab und sah starr hinein. Er seufzte tief und setzte den Hut neben sich auf die Erde. Der Ober glitt rücklings auf Gummi heran und hing den Hut an den Ständer.
»Denken Sie«, nahm er die Unterhaltung wieder auf, »als ich heute nach Hause komme, liegt diese Karte im Entree.«
Er deutete auf das Kartonblättchen vor sich.
»Ihre Karte«, sage ich.
»Nein, die Karte vom Oberst.«
»Sie sind doch der Oberst, Ritter vieler Orden, pp.«
»Der Oberst stand in meinem Salon.«
»Dann haben Sie mir eine falsche Karte gegeben …?«
»Lassen Sie mich die Sache von Anfang erzählen«, bat er flehend. »Es wird sich alles klären. Zuerst der Hut …«
[13]Er sah auf die Erde neben sich: der Hut war nicht da. Er saß erstarrt.
»Der Hut hängt am Garderobenständer hinter Ihnen«, sagte ich freundlich.
»Zum Teufel auch!« rief er, sprang auf, ergriff den Hut, sah hinein und kehrte an meinen Tisch zurück. Er setzte den Hut wieder auf die Erde, sah ihn zweifelnd an, hob ihn von neuem empor und legte ihn auf seine Knie.
Ich hatte all das mit interessiertem Auge verfolgt. »Auch der Hut ist in die Sache verwickelt?«
»Eingelocht ist er!« rief er dumpf. »Sehen Sie!«
Er wies ihn. Es musste ein teurer Hut sein, eine feine englische Firma stand drin. »Haarhut?« fragte ich.
Er nahm seinen Finger und stieß oben gegen die Höhe der Wölbung. Es war ein dreieckiges Loch durch Haar und Seidenfutter, wie von einem Säbel gestochen, nun öffnete sich’s.
»Der Oberst?« fragte ich voll Teilnahme.
»Derselbe«, antwortete er düster.
»Er stand in Ihrem Salon?«
»Als ich seine Karte las.« Er raffte sich auf. »Ich will es Ihnen von Anfang an erzählen. Charlotta.«
»Ihre Frau Gattin?« erkundigte ich mich.
»Nein, seine.«
»Des Obersten?«
»Richtig. Also Charlotta rief mich heute früh an. Was sie eigentlich wollte, verstand ich …«
»Halten Sie ein!« rief ich. Er sah mich bestürzt an. »Sie beabsichtigen, eine Geschichte zu erzählen?, Ein Erlebnis?«
»Ein schmerzliches«, sagte er voll Wehmut.
»Das geht nicht«, sprach ich entschlossen. »Ich ließ mich [14]mit Ihnen nur ein, mich in witzigem, überraschendem, schlagfertigem Dialog zu üben. Für Erzählungen bin ich leider nicht zuständig. Ober, bitte zahlen!«
»Aber ich versichere Sie, es würde Sie namenlos interessieren!«
»Können Sie es in Dialogform erzählen? Mit verteilten Rollen?«
»Nein«, sagte er traurig.
»So bedauere ich ungemein«, sprach ich und verschwand.
Witziger, überraschender, schlagfertiger Dialog, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben, ist furchtbar langweilig.
Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt. Dabei habe ich eine Reihe von Beobachtungen gemacht, deren Mitteilung vielleicht nicht allein von dem Gesichtspunkt aus, dass jeder jeden Tag in Untersuchungshaft oder Strafhaft geraten kann, interessant erscheint. (Für Heuchler, die sich diese Gefahr leugnen, schreibe ich nicht.) Ich fühle mich ein wenig wie ein Reisender, der aus einem unbekannten Weltteil zurückgekehrt ist. Ich bin dort gewesen, wo die Seele seltsame Veränderungen erleidet oder, nach längerer Haft, schon erlitten hat, jene Veränderungen eben, die dem »Gebildeten« den »Gewohnheitsverbrecher« unverständlich machen. Den Verbrecher, der stiehlt, wie ein anderer arbeitet, ohne Erregung, selbstverständlich, wird man in der Literatur nicht finden. Er ist noch nicht entdeckt. Die Frage, ob er geworden ist oder von je so war, ist noch unentschieden.
Das Publikum beschäftigt sich kaum mit dieser Frage, es überlässt sie den Fachgelehrten: den Juristen und allenfalls noch den Psychiatern. Der Theologe, der sie auch für sein Arbeitsgebiet hält, geht von der sentimentalen Seite an die Sache heran, er spricht vom »Standpunkt des Lebens«, das »gerettet« werden muss. In seiner Ahnungslosigkeit für Seelisches wird er nie verstehen, dass solche Rettung unmöglich ist: psychische Veränderungen lassen sich nicht rückgängig machen, wie auf physischem Gebiete kein Arzt einem Arm, den ein Zahngetriebe verkrüppelte, seinen früheren Zustand zurückgeben kann. Man soll Schutzvorrichtungen am Getriebe anbringen, da liegt es.
[16]Ich bemerke noch, dass sich meine Beobachtungen und Angaben auf eine Strafanstalt mit einer Belegungsfähigkeit von etwa 130 Mann beziehen, in der im Allgemeinen nur Strafen bis zu einem Jahr vollstreckt wurden. Straf-, Haft- und Untersuchungsgefangene waren nicht in voneinander abgeschlossenen Abteilungen untergebracht.
Der Untersuchungsgefangene ist ein Gefangener, dessen Schuld erst bewiesen werden soll, bis zum Termin noch zweifelhaft ist. Die Haft soll ihn an der Flucht, an einer Verdunkelung des Tatbestandes hindern. Man sollte danach annehmen, dass solch, in der Gefängnissprache kürzer gesagt, Untersucher, außer der Beschränkung seiner Freiheit jedes nur mögliche Entgegenkommen findet, denn seine Haft ist ja immerhin möglicherweise unverdient.
Ich beweise: dem Untersucher geht es schlechter als dem Strafgefangenen!
Der Untersucher liegt fast stets auf Einzelzelle. Er sitzt Monate und Monate allein, mit keinem Menschen kann er ein Wort wechseln. Früh morgens wird er aus seiner Zelle gelassen und darf eine halbe Stunde in streng vorgeschriebenem Abstande von Vor- und Hintermann im Freihof spazieren gehen. Zwei Beamte passen dabei scharf auf, dass nicht ein Wort gewechselt wird. Wagt es jemand, wird er abgeführt und streng bestraft. Will der Untersucher arbeiten, so kann er auf seiner Zelle Taue mit den Fingern zu Werg zerzupfen, die tötendste, langweiligste Arbeit, die es gibt. Darf der Untersucher rauchen? Jawohl, Erlaubnis kann [17]ihm erteilt werden, ich habe aber nur in zwei Fällen erlebt, dass sie erteilt wurde. Wenn er Geld hat, darf er sich Lebensmittel besorgen lassen, aber welche Schwierigkeiten werden ihm dabei bereitet! Wie oft muss er erinnern, wie lange warten! Vor allem aber: Männer, von denen sich doch mancher unschuldig glaubt, müssen um jede Kleinigkeiten bitten, bitten, bitten, die ihnen ohne weiteres gewährt werden müsste.
Der Strafgefangene ist dagegen den ganzen Tag mit seinen Gefährten zusammen, er arbeitet draußen in der frischen Luft auf dem Holzhof, in Gärtnereien, auf Gütern, er schwatzt mit den andern, er sieht die Welt: Bäume, Straßen, Menschen. Der Untersucher hat die vier weißen Zellenwände und die blinde Scheibe seines Fensters, er hört das Schlüsselbund klappern, das ist seine Welt. Der Strafgefangene raucht fast täglich, auf den Gütern bekommt er reichlichere Kost, in der Anstalt häufig Zusatzportionen. Der Untersucher kann hungern.
Wenn die Untersuchung wenigstens schnell ginge, beschleunigt würde! Aber dieses endlose Verschleppen gehört zu den größten Unbegreiflichkeiten und Grausamkeiten, die denkbar sind. Es vergehen Wochen und Wochen von einer Vernehmung zur andern, Monate geschieht nichts, der Gefangene muss warten. Nur warten. Ich weiß schon: Sicher geschehen unterdes ungeheure Dinge mit den Akten, sie werden von Prenzlau nach Potsdam geschickt. Eine kommissarische Vernehmung. Frist bis da und da. Frist überschritten. Anmahnen. Der Gefangene wartet.
Der Strafgefangene weiß, den und den Tag werde ich frei sein, der Untersuchungsgefangene grübelt: Wer weiß? Er wartet.
[18]Mich selbst hat ein gnädiges Geschick vor der Untersuchungshaft bewahrt, aber wenn ich an manchen mir bekannten Untersucher denke, der nun schon im zehnten oder elften Monat seiner Haft lebt, packt mich eine grenzenlose Erbitterung gegen jene Herren Untersuchungsrichter, die vollständig vergessen zu haben scheinen, dass es Menschen sind, die dort warten, verzweifelnd und verzagend warten. Genügt es denn nicht, dass er pünktlich seinen Haftverlängerungsbescheid bekommt, der ihm mitteilt, wieviel Wochen er vorläufig weiter warten darf? Der Untersuchungsrichter denkt, es genügt.
Dann tritt das ein, was man in der Gefängnissprache »Spinnen« heißt: »X fängt an zu spinnen.« Beim Vorbeigehen hört man ihn reden in seiner Zelle, restlos, immerzu, nur um seine Stimme zu hören, er weint dazwischen, er bekommt Wutausbrüche. Der Gefangene wird verwarnt, er wird vorsichtig behandelt. Eines Tages ist er dann stumm geworden. Er spricht nicht mehr, er liest nicht einmal mehr sein eines Bibliotheksbuch in der Woche. Oft weigert er sich sogar, zur Freistunde zu gehen, er stellt seine Arbeit ein. Nun sitzt er allein oben in seiner Zelle, monatelang. Was tut er? Was denkt er?
Es geschah, dass ein Untersucher, der so zehn Monate in Einzelzelle gelegen hatte, in eine neu eingerichtete Gemeinschaftszelle für Untersuchungsgefangene verlegt wurde. Man glaubte, er würde glücklich sein. Er flehte, in seine Zelle zurückzudürfen. Er konnte die Gesichter der Menschen nicht mehr ertragen, ihr Sprechen nicht, nicht ihren Geruch. Wird er je wieder »draußen« unter anderen Menschen leben können? Welche Veränderungen sind in ihm vorgegangen!
[19]Jeder kann jeden Tag verhaftet werden. Aller Sache ist es, von der ich schreibe, nicht die einzelner, fremder Menschen. In den Gefängnissen die Leute sind nicht anders wie du, sie leiden wie du, sie möchten leben wie du. All dies hat, so umgrenzt, gar nichts mit den großen Worten wie Gerechtigkeit zu tun. Es ist eine rein praktische Frage, die jeden angeht.
Doch auch das Leben des Strafgegangenen ist schwer und dunkel genug. Gewiss, es gibt eine kleine Gruppe, die sich wohl fühlt, für die Strafe überhaupt keine Strafe ist. Es sind das in der Hauptsache junge Burschen vom Lande mit wenig entwickelter Intelligenz und geringem Trieb zum andern Geschlecht, ihre ganze Sorge konzentriert sich darauf, dass sie auch genug zu essen bekommen.
Zu ihnen treten die Walzenbrüder, die meist wegen Bettelei ihre sechs Wochen »abreißen«. Sie, die teilweise sehr oft vorbestraft sind (ich lernte einen kennen, der seine 43. oder 44. Strafe verbüßte), stehen der Strafhaft mit heiterer oder brummiger Gelassenheit, jedenfalls mit Gelassenheit gegenüber. Für ihre Einstellung scheint mir eine Frage kennzeichnend, die der eben erwähnte Rekord-Vorbestrafte an einen Untersucher, einen halb verzweifelnden älteren Beamten richtete: »Na, du bist wohl auch ein bisschen zur Erholung hier?« Das war kein Witz, ihm war es ernst mit dieser Frage. Für den Stromer ist das Gefängnis eine Erholung.
Aber das ist die Minderzahl, die andern leiden schwer genug. Und auch hier machen, wie bei den [20]Untersuchungsgefangenen, sinnlose, gedankenlose Grausamkeiten des Reglements das Schwere unnötig schwerer.
Warum darf ein Strafgefangener nur alle vier Wochen einen Brief absenden und empfangen? Ausnahmen sind statthaft, müssen aber in jedem einzelnen Fall erbeten werden, ihre Bewilligung ist ungewiss.
Warum darf er nur ein Bibliotheksbuch in der Woche bekommen? Gewiss, er soll arbeiten, aber, wenn er seine Arbeit getan hat, warum soll er da nicht lesen dürfen? Da sitzt er nun mit einem Kriegsecho, einem Roman von der Mahler oder gar einem jener elenden Traktätchen, die ein völlig verlogenes Hirn geschrieben haben muss, und liest es nun zum dritten Mal Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite – muss sein Hirn da nicht revoltieren?
Die lyrischen Dichter haben Unrecht: Kein Gefangener in einer preußischen Strafanstalt darf, das Gesicht gegen die Stäbe seines Gitters gepresst, dem Zuge der Wolken nachschauen oder sein Herz an Baumwipfeln erfreuen. Das Reglement verbietet das. Zum ersten ist sein Fenster aus geripptem, milchigem Glase, durch das kein Gegensand zu unterscheiden ist, dann aber darf er gar nicht auf sein Bett klettern und oben durch den freien Raum des Klappfensters spähen. Das wird streng bestraft. Ich habe selbst erlebt, dass ein Gefangener für diese Sünde mit drei Tagen schweren Arrests belegt wurde. Fluchtversuche werden mit schwerem Arrest bestraft. Die Beschädigung von Bibliotheksbüchern wird mit schwerem Arrest bestraft. Unbegründete Beschwerden werden mit schwerem Arrest bestraft.
Was schwerer Arrest ist? Eine Zelle im Keller, 1,80 m lang und breit, der meiste Raum wird von einer [21]Holzpritsche eingenommen. Wasser und Brot. Keine Bewegungsmöglichkeit. Keine Wärme. Am zweiten bis dritten Tag hat sich der Gefangene schon wund gelegen, das Frostgefühl verlässt ihn nicht mehr.
Strafe? Ja, Strafe, er hat ja aus dem Fenster gesehen.
Hier scheint das Missverhältnis so groß, dass ich beim Schreiben zögere. Sätze fallen mir ein, die ich von Beamten gehört habe: »Frieren sollt ihr ja.« – »Es soll ja eine Strafe sein.« – »Es soll ja schwer sein.«
Ich verstehe nichts mehr.
Wie ist das eigentlich? Jemand wirft in der Betrunkenheit ein paar Scheiben ein und prügelt eine Frau: neun Monate Gefängnis. Jemand schlägt aus Eifersucht seine Liebste tot: acht Jahre Zuchthaus. Jemand bittet einen anderen um zehn Pfennige: sechs Wochen Gefängnis.
Ich werde eifrig, ich beginne zu rechnen: Sechs Birnen weniger sechs Äpfel, was macht es? Ah, ich beginne zu begreifen, Strafe, Bestrafung, das ist etwas Überliefertes, etwas, von dem längst der Sinn verloren ging. In der Kirche singen sie ja auch Lieder und sagen Gebete auf, ohne dass sie sich etwas dabei denken: Der Sinn ist verloren gegangen, die Einrichtung besteht noch.
Wer denkt an Sühne, Reue, Buße? Wird es gut, bist du wieder der Alte, wenn du nach neun Monaten frei wirst? Gar nicht.
Heute ist es so, dass es gewisse Spielregeln gibt. Man kann sie außer Acht lassen, dann muss man bezahlen mit acht Jahren oder neun Monaten, je nachdem. Fünf Mark sind auch nicht das Buch, das du dafür kaufen willst, Geld und Buch sind etwas ganz Verschiedenes, aber unter gewissen Umständen sind fünf Mark eben doch das Buch.
[22]Eine der ersten Fragen, die der Strafgefangene an den Ankömmling richtet, lautet: »Hast du auch etwas davon gehabt?« Er will wissen, ob du deine Ware fürs Geld bekommen hast, denn er hat gelernt, dass man auch unwissentlich die Spielregeln verletzen kann. Doch nur von der wissentlichen Verletzung hat man etwas. Er grinst über das Gerede von Strafe, Reue, Besserung. Das ist es ja gar nicht. Und er hat sicher recht. Man gibt Geld für das Buch, man gibt Lebenszeit für die Tat. Alles andere ist unwahres Gerede, diese kalte, klare Tatsache zu umnebeln.
Darüber sei man sich klar. Und ist man so ehrlich, so grenze man auch den Begriff Strafe reinlich ab. Sie ist eine Freiheitsberaubung mit Arbeitszwang. Alles andere lasse man fort. Was soll das, dass der Gefangene keine Briefe schreiben soll? Er soll keine Ablenkung haben, zur Besinnung kommen, Reue verspüren? Glaubt man, dass ausgerechnet der Gefangene dazu da ist, das Rätsel von Gut und Böse zu lösen oder von der Willensfreiheit des Menschen?
Das ist alles Unsinn. Auch hier Reinlichkeit. Dies und dies ist deine Strafe, sonst nichts, damit ist es gut. (Damit ist es noch lange nicht gut.)
Ein toller Unfug wurde in unserer Strafanstalt mit der Bewährungsfrist (B.-F.) getrieben. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Gefangener, der eine halbjährige Strafe zu verbüßen hat, tritt an. »So«, wird ihm gesagt, »Sie sind noch nicht vorbestraft? Führen Sie sich nur gut, dann können Sie nach der Hälfte der Strafzeit B.-F. bekommen.«
[23]Der Gefangene hat erwartet, an dem und dem Tage entlassen zu werden, nun hört er, dass es vielleicht ein ganzes Vierteljahr früher sein kann. Nur drei Monate, wenn er sich nur gut führt? Er wird sich schon gut führen! Drei Monate, das scheint ihm nichts, übermorgen, denn er war ja auf sechs Monate eingestellt. Hoffnung beseelt ihn, wann – –?
Er beginnt sich einzuleben, er begreift, dass drei Monate im Gefängnis eine endlose Zeit, dass sie gar nicht gar nichts sind, er schaudert bei dem Gedanken, noch weitere drei Monate … Er arbeitet bis zum Äußersten. Nur das Wohlwollen jedes Beamten erwerben. Ein böses Wort kann alles zerstören.
Er ist vereinzelt worden. Die Mitgefangenen sind eine geschlossene Schar, er muss besser sein als sie alle, damit er seine Bewährungsfrist bekommt.
Er beginnt sich zu erkundigen. Es scheint sicher zu sein, dass es zwecklos ist, ein Gesuch um B.-F. einzureichen, ehe er die Hälfte seiner Strafzeit verbüßt hat. Früher gestellte Gesuche werden erfahrungsgemäß abgelehnt. Aber dann kann er ja sein Gesuch erst nach Ablauf eines Vierteljahres stellen? Wie lange dauert die Beantwortung? Vier Wochen? So können ihm also im besten Falle nur zwei Monate geschenkt werden, vielleicht nur sechs Wochen, vielleicht gar nur ein Monat?
Er gibt sich auch damit zufrieden. Er hat gelernt, dass ein Monat eine endlose Zeit ist, er wird auch damit zufrieden sein. Er verdoppelt seine Anstrengungen. Er ist glücklich, wenn er einem Beamten eine Gefälligkeit erweisen kann. Er belauert die anderen, um Ungehörigkeiten melden zu können, sich als der Vertrauensmann zu beweisen, der er [24]sein muss, um eine Befürwortung seines Gesuchs durch die Anstaltsleitung zu erreichen.
Das weiß er so auch schon, wie wichtig diese für ihn ist. Von den andern erfuhr er, dass die Gerichte ganz verschieden mit der Zubilligung von B.-F. verfahren. Manche sind »freigebig« damit, andere, die Mehrheit, lehnen es ab, immer. Wenn dann sein Gesuch von der Anstalt befürwortet ist, geht es trotz der Ablehnung durch das verurteilende Gericht an das Ministerium weiter. Das entscheidet dann.
Und wie lange dauert das? Man zuckt die Achseln. Man erzählt ihm lächelnd den Fall, dass ein Gefangener ein Gesuch einreichte. Es wurde befürwortet, vom verurteilenden Gericht abgelehnt, es ging ans Ministerium. Da lag es. Es kam keine Antwort, das Gesuch wurde vergessen. Nach Monaten reichte der Gefangene – er hatte eine lange Strafe zu verbüßen – ein zweites Gesuch ein. Dieses Gesuch hatte sofort Erfolg, der Gefangene wurde entlassen. Als er schon Wochen auf freiem Fuß ist, trifft die Antwort des Ministers auf das erste Gesuch ein: Das Gesuch ist abgelehnt. Verzweiflung der Leitung: Was soll man tun? Der Entlassene ist zu Unrecht frei und zu Recht frei, er hat B.-F. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist, es scheint dies eine juristische Frage mit immerhin menschlichem Hintergrund zu sein.
Schließlich ist unser Beispiels-Gefangener so weit, dass er die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat, er wird beim Sekretär vorgeführt, sein Gesuch wird aufgenommen und er bittet demütig darum, es zu befürworten. Das ist es, er bittet demütig. Es wird ihm zugesagt. Er dankt, aber er ist nicht sicher, dass es auch wirklich geschieht. Er durchschaut schon dies System. Er erlebt an jedem Montag, wenn die [25]Kolonnen zur Außenarbeit abrücken, die Ansprachen des Anstaltleiters. Er hat gemerkt, je höher bestraft der Gefangene, je aussichtsloser seine Sache ist, umso größere Hoffnungen werden ihm gemacht. »Führe dich nur gut, mein Sohn.« Der Gefangene soll abgehalten werden, einen Fluchtversuch zu machen.
Und trotzdem er dies durchschaut, trotzdem glaubt er daran. Denn sein Fall liegt auch anders wie die andern, nicht wahr, sein Fall ist ein ganz besonderer Fall.
Aber es ist auch gefährlich, grübelt der Gefangene, zu tüchtig zu sein. Dann ist man unentbehrlich, wird ungern fortgelassen, solch Gesuch wird gar nicht befürwortet. Und dann hat die Leitung ja auch ein Interesse daran, den Gefangenenbestand möglichst hochzuhalten. Seit die Strafen der Inflationszeit größtenteils verbüßt sind, ist der Bestand der Gefängnisse teilweise unter 50 v. H. der Normalbelegung gesunken. Das hat Beamtenentlassungen, Zusammenlegungen etc. zur Folge. Nein, sicher ist es mit dem Befürworten ganz und gar nicht.
Schon ein paar Wochen nach der Stellung seines Gesuches ist eine Antwort da. Der Gefangene soll angeben, wo er in der Zwischenzeit seit Begehung seiner Tat gearbeitet hat. Der Gefangene ist Beamter, Angestellter; man wird also an seinen früheren Arbeitsstellen anfragen, wie er sich dort geführt hat. Er hat schon so schwere Sorgen, wie er nach der Entlassung Arbeit bekommen wird, nun sieht er es beinahe unmöglich werden, da das Gericht so eifrig für Bekanntwerden seiner Verschuldung sorgt. Nach Verbüßung der Strafe wird erst die wahre Schädigung beginnen.
Vielleicht bekommt der Gefangene dann schließlich sechs Wochen B.-F. zugebilligt. (In den meisten Fällen [26]nicht.) Aber wie oft hat er unterdes die Stunde verflucht, da er von dieser B.-F. hörte. Er kam her, er hatte sich mit sechs Monaten abgefunden. Dann machte man ihm Hoffnungen, er lebte die ganze Strafzeit darin. Es waren peinigende, quälende Hoffnungen. Sie zwangen ihn zu erschöpfender Arbeitsleistung. Sie brachten ihn zur tiefsten, feigsten Demut. Er wurde von den andern isoliert, er wurde ihr Spion, ihr Aufpasser, ihr Verräter. Dann zerstörte man ihm auch noch die spärlichen Aussichten für seine Zukunft.
Man glaubt doch nicht, dass der einzelne Beamte daran Schuld trägt. Der Beamte ist in weitem Maß dafür verantwortlich, dass der Gefangene nicht flieht, sich anständig benimmt usw. Die Behandlung durch die Beamten ist gut. Gewiss, es sind fast nur Subalternbeamte, die zudem im jahrzehntelangen Strafanstaltsdienst stumpf geworden sind. Aber was sie tun können, die Lage nicht unnütz zu erschweren, das tun sie. An ihnen liegt es nicht.
Es liegt an dem System, der Gesamtheit des Strafvollstreckungsdienstes, der längst ein toter Körper, versteinertes Gerippe ist. Was vielleicht einmal sinnvoll war, hat längst seinen Sinn verloren. Und es ist zwecklos, an dieser Leiche Kuren zu versuchen. Man sehe doch, wie ein an sich menschlich gewolltes Gesetz, wie das über die B.-F. sich in sein Gegenteil verkehrt, hässliche Quälerei wird.
Tot ist tot, ein anderes muss werden.
Ich komme wieder einmal heim aus den Verhandlungen des Staatsgerichtshofs gegen die Tschekaleute, angewidert, halb krank, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht: erledigt. Ist etwas Besonderes geschehen? Gar nicht. Zwar: es hat Ordnungsrufe ohne Zahl gegeben; zwar: Wortentziehungen sind nicht eben selten erfolgt; zwar: Zeuge und Angeklagter haben sich gegenseitig »Lump, Lügner, Meineidiger« geschimpft; zwar: Zeugen und Angeklagte, am Ende ihrer Nervenkraft, haben Geschlechtskrankheiten, Weiberbekanntschaften, Betrunkenheiten mit allen (körperlich schmierigen) Folgen einander ins Gesicht geschrien – aber ist das etwas Besonderes? Das hören, das sehen wir seit vier Wochen alle Tage.
Ein Verteidiger beginnt zu reden. Vorsitzender: »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich erbitte das Wort zu einem Antrag.« – »Sie können den Antrag später stellen. Ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich verlange Protokollierung dieser Verweigerung.« – »Ich lehne diese Protokollierung ab.« – »Nach § X der Strafprozessordnung …« – »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort!«
Auf der Anklagebank sitzen rund ein Dutzend Männer, seit über einem Jahre in Untersuchungshaft, durch die endlose Voruntersuchung zermürbt, seit vier Wochen auf der Marterbank dieses Prozesses, sie werden von Tag zu Tag blasser, gereizter, kränker. Immer wieder meldet sich einer: [28]»Mir wird schlecht.« – »Ich kann nicht mehr folgen!« – »Ich habe Hunger. Ich muss erst was zu essen haben.« Ist es ihnen zu glauben. Man sehe sie an. Doch, es ist ihnen zu glauben.
Dieser Gerichtshof ist – wie jeder Gerichtshof – dazu eingesetzt, die Wahrheit zu finden. Es geht bei den meisten Beteiligten um Strafen, die ihr ganzes Leben vernichten werden. Menschlichstes wird verhandelt? Ich höre immer: Nach § … Wortentziehung … Gerichtsbeschluss … Protokollierung …
Wer noch einen Beweis braucht, dass dieser Staatsgerichtshof nicht in der Lage ist, seine Aufgabe – sie besteht nicht in Verurteilung, sondern in Wahrheitsfindung – zu lösen, der höre diese Verhandlungen an. Hier vernimmt man – am Richtertisch – eine sinnlose, überreizte Schärfe des Tons, eine fast persönlich zu nennende Feindschaft wird sichtbar, eine überpäpstliche Unfehlbarkeitspose verhindert jede weichere Tönung –: all dies war bei dem Reichsgericht, das der Stamm war, aus dem auf höheren Befehl die Frucht Staatsgerichtshof reifte (nein, nicht reifte), – all dies, sage ich, war vor wenigen Jahren hier noch nicht möglich. Solche Verhandlungen müssen das Ansehen des obersten deutschen Gerichtshofes in nie wieder gutzumachender Weise erschüttern.
Die Wahrheit finden? O nein. Zwischen Vorsitz und Verteidigung wird ein Beutestück hin und her gezerrt (der Reichsanwalt sitzt in seinem Winkel und schweigt), und es gehört keine Prophetengabe dazu zu sagen, wer in diesem Prozess Sieger sein wird: der Vorsitz.
Und die Zerrupften zahlen die Zeche.
Von einer Reihe von Angeklagten wird behauptet, in der Voruntersuchung seien Erpressungen an ihnen versucht oder verübt, Geständnisse seien belohnt, größere Belohnungen seien in Aussicht gestellt.
Margies, ein herzlich unsympathischer Typ, sehr wenig Mensch und sehr viel Tier, aber was tut das zur Sache? Er gibt an, dass er, als er auch beim zweiten Verhör während der polizeilichen Voruntersuchung die Aussage verweigert habe, nicht in seine frühere Zelle, sondern in eine Dunkelzelle zurückgeführt sei, in der er acht Wochen habe zubringen müssen. Während acht Wochen habe er keine frische Wäsche erhalten, der Zukauf von Lebensmitteln aus eigenem Gelde, der den anderen Gefangenen erlaubt gewesen sei, sei ihm trotz Erlaubnis des Untersuchungsrichters nicht gestattet worden, die Freistunde-Bewegung in frischer Luft – sei ihm verweigert.
Die Wahrheit dieser Angaben wird nicht bestritten. Der Kriminalbeamte, der seinerzeit die Vernehmungen vornahm, erklärt unter seinem Eid, er habe diese Strafmaßnahmen nicht veranlasst. Dies ist ihm zu glauben, ist damit aber die Sache erledigt? Wer hat dies denn veranlasst? Weiß man so wenig vom Innenbetrieb der Gefängnisse, dass es noch der ausdrücklichen Versicherung bedarf, ein Kriminaloberinspektor habe diese Maßnahmen nicht veranlasst? Er wird sich hüten! Es ist ja auch gar nicht nötig, man weiß doch, wie rasch in einem Gefängnis das Ergebnis solcher Vernehmung durchsickert. Er hat nicht gestanden! Wir werden es dem Bruder schon zeigen!
[30]Das Gegenstück: Poege. O welcher Glanz! Er hat den wahren Bekenntniseifer gezeigt, sogar dem Oberinspektor ist er mit seinen ewigen Vorführungswünschen, seinem Enthüllungsfieber ein wenig auf die Nerven gefallen. Aber immerhin hat ihm dieser Oberinspektor doch als Gegenleistung einige Versprechungen gemacht, über deren Tragweite natürlich die Aussagen des Verhörführers und des Beschuldigten ein wenig auseinandergehen.
Immerhin leugnet dieser Beamte nicht, dass er dem Poege, in Anbetracht seiner Verdienste um Rettung des Staates, eine weitgehende Strafermäßigung, vielleicht gar Strafaussetzung in Aussicht gestellt hat. Sogar von der Verhandlung dieses Prozesses in Stuttgart statt in Leipzig soll die Rede gewesen sein, damit Held Poege nicht den Blicken seiner Leipziger Genossen im Gerichtssaal ausgesetzt wird. Und natürlich hat Poege in keiner Dunkel-, in keiner Einzelzelle gelegen, man hat ihn in Gemeinschaftszelle gelegt, wo er andere Untersuchungsgefangene ausgehorcht und ihre Geständnisse brühwarm hinterbracht hat, man hat ihm diese »häufigen Spaziergänge in frischer Luft zum Polizeipräsidium gerne gegönnt«, er hat gutes Essen und Zigaretten bekommen, mit späterer Anstellung im Polizeidienst hat man gewinkt, am Horizont erscheinen undeutlich die Umrisse eines Auslandspasses.
All dies lebt, all dies kommt täglich vor, und wir wundern uns nicht einmal darüber. Es ist eben so, wer soll es ändern? Der Untersuchungshäftling, der sich seiner Haut wehrt, im Dunkelarrest, der Untersuchungshäftling, der sein eigen Nest beschmutzt, beim Spazierengehen.
Wir zahlen Prämien für die schuftigste Gesinnung.
In diesem Prozess kann man melancholische Betrachtungen über »die Macht der Presse« anstellen. Über ihre Macht, die Wahrheit zu verbergen. Einige wenige Blümlein aus einem vollen Strauß.
Eines Tages erschienen in einer Reihe der größesten Tageszeitungen Berichte und Bilder, die die Abführung des Rechtsanwalts Samter aus dem Gerichtssaal durch Schupoleute zeigten. Auf diesen Bildern sah man einen Herrn in Robe mit von Schreien verzerrtem Gesicht und gekrallten Fingern, den rechts wie links je ein kerniger Schupomann gepackt hatte. Am anderen Tage erklärte der Vertreter der Verteidigung, dass Samter keineswegs abgeführt sei, sondern von selbst den Gerichtssaal verlassen habe. – Welche von all diesen Zeitungen hat eine Berichtigung gebracht?
Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte Skoblewsky erklärt: »Ich habe mich nie Hellmut, Gorew, Wolf genannt, sondern nur Skoblewsky.« Eine Reihe von Blättern berichtet getreulich: »Ich habe mich nie Skoblewsky, Gorew, Wolf genannt«, wodurch ein Skoblewsky zu einem geheimnisvollen Niemand umfrisiert wurde.
Als der Angeklagte Poege in der Hauptverhandlung einen Teil seiner Geständnisse aus der Voruntersuchung mit der Begründung widerrief, er habe sie nur wegen der ihm von der Polizei in Aussicht gestellten Belohnungen gemacht, und diese Belohnungen des Genaueren angab, dachte ich: »Nun, dies wird wie eine Bombe einschlagen.« Ein Teil der Rechtspresse meldete lakonisch: »Der [32]Angeklagte Poege widerruft seine Geständnisse.« Punktum. Streusand.
Diese drei Beispiele zeigen die drei Wege der Macht: vollkommen Neues erfinden, Geschehenes verfälschen, Gehörtes unterdrücken. Alle drei Wege werden eifrig benutzt.
Dies wären Kleinigkeiten? Bitte schön, im Zuhörerraum des Staatsgerichtshofs haben rund hundert Personen Platz, die ausschließlich Rechtsblätter lesen – nun, wie viele Personen?
Heute sind die Sachverständigen vernommen worden. Welche Änderung! Welche Sanftmut! Milde wie ein Vater gestattete der Vorsitzende den Anwälten, ihrem Fragedrang Genüge zu tun, und, als es doch einmal bei einer Frage des Rechtsanwalts Samter zu einem Zusammenstoße zu kommen drohte, war alles im Handumdrehen in den verbindlichsten Formen erledigt. Wo sind die rauen Töne von gestern? Des Winters scharfe Winde wehen nicht mehr, ist der Frühling im großen Sitzungssaale eingezogen? Ach, es ist, als ob in einer arg neurasthenischen Familie ein hoher Besuch angekommen ist, alles benimmt sich, niemand zankt sich mehr, morgen, o morgen werden wir wieder unter uns sein!
Das Publikum zerfällt in zwei Parteien. Die eine seufzt: Der arme Vorsitzende hat es so schwer! Die andere: Die unseligen Anwälte sind zu bedauern. Der unparteiische Beobachter schwankt zwischen einem einerseits, andererseits, [33]zwischen sowohl, als auch, und ihm fällt bei näherem Zuhören auf, dass in diesem Prozess die Verteidigung eine besondere Taktik anwendet.
Gewiss, da ist noch ein junger Anwalt, der mit unendlichem Eifer dicke Bücher wälzt, Reichsgerichtsentscheidung auf Reichsgerichtsentscheidung zitiert und immer wieder erleben muss, dass all dies für die Leitung der Verhandlungen gar keine Verbindlichkeit besitzt. Der Reichsjustizminister hat ihr ja eben erst bestätigt, dass sie völlig nach eigenem Ermessen zu entscheiden hat.
Doch andere Verteidiger haben längst eingesehen, dass auf dem formalen Wege nicht zum Ziel zu kommen ist. Es handelt sich ja nicht so sehr um die Straftat der Angeklagten, die ziemlich klar zutage liegen, da alle nach ihren ersten Verbrechen zusammengeklappt sind und wissentlich oder unwissentlich Komödie gespielt haben, es handelt sich hier darum, wie diese einzelnen Taten zu einer allgemeinen Gefahr ausgerufen worden sind, wie dieser ganze Prozess inszeniert worden ist, seine Aufbauschung, seine einseitig parteipolitische Frisierung, um den ganzen Fragenkomplex: Wie ist dieser Prozess »gemacht« worden? (Und: wer hat ihn gemacht?)
Von Zeit zu Zeit gelangt der Verteidigung in dieser Hinsicht ein Vorstoß. Da taucht plötzlich eine seltsame Broschüre auf. Ist sie Poege von der Polizei zugesteckt worden und hat er aus ihr seine Aussagen abgeschrieben? Er behauptet es. Ist sie erst aufgrund der Aussagen von Poege verfasst worden? Ein Polizeibeamter behauptet es. Wie aber sind dann die Aussagen Poeges in die Hände des Broschürenverfassers gekommen?
[34]Das taucht auf aus dem Wust, entschwindet ferner, versinkt.
Da wird die Abschrift einer Krankengeschichte des Rausch aus dem Lazarus-Krankenhause vorgelesen. Und plötzlich stellt die Verteidigung fest, dass in dieser Abschrift an entscheidender Stelle Abschwächungen und Streichungen dem Urtext gegenüber vorgenommen sind. Der Kriminalinspektor Koppenhöfer hat eines Tages Rausch die Lichtbilder seiner Mörder vorgelegt, er hat ein mindestens dreiviertelstündiges Verhör mit ihm angestellt. Von diesem Tage an ist eine entschiedene Wendung zum Schlechten eingetreten, vier oder fünf Tage danach starb Rausch, selbst den Ärzten überraschend. Und gerade in dem Text der Krankengeschichte von diesem Tage finden sich redaktionelle Änderungen. Seltsam. Sehr seltsam!
Es wäre von Interesse, einmal das Buch zu schreiben: Wie inszeniert man politische Prozesse, A. gegen rechts, B. gegen links. Es würde ein sehr phantastisches Buch abgeben, völlig romanhaft.
Richten die Angeklagten ihre Blicke auf das ihnen gegenüberliegende Fenster, so lesen sie in einem Wappen die Inschrift »Fidelitas«. Sie werden dies als eine wenig angebrachte Aufforderung zum Frohsinn ansehen. Und gibt es einmal wirklich Gelegenheit zum Lächeln, achtet niemand ihrer. Der Vorsitzende sagte: »Der Gedanke liegt allerdings [35]nahe, dass der Getötete, als ihm die Bilder der Täter vorgelegt wurden, diesen Ausspruch aus Rache getan hat.« Unbemerkt vorübergegangen.
Es ist nicht ganz leicht, mit dem ostelbischen Adel in Verkehr zu kommen. Er sitzt in seinen ländlichen Katen, die, sind sie zweistöckig, stets Schloss heißen, und verkehrt mit den Versippten und Verschwägerten. Und mit allen adligen ländlichen Kateninhabern ist er versippt und verschwägert. Kommt aber einer von außen und nun gar aus Mitteldeutschland, oh weh!
Mein Lieber, dort ist doch alles rot! Und wenn Herr Bomst auch nicht rot sein mag, es muss ja auf ihn gewirkt haben, dass er immer solche Ansichten hat anhören müssen. Nichts für uns, mein Verehrter. Besser ist besser.
Herr Bomst hat also umsonst seinen Zylinder aufgesetzt und umsonst den Frack angezogen. Man zeigte ihm die kalte Schulter. Aber Herr Bomst ist nicht umsonst aus Mitteldeutschland, speziell aus Sachsen. Herr Bomst ist helle. Da er nun einmal vergeblich auf die hochherrschaftlichen, herkömmlich mit Aloe geschmückten Rampen vorfuhr, denkt er: Nun müssen sie mir kommen.
Und Bomst, der natürlich Offizier gewesen ist, entdeckt, dass die ländliche Jugend dringend nach Zusammenschluss lechzt. Er gründet eine Ortsgruppe des Stahlhelm. Das ist eine sehr einfache Geschichte. Er hängt sich zwei Stunden ans Telefon und klingelt alle großen Güter der Gegend an. Wozu gibt es landwirtschaftliche Beamte? Er lädt sie freundlich zu einer Vorbesprechung zwecks Gründung einer Ortsgruppe des Stahlhelm ein. Etwaige nationale [37]Bauernsöhne sind mitzubringen. Kann er den Herren nicht haben, nimmt er’s Gescherr.
Und welcher landwirtschaftliche Beamte könnte solcher Lockung widerstehen? Bei einem Rittergutsbesitzer eingeladen! Kann man’s denn überhaupt riskieren, wegzubleiben? Weiß der Himmel, wie der Bomst mit dem eigenen Chef steht! Vierzehntägige Kündigung ist bei landwirtschaftlichen Beamten noch sehr Mode.
So kommen sie alle. Und es lohnte sich wirklich. Es war, es war, nun, einfach kameradschaftlich herzlich. So ein gemütlicher Ton. Und die ältesten Feldzugsgeschichten, die kein Aas mehr hören wollte, an Bomst waren sie loszuwerden. Und es gab Wein. Und es gab Zigarren mit Leibbinde. Alle unterschrieben.
Das dringende Bedürfnis war gestillt und die Ortsgruppe X des Stahlhelm gegründet.
Die nächste Versammlung sah bereits anders aus. Erstens fand sie nicht mehr bei Herrn Bomst, sondern in irgendeinem Gasthof statt, wo jeder sich seinen Topp Bier selber kaufen musste, und zweitens erhob sich Herr Bomst und bat die Herren dringend, doch ja recht pünktlich zu sein. Jawohl, pünktlich auf die Minute. Es sei ein Unding, ihn eine ganze Viertelstunde wie heute warten zu lassen. Man sei hier zur Pflege des kameradschaftlichen Geistes, vor allem aber des militärischen Geistes. In diesen verrotteten Zeiten ...... Und unser oberster Kriegsherr ........
Es war wunderbar. Und Herr Bomst konnte sich nun hinsetzen und dem Großgrundbesitz (mit Adel) Briefe schreiben, die Ortsgruppe sei gegründet und der Geehrte Herr Major oder Oberst oder General werde gebeten, als Mitglied.. Unterstützung.. nationale Pflicht ….
[38]Herr Bomst kann ruhig schlafen, er hat den Anschluss gefunden.
Auch schlichtere Gemüter hegen die Ansicht, dass solche Stahlhelmortsgruppe noch weitere Aufgaben hat, als diese allwöchentlichen Zusammenkünfte in der Hinterstube eines Bierlokals. Ernste Pflichten liegen ihr ob. Die gewonnenen Feldzugserfahrungen sind zu erhalten und auszubauen. Das Wort Nachtübung fällt.
Nun, warum eigentlich nicht Nachtübung? Die sämtlichen Ortsgruppen der Gegend werden mobil gemacht. Und damit die Sache für die jungen Leute abenteuerlicher sei, wird ausgesprengt, dass die Arbeiter der Kreisstadt – eine verworfene rote Band, ein Blutgeschwür (Blutgeschwür ist gar nicht übel, denkt mancher versonnen) – dass diese Rotte also beabsichtigt, die Leitung der Stadt zu ergreifen, das Rathaus mit Gewalt zu stürmen – in der kommenden Nacht. Pflicht sei … Erhaltung des Bestehenden ….
Es war ein göttlicher Nachtmarsch. Sie marschierten 20 Kilometer und kamen vor die Stadt und standen in Büschen, denn die Arbeiter durften ja nichts merken. Und dann stellte es sich heraus, dass diese Gruppe auf die andere Seite der Stadt gehörte. Also marschierten sie wieder 10 Kilometer und standen wieder in Büschen und besahen die Stadt von der anderen Seite. Sie tat, was Landstädte nächtens tun: sie schlummerte. Da suchten sie Anschluss an die Nebengruppe und fanden sie nicht. Und dann fanden sie die Nebengruppe und dann war es die [39]falsche Nebengruppe. Und dann begann es zu dämmern und Herr Bomst teilte ihnen mit, dass die Arbeiter von der Aktion des Stahlhelm Kenntnis bekommen und sofort aus Angst ihre Aktion eingestellt hatten. Ein voller Erfolg!
Die Brust schwellte Stolz. Und dann wanderten sie wieder 20 Kilometer nach Haus. Lieb Vaterland, magst ruhig sein!
Das war in den Tagen des Küstriner Putsches, von dem man später so seltsam Weniges hörte. Große Dinge geschahen. Motorräder durcheilten die Ortschaften, in Leder gekleidete Herren, denen zum vollständigen Anzug nur das Monokel fehlte, gaben Weisungen aus und es kamen andere Belederte und gaben andere Weisungen aus. Und niemand wusste etwas und alle ahnten etwas. Und es würde ein großer Schlag sein und das Vaterland . . . . .
Man machte Siedehitze und, die sie machten, waren ganz gutgläubig und darum siedete es auch so. Jeder Eleve der Landwirtschaft sah sich als Retter des Vaterlandes. Und der Chef gab natürlich Urlaub und man machte sich bei ihm einen weißen Fuß.
Nur, sein Auto gab der Chef nicht. Als Herr Bomst anrief und um Zur-Verfügung-Stellung des Autos bat, da sagte der Chef natürlich zu. Durfte man es denn mit diesen verderben? Wer weiß, morgen waren sie (sprich wir) die Herren. Aber dann traf es sich so vorzüglich, dass grade zu diesem Tage das Auto kaputtging. Sicher ist sicher. Und des [40]Müllers Satz, dass es Richter in Berlin gibt, hat auch manchmal sehr seine zwei Seiten.
Aber die Jungen, die marschierten natürlich los. Sie wären nicht nur gegen Küstrin, sie wären gegen Berlin, sie wären gegen die ganze Welt marschiert. Sie marschieren streng national in jedes Debakel. Sie wissen nichts, wenn nicht dies, dass sie die andern hassen. Jene, die immer ändern wollen, die immer vorwärts wollen, die nie beharren können. Es war doch früher so schön bei uns. Sie marschieren zu der Spielerei ihrer Nachtübungen, sie marschieren zu jedem Mord und Totschlag, sie marschieren heute noch. Und sie werden immer marschieren – gegen den Geist.
Ostelbien liegt nicht nur östlich von der Elbe. Dieses Land, dessen Name nicht nur für eine politische Denkart Symbol ward, erstreckt sich überall dort, wo Menschen pflügen, Korn nach Kartoffeln bauen und Schweine mästen.
In die Bücherschränke vieler Besitzer sah ich auf mancher Reise. Mir graute. Die politische Einstellung des Ostelbiers hieß konservativ, damit sollte ein Festhalten am Hergebrachten bezeichnet werden. Die Bücherschränke der Väter heutiger Agrarier haben anders ausgesehen wie die von meinem Blick entweideten, die der Großväter waren wiederum anders. Es ist nicht Konservativität, nicht Festhalten am Hergebrachten und es ist doch stets das Gleiche: Bequemlichkeit, Denkfaulheit, Seichtheit, stures Ablehnen alles Andersseins. Wie der Gott Mosis formt der Landwirt noch immer die Welt nach seinem Bilde und Anderssein heißt Schlechtsein.
Geben Sie einem Agronomen, sagen wir aus Hinterpommern, ein Buch in die Hand, so hören Sie von ihm häufig die Frage: »Liest sich das Buch gut?« (Andere Gegenden bevorzugen die Wendung: »Geht das Buch scheene?«) Eine Frage, die auf den Mund schlägt und ein kribbliges Gefühl erregt, dem Gegenüber das Buch wieder zu entreißen. Sie merken, Sie sind in einer andern Welt. Sie sehen, wie die gebräunten, oft rassigen Hände das Buch in der Mitte öffnen, zwei, drei Zeilen oder auch nur Wörter werden gelesen, zwei Seiten weiter dasselbe, am Schluss noch ein Blatt. (Dem Titelblatt wurde kein Blick geschenkt.) Man hört die Versicherung: »Ich werde das Buch mal lesen.« Und nun die Krönung: »Eigentlich lese ich ja keine Romane.«
[42]Eigentlich liest er nur Romane. Bloß eben anders. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich das Publikum der Courths-Mahler, Werner, Wothe, Eschstruth nur von der Hintertreppe rekrutiert: den Dienstmädchen, Köchinnen, Waschfrauen nebst körperlichem und seelischem Anhang. Auch der reckenhafte Militarist versinkt in Träumen über den sylphenhaften Schleiergestalten der Kolportage.
Es fragt sich nur warum. Was man auch sage: die Welt in der er arbeitet, lügt nicht. Korn, das wächst, lügt nicht, Vieh, das geboren und milch wird, lügt nicht, das Wetter lügt nicht, die gute Erde lügt nicht.
Und am Ende: ein Dorf ist so klein, auch die Menschen können sich nie lange umlügen, hier wird alles beobachtet, da nichts geschieht, ist das Zehntel eines Geschehens schon von Wichtigkeit. Man errät aus Bewegungen, Andeutungen, aus der Richtung eines abendlichen Ganges, aus der Veränderung einer Stimmung mit Genauigkeit das Entscheidende.
Ist es nicht seltsam, dass dieser Beruf, der wie kein anderer in all seinen Verrichtungen von naturhafter Wahrhaftigkeit umgeben ist, in seiner Politik und in dem Zeitvertreib seiner Mußestunden die Lüge liebt? Und nur die Lüge? Auf dem Lande jedenfalls muss der Satz erfunden worden sein: Die Kunst soll erfreuen.
Zwei Gründe scheinen mir entscheidend zu sein.
Der Landwirt, der den ganzen Tag auf dem Felde ist und der, selbst wenn er nicht mit Hand anlegt, durch den zehnstündigen Aufenthalt in frischer Luft, durch das bloße Gehen in neu gepflügtem Land aufs äußerste körperlich ermüdet ist, findet es unbequem, abends noch denken zu sollen. Er will eine Welt, in der etwas geschieht; auf eine [43]unkomplizierte und übersichtliche Weise müssen Ereignisse eintreten, die ihn fesseln, spannen, kurz, bis zur Schlafensstunde wach halten.
Und dann: Die Welt, in der er lebt, ist eine sehr einfache Welt. Die Liebe, die einen Knecht und ein Hofgängermädel zusammenbringt, ist auf die primitivsten Anlässe rückgeführt, sagen wir, auf den Anlass. Hier fehlt völlig das versteckende Spiel der Redensarten, der Ideale, keine Mäntelchen, alles ist nackt. Keine Umwege, jedes kennt sein Ziel.
Das aber ist seine Sünde, dass der lesende Agrarier, vielleicht von der Schule, vielleicht von der Religionsstunde her, an eine andere Welt glaubt. Diese Welt lebt er, aber ein bisschen glaubt er doch an die andere. Er schlägt das Buch auf und nun ist sie um ihn, diese andere Welt. Hier erlebt er unfassbare Verzichtleistungen, einen Edelsinn, den er bewundert, eine Treue an das Ideal, die er nie besessen hat (und selbst nie haben möchte). Er, der am Tage einfach sein muss, auf kotigen Landwagen, unter wind- und regengerüttelten Bäumen, am Abend ist er in der lauen Luft der Ballsäle, sein kupferrotes Gesicht, nun von bleicher Blässe neigt sich über eine schmale Hand ….
Armer Ostelbier! Die Phantasie, die du nie hattest, deine Romanciere muss sie für dich haben! (Die schlichten Erdruchgeschichten liest man nicht auf dem Lande.)
Wie diese Leute nie denken gelernt haben und nie denken lernen wollten, so haben sie auch nie lesen gelernt. Wir wissen, wie wir uns von unsern ersten Jungenstagen weiterlasen, von Buch zu Buch, wie wir eindrangen in diese Geheimgänge, wie wir allen Verwandten unbegreiflich trostlos erschienen, da wir jeden neuen Tag die Götter vom vorigen lachend entthronten, bis wir schließlich [44]vordrangen bis zum Blute des Buches selbst, dem Stil, seinen Verästelungen nachspürten, wie uns die leise Hebung einer Zeile entzückte, ein Beiwort, das ein wenig aus dem Gefüge herausgerückt war und das schlicht und unaufdringlich für sich stand, zu Tränen verführte.
Was wissen diese von alledem? Sie lesen Bücher, um die Leere ihrer Abendstunden zu füllen. Ich weiß nicht, ob die Anekdote schon bekannt ist, von jenem Landwirt, dem ein Buchhändler Maeterlinks Leben der Bienen vorlegte. Der Landwirt blättert eine Weile in dem Buch und fragt dann den Buchhändler: »Haben Sie vielleicht ein solches Buch auch über Rindvieh?«
Gibt es eine Brücke? Es gibt keine Brücke.
Sicher, da sind Ausnahmen. Den Freund meines Lebens erwarb ich dadurch, dass ich bei einem viertelstündlichen Aufenthalte auf seinem Gut in seiner Hand Sternes Tristram Shandy sah. Da ließen wir das Gespräch über Lichtschachtdrillung bei Hafer und hatten zu sprechen. Aber das war die eine Ausnahme, die ich erlebte.
Diese »schöne« Literatur im Bücherschranke des Landwirts führt über die Brücke von Dinters Sünde wider das Blut in jenen Werken, die der Weltkrieg oder Der Große Krieg heißen, und ihre letzte Ergänzung in den Memoirenwerken großer Feldherrn und in Regimentsgeschichten fanden. Friedlich daneben steht die Schweinezucht und Kellners Fütterungslehre.
Künstler Deutschlands, hier liegt eine große Provinz, die zu erobern euch vorbehalten ist! (Ihr werdet sie nicht erobern.)
Mitte September hielten in Hamburg die Naturforscher eine Tagung ab. Und im Rahmen dieser Veranstaltung zog der Verein abstinenter Ärzte einen Vortragsabend auf, an dem auch unser Großtempler, Professor Dr. Strecker, sprach. Natürlich waren wir Guttempler uns einig darüber, dass wir unsern Großtempler hören müssten. Und so ist denn auch der Besuch dieses Vortragsabends durch die Guttempler ein sehr guter gewesen. Aber dieser Abend sollte ja mehr sein. Er sollte für den Abstinenzgedanken werben und war nicht ohne Vorbedacht in das Hamburger Studentenheim verlegt worden. Die abstinenten Ärzte hatten gehofft, dass die Studentenschaft in großen Scharen kommen würde. Gerade unter den Studenten mit ihrem Verbindungs- und Korpswesen wurzelt ja ein Gutteil unserer deutschen Trinksitten, und man hatte da von der Leitung der Tagung gehofft, werbend und aufklärend wirken zu können.
Leider hat man sich in dieser Hoffnung getäuscht. Die Studentenschaft ist, trotzdem die Vorträge in ihrem eigenen Heim veranstaltet wurden, ferngeblieben. Es scheint so, als ob diese Kreise jede Aufklärung von vorneherein ablehnen. Wenn sich auch gegen früher manches gebessert haben mag, so will die Studentenschaft – die farbentragende wenigstens –, nichts davon wissen, ihre alten Trinksitten, oder richtiger Trinkunsitten, aufzugeben.
Ein Fehlschlag also, aber nicht der erste Fehlschlag: Grade unser Großtempler, Bruder Strecker, erzählte unter dem Thema »Alkohol und Studentenschaft« von einem Mann, der schon früher den Kampf gegen das unsinnige Trinken [48]der Studenten aufgenommen hatte und der ebenfalls nichts erreichte.
Dieser Mann war der erste Rektor der 1811 gegründeten Berliner Universität und war der Philosoph und Vorkämpfer der Deutschen gegen die damalige französische Bedrückung: Johann Gottlieb Fichte.
Als Fichte 1811 in seiner Rektoratsrede den Kampf gegen den Alkohol mit wissenschaftlichen Waffen forderte, hatte er schon bittere Gelegenheit gehabt, die Frage Alkohol in Verbindung mit der Studentenschaft zu studieren.
1794 war Fichte auf Goethes Veranlassung an die Universität Jena berufen worden, dort sah er die Trinkgelage der Studenten, ihre Händel, ihre Mensuren, ihre Schlägereien. Er erkannte, dass dies alles unvereinbar mit den Zielen der Studentenschaft war, der Student sollte einmal, sei es als Gelehrter, als Richter, als Arzt, als Theologe, Führer und Beraten seines Volkes werden, es war ein Unding, dass diese künftigen Führer sich in ihren wichtigsten Entwicklungsjahren systematisch an den übermäßigen Alkoholgenuss gewöhnten. Gewöhnungen, deren Nachwirkungen viele von ihnen in ihrem ganzen Leben spüren würden.
Fichte wandte sich nun mit flammendem Aufruf an die Studentenschaft und er erreichte, dass die begeisterten Musensöhne die Auflösung ihrer Trinkverbände beschlossen.
Nun musste Fichte als Professor über diese wichtige Änderung an seiner Universität Jena seiner vorgesetzten Behörde berichten und deren Billigung und Weisung für seine weiteren Schritte einfordern. Damals, 1794, war Deutschland ja noch viel zerrissener als heute, 12 thüringischen [49]Landesregierungen gemeinsam gehörte die Universität Jena, an 12 Stellen hatte sich Fichte zu wenden, von 12 Stellen hatte er Antwort zu erwarten.
Diese Antworten kamen nicht sehr rasch, blieben teilweise ganz aus. Und unterdes verrauchte das erster Feuer der Begeisterung. Wie es immer bei derartigen Gelegenheiten geschieht, wagten sich nun die Freunde des studentischen Trinkwesens wieder hervor, sie hetzten gegen Fichte, beschuldigten ihn, er wolle nur die akademischen Freiheiten der Studentenschaft beschneiden – die kostbare Freiheit, sich zu besaufen, nämlich –.
Und diese Herren erreichten, dass Demonstrationen gegen Fichte vorgenommen wurden, ihm wurden die Fenster seiner Wohnung eingeworfen, ein nächtlicher Einbruch wurde in diese Wohnung versucht, an deren Folgen später sein erschreckter Schwiegervater stirbt, und schließlich musste Fichte noch 1795 ein Semester lang seine Lehrtätigkeit unterbrechen, bis sich die erregten Gemüter wieder ein wenig beruhigt hatten.
Das war Fichtes erster Angriff gegen den Alkohol, auch sein Angriff 1811 hat keine sichtbareren Erfolge gehabt, und Sie haben gehört, dass auch an jenem Vortragsabend abstinenter Ärzte, von dem ich Ihnen erzähle, der Erfolg gleich Null war. Die Studentenschaft fehlte.
Woran liegt das? Woher kommt es, dass das Interesse der breiten Öffentlichkeit, des Gebildeten wie des Einfachen, so unendlich schwer auf diese Dinge zu lenken ist? Woher kommt es, dass man immer wieder schlankweg ablehnt, uns auch nur anzuhören?
Vielleicht ist die Antwort richtig, die ein anderer Redner jenes Abends, Professor Dr. Delbrück, der ehemalige Leiter [50]der Bremer Irrenanstalten, auf diese Frage gab. Vielleicht, ich weiß es nicht.