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Zerbrochene Partnerschaften, das Ende von Freundschaften, schwierige Beziehungen zu Kollegen – viele Menschen geraten immer wieder an Menschen, die ihnen nicht guttun. Dahinter stehen häufig Beziehungsmuster, die man sich unbewusst in der Kindheit und Jugend angeeignet hat. Sich daraus zu befreien, ist ein schwieriger Prozess. Anselm Grün und Hsin-Ju Wu zeigen in diesem Buch einen Weg auf, der die Erkenntnisse der Psychologie mit den Einsichten und der Weisheit der biblischen Spiritualität verbindet. So entsteht ein Lösungskonzept, das den ganzen Menschen verwandelt und zu einer veränderten Lebenshaltung führt. Diese ermöglicht, Beziehungsmuster nicht nur zu erkennen, sondern sie aufzubrechen und dauerhaft zu ändern.
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Seitenzahl: 151
Anselm Grün, Hsin-Ju Wu
Warum immer ich?
Beziehungsmuster erkennen und aufbrechen
Vier-Türme-Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022
ISBN 978-3-7365-0420-2
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2018
ISBN 978-3-7365-xxxx-x
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: wunderlichundweigand
Covermotiv: Cienpies Design / shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Vorwort
In der Begleitung vieler Menschen und in Gesprächen mit Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern haben wir, Frau Hsin-Ju Wu und Pater Anselm Grün, immer wieder von Mechanismen gehört, die die Beziehung in der Partnerschaft, der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz und in kirchlichen Gemeinden stören und verdunkeln. Oft sind sich die Betroffenen dieser Mechanismen nicht bewusst. Sie spüren nur die Beziehungsstörung und erleben schmerzlich die Verletzungen, die durch solche Mechanismen entstehen. Aber sie wissen nicht, wie sie sich von deren zerstörerischer Kraft befreien können.
Christen appellieren in solchen Situationen oft an den guten Willen. Sie meinen, mit gutem Willen und mit Gebet könne man diese Probleme lösen. Doch durch Moralisieren oder Wegbeten kann ich die Mechanismen nicht auflösen, die mich immer wieder in neue Schwierigkeiten bringen und mich verletzen. Andere suchen in der Psychotherapie einen hilfreichen Weg. Sie lesen Bücher zum Thema und finden darin psychologische Theorien, die ihnen erklären, was in ihnen abläuft. Aber die Theorie ist oft kompliziert und hilft nicht immer weiter. Wir schätzen die psychologischen Einsichten und kennen auch die Fachliteratur dazu. Aber wir möchten das, was wir gelesen und in Gesprächen mit Menschen erfahren haben, in einfachen Worten wiedergeben beziehungsweise auf dem Hintergrund psychologischer Einsichten das Leben so beschreiben, wie es ist. Dabei haben wir bewusst in der christlichen Tradition nach Wegen gesucht, wie man mit den beziehungsstörenden Mechanismen umgehen kann. Für uns ist die Bibel eine Quelle psychologischer Einsichten. Aber es braucht eben auch eine psychologische Brille, um die Weisheit der Bibel für uns heute neu zu entdecken. Erst dann kann man erkennen, dass in biblischen Geschichten und Worten oft Lösungswege aufgezeigt werden, die uns helfen können, uns von den Mechanismen zu befreien und die Verletzungen zu heilen, die durch sie verursacht wurden.
So möchten wir in diesem Buch sechs verschiedene Mechanismen oder Muster darstellen, die unsere Beziehungen stören. Wir verstehen unser Buch als Einladung, sich selbst nach diesen Mechanismen zu befragen. Auf keinen Fall sollten die Einsichten dieses Buches dazu dienen, andere anzuklagen. Natürlich sagen die Mechanismen, die wir beschreiben, auch etwas über andere aus. Wir können dann besser verstehen, was in unserem Gegenüber abläuft und warum unsere Beziehung zu ihm so schwierig ist. Aber wir sollten auf keinen Fall werten und das Gelesene dazu missbrauchen, dem anderen zu sagen: Du projizierst jetzt deine Probleme auf mich, du hast mich emotional missbraucht. In erster Linie geht es darum, sich selbst besser kennenzulernen und sich von Mechanismen zu befreien, die unser Miteinander behindern. Die Darlegungen sollen wie ein Spiegel sein, in dem wir uns selbst wahrnehmen. Aber auch dabei geht es nicht um Bewerten, sondern um Verstehen. Nur wenn wir verstehen, welche Mechanismen in uns wirken, können wir uns davon befreien.
Im vorliegenden Buch werden auch psychologische Einsichten berücksichtigt. Doch wir möchten sie möglichst konkret an vielen Beispielen erläutern, die wir in unseren Gesprächen erlebt und erfahren haben und die diese Einsichten verständlich werden lassen. Zudem werden wir Lösungswege beschreiben. Dabei geht es uns vor allem um biblische Lösungswege, die oft mit den Lösungen aus psychologischer Sicht übereinstimmen, aber manchmal auch weiterführen. Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Spiritualität und Psychologie, aber es braucht eine Spiritualität, die keine Angst hat vor den Erkenntnissen der Psychologie, die sich vielmehr deren Einsichten öffnet, ohne dass sie ihre eigene Identität aufgibt. In der christlichen Spiritualität steckt viel psychologische Weisheit. Sie ist immer auch eine heilende Spiritualität. Jesus ist gekommen, die Menschen zu heilen und sie aus den Verwicklungen zu befreien, die durch lebenshindernde Mechanismen entstehen.
Wir wollen die Beschreibung jedes Mechanismus mit vier Fragen abschließen, die wir uns selbst stellen können. Zudem versuchen wir, auf diese Antworten zu geben. Das kann uns helfen, die Lösung für das jeweilige Muster konkret in unser Leben zu übersetzen. Diese Fragen zeigen uns die Schritte an, wie wir die Mechanismen, die unsere Beziehungen trüben und manchmal auch zerstören, überwinden können.
1. Schuldgefühle
Schuldgefühle sind ein großes Thema bei vielen Menschen. Dabei muss man unterscheiden zwischen den Schuldgefühlen, die in uns auftauchen, weil wir wirklich schuldig geworden sind, also zum Beispiel einem Menschen bewusst geschadet und ihn verletzt haben, und Schuldgefühlen, die wir spüren, die aber keine reale Schuld anzeigen. Bei dieser letzten Art von Schuldgefühlen können wir uns fragen: Woher kommen diese Gefühle? Sind es die Normen und Vorstellungen unserer Eltern, die wir übernommen haben und gegen die wir unbewusst verstoßen? Oder sind es Gefühle, die vielleicht auf eine seelische Krankheit hinweisen, etwa auf eine Depression?
Wie entstehen Schuldgefühle?
In der Psychologie sagt man: Schuldgefühle tauchen auf, wenn wir ein Gebot oder eine Regel, die in der Gesellschaft oder in der Familie gilt, übertreten. Die Regeln, die in der Familie gelten, haben mit wirklicher Schuld nichts zu tun. Dennoch werden diese von uns schon als Kind verinnerlicht. Sie bilden dann später das sogenannte Über-Ich, das uns klare Regeln vorgibt. Viele Schuldgefühle werden von diesem Über-Ich erzeugt. Eine junge Mutter fühlt sich beispielsweise schuldig, wenn sie sich einmal ausruht. Denn das Über-Ich verlangt von ihr, dass sie rund um die Uhr nur für das Kind da ist und sich nicht um sich selbst kümmern darf. Andere fühlen sich schuldig, weil sie die Erwartungen ihrer Familie, ihrer Kollegen und Arbeitgeber, ihrer Freunde nicht erfüllen können. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen: Eine Frau ist auf dem Bauernhof aufgewachsen. Immer, wenn sie als Kind spielen wollte, sagte die Mutter zu ihr: »Es gibt Wichtigeres zu tun. Putz mal die Küche oder geh in den Stall und hilf dem Vater.« Die Frau hat heute Schuldgefühle, sobald sie sich Zeit gönnt, die Zeitung zu lesen oder einfach einmal nichts zu tun. Hier geht es nicht um wirkliche Schuld, sondern darum, dass ihr Über-Ich ihr heute noch sagt, dass sie sich nicht ausruhen darf. Obwohl sie vom Verstand her weiß, dass es sinnvoll ist, eine Pause zu machen, tauchen in ihr Schuldgefühle auf, wenn sie sich wirklich eine solche gönnt.
Ein anderes Beispiel: Eine Frau hat ihrer Mutter vor Zeiten versprochen, dass sie sie in der Krankheit begleiten und sie nicht in ein Pflegeheim geben wird. Doch dann brach sie zusammen und wurde krank. Die Ärzte und ihre Geschwister sagten ihr, sie könne so nicht weitermachen, sonst sterbe sie noch vor der Mutter. Auf Druck der Geschwister willigte sie also ein, die Mutter doch in ein Pflegeheim zu geben. Dort besucht sie sie jeden Tag. Aber sie kann nachts nicht schlafen, weil sie Schuldgefühle hat: »Ich habe es doch der Mutter versprochen und das Versprechen nicht gehalten«, wirft sie sich selbst vor. Objektiv hat die Frau richtig gehandelt. Aber ihre Schuldgefühle lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Diese haben ihren Grund in ihren eigenen inneren Gesetzen. Zu diesen gehört der Satz: Wenn ich etwas versprochen habe, muss ich es halten, ganz gleich, welche Umstände eintreten und das Versprechen unmöglich machen. Ihre Schuldgefühle waren also keine Antwort auf eine reale Schuld, sondern nur auf die inneren Gesetze, die sie sich selbst gegeben oder die sie von ihren Eltern übernommen hat.
Ein drittes Beispiel: Eine Frau versprach ihrer Mutter, dass sie in der Stunde des Todes bei ihr sein wird. Doch als sie nur kurz zum Einkaufen unterwegs war, starb die Mutter. Ein Jahr lang machte sich die Frau Vorwürfe, warum sie es nicht gemerkt hatte, dass der Tod der Mutter bevorsteht. Ihr Mann erlebte sich hilflos gegenüber den ständigen Selbstbeschuldigungen. Auch hier haben die Schuldgefühle ihren Grund im Übertreten der eigenen inneren Regel: Ich muss mein Versprechen halten. Doch es wird noch etwas anderes sichtbar: Schuldgefühle sind zwar unangenehm, aber offensichtlich hatte die Frau lieber Schuldgefühle, als dass sie sich ihrer Trauer stellte und wirklich akzeptierte, dass die Mutter gestorben ist und dass sie sie loslassen muss. Manchmal fliehen wir lieber in die Schuldgefühle, um anderen unangenehmen Gefühlen zu entgehen, wie zum Beispiel dem Gefühl der Trauer.
Es gibt noch andere unangenehme Gefühle, denen wir lieber in Schuldgefühle ausweichen: Hilflosigkeit und Schmerz. Ein Beispiel: Ein kleines Kind stirbt den sogenannten Sekundentod, den die Ärzte bis heute nicht erklären können. Statt sich dem Schmerz zu stellen, grübeln die Eltern darüber nach, was sie hätten tun können, um den Tod zu verhindern. Und so sucht man die Schuld bei sich: »Ich hätte früher nach dem Kind schauen sollen« – »Ich hätte das Fenster offen lassen sollen, dann wäre es nicht passiert«. Oder man sucht die Schuld bei anderen, beispielsweise beim Arzt, der nicht davor gewarnt hat. In diesen Fällen flieht man lieber in die Schuldgefühle, als die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit und den Trauerschmerz wahrzunehmen.
Schuldgefühle und Schuldeinsicht
Wir unterscheiden zwischen Schuldgefühlen und Schuldeinsicht. Schuldgefühle schwächen uns. Das schlechte Gewissen, das ein Zeichen für Schuldgefühle ist, lähmt uns und raubt uns die Kraft. Die Schuldeinsicht ist dagegen wichtig für den Menschen. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, war der Ansicht, dass sie zur Würde des Menschen gehört. Ähnlich äußert sich der Münchner Psychiater Albert Görres. Er schreibt: »Wenn der Mensch die Möglichkeit, Schuldiger zu sein, nicht mehr wahrnimmt, dann nimmt er seine wesentliche Existenztiefe, das Eigentliche und ihn Auszeichnende, seine Freiheit und Verantwortung nicht mehr wahr« (Görres, Das Böse, 77). Die Schuldeinsicht lähmt uns nicht, sondern fordert uns heraus, unser Leben zu ändern. Der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung, spricht nicht von Schuldeinsicht, sondern vom Bewusstsein der Schuld. Aber er meint damit letztlich das Gleiche: »Das Bewusstsein der Schuld kann zum gewaltigsten moralischen Antrieb werden … Ohne Schuld gibt es leider keine seelische Reifung und keine Erweiterung des geistigen Horizontes« (Jung, Nach der Katastrophe, 87).
Damit der Mensch seine Schuld einsehen kann, braucht er die Erfahrung, dass er bedingungslos angenommen ist, dass ihn die Schuld nicht von seiner menschlichen Würde und auch nicht von Gott trennt. Gott nimmt ihn bedingungslos an. Er braucht aber auch Menschen, die ihn ansehen, damit er die Schuld einsehen kann. Ohne Ansehen kein Einsehen. Daher geht es in der therapeutischen und geistlichen Begleitung immer darum, den Menschen nicht zu bewerten und vor seiner Schuld nicht zu erschrecken, sondern ihn bedingungslos anzunehmen. Der Glaube an das bedingungslose Wohlwollen Gottes uns gegenüber, unabhängig von unserem Verhalten, kann uns auch helfen, unsere Schuld einzusehen.
Anderen Schuldgefühle vermitteln
Neben den Schuldgefühlen aufgrund einer realen oder gefühlten Schuld gibt es auch Schuldgefühle, die andere uns einreden. Es ist eine Methode der Machtausübung, dem anderen Schuldgefühle zu vermitteln oder ihm ein schlechtes Gewissen einzureden. Dieses Machtspiel kennen viele Eltern: Wenn Kinder eine Bitte verweigern und sich gegenüber den übertriebenen Erwartungen der Eltern abgrenzen, sind solche eingeredeten Schuldgefühle häufig die Antwort darauf. Sie sagen beispielsweise: »Wir haben doch so viel für euch getan. Jetzt habt ihr gar keine Zeit für uns.« Die Kinder können sich dann kaum gegen die Schuldgefühle wehren. Manche Führungskräfte verwenden diese Machtmethode ebenfalls, indem sie Mitarbeitern Vorwürfe machen oder vorwurfsvoll sprechen.
Im christlichen Bereich hat man ebenso oft mit Schuldgefühlen gearbeitet. Da redeten Priester oder Pastoren den Gläubigen ein, dass sie schlimme Sünder sind, dass sie Gottes Gebote nicht gehalten haben. Die Kirchen haben in der Vergangenheit zu viel über die Sünde gesprochen und diese in den Mittelpunkt ihrer Verkündigung gestellt. Sie stellten moralische Forderungen auf, die die Gläubigen überforderten und ihnen ein schlechtes Gewissen vermittelten. Auch hier war diese Methode ein Instrument der Macht. Zunächst einmal im moralischen Sinn: Weil die Menschen Sünder sind, sollen sie in die Kirche gehen, dort kann ein Priester als Stellvertreter Gottes sie von ihren Sünden befreien. Im Mittelalter hat die Kirche mit diesem Machtmittel sogar Geld verdient, indem man ihnen den sogenannten Ablass anbot: Die Befreiung oder das Lossprechen von der Sünde verband man mit einer Zahlung. Je höher diese ausfiel, desto größer die Schuldtilgung. Gegen diese finanzielle Ausnutzung von Schuldgefühlen hat Martin Luther zurecht protestiert. Dieses Mittel wird aber auch heute oft noch angewendet. Ein Priester erzählte, dass er in einer brasilianischen Pfingstkirche war, in der der Prediger den Leuten zunächst ein schlechtes Gewissen einredete: »Du hast doch auch schon Steuern hinterzogen. Du hast deine Frau betrogen. Du hast deinem Nachbarn etwas gestohlen.« Und dann predigt er die Erlösung: »Gott ist großzügig. Er vergibt dir alles. Aber du musst etwas für ihn tun. Du musst Geld spenden, damit dir Gott alles vergibt.«
Schuldgefühle werden in kirchlichen Gemeinden vor allem den Gläubigen eingeimpft, die sich für die Gemeinde engagieren. Es ist nie genug, was sie tun. Manche Gläubigen gehen aus dem Sonntagsgottesdienst mit einem schlechten Gewissen heraus. Sie denken: »Vielleicht könnte ich doch noch mehr für die Gemeinde tun. Eigentlich habe ich keine Kraft mehr. Aber ich kann mich den ständigen Forderungen des Pastors kaum entziehen.« Manche haben auch nach der Predigt ein schlechtes Gewissen, weil sie das Gefühl haben, keine guten Christen zu sein. Da hören sie von dem Anspruch, das Irdische ganz loszulassen und genügsam und bescheiden zu leben. Das sei es, was Jesus vorgelebt habe. Sie spüren aber, dass das so einfach nicht ist, wenn man beispielsweise eine Familie zu versorgen hat oder nur mit Mühe genug Geld verdient, um davon leben zu können. So gehen sie zwiespältig aus dem Gottesdienst nach Hause.
Schuldgefühle und Selbstwertgefühl
Wenn man Menschen Schuldgefühle einimpft, schwächt man ihr Selbstwertgefühl. Und umgekehrt gilt: Wer ein schwaches Selbstwertgefühl hat, ist besonders anfällig dafür, dass man ihm durch Schuldgefühle noch mehr seines Selbstwertgefühls beraubt. Selbstwertgefühl ist nicht identisch mit Selbstvertrauen. Es meint nicht, dass ich selbstbewusst auftrete, sondern dass ich mir meines Wertes bewusst bin, dass ich meine Würde, meine Einmaligkeit als Person spüre. Es ist das Gespür für mein wahres Wesen, für das Bild, das Gott sich von mir gemacht hat. Wenn man jemandem aber ständig einredet, dass er schlecht ist und ein großer Sünder, dann möchte er sich selbst gar nicht spüren. Denn er würde nur etwas Negatives in sich wahrnehmen. So fliehen viele Menschen in Äußerlichkeiten, die versuchen, das Selbstwertgefühl zu kompensieren. Zum Beispiel, indem sie selbstbewusst auftreten und so ihr mangelndes Selbstwertgefühl überspielen. Oder indem sie sich in die Arbeit stürzen, um durch äußeres Tun den Selbstwert zu steigern. Die Arbeit hindert sie daran, sich selbst zu spüren und sich ihrer selbst bewusst zu werden. So können sie ihren Schuldgefühlen aus dem Weg gehen.
Emotionale Erpressung
Ein weites Feld, in dem durch Schuldgefühle Macht ausgeübt wird, ist die emotionale Erpressung: Man versucht, einen anderen Menschen über Gefühle zu manipulieren. Wenn der andere nicht tut, was ich möchte, wird er mit negativen Gefühlen bestraft. Dazu gibt es verschiedene Methoden. Eine ist, dem anderen Schuldgefühle zu vermitteln: Wenn er nicht tut, was ich möchte, dann sage ich ihm, dass es mir schlecht geht. Eine andere, den Menschen mit anderen zu vergleichen. Da sagt beispielsweise ein Mann zu seiner Frau: »Andere Frauen sorgen für ihren Mann. Du aber denkst nur an dich.« Oder: »Andere wären froh, mich als Ehepartner zu haben, aber dich interessiert es gar nicht, wie es mir geht.« Eine dritte Methode ist, dem anderen etwas anzudrohen: »Du wirst schon sehen, wo du hinkommst, wenn du meinen Wunsch nicht erfüllst. Wenn du das tust, dann werde ich mich von dir trennen.« Oder noch schlimmer: »Dann bringe ich mich um. Und daran bist nur du schuld.« Und noch eine weitere Spielart, den anderen an seine Verpflichtungen zu erinnern: »Als Ehefrau, als Ehemann hast du die Pflicht, dich darum zu kümmern, dass es mir gutgeht.« Emotionale Erpressung arbeitet immer mit Vorwürfen. Andere sind schuld, wenn es uns schlechtgeht, wenn wir uns trennen, wenn wir Suizid begehen. Manchmal verbinden sich diese Vorwürfe mit Wutausbrüchen und heftigen Beschimpfungen. Menschen, die emotional erpressen, werfen anderen vor, dass sie egoistisch und dickköpfig sind. All diese Methoden rufen Schuldgefühle hervor.
Emotionale Erpressung geschieht vor allem in Partnerschaften, aber auch in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Wenn der Vater die Tochter emotional an sich bindet und ihr Vorwürfe macht, wenn sie nicht auf seine Wünsche eingeht, dann ist das emotionale Erpressung. Oder wenn die Mutter immer dann, wenn der Sohn für sich eine Entscheidung trifft, zum Beispiel mit Freunden in Urlaub fährt, krank wird, dann ist auch das emotionale Erpressung. Allerdings spricht man in der Beziehung der Eltern zu den Kindern mehr von emotionalem Missbrauch.
Auch im Alltag oder in vermeintlich belanglosen Kleinigkeiten erleben Menschen immer wieder emotionale Erpressung. Da möchte eine Frau ihre langjährige Freundin für zwei Tage besuchen. Doch der Mann versucht sie daran zu hindern, indem er sagt: »Mich lässt du ganz allein. Dann geht es mir schlecht.« Oder er wirft ihr vor: »Für deine Freundin hast du Zeit, aber für mich nicht.« Oder er stellt sie gleich vor die Alternative: »Entweder du gehst zu ihr, dann kannst du auch gleich dort bleiben. Oder du bleibst bei mir. Entscheide dich für sie oder für mich.«