Warum Mathematik (fast) alles ist - Kit Yates - E-Book
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Warum Mathematik (fast) alles ist E-Book

Kit Yates

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Beschreibung

Spannend und einfach erklärt: Mathe in unserem Alltag   Wie Mathematik unseren Leben bestimmt – und wie man sich das Zahlenwissen zunutze machen kann.    Stehen Sie auch immer in der langsamsten Warteschlange im Supermarkt? Und suchen Sie regelmäßig nach dem perfekten Platz im Zug? Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen, Ihren Alltag besser zu verstehen – mit Mathematik!   "Warum Mathematik (fast) alles ist", erklärt der promovierte Mathematiker Kit Yates in diesem Buch und zeigt, welche mathematischen Prinzipien hinter vielen Alltagsphänomenen stecken. Er präsentiert mathematische Rätsel aus Geschichte und Medien und beschreibt ebenso unterhaltsam wie eindrücklich, wie das Spiel mit den Zahlen hinter fast allen kleinen und großen Ereignissen steckt – vom Supermarktbesuch bis zur Atombombe.    Wer erkennt, welche Rolle Mathematik in unserem täglichen Leben spielt, wird bessere Entscheidungen treffen. In seinem neuen Buch beweist Kit Yates: Mathematisches Denken ist nicht nur nützlich und macht Spaß – manchmal rettet es auch Leben.    Spannend bis zum Schluss: Populärwissenschaft als packender Krimi!    Vom Medizinskandal bis zur Statistikverzerrung vor Gericht: Kit Yates deckt auf, wie die Mathematik nahezu alle Bereiche unseres Lebens durchdringt und beherrscht – ganz ohne komplizierte Formeln. Nie war Mathe so spannend!    Corona als Rechenaufgabe: die Pandemie verstehen mit Mathematik   Kit Yates widmet auch der Epidemiologie einen Teil seines Buches und erklärt: Zahlen können helfen, die Corona-Pandemie zu verstehen – aber auch zu verschleiern. So ist "Warum Mathematik (fast) alles ist" auch ein eindringliches Plädoyer dafür, Zahlen nicht blind zu vertrauen, sondern zu lernen, sie selbst zu interpretieren.    »Kit Yates zeigt, wie unser privates und gesellschaftliches Leben von Mathematik durchdrungen ist. Unwissenheit kann in Tragödien enden. Darum ist dies ein überaus interessantes Buch. Und für diejenigen, die wie ich wenig mit Mathe zu tun haben, ist es wunderbar verständlich.« Ian McEwan

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür meine Eltern, Tim, Nancy und Mary,die mir das Lesen beibrachten, und meine Schwester, Lucy,die mir das Schreiben beibrachte.Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd SchuhNamen und Details, die der Identifikation von Personen dienen, wurden teilweise geändert.© Kit Yates, 2019Titel der englischen Originalausgabe: »The Maths of Life and Death. Why Maths Is (Almost) Everything« bei Quercus Editions Ltd, London 2019. All rights reservered.Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2021Illustrationen: Amber AndersonCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: plainpicture/Tanja Luther; FinePic®, München

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Cover & Impressum

Einleitung: Fast alles

1 Exponentiell denken

Es lohnt sich nicht, über vergossene Milch zu weinen

Eine Frage der Zinsen

Der exponentielle Embryo

Zerstörer der Welt

Die nukleare Option

Die Wissenschaft der Datierung

Ice Bucket Flu

Ist die Zukunft exponentiell?

Bevölkerungsexplosion

Wenn man älter wird, dann läuft die Zeit im Sauseschritt

2 Sensitivität, Spezifität und eine zweite Meinung

Wie hoch sind die Chancen und Risiken?

Ein Heureka-Moment

Die Gottesgleichung

Fehlalarme

Das große Durchleuchten

Die Illusion der Gewissheit

Zwei Tests sind besser als einer

3 Die Gesetze der Mathematik

Die Affäre Dreyfus

Schuldig bis zum Beweis des Gegenteils?

73 Millionen zu 1

Der Unabhängigkeitsirrtum

Der Ökologische Fehlschluss

Der Trugschluss des Anklägers

Auf des Messers Schneide: der Fall Knox

Geblendet von der Mathematik

4 Glauben Sie die Wahrheit nicht

Das Geburtstagsproblem

Größen mit Autorität

Sich selbst ausgetrickst

Machen Sie Ihre Mathehausaufgaben!

Sorgloser Schweinefleischverzehr?

Der Rahmen macht das Bild

Regressive Haltungen

Den Dreh bemerken

5 Zur falschen Zeit am falschen Ort

Die Stelle

Die Zeit

Im Duodezimalpack

Imperiale Einheiten

Das Jahr-2000-Problem

Binäres Denken

6 Schonungslose Optimierung

Die Eine-Million-Dollar-Frage

P versus NP

Gierige Algorithmen

Hoch entwickelt

Aufhören zur rechten Zeit

Keep calm and check your algorithm

Flash Crash

Trendgeschwafel

7 Anfällig, ansteckend, erledigt

Die Pockenplage

Das SIR-Modell

Präsentismus, Prognosen und die Pest

HPV – mehr als nur das Krebsvirus

Die nächste Pandemie

Patient null

R0 und die exponentielle Explosion

Kontrolle übernehmen

Herdenimmunität

Mr MMR

Epilog: Emanzipation der Mathematik

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung: Fast alles

Mein vierjähriger Sohn spielt liebend gern draußen im Garten. Besonders gern wühlt er im Boden und inspiziert all das krabbelnde und kriechende Getier, das er dort findet, vor allem Schnecken. Wenn er lange genug geduldig wartet, kommen die Schnecken, nachdem sie ihren ersten Schock überwunden haben, aus ihrem natürlichen Lebensraum genommen worden zu sein, vorsichtig aus der Sicherheit ihres Gehäuses hervor und gleiten zögerlich über seine Hand, wobei sie eine zähe Schleimspur hinterlassen. Schließlich, wenn er ihrer müde geworden ist, entsorgt er sie ziemlich pietätlos auf dem Komposthaufen oder dem Holzstoß hinter dem Schuppen.

Spät im September letzten Jahres, nach einer besonders erfolgreichen Grabungstätigkeit, bei der er fünf oder sechs große Exemplare zutage gefördert hatte, kam er zu mir, als ich gerade beim Holzsägen war, und fragte: »Papa, wie viele Schnecken lebt (sic!) in unserem Garten?« Eine trügerisch einfache Frage, auf die ich keine gute Antwort hatte. Es hätten 100, aber genauso gut auch 1000 sein können. Um ganz ehrlich zu sein, er würde den Unterschied nicht verstanden haben. Dennoch weckte seine Frage meine Neugier. Wie konnten wir sie gemeinsam beantworten?

Wir entschlossen uns, ein Experiment zu machen. Am nächsten Samstagmorgen zogen wir aus, um Schnecken zu sammeln. Nach zehn Minuten hatten wir insgesamt 23 dieser Gastropoden gefunden. Ich nahm einen wasserfesten Edding aus meiner Gesäßtasche und markierte die Gehäuse der Schnecken mit einem schwarzen Kreuz. Nachdem sie alle derart gekennzeichnet worden waren, kippten wir den Eimer um und entließen die Schnecken wieder in den Garten.

Eine Woche später wiederholten wir das Spiel. Diesmal kamen wir bei unserer 10-Minuten-Suche nur auf 18 Exemplare. Bei genauerer Inspektion zeigte sich, dass drei von ihnen ein Kreuz auf dem Gehäuse trugen, während die anderen 15 unmarkiert waren. Das war alles an Information, was wir brauchten, um unsere Berechnung anzustellen.

Die Idee, die dahintersteckt, ist folgende: Die Anzahl der Schnecken, die wir beim ersten Mal fingen, 23, ist ein gegebener Anteil an der Gesamtpopulation im Garten, die wir schätzen möchten. Wenn wir diesen Anteil bestimmen können, dann können wir anhand der Anzahl der gefangenen Schnecken die Gesamtpopulation der Schnecken im Garten ausrechnen. Dazu benutzen wir eine zweite Stichprobe, und zwar diejenige vom darauffolgenden Samstag. Der Anteil der markierten Schnecken in dieser Stichprobe, 3/18, sollte für die Population der markierten Schnecken im Garten insgesamt repräsentativ sein. Wenn wir diesen Anteil kürzen, stellen wir fest, dass durchschnittlich eine von sechs Schnecken in der Gesamtpopulation markiert ist (siehe Abbildung 1). Daher multiplizieren wir die Zahl der markierten Individuen, die am ersten Tag gefangen wurden, 23, mit einem Faktor 6, um eine Schätzung für die Gesamtzahl der Schnecken im Garten zu erhalten, also 138.

Abbildung 1: Das Verhältnis (3:18) der Zahl der wiedergefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreuz und Kreis) zur Gesamtzahl der am zweiten Tag gefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreis) sollte genauso groß sein wie das Verhältnis (23:138) der Zahl der am ersten Tag gefangenen Schnecken (markiert mit einem Kreuz) zur Gesamtzahl der Schnecken im Garten (markierte und unmarkierte).

Nach Abschluss dieser Überschlagsrechnung wandte ich mich wieder meinem Sohn zu, der sich unterdessen um die gemeinsam gesammelten Schnecken »gekümmert« hatte. Wie reagierte er, als ich ihm mitteilte, dass ungefähr 138 Schnecken in unserem Garten lebten? »Daddy«, meinte er und sah auf die Schneckenhausreste hinab, die an seinen Fingern klebten. »Ich hab sie totgemacht.« Also nur 137.

Diese simple mathematische Methode, die als Capture-Recapture- oder auch als Rückfangmethode bezeichnet wird, stammt aus der Ökologie, wo sie eingesetzt wird, um die Größe tierischer Populationen zu schätzen. Man kann diese Technik selbst einsetzen, indem man zwei unabhängige Stichproben nimmt und ihre Überschneidung vergleicht. Vielleicht wollen Sie die Zahl der Lotterielose schätzen, die auf dem örtlichen Jahrmarkt verkauft wurden, oder Sie wollen wissen, wie viele Zuschauer ein Football-Spiel besucht haben, und dabei, statt mühsam Menschen zu zählen, Ticketabrisse benutzen.

Die Rückfangmethode wird auch in ernsthaften wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt. Sie kann zum Beispiel wichtige Informationen über die Fluktuation innerhalb einer gefährdeten Tierart geben. Indem sie eine Schätzung der Anzahl der Fische in einem See erlaubt,[1] kann sie Fischereibehörden Hinweise für Fangquoten liefern. Die Methode ist dermaßen effizient, dass sie über die Ökologie hinaus zur Abschätzung von allem und jedem verwendet wird, von der Zahl der Drogensüchtigen in der Bevölkerung[2] bis zur Zahl der Kriegstoten im Kosovo.[3]Das ist die pragmatische Kraft, die einfachen mathematischen Ideen innewohnen kann. Und das ist die Art von Konzepten, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen wollen und die ich routinemäßig in meinem Beruf als mathematischer Biologe anwende.

***

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich mathematischer Biologe bin, erhalte ich in der Regel ein höfliches Kopfnicken, begleitet von einer ungemütlichen Stille, als würde ich gleich prüfen, ob sie sich noch an die Formel für den Satz des Pythagoras erinnern. Die Leute sind nicht nur regelrecht eingeschüchtert, sondern verstehen auch nicht so recht, dass ein Gebiet wie Mathematik, das sie als abstrakt, rein und geistig empfinden, irgendetwas mit Biologie zu tun haben kann, die gewöhnlich als praktisch, schmutzig und pragmatisch gilt. Dieser künstlichen Dichotomie begegnen die meisten Menschen erstmals in der Schule: Wenn man Naturwissenschaften mochte, Algebra hingegen weniger, dann konzentrierte man sich auf die Biowissenschaften. Wenn man wie ich Spaß an Naturwissenschaften hatte, aber kein Vergnügen daran fand, tote Tiere aufzuschneiden (einmal, zu Beginn einer Präparationsstunde, wurde ich ohnmächtig, als ich ins Labor kam und einen Fischkopf auf meinem Platz fand), wurde man zu den physikalischen Wissenschaften geführt. Niemals sollen die zwei zueinanderfinden.

So erging es mir. Ich wählte Biologie in der 6. Klasse ab und belegte Leistungskurse in Mathematik, höherer Mathematik, Physik und Chemie. Als es um die Universität ging, musste ich meine Themen noch stärker eingrenzen und war traurig, dass ich die Biologie für immer hinter mir lassen musste, ein Gebiet, das meiner Ansicht nach ein unglaublich großes Potenzial hat, unser Leben zu verbessern. Ich blickte mit großer Vorfreude auf die Gelegenheit, in die Welt der Mathematik einzutauchen, war aber auch besorgt, mir ein Thema ausgesucht zu haben, das offenbar wenig praktische Anwendungsmöglichkeiten besaß. Ich hätte mich nicht stärker irren können.

Während ich mich in die reine Mathematik vertiefte, die wir an der Universität lernten, und den Beweis des Zwischenwertsatzes oder die Definition eines Vektorraumes memorierte, begeisterten mich die Kurse über Angewandte Mathematik. Ich hörte Vorlesungen, in denen die Mathematik vorgestellt wurde, die Ingenieure benutzen, um zu verhindern, dass Brücken in Resonanz geraten und durch Windströmungen zusammenbrechen, oder um Tragflächen zu entwerfen, die sicherstellen, dass Flugzeuge nicht vom Himmel fallen. Ich lernte die Quantenmechanik kennen, die Physiker benutzen, um die seltsamen Geschehnisse auf subatomarer Ebene zu verstehen, und die Spezielle Relativitätstheorie, die die seltsamen Folgen erkundet, die sich aus der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ergeben. Ich belegte Kurse, in denen erklärt wurde, in welcher Weise Mathematik in der Chemie, in der Welt der Finanzen und in der Wirtschaft verwendet wird. Ich las darüber, wie Mathematik im Sport eingesetzt wird, um die Leistung von Spitzenathleten zu verbessern, und wie wir Mathematik im Film benutzen, um computergenerierte Bilder von Szenen zu schaffen, die es in der Realität nicht geben könnte. Kurz gesagt, ich lernte, dass Mathematik zur Beschreibung von fast allem dienen kann.

In meinem dritten Studienjahr konnte ich einen Kurs in mathematischer Biologie besuchen. Der Leiter war Philip Maini, ein engagierter nordirischer Professor in seinen Vierzigern. Er war nicht nur eine führende Persönlichkeit auf seinem Gebiet (später sollte er zum Fellow der Royal Society ernannt werden), sondern konnte sich auch offensichtlich für sein Thema begeistern, und sein Enthusiasmus übertrug sich auf die Studenten im Hörsaal.

Philip brachte mir nicht nur mathematische Biologie bei, er lehrte mich auch, dass Mathematiker menschliche Wesen mit Gefühlen sind, nicht die eindimensionalen Automaten, als die sie oft porträtiert werden. Ein Mathematiker sei mehr als »eine Maschine, die Kaffee in Theoreme umwandelt«, wie es der ungarische Wahrscheinlichkeitstheoretiker Alfréd Rényi einmal formulierte. Als ich in Philips Büro saß und auf ein Gespräch über eine Promotion wartete, sah ich, eingerahmt an der Wand hängend, die zahlreichen Ablehnungsbriefe, die er von den Premier-League-Clubs (höchste Spielklasse im englischen Fußball) erhalten hatte, bei denen er sich im Scherz um vakante Managerpositionen beworben hatte. Schließlich redeten wir mehr über Fußball als über Mathematik.

Entscheidend für mein akademisches Weiterkommen war, dass Philip mir half, mich wieder mit der Biologie vertraut zu machen. Während meiner Promotion arbeitete ich unter seiner Aufsicht an allem Möglichen, ob es darum ging, wie Heuschrecken schwärmen und wie man sie daran hindern kann, bis zur Vorhersage der komplexen Choreografie, der die Entwicklung des menschlichen Embryos folgt, und den verheerenden Konsequenzen, wenn die einzelnen Schritte aus dem Takt geraten. Ich baute Modelle, um zu erklären, wie Vogeleier ihre wunderbaren farbigen Muster entwickeln, und schrieb Algorithmen, um die Bewegung frei schwimmender Bakterien nachzuvollziehen. Ich simulierte Parasiten, die sich unserem Immunsystem entziehen, und modellierte die Art und Weise, in der sich tödliche Krankheiten in einer Population ausbreiten. Auf der Arbeit, die ich während meiner Promotion begann, habe ich seitdem aufgebaut. Ich arbeite noch immer auf diesen und anderen faszinierenden Gebieten der Biologie, nun in meiner gegenwärtigen Position als Associate Professor (Senior Lecturer) in Angewandter Mathematik an der University of Bath zusammen mit meinen eigenen Doktoranden.

***

Als Angewandter Mathematiker sehe ich Mathematik zuallererst als praktisches Werkzeug an, um unsere komplexe Welt zu verstehen. Mathematische Modelle können uns in Alltagssituationen nützlich sein und müssen dazu nicht Hunderte langweiliger Gleichungen oder Zeilen Computercodes enthalten. Mathematik, das sind, aufs Wesentliche zurückgeführt, Muster. Jedes Mal, wenn Sie sich die Welt ansehen, entwerfen Sie Ihr eigenes Modell der Muster, die Sie beobachten. Wenn Sie in den fraktalen Zweigen eines Baumes oder in der vielfältigen Symmetrie einer Schneeflocke ein Motiv erkennen, dann sehen Sie Mathe. Wenn Sie mit dem Fuß rhythmisch den Takt eines Musikstücks klopfen oder wenn Ihre Stimme beim Singen unter der Dusche mitschwingt und nachhallt, dann hören Sie Mathe. Wenn Sie einen Fußball ins Tor schlenzen oder einen Cricketball auf einer parabelförmigen Flugbahn fangen, dann betreiben Sie Mathe. Mit jeder neuen Erfahrung, jeder neuen sensorischen Information werden die Modelle, die Sie von Ihrer Umwelt gemacht haben, verbessert und neu geordnet, immer detaillierter und raffinierter. Unsere beste Chance, die Regeln zu verstehen, die unsere Welt kontrollieren, besteht im Entwurf mathematischer Modelle, denen es gelingt, unsere komplexe Realität einzufangen.

Meiner Meinung nach sind die einfachsten und wichtigsten Modelle Geschichten und Analogien. Der Schlüssel zur Veranschaulichung des Einflusses, den die unterschwellige Strömung der Mathematik auf unser Leben hat, besteht darin zu zeigen, wie sie sich auswirkt: vom Außerordentlichen zum Alltäglichen. Mit der richtigen Brille ausgerüstet können wir damit beginnen, die verborgenen mathematischen Regeln zu entdecken, die unseren vertrauten Erfahrungen zugrunde liegen.

Die sieben Kapitel dieses Buches beschäftigen sich mit wahren Geschichten lebensverändernder Ereignisse, in denen die Anwendung (oder Fehlanwendung) von Mathematik eine entscheidende Rolle gespielt hat: Wir begegnen Patienten, die durch fehlerhafte Gene zu Behinderten werden, und Unternehmern, die durch fehlerhafte Algorithmen bankrottgehen, unschuldigen Opfern von Justizirrtümern und ahnungslosen Opfern von Software-Pannen. Wir verfolgen Geschichten von Investoren, die ihr Vermögen verloren haben, und von Eltern, die ihre Kinder verloren haben, und das alles nur wegen mathematischer Missverständnisse. Wir ringen mit ethischen Dilemmata von Früherkennungsuntersuchungen bis zu statistischen Betrügereien und beschäftigen uns mit sozial relevanten Themen wie Volksentscheiden, Vorbeugung vor Epidemien, Strafjustiz und künstlicher Intelligenz. In diesem Buch werden wir sehen, dass Mathematik zu all diesen Themen und vielen mehr etwas Wichtiges zu sagen hat.

Statt lediglich aufzuzeigen, wo Mathe überall auftauchen kann, werde ich Sie mit einfachen mathematischen Regeln und Werkzeugen ausrüsten, die Ihnen im Alltag nützlich sein können, sei es, dass es darum geht, im Zug den besten Platz zu ergattern, oder darum, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn Sie von Ihrem Arzt ein unerwartetes Testergebnis erhalten. Ich zeige Ihnen einfache Wege, numerische Fehler zu vermeiden, und wir werden unsere Hände mit Druckerschwärze beschmutzen, wenn es darum geht, die Zahlen hinter den Schlagzeilen transparent zu machen. Wir werden auch einen näheren Blick auf die Mathe hinter persönlichen Gentests werfen und Mathematik in Aktion beobachten, wenn es darum geht, was man tun kann, um die Ausbreitung einer tödlichen Krankheit zu stoppen.

Wie Ihnen hoffentlich inzwischen klar geworden ist, ist dies kein Mathebuch. Und es ist auch kein Buch für Mathematiker. Sie werden auf diesen Seiten keine einzige Formel finden. Ziel des Buches ist es nicht, Erinnerungen an den Mathematikunterricht in der Schule wachzurufen, den Sie vielleicht vor vielen Jahren aufgegeben haben. Ganz im Gegenteil. Wenn Ihnen jemals das Gefühl vermittelt wurde, Sie könnten keine Mathematik, betrachten Sie dieses Buch als Befreiung.

Ich bin fest davon überzeugt, dass Mathe etwas für jedermann ist und wir alle die wunderbare Mathematik im Herzen der komplexen Phänomene, die uns im Alltag umgeben, würdigen können. Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, steckt Mathematik hinter den Fehlalarmen, die uns unser Verstand vorspiegelt, und dem falschen Vertrauen, das uns nachts schlafen lässt, hinter den Geschichten, die uns in den sozialen Medien aufgedrängt werden, und den Memen, die sich in diesen ausbreiten. Mathe schafft Schlupflöcher im Gesetz und ist gleichzeitig die Nadel, um sie zu stopfen, sie steht hinter der Technik, die Leben rettet, und den Fehlern, die Leben in Gefahr bringen, hinter dem Ausbruch von schrecklichen Epidemien und den Strategien zu ihrer Kontrolle. Sie ist unsere größte Hoffnung, wenn es um die Beantwortung fundamentaler Fragen über die Rätsel des Kosmos und die Geheimnisse unserer eigenen Spezies geht. Sie leitet uns auf den unzähligen Pfaden unseres Lebens, und während wir die letzten Atemzüge tun, lauert sie schon hinter dem Vorhang, um auf uns zurückzublicken.

1 Exponentiell denken

Die Furcht einflößende Macht und die ernüchternden Grenzen exponentiellen Verhaltens

Darren Caddick ist Fahrlehrer in Caldicot, einer kleinen Stadt im Süden von Wales. Im Jahr 2009 wurde er von einem Freund angesprochen, der ihm ein lukratives Angebot machte. Wenn er nur 3000 Pfund investierte und zwei weitere Leute dazu brächte, dasselbe zu tun, würde er in nur wenigen Wochen 23 000 Pfund zurückerhalten. Anfangs hielt Caddick das Angebot für zu gut, um wahr zu sein, und widerstand der Versuchung. Schließlich gelang es seinem Freund aber doch, ihn zu überzeugen, indem er ihm erklärte, »niemand werde verlieren, denn das System würde weiterlaufen und immer weiterlaufen«, so seine Worte; daher entschloss sich Caddick schließlich mitzumachen. Er verlor alles und leidet zehn Jahre später noch immer unter den Konsequenzen dieser Entscheidung.

Ohne es zu ahnen, fand sich Caddick auf der untersten Stufe eines Pyramiden- oder Schneeballsystems wieder, das eben nicht »immer weiterlaufen« konnte. Das »Give and Take«-System, das 2008 ins Rollen gebracht wurde, fand keine neuen Investoren mehr und brach in weniger als einem Jahr in sich zusammen – aber nicht, bevor die Organisatoren mehr als 10 000 Investoren in ganz Großbritannien um 21 Millionen Pfund erleichtert hatten, von denen 90 Prozent ihren 3000-Pfund-Einsatz niemals wiedersahen. Investmentsysteme, die darauf basieren, dass Investoren zahlreiche weitere Investoren rekrutieren, um ihren Gewinn zu realisieren, sind zum Scheitern verurteilt. Die Zahl an Neuinvestoren, die auf jeder Ebene nötig ist, steigt proportional zu der Anzahl der Leute im System. Nach 15 Rekrutierungsrunden würde ein Schneeballsystem dieser Art bereits mehr als 10 000 Menschen umfassen. Auch wenn das wie eine große Zahl aussieht, wurde sie von »Give and Take« problemlos erreicht. 15 Runden später müsste jedoch einer von sieben Menschen weltweit in das System investieren, damit es weiterläuft. Dieses phänomenal rasche Wachstum, das zwangsläufig zu einem Mangel an neuen Mitspielern und damit letztlich zum Kollaps des Systems führt, bezeichnet man als exponentielles Wachstum.

Es lohnt sich nicht, über vergossene Milch zu weinen

Ein System wächst exponentiell, wenn es proportional zu seiner momentanen Größe zunimmt. Stellen Sie sich vor, dass morgens, wenn Sie eine Flasche Milch öffnen, eine einzige Zelle des Bakteriums Enterococcus faecalis ihren Weg hinein findet, bevor Sie die Flasche wieder verschließen. E. faecalis gehört zu den Bakterien, die die Milch sauer werden und gerinnen lassen, aber wegen einer Zelle braucht man sich doch keine Sorgen zu machen, oder?[4] Vielleicht beginnen Sie sich aber doch ein bisschen zu sorgen, wenn Sie feststellen, dass sich diese Bakterienzellen in der Milch teilen und pro Stunde zwei Tochterzellen hervorbringen können.[5] Mit jeder Generation nimmt die Anzahl der Zellen proportional zu der bereits vorhandenen Anzahl von Zellen zu, daher wächst ihre Menge exponentiell.

Die Kurve, die beschreibt, wie eine exponentiell wachsende Größe steigt, erinnert an eine Quarter-Pipe-Rampe, wie sie Inlineskater, Skateboarder und BMX-Fahrer benutzen. Anfangs steigt die Rampe nur sehr leicht an – die Kurve ist flach und gewinnt nur sehr langsam an Höhe (wie Sie im ersten Diagramm von Abbildung 2 sehen können). Nach zwei Stunden gibt es in Ihrer Milch vier Bakterienzellen und nach vier Stunden sind es immer noch nur 16, was nicht allzu problematisch erscheint. Wie bei der Quarter-Pipe-Rampe ist es jedoch so, dass die Höhe und damit die Steigung der Exponentialkurve rasch zunimmt. Bei Größen, die exponentiell wachsen, kann es so aussehen, als wüchsen sie anfangs nur sehr langsam, würden dann aber auf scheinbar unerwartete Weise rasch an Fahrt gewinnen. Wenn Sie Ihre Milch zwischendurch 48 Stunden lang außerhalb des Kühlschranks stehen lassen und das exponentielle Wachstum von E. faecalis ungehindert weitergeht, befänden sich schließlich, wenn Sie die Milch über Ihr Müsli gießen, fast 100 Billionen Zellen in der Flasche – genug, um Ihnen das Blut in den Adern gerinnen zu lassen, gar nicht zu reden von der Milch. Zu diesem Zeitpunkt würde die Anzahl der Bakterienzellen in der Milch diejenige der Menschen auf unserem Planeten im Verhältnis 40 000:1 übersteigen. Exponentialkurven werden manchmal als »J-förmig« beschrieben, da sie an die steile Kurve des Buchstaben J erinnern. Da die Bakterien die Nährstoffe in der Milch aufbrauchen und deren pH-Wert verändern, verschlechtern sich die Wachstumsbedingungen allerdings mit der Zeit, und das exponentielle Wachstum kann nur eine bestimmte Zeit lang aufrechterhalten werden. Tatsächlich ist langfristiges exponentielles Wachstum in fast allen realen Szenarien nicht nachhaltig und in vielen Fällen pathologisch, weil das, was da wächst, rücksichtslos sämtliche Ressourcen verbraucht. Anhaltendes exponentielles Zellwachstum im Körper ist beispielsweise eines der typischen Kennzeichen von bösartigen Tumoren (Krebs).

Abbildung 2: J-förmiges exponentielles Wachstum (links) und eine ebensolche Abnahme (rechts).

Ein anderes Beispiel für eine Exponentialkurve ist eine Freefall-Wasserrutsche, die so genannt wird, weil die Rutsche anfangs so steil ist, dass der Rutschende das Gefühl hat, sich im freien Fall zu befinden. Wenn wir die Rutsche hinunterrutschen, surfen wir diesmal auf einer exponentiell abfallenden Kurve (siehe Abbildung 2 rechts) statt auf einer (ansteigenden) Wachstumskurve. Zu einem exponentiellen Abfall kommt es, wenn eine Menge proportional zu ihrer gegenwärtigen Größe abnimmt. Stellen Sie sich vor, eine große Tüte M&Ms zu öffnen, den Inhalt auf den Tisch zu schütten und all diejenigen Schokolinsen zu essen, die mit der M-Seite nach oben liegen. Den Rest füllen Sie wieder in die Tüte zurück für morgen. Am nächsten Tag schütteln Sie die Tüte und schütten sie erneut aus. Wieder essen Sie die M-oben-Schokolinsen und füllen den Rest zurück in die Tüte. Jedes Mal, wenn Sie die Schokolinsen aus der Tüte schütten, werden Sie rund die Hälfte derjenigen essen, die verblieben sind, ganz gleich, wie viele Schokolinsen sich anfangs in der Tüte befanden. Die Anzahl der M&Ms nimmt proportional zur Anzahl der noch in der Tüte befindlichen Linsen ab, was zu einer exponentiellen Abnahme in der Anzahl der Linsen führt. In derselben Weise startet die exponentielle Wasserrutsche hoch oben und ist fast vertikal, sodass die Höhe des Rutschenden sehr rasch abnimmt – wenn wir sehr viele Schokolinsen haben, ist auch die Anzahl derjenigen hoch, die wir essen können. Doch die Kurve wird nach und nach immer flacher, bis sie schließlich gegen Ende fast waagerecht verläuft: Je weniger Schokolinsen noch übrig sind, desto weniger können wir jeden Tag essen. Auch wenn es vom Zufall abhängt und nicht vorhersagbar ist, welche Schokolinse mit der M-Seite nach oben oder nach unten auf dem Tisch landet, kristallisiert sich aus der Anzahl der Schokolinsen, die jedes Mal zurückbleiben, die vorhersehbare Wasserrutschenkurve der exponentiellen Abnahme heraus.

Dieses ganze Kapitel hindurch werden wir die verborgenen Verbindungen zwischen exponentiellem Verhalten und Alltagsphänomenen enthüllen: die Ausbreitung von Krankheiten in einer Population oder eines Mems im Internet, das rapide Wachstum eines Embryos oder das allzu langsame Wachstum von Geld auf unserem Bankkonto, die Art und Weise, in der wir Zeit wahrnehmen, und sogar die Explosion einer Atombombe. Dabei werden wir nach und nach auch die volle Tragödie des »Give and Take«-Schneeballsystems offenlegen. Die Geschichten der Leute, die auf raffinierte Weise um ihr Geld betrogen wurden, zeigen uns besonders anschaulich, wie wichtig exponentielles Denken ist, was uns wiederum helfen wird, das manchmal überraschende Tempo vorherzusehen, mit der sich unsere moderne Welt verändert.

Eine Frage der Zinsen

Bei den sehr seltenen Gelegenheiten, bei denen ich etwas auf mein Bankkonto einzahlen will, tröste ich mich mit der Tatsache, dass der Betrag auf meinem Konto stets exponentiell wächst, ganz gleich, wie gering er auch sein mag. Tatsächlich ist ein Bankkonto einer der Orte, wo es tatsächlich keine Grenzen für ein exponentielles Wachstum gibt, zumindest auf dem Papier. Vorausgesetzt, dass der Zinssatz ein Zinseszinssatz ist (das heißt, dass die aufgelaufenen Zinsen zum Anfangskapitel addiert und selbst wieder verzinst werden), wächst die Gesamtsumme auf dem Konto proportional zu seiner gegenwärtigen Größe – das typische Kennzeichen exponentiellen Wachstums. Wie Benjamin Franklin meinte: »Geld kann Geld zeugen, und der Nachwuchs zeugt noch mehr.« Wenn man lange genug warten könnte, würde selbst aus der kleinsten Investition ein Vermögen werden. Aber gehen Sie nicht hin und schließen Sie Ihre Rücklagen für schlechte Zeiten jetzt schon weg. Wenn Sie 100 Pfund bei 1 Prozent Verzinsung pro Jahr investieren würden, bräuchten Sie über 900 Jahre, um zum Millionär zu werden. Obgleich exponentielles Wachstum oft mit rascher Zunahme assoziiert wird – bedenken Sie, dass exponentielles Wachstum bei einer kleinen Wachstumsrate und einer geringen anfänglichen Investition tatsächlich sehr langsam erscheinen kann.

Die Kehrseite des Ganzen ist, dass die Schulden auf Kreditkarten, die mit einem festen – oft hohen – Zinssatz auf den ausstehenden Betrag belastet werden, ebenfalls exponentiell wachsen können. Wie bei Hypotheken gilt: Je früher Sie das Minus auf Ihrer Kreditkarte begleichen, und je mehr Sie anfangs von Ihrer Hypothek zurückzahlen, desto weniger zahlen Sie insgesamt, da das exponentielle Wachstum dann niemals die Chance erhält, voll zuzuschlagen.

***

Das Abzahlen von Hypotheken und das Begleichen anderer Schulden war einer der Hauptgründe, die von den Opfern des »Give and Take«-Systems als Grund dafür angegeben wurden, dass sie überhaupt mitgemacht hätten. Die Versuchung, rasch und problemlos an Geld zu gelangen, um finanziellen Druck zu lindern, war für viele einfach zu groß, als dass sie hätten widerstehen können – trotz des nagenden Verdachts, dass irgendetwas dabei nicht stimmen könne. Wie Caddick gesteht: »Das alte Sprichwort ›Wenn etwas zu gut erscheint, um wahr zu sein, dann ist es wahrscheinlich nicht wahr‹ ist hier wirklich, wirklich wahr.«

Die beiden Initiatoren des Systems, die Pensionärinnen Laura Fox und Carol Chalmers, waren seit ihrer gemeinsamen Schulzeit in einem katholischen Konvent befreundet. Das Paar, beide Säulen ihrer Gemeinde – die eine Vizepräsidentin ihres lokalen Rotary-Clubs, die andere eine allseits respektierte Großmutter –, wusste genau, was es tat, als es sein betrügerisches Investmentsystem aufbaute. »Give and Take« war in cleverer Weise darauf ausgelegt, potenzielle Investoren in die Falle zu locken, während die Fallstricke geschickt verborgen wurden. Anders als das traditionelle zweistufige Pyramidensystem, bei dem die Person an der Spitze der Kette Geld direkt von den Investoren entgegennimmt, die sie rekrutiert hat, operierte »Give and Take« als ein vierstufiges Schenkkreis-System, auch »Flugzeug-System« genannt. Bei einem Flugzeug-System wird die Person an der Spitze der Kette als »Pilot« bezeichnet; der Pilot wirbt zwei »Co-Piloten« an, die ihrerseits jeweils zwei »Besatzungsmitglieder« anwerben, die wiederum jeweils zwei »Passagiere« anwerben. Sobald die Hierarchie von 15 Leuten komplett war, zahlten die acht Passagiere ihre 3000 Pfund an die Organisatorinnen, die eine riesige Auszahlung von 23 000 Pfund an den Anfangsinvestor weiterreichten, wobei 1000 Pfund abgeschöpft wurden. Ein Teil des Geldes wurde an Wohltätigkeitsorganisationen gespendet, wobei die Dankesbriefe von Organisationen wie der NSPCC (einer großen britischen Kinderschutzorganisation) dem System Glaubwürdigkeit verliehen. Ein anderer Teil wurde von den Organisatorinnen zurückgehalten, um ein glattes und kontinuierliches Weiterlaufen der Organisation zu gewährleisten.

Nachdem der Pilot seine Auszahlung erhalten hat, steigt er aus dem System aus; seine beiden Co-Piloten übernehmen seinen Platz und warten darauf, dass auf der untersten Stufe ihrer Pyramide acht neue Passagiere rekrutiert werden. Flugzeug-Systeme sind für Investoren besonders reizvoll, weil neue Teilnehmer lediglich zwei weitere Leute anwerben müssen, um ihre Investition um einen Faktor 8 zu erhöhen (auch wenn diese beiden natürlich erforderlich sind, um zwei weitere anzuwerben, und so fort). Andere, flachere Systeme erfordern für dieselbe finanzielle Rendite viel mehr Rekrutierungsbemühungen pro Individuum. Die steile, vierstufige Struktur von »Give and Take« brachte es mit sich, dass die »Besatzungsmitglieder« niemals direkt Geld von den »Passagieren« entgegennahmen, die von ihnen angeworben worden waren. Da es sich bei den neu Angeworbenen in der Regel um Freunde und Verwandte der »Besatzungsmitglieder« handelt, stellt dieses Verfahren sicher, dass Geld nie auf direktem Weg zwischen engen Bekannten fließt. Diese Trennung zwischen den »Passagieren« und den »Piloten«, deren Auszahlung sie finanzieren, vereinfacht die Anwerbung und senkt die Wahrscheinlichkeit von Vergeltungsmaßnahmen; das lässt die Chancen einer solchen Investition attraktiver erscheinen und erleichtert damit die Anwerbung Tausender von Investoren für das System.

In derselben Weise stützten Geschichten von erfolgreichen Auszahlungen das Vertrauen von Investoren in das »Give and Take«-Pyramidensystem; in einigen Fällen konnten sie diese Auszahlungen sogar »live« miterleben. Die Organisatorinnen des Systems, Fox und Chalmers, gaben in Chalmers Hotel in Somerset üppige private Partys, um dafür zu werben. Flyer, die bei diesen Partys ausgegeben wurden, zeigten Bilder der »Give and Take«-Mitglieder, die sich auf Betten voller Geldscheine rekelten oder Fäuste voller Fünfziger in die Kamera streckten. Zu den Partys luden die Organisatorinnen zudem stets auch einige der »Bräute« des Systems ein – diejenigen Personen (meist Frauen), die es zur Position des »Piloten« ihrer Pyramide gebracht hatten und nun ihre Auszahlung erhalten sollten. Den Bräuten wurden vor einem Publikum aus 200 – 300 potenziellen Investoren vier einfache Fragen gestellt wie: »Welcher Körperteil von Pinocchio wächst, wenn er lügt?«

Mit diesem »Quiz-Aspekt« des Systems sollte ein vermeintliches Schlupfloch im Gesetz genutzt werden, von dem die Organisatorinnen annahmen, es erlaube solche Investitionen, wenn dabei ein »Kompetenzelement« eine Rolle spiele. Bei einer Handyaufnahme eines solchen Events kann man hören, wie Chalmers ruft: »Wir spielen in unserem eigenen Zuhause, und das macht die ganze Sache legal!« Aber sie irrte sich. Miles Bennett, der Staatsanwalt, der den Fall vor Gericht brachte, meinte: »Das Quiz war so einfach, dass es niemanden in der Auszahlungsposition gab, der sein Geld nicht erhalten hätte. Sie konnten bei den Fragen sogar einen Freund oder ein Mitglied des Komitees um Hilfe bitten, und das Komitee kannte die richtigen Antworten natürlich!«

Das hielt Fox und Chalmers nicht davon ab, diese Preisvergabe-Partys als Lockmittel bei ihrer technisch simplen viralen Marketing-Strategie zu verwenden. Nachdem sie miterlebt hatten, wie die strahlenden Bräute ihren 23 000-Pfund-Scheck entgegennahmen, investierten viele der Eingeladenen, ermunterten Freunde und Verwandte, es ihnen gleichzutun, und bildeten so die Pyramide unter sich. Vorausgesetzt, jeder neue Investor gab den Stab an zwei oder mehr andere weiter, konnte das System ad infinitum weiterlaufen. Als Fox und Chalmers ihr System im Frühjahr 2008 starteten, waren sie die einzigen beiden »Piloten«. Dadurch, dass sie Freunde dazu brachten, in ihr System zu investieren und sie bei dessen Organisation zu unterstützen, brachten sie rasch vier weitere Personen an Bord. Diese vier Passagiere rekrutierten acht weitere und dann 16 und so weiter. Diese exponentielle Verdopplung der Anzahl neuer Rekruten für das System erinnert stark an die Verdopplung der Anzahl der Zellen in einem heranwachsenden Embryo.

Der exponentielle Embryo

Als meine Frau mit unserem ersten Kind schwanger war, waren wir wie viele Paare, die zum ersten Mal Eltern werden, fasziniert von dem, was im Körper der werdenden Mutter vor sich ging. Wir liehen uns einen Ultraschall-Herzmonitor, um dem Herzschlag unseres Ungeborenen zu lauschen, wir meldeten uns für klinische Studien an, um zusätzliche Scans zu erhalten, und wir lasen Website um Website, die beschrieben, was mit unserer Tochter passierte, während sie heranwuchs und bewirkte, dass es meiner Frau jeden Tag übel wurde. Zu unseren »Favoriten« gehörten Websites vom Typ »Wie groß ist Ihr Baby?«, die die Größe des ungeborenen Babys in jeder Schwangerschaftswoche mit einer Frucht oder einem anderen Nahrungsmittel geeigneter Größe vergleichen. Mit anschaulichen Formulierungen wie »Mit einem Gewicht von rund 45 Gramm und einer Länge von ca. 8,5 Zentimetern ist Ihr kleiner Engel nur etwa so groß wie eine Zitrone« oder »Ihr kleiner Schatz wiegt nun ungefähr 140 Gramm und misst von Kopf bis Fuß rund 13 Zentimeter, so groß wie ein Rübchen« verleihen sie den ungeborenen Föten zukünftiger Eltern Substanz.

Was mich bei den Vergleichen auf diesen Websites wirklich verblüffte, war, wie rasch die Größe des Ungeborenen von Woche zu Woche zunahm. In Woche vier ist Ihr Baby etwa so groß wie ein Mohnsamen, doch in Woche fünf ist es bereits auf die Größe eines Sesamkorns angeschwollen – eine Volumenzunahme um annähernd das 16-Fache in einer einzigen Woche!

Vielleicht sollte uns dieser schnelle Größenzuwachs jedoch nicht überraschen. Wenn die Eizelle vom Spermium befruchtet wird, macht die daraus resultierende Zygote eine Reihe von Teilungen durch, die als Furchungen bezeichnet werden und dazu führen, dass die Anzahl der Zellen im sich entwickelnden Embryo rasch wächst. Zunächst teilt sich die befruchtete Eizelle in zwei Zellen. Acht Stunden später teilen sich diese beiden Zellen in vier Zellen, und nach acht weiteren Stunden werden aus vier acht Zellen, die bald zu 16 Zellen werden, und so weiter – genau wie die Anzahl der neuen Investoren auf jeder Ebene des Pyramidensystems. Alle acht Stunden kommt es fast synchron zu Folgeteilungen. Daher nimmt die Anzahl der Zellen proportional zur Menge der Zellen zu, die der Embryo zu einem bestimmten Zeitpunkt enthält: Je mehr Zellen es sind, desto mehr neue Zellen entstehen bei der nächsten Teilung. Da jede Zelle pro Zellteilung genau eine Tochterzelle produziert, ist der Faktor, mit dem die Anzahl der Zellen im Embryo zunimmt, in diesem Fall gleich 2; mit anderen Worten verdoppelt sich die Zellenanzahl des Embryos mit jeder Folgegeneration.

Während einer Schwangerschaft ist die Periode, in der ein menschlicher Embryo exponentiell wächst, zum Glück relativ kurz. Wenn der Embryo die ganze Schwangerschaft hindurch mit derselben exponentiellen Geschwindigkeit wachsen würde, würden die 840 synchronen Zellteilungen zu einem Superbaby mit rund 10253 Zellen führen. Um diese Zahl ein bisschen einzuordnen: Wenn jedes Atom im Universum selbst eine Kopie unseres Universums wäre und jedes Atom dieser Universen seinerseits eine Kopie unseres Universums wäre, dann würde sich die Gesamtzahl der Atome in all diesen Universen langsam der Anzahl von Superbabys Zellen annähern. Natürlich nimmt die Teilungsgeschwindigkeit ab, sobald komplexere Abläufe im Leben des Embryos einsetzen. Tatsächlich liegt die Anzahl der Zellen bei einem durchschnittlich großen Neugeborenen schätzungsweise bei recht bescheidenen zwei Billionen. Diese Anzahl Zellen ließe sich mit weniger als 41 synchronen Zellteilungen erzeugen.

Zerstörer der Welt

Exponentielles Wachstum ist entscheidend für die rasche Zunahme in der Anzahl der Zellen, die für die Schaffung neuen Lebens notwendig sind. Es war jedoch auch die erstaunliche und erschreckende Kraft exponentiellen Wachstums, die den Atomphysiker J. Robert Oppenheimer ausrufen ließ: »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.« Mit diesem Wachstum war nicht das Wachstum von Zellen oder selbst individueller Organismen gemeint, sondern die Energie, die bei der Spaltung von Atomkernen frei wird.

Während des Zweiten Weltkriegs war Oppenheimer wissenschaftlicher Leiter des Manhattan-Projekts, das im Los Alamos National Laboratory in New Mexico angesiedelt war und den Bau einer Atombombe zum Ziel hatte. Die Spaltung des Kerns (eng aneinander gebundene Protonen und Neutronen) eines schweren Atoms in kleinere Kerne war von zwei deutschen Chemikern und einer Kernphysikerin 1938 entdeckt worden. Sie wurde in Analogie zu der Zweiteilung lebender Zellen, die mit so großer Effizienz im sich entwickelnden Embryo auftritt, als »Kernspaltung« bezeichnet. Wie sich herausstellte, kam es auf natürliche Weise zu einer Kernumwandlung in Form eines radioaktiven Zerfalls instabiler chemischer Isotope, oder ein solcher Vorgang konnte durch Beschuss eines Atomkerns mit subatomaren Teilchen im Rahmen einer sogenannten »Kernreaktion« künstlich ausgelöst werden. In beiden Fällen ging die Spaltung eines schweren Kerns in zwei leichtere Kerne oder Spaltprodukte mit der Freisetzung sehr großer Energiemengen in Form elektromagnetischer Strahlung und der Bewegungsenergie der Spaltprodukte einher. Rasch wurde deutlich, dass diese energiereichen Spaltprodukte, die bei der ersten Spaltreaktion erzeugt wurden, dazu benutzt werden konnten, weitere Atomkerne zu spalten und noch mehr Energie freizusetzen: eine sogenannte »nukleare Kettenreaktion«. Wenn jedes Spaltprodukt im Durchschnitt mehr als ein Produkt erzeugte, das zur Spaltung weiterer Atomkerne eingesetzt werden könnte, dann konnte jede Kernspaltung theoretisch zahlreiche weitere Spaltungen auslösen. Im Lauf dieses Prozesses würde die Zahl der Reaktionsereignisse exponentiell zunehmen und Energie in einer bis dato noch nie da gewesenen Größenordnung freisetzen. Wenn sich ein Material finden ließe, das diese ungebremste nukleare Kettenreaktion erlaubte, würde der exponentielle Zuwachs an Energie, die innerhalb der kurzen Zeitspanne der Reaktion emittiert werden würde, im Prinzip erlauben, aus einem solchen spaltbaren Material eine Bombe zu bauen.

Im April 1939, am Vorabend des Kriegsausbruchs in Europa, machte der französische Physiker Frédéric Joliot-Curie (Schwiegersohn von Marie und Pierre Curie und ebenfalls Nobelpreisträger, gemeinsam mit seiner Frau Irène) eine entscheidende Entdeckung. In der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte er den Beweis dafür, dass Atome des Uranisotops 235U bei einer von einem einzigen Neutron hervorgerufenen Spaltung durchschnittlich 3,5 (später auf 2,5 korrigiert) hochenergetische Neutronen emittierte.[6] Dies war genau das Material, das erforderlich war, um die exponentiell wachsende Kette von Kernreaktionen voranzutreiben. Das war der Startschuss für das »Rennen um die Bombe«.

Oppenheimer wusste, dass Werner Heisenberg, Nobelpreisträger für Physik, und andere berühmte deutsche Physiker für die Nationalsozialisten parallel an der Entwicklung einer Atombombe arbeiteten, und ihm war klar, dass er ihnen in Los Alamos zuvorkommen musste. Die größte Herausforderung bestand darin, die Bedingungen zu schaffen, die eine nukleare Kettenreaktion erleichtern und die für eine Atombombenexplosion nötige, fast augenblickliche Freisetzung riesiger Mengen an Energie erlauben würden. Um diese sich selbst erhaltende und ausreichend rasche Kettenreaktion in Gang zu setzen, musste er sicherstellen, dass genügend Neutronen, die via Spaltung emittiert und von den Kernen anderer Atome absorbiert wurden, sodass diese Kerne ebenfalls gespalten wurden. Wie sich herausstellte, werden im natürlich vorkommenden Uran zu viele der emittierten Neutronen von 238U-Atomen (das andere wichtige Isotop, das 99,3 Prozent des natürlich vorkommenden Urans ausmacht[7])absorbiert, was zur Folge hat, dass jede Kettenreaktion exponentiell abnimmt, statt zuzunehmen. Um eine exponentiell wachsende Kettenreaktion zu erzeugen, musste Oppenheimers Team so viel 238U wie möglich aus dem natürlichen Uranerz entfernen, um außerordentlich reines 235U zu erzeugen.

Aus diesen Überlegungen erwuchs die Idee der sogenannten kritischen Masse des Spaltmaterials. Die kritische Masse von Uran ist die Menge an Uran, die nötig ist, um eine sich selbst erhaltende nukleare Kettenreaktion in Gang zu halten. Sie hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Wohl am wichtigsten ist der Gehalt an 235U. Selbst mit einem Anteil von 20 Prozent 235U (verglichen mit den natürlicherweise vorkommenden 0,7 Prozent) beträgt die kritische Masse für das gesamte Spaltmaterial noch immer über 400 Kilogramm; das macht eine hohe 235U-Konzentration entscheidend für die Realisierung einer Bombe. Selbst mit genügend reinem Uran zum Erreichen einer überkritischen Masse blieb die Frage, wie das Material in der Bombe »verpackt« werden sollte. Oppenheimer war klar, dass sie nicht einfach eine kritische Masse Uran in eine Bombe packen und hoffen konnten, diese würde nicht vorzeitig explodieren. Ein einzelner, natürlich vorkommender radioaktiver Zerfall im Material würde die Kettenreaktion auslösen und die exponentielle Explosion zünden.

Mit dem Gespenst der Bombenentwicklung im Dritten Reich ständig im Nacken, entwickelten Oppenheimer und sein Team hastig eine Lösung für dieses Problem. Beim Kanonenprinzip (auch: Gun-Design) wird eine unterkritische Uranmasse mithilfe konventionellen Sprengstoffs in eine andere Uranmasse katapultiert, um eine einzige, überkritische Masse zu erzeugen. Die Kettenreaktion wird dann durch eine spontane Spaltung in Gang gesetzt, bei der das auslösende Neutron emittiert wird. Die Trennung der beiden unterkritischen Massen stellte sicher, dass die Bombe nicht verfrüht explodieren würde. Dank des hohen Anreicherungsgrads des verwendeten Urans (rund 80 Prozent 235U) waren nur rund 20 – 25 Kilogramm nötig, um die kritische Masse zu erreichen. Aber Oppenheimer konnte einen Misserfolg seines Projekts nicht riskieren, denn der hätte ihn des Vorteils gegenüber seinen deutschen Rivalen beraubt; aus diesem Grund bestand er auf deutlich größeren Mengen.

Bis genügend hochreines Uran bereitstand, war der Krieg in Europa allerdings bereits vorbei. In der Pazifikregion tobten die Kämpfe hingegen noch immer, denn Japan zeigte trotz deutlicher militärischer Unterlegenheit keinerlei Bereitschaft, die Waffen zu strecken. Wohl wissend, dass eine Landinvasion in Japan die bereits schweren Verluste der Amerikaner weiter deutlich erhöhen würde, befahl General Leslie Groves, militärischer Leiter des Manhattan-Projekts, den Abwurf der Atombombe auf Japan, sobald es die Wetterbedingungen erlaubten.

Nach mehrtägigem schlechtem Wetter durch die Ausläufer eines Taifuns stieg die Sonne am 6. August 1945 in den blauen Himmel über Hiroshima auf. Um 07:09 Uhr wurde am Himmel über der Stadt ein amerikanisches Flugzeug gesichtet, und die Sirenen, die vor einem Luftangriff warnten, ertönten laut. Die 17-jährige Akiko Takakura hatte kürzlich eine Stelle als Bankangestellte angetreten. Als die Sirenen erklangen, war sie auf dem Weg zur Arbeit und suchte wie andere Pendler einen der öffentlichen Luftschutzbunker auf, die strategisch rund um die Stadt positioniert waren.

Warnungen vor Fliegerangriffen waren nichts Ungewöhnliches in Hiroshima; die Stadt war eine strategisch wichtige Militärbasis und beherbergte das Hauptquartier der Zweiten Hauptarmee. Bisher war die Stadt jedoch von Brandbomben, die auf so viele andere japanische Städte niedergingen, weitgehend verschont geblieben. Was Akiko und ihre Leidensgenossen nicht ahnten, war, dass Hiroshima absichtlich geschont worden war, damit die Amerikaner das ganze Ausmaß der Zerstörung bemessen konnten, das diese neue Waffe mit sich brachte.

Um halb acht ertönte das Entwarnungssignal. Die B-29 hoch am Himmel erschien nicht bedrohlicher als ein Wetterflugzeug. Als Akiko mit all den anderen Pendlern den Luftschutzbunker verließ, atmete sie erleichtert auf: An diesem Morgen würde es keinen Luftangriff geben.

Als sich Akiko und die anderen Bewohner Hiroshimas wieder auf den Weg zur Arbeit machten, ahnten sie nicht, dass die B-29 der Enola Gay – dem Flugzeug, das die Atombombe »Little Boy« mit sich führte – per Funk berichtete, der Himmel über Hiroshima sei klar. Während sich Kinder auf dem Schulweg befanden und Berufstätige ihren üblichen Tätigkeiten nachgingen, sei es im Betrieb oder im Büro, erreichte Akiko die Bank im Zentrum von Hiroshima, wo sie arbeitete. Von weiblichen Angestellten wurde erwartet, dass sie eine halbe Stunde vor den Männern eintrafen, um ihre Büros für den Tag aufzuräumen, daher befand sich Akiko um 08:10 Uhr bereits in dem großen, leeren Gebäude und arbeitete.

Um 08:14 Uhr kam das Fadenkreuz des Ziels, die T-förmige Aioi-Brücke, ins Visier von Colonel Paul Tibbets, dem Piloten der Enola Gay. Die 4400 Kilogramm schwere Bombe »Little Boy« wurde abgeworfen und begann ihren rund zehn Kilometer langen Fall Richtung Hiroshima. Nach rund 45 Sekunden freiem Fall, in rund 600 Metern Höhe über dem Boden, wurde die Bombe gezündet und eine subkritische Masse Uran in die andere gepresst, sodass eine überkritische Masse entstand, bereit zur Explosion. Fast augenblicklich setzte die spontane Spaltung eines Atoms Neutronen frei, von denen mindestens eins von einem 235U-Atom absorbiert wurde. Dieses Atom wurde dadurch seinerseits gespalten und emittierte weitere Neutronen, die wiederum auf weitere 235U-Atome trafen. Dieser sich rasch beschleunigende Prozess führte zu einer exponentiell wachsenden Kettenreaktion und gleichzeitig zur Freisetzung riesiger Mengen an Energie.

Als Akiko den Schreibtisch ihres später kommenden Kollegen abwischte, schaute sie aus dem Fenster und sah einen hellen weißen Blitz wie von einem brennenden Magnesiumstreifen. Was sie nicht wissen konnte: Exponentielles Wachstum erlaubte der Bombe, in einem einzigen Augenblick das Äquivalent von 30 Millionen Dynamitstangen freizusetzen. Die Temperatur der Bombe stieg auf mehrere Millionen Grad, heißer als die Sonnenoberfläche. Eine Zehntelsekunde später erreichte ionisierende Strahlung den Boden und führte bei allen Lebewesen, die ihr ausgesetzt waren, zu verheerenden Strahlenschäden. Eine Sekunde später wölbte sich ein Feuerball mit einem Durchmesser von 300 Metern und einer Temperatur von mehreren Tausend Grad Celsius über die Stadt. Augenzeugen berichteten, die Sonne sei an diesem Tag ein zweites Mal über Hiroshima aufgegangen. Die Druckwelle, die sich mit Schallgeschwindigkeit ausbreitete, machte Gebäude in der ganzen Stadt dem Erdboden gleich und schleuderte Akiko so heftig durch den Raum, dass sie das Bewusstsein verlor. Infrarotstrahlung verbrannte exponierte Haut kilometerweit in alle Richtungen. Menschen, die sich in der Nähe des Hypozentrums der Bombe befanden, wurden sofort verdampft oder zu Asche verbrannt.

Akiko war vor den schlimmsten Auswirkungen der Detonationswelle durch das erdbebensichere Gebäude der Bank geschützt worden. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, stolperte sie auf die Straße hinaus. Draußen musste sie feststellen, dass der klare blaue Morgenhimmel nicht mehr da war. Die zweite Sonne über Hiroshima war fast ebenso schnell wieder untergegangen, wie sie aufgegangen war. Die Straßen waren dunkel und voller Staub und Rauch. So weit das Auge reichte, lagen Körper hingestreckt da, wo sie gefallen waren. Nur 260 Meter vom Hypozentrum entfernt gehörte Akiko zu den Überlebenden, die der schrecklichen Detonationswelle der Bombe am nächsten gewesen waren.

Die Bombe selbst und der resultierende Feuersturm, der sich über die ganze Stadt ausbreitete, töteten Schätzungen zufolge rund 70 000 Menschen, davon 50 000 Zivilisten. Auch die meisten Gebäude der Stadt wurden vollständig zerstört. Oppenheimers prophetischer Ausspruch war wahr geworden. Ob es gerechtfertigt war, Hiroshima und neun Tage später Nagasaki zu bombardieren, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden, ist bis heute umstritten.

Die nukleare Option

Ob der Abwurf einer Atombombe zu rechtfertigen ist oder nicht – das bessere Verständnis der durch die Kernspaltung ausgelösten exponentiellen Kettenreaktion, die sich im Rahmen des Manhattan-Projekts ergab, führte uns zu einer Technologie, die uns erlaubt, saubere, sichere Energie aus Kernkraft zu gewinnen, und das ohne Kohlendioxidausstoß. Ein einziges Kilogramm Uran kann rund drei Millionen Mal mehr Energie freisetzen als die Verbrennung der gleichen Menge an Kohle.[8] Trotz Beweisen für das Gegenteil hat die Kernenergie, was Sicherheit und Auswirkungen auf die Umwelt angeht, einen schlechten Ruf. Daran ist zum Teil das exponentielle Wachstum schuld.

Am Abend des 25. April 1986 trat der Nukleartechniker Alexander Akimow seine Nachtschicht im Kernkraftwerk an, wo er als Schichtleiter arbeitete. An diesem Abend sollte in ein paar Stunden ein Stresstest des Kühlpumpensystems durchgeführt werden. Bevor er das Experiment einleitete, dachte er vielleicht, wie glücklich er sich schätzen konnte – in einer Zeit, als die Sowjetunion auseinanderbrach und 20 Prozent der Einwohner in Armut lebten –, einen sicheren Arbeitsplatz am Kernkraftwerk Tschernobyl zu haben.

Um die Leistung des Reaktors um rund 20 Prozent zu verringern, führte Akimow gegen 23 Uhr per Fernsteuerung eine Reihe von Steuerstäben zwischen die Uran-Brennstäbe und den Reaktorkern ein. Steuerstäbe dienen dazu, einen Teil der Neutronen zu absorbieren, die bei der Kernspaltung frei werden, und verhindern dadurch, dass diese zu viele andere Atome spalten. Dies unterbricht das rasche exponentielle Wachstum der Kettenreaktion, das bei einer Atombombenexplosion absichtlich herbeigeführt wird. Versehentlich führte Akimow jedoch zu viele Steuerstäbe ein, sodass die Nennleistung des Kraftwerks stark abfiel. Er wusste, dass dies zu einer Xenon-Vergiftung des Reaktors führen würde – das heißt, zur Erzeugung von Material, das wie die Steuerstäbe die Kettenreaktion weiter bremste und einen Temperaturabfall auslöste, der durch eine sich selbst verstärkende, positive Rückkopplungsschleife zu einer noch stärkeren Vergiftung und damit zu einer weiteren Abkühlung führte. Akimow geriet in Panik. Er überbrückte die Sicherheitssysteme, stellte mehr als 90 Prozent der Steuerstäbe unter manuelle Kontrolle und zog sie aus dem Kern zurück, um die drohende totale Abschaltung des Reaktors zu verhindern.

Als Akimow sah, dass die Nadeln der Anzeigeinstrumente nach oben gingen, während die Leistung langsam anstieg, beruhigte sich sein Herzschlag allmählich wieder. Da er die Krise gemeistert hatte, ging er nun zur nächsten Stufe des Tests weiter und schaltete die Kühlwasserpumpen ab. Was Akimow nicht wusste, war, dass die Sicherheitssysteme das Kühlwasser nicht so schnell in den Reaktor pumpten, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. Das langsam fließende Kühlwasser verdampfte zunächst unerkannt, was dazu führte, dass weniger Neutronen absorbiert und die Wärme im Kern weniger stark reduziert wurde. Die zunehmende Erhitzung des Kerns und der Anstieg der Leistung führten dazu, dass immer mehr Wasser blitzschnell in Dampf verwandelt wurde und die Leistung weiter stieg: eine zusätzliche, noch gefährlichere positive Rückkopplungsschleife. Die wenigen verbliebenen Steuerstäbe, die Akimow nicht unter seine manuelle Kontrolle gestellt hatte, wurden automatisch wiedereingeführt, um die steigende Wärmeproduktion zu bremsen, aber es waren nicht genug. Als Akimow klar wurde, dass die Leistung des Reaktors zu schnell stieg, betätigte er die Schnellabschaltung, aber es war zu spät. Als die Stäbe in den Reaktor eintauchten, riefen sie eine kurze, aber starke Leistungsspitze hervor, was zu einer Überhitzung des Kerns führte; dadurch zerbrachen einige der Brennstäbe, und das Einführen weiterer Steuerstäbe wurde blockiert. Während die produzierte Wärmeenergie exponentiell wuchs, stieg die Leistung des Reaktors auf mehr als das Zehnfache des normalen Operationsniveaus. Kühlwasser verwandelte sich rasch in Dampf, was zu zwei massiven Dampfexplosionen führte, die den Kern zerstörten und radioaktives Material in die Luft schleuderten.

Zunächst weigerte sich Akimow, Berichte über die Explosion des Reaktorkerns zu glauben, und gab falsche Informationen über den Zustand des Reaktors weiter, was lebenswichtige Bemühungen zur Eindämmung des Unglücks verzögerte. Als er das wahre Ausmaß der Katastrophe schließlich erkannte, versuchte er, ungeschützt, mit seiner Crew Wasser in den zerstörten Reaktor zu pumpen. Bei diesem verzweifelten Rettungsversuch waren die Crewmitglieder Dosen von 200 Gray pro Stunde ausgesetzt. Eine typische tödliche Dosis beträgt etwa 10 Gray, was bedeutet, dass die ungeschützten Arbeiter in weniger als fünf Minuten eine tödliche Dosis abbekamen. Akimow starb zwei Wochen nach der Katastrophe an akuter Strahlenkrankheit.

Nach offiziellen sowjetischen Angaben starben bei der Tschernobyl-Katastrophe lediglich 31 Menschen. Allerdings liegen einige Schätzungen, die die an den großflächigen Aufräumarbeiten beteiligten Personen einschließen, deutlich höher – gar nicht zu reden von den Todesfällen außerhalb der direkten Nachbarschaft des Kernkraftwerks, die durch die Verbreitung radioaktiven Materials verursacht wurden; sie kommen in der offiziellen Statistik ebenfalls nicht vor. Ein Feuer, das im zerstörten Reaktorkern ausbrach, brannte tagelang. Dieses Feuer schleuderte viele Hundert Mal mehr radioaktives Material in die Atmosphäre, als bei der Bombardierung von Hiroshima frei geworden war, und führte beinahe überall in Europa zu ausgedehnten Umweltfolgen.[9]

Am Wochenende des 2. Mai 1986 kam es in den höher gelegenen Gebieten von Großbritannien zu für die Jahreszeit ungewöhnlich heftigen Niederschlägen. Die Regentropfen enthielten radioaktive Zerfallsprodukte des Fallouts, der aus der Explosion im Reaktor stammte – Strontium-90, Cäsium-137 und Jod-131. Insgesamt ging rund 1 Prozent der Strahlung, die aus dem Reaktor in Tschernobyl freigesetzt wurde, in Großbritannien nieder. Diese Radioisotope wurden vom Boden absorbiert, in das wachsende Gras eingebaut und dann von den Schafen gefressen, die dort weideten. Das Ergebnis war – radioaktives Fleisch.

Das britische Landwirtschaftsministerium schränkte den Verkauf und die Bewegung von Schafen beziehungsweise Schaffleisch aus den belasteten Gebieten sofort gesetzlich ein; betroffen waren fast 9000 Farmen und mehr als vier Millionen Schafe. David Elwood, ein Schafzüchter aus dem Lake District, konnte kaum glauben, was da geschah. Die Wolke, die die unsichtbaren, kaum nachweisbaren Radioisotope mitgebracht hatte, warf einen langen, dunklen Schatten über seine Lebensgrundlage. Jedes Mal, wenn er Schafe verkaufen wollte, musste er sie isolieren und einen Regierungsinspektor rufen, der prüfte, wie stark radioaktiv sie belastet waren. Jedes Mal, wenn die Inspektoren kamen, teilten sie ihm mit, die Einschränkungen würden nur um rund ein weiteres Jahr verlängert werden. Elwood lebte mehr als 25 Jahre unter dem Schatten dieser Wolke, bis die Restriktionen 2012 endlich aufgehoben wurden.

Es wäre für die Regierung jedoch ein Leichtes gewesen, Elwood und andere Schafzüchter zu informieren, wann die Strahlenbelastung so weit abgeklungen sein würde, dass er seine Schafe wieder frei verkaufen könne. Strahlenbelastungen lassen sich nämlich aufgrund eines Phänomens, das als exponentieller Zerfall bezeichnet wird, bemerkenswert gut vorhersagen.

Die Wissenschaft der Datierung

In direkter Analogie zum exponentiellen Wachstum beschreibt exponentieller Zerfall jede Menge, die in demselben Maß abnimmt, wie es ihrem momentanen Wert entspricht – erinnern Sie sich an die tägliche Abnahme in der Zahl der M&Ms und an die Wasserrutschenkurve, die diese Abnahme beschreibt. Exponentieller Zerfall beschreibt so unterschiedliche Phänomene wie die biologische Halbwertszeit von Medikamenten im Körper[10] und die Rate, mit der der Bierschaum auf einem Glas Bier in sich zusammenfällt.[11] Insbesondere eignet er sich hervorragend dazu zu beschreiben, wie rasch die Höhe der Strahlung, die von radioaktiven Substanzen ausgeht, im Lauf der Zeit abnimmt.[12]

Instabile Atome radioaktiven Materials emittieren spontan Energie in Form von Strahlung, ohne dass es eines externen Auslösers bedürfte; diesen Prozess nennt man radioaktiven Zerfall. Auf der Ebene eines einzelnen Atoms ist der Zerfallsprozess ein Zufallsereignis – die Quantentheorie besagt, dass sich unmöglich vorhersagen lässt, wann ein bestimmtes Atom zerfallen wird. Auf der Ebene eines radioaktiven Stoffes, der eine riesige Menge von Atomen enthält, folgt die Abnahme der Radioaktivität jedoch einem vorhersagbaren exponentiellen Zerfallsgesetz. Die Anzahl der Atome nimmt proportional zur verbleibenden Anzahl ab. Jedes Atom zerfällt unabhängig von den anderen Atomen. Die Zerfallsrate lässt sich durch die Halbwertszeit des Stoffes charakterisieren – die Zeit, die nötig ist, damit die Hälfte der instabilen Atome zerfällt. Da der Zerfall exponentiell verläuft, gilt: Ganz gleich, wie viel radioaktives Material beim Start vorhanden ist, die Zeit, bis seine Radioaktivität um die Hälfte abgenommen hat, bleibt stets dieselbe. Wenn man die M&M-Tüte täglich auf dem Tisch leert und die Schokolinsen mit dem oben liegenden M isst, führt dies zu einer Halbwertszeit von einem Tag – jedes Mal, wenn wir sie aus der Tüte schütten, essen wir rund die Hälfte der Linsen.

Das Phänomen des Zerfalls radioaktiver Atome bildet die Grundlage der radiometrischen Datierung – der Methode, mit deren Hilfe sich Stoffe aufgrund ihres Niveaus an radioaktiver Strahlung datieren lassen. Durch Vergleich der Menge an radioaktiven Atomen mit der seiner bekannten Zerfallsprodukte können wir theoretisch das Alter eines jeden Materials bestimmten, das atomare Strahlung abgibt. Die radiometrische Datierung wird vielseitig eingesetzt; mit ihrer Hilfe wurde beispielsweise das Alter der Erde näherungsweise bestimmt, ebenso das Alter antiker Artefakte wie der Schriftrollen vom Toten Meer.[13] Wenn Sie sich schon einmal gefragt haben, woher man überhaupt weiß, dass der Urvogel Archaeopterix 150 Millionen Jahre alt ist[14] oder dass Ötzi, der Mann aus dem Eis, vor 5300 Jahren starb,[15] können Sie darauf wetten, dass radiometrische Datierungsmethoden beteiligt waren.

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