Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet - Kit Yates - E-Book
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Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet E-Book

Kit Yates

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Beschreibung

Überraschend, erwartbar oder nur wahrscheinlich

Seit Beginn der Menschheit versuchen wir, vorherzusagen, was die Welt für uns bereithält. Genauso lange liegen wir damit aber auch schon falsch. Von religiösen Orakeln über Wettervorhersagen bis zur Politik – wir sind ständig mit mangelhaften Prognosen konfrontiert.

In seinem neuen Buch enthüllt Kit Yates die überraschende Wissenschaft, die unseren Vorhersagen zugrunde liegt, und zeigt, wie wir sie zu unserem Vorteil nutzen können. Der Mathematiker erklärt, wie und warum Vorhersagen schief gehen, wie wir zweifelhafte Prognosen erkennen, und hilft uns, selbst fundiertere Prognosen zu treffen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel How to Expect the Unexpected bei Quercus, London

© Kit Yates, 2023

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Einleitung: Das Unerwartete erwarten

Die vielen Möglichkeiten falschzuliegen

Mit Sicherheit ungewiss

Lineare Lösungen für nicht lineare Probleme

Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet

Kapitel 1: Bauchgefühle

Die Illusion der Zufälligkeit

Für jeden etwas

Den Klienten zufriedenstellen

Magisches Denken

Der Baader-Meinhof-Effekt

Im Trüben fischen

Von den Fallen der Erinnerung

Die verschwindende Negation

Warm Reading

Hot Reading

Ein harmloser Spaß?

Lehren ziehen

Kapitel 2: Die Alltäglichkeit des Unerwarteten

Blind durch Koinzidenz

Muster im Rauschen

Das Spiel mit Zahlen

Das könnte Ihr Gewinn sein! (Ist es aber wahrscheinlich nicht)

Entschlüsselte Kombinationen

Scheinkorrelation

Kapitel 3: Die Ungewissheit meistern

Wie erlangt man Gewissheit?

Von perfekten Vorhersagen, betrügerischen Börsenmaklern und leichtgläubigen Spielern

Tiere mit übersinnlichen Fähigkeiten

Gewinnmaximierung

Mein Wille ist frei – oder nicht?

Wer wagt, gewinnt?

Entscheidungslähmung

Das Bessere ist der Feind des Guten

Kapitel 4: Seine Meinung ändern

Auf der Suche nach der ersten Ziffer

Wir haben Ihre Nummer

Das Wissen steckt in der Potenz

Keine große Erschütterung

Wenn sich meine Informationen verändern …

Lehre Nr. 1: Neue Informationen berücksichtigen

Lehre Nr. 2: Einen anderen Standpunkt einnehmen

Lehre Nr. 3: Die Meinung schrittweise ändern

Mit Ungewissheit umgehen

Kapitel 5: Das Spiel spielen

Die Regeln des Spiels

Vom Vorteil des Erstschlags

Ein unmoralisches Dilemma

Die nicht eingeschlagenen Wege

MAD World

Madman oder der Verrückte

Die Wirklichkeit ist ein Triell

Tragik für alle

Das Spiel verändern

Von Autokäufern lernen

Null ist Trumpf

Kapitel 6: Zwischen den Zeilen lesen

Lineares Denken

Am Markt mitmischen

Reziproke Beziehungen

Wissen ist Macht

Je größer sie sind, …

… desto schlimmer stürzen sie

Eine nicht lineare Welt

Kapitel 7: Schneebällen ausweichen

Positive Rückkopplungsschleife

Das Namensspiel

Die Lüge, die sich selbst wahr werden lässt

Zu klug mit dem Huf

Infektiöse Ideen

Kapitel 8: Bumerangs abfangen

Perverse Anreize

Goodharts Gesetz

Deep Learning auf Abwegen

Nicht zweckdienlich

Selbstzerstörerische Prophezeiungen

Der Underdog-Effekt

Negative Rückkopplungsschleifen

Kapitel 9: Seine Grenzen kennen

Besser als Sex?

Normalzustand: Alles im Eimer

Wetter – Zufall oder vorbestimmt?

Schieben Sie es auf den Wetterfrosch

Der Teufel steckt im Detail

Totales Chaos

Zutritt verboten!

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Emmie und Will – die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist: sie selbst zu gestalten.

Einleitung: Das Unerwartete erwarten

Seit den Anfängen der menschlichen Zivilisation versuchen wir, Vorhersagen über die Welt und das, was sie für uns bereithält, zu treffen. Genauso lange liegen wir damit auch schon falsch. Apokalyptische Prophezeiungen sind dramatische und – trotz ihres bislang immer eindeutigen Scheiterns – erstaunlich häufige Beispiele für solche Vorhersagen.

Die Azteken glaubten, dass die Götter Quetzalcoatl und Tezcatlipoca bereits vier Welten zerstört hatten und dass eine fünfte (unsere) durch ein katastrophales Erdbeben in Stücke gerissen würde, wenn man den Göttern keine Menschenopfer brächte. Natürlich lebte die Welt auch nach dem Niedergang des Aztekenreichs und dem allmählichen Ende der Menschenopfer weiter. Im Buch Daniel, das um 165 v. Chr. geschrieben wurde, wird den griechischen Unterdrückern der Juden eine katastrophale Strafe vorausgesagt, genau 1290 Tage nachdem die Griechen einen jüdischen Tempel entweiht hatten. Als dies nicht eintrat, wurde die Vorhersage auf 1335 Tage gestreckt – doch eineinhalb Monate später war immer noch nichts geschehen. Der französische Bischof Hilarius von Poitiers (dessen Vorname ironischerweise »fröhlich« bedeutet) prophezeite pessimistisch das Ende aller Tage für das Jahr 365 n. Chr., aber als dies peinlicherweise nicht eintrat, verschob sein Schüler Martin (der spätere Heilige Martin von Tours) das Datum ins Jahr 400 n. Chr. – ein weiterer Fehlschlag. Martins Nachfolger und Biograf Gregor von Tours hatte zumindest genug gesunden Menschenverstand, den Jüngsten Tag weit in der Zukunft zu verorten, irgendwann zwischen 799 und 806 n. Chr., wodurch er zumindest erst lange nach seinem Tod danebenlag.

In jüngerer Zeit haben evangelikale Prediger wie der US-Amerikaner Harold Camping mit der Vorhersage des Jüngsten Gerichts ein gutes Geschäft gemacht. Camping legte den Beginn der »Endzeit« zunächst auf den 6. September 1994. Als selbige sich nicht einstellte, verschob er den Zeitpunkt auf den 29. September und dann noch einmal auf den 2. Oktober. Überraschenderweise erhielt Camping nach diesen Demütigungen in den 1990er-Jahren Spenden in Millionenhöhe von Menschen, die seine revidierte Vorhersage für den 21. Oktober 2011 glaubten. Camping und eine Reihe anderer Panikmacher erhielten 2011 den Ig-Nobelpreis für Mathematik (ein satirischer Preis, der für Forschungen verliehen wird, die »nicht reproduziert werden können oder sollten«), und zwar dafür, dass sie »die Welt lehrten, bei mathematischen Annahmen und Berechnungen vorsichtig zu sein«.

Da sie ihre Vorhersagen auf wenig oder gar keine wissenschaftlichen Beweise stützten, ist es nicht wirklich überraschend, dass diese religiösen Orakel am Ende in die Gruben fielen, die sie sich selbst gegraben hatten. Im Laufe der Jahre gab es jedoch auch einige lächerliche Vorhersagen von Leuten, die es eigentlich besser hätten wissen müssen. Im Jahr 1830, zu Anfang des Eisenbahnzeitalters, sagte der Wissenschaftspopulist und Mitglied der Royal Society, Dionysius Lardner, voraus, dass »Eisenbahnreisen mit hoher Geschwindigkeit nicht möglich sind, weil die Passagiere keine Luft bekämen und ersticken würden«. Diese unwahrscheinliche Warnung war selbst zu jener Zeit zum Lachen. Andere Vorhersagen erschienen jedoch erst im Nachhinein komisch.

Als 1903 Henry Fords Anwalt erwog, in die aufstrebende Ford Motor Company zu investieren, mahnte ihn der Präsident der Michigan Savings Bank mit den Worten: »Das Pferd wird bleiben, das Automobil hingegen ist nur so eine Neuheit – eine Modeerscheinung.« Im Jahr 2007 behauptete der Vorstandsvorsitzende von Microsoft, Steve Ballmer: »Das iPhone hat keine Chance, einen nennenswerten Marktanteil zu erreichen. Keine Chance.« Wieder andere Vorhersagen sind in ihrer Naivität oder ihrer vorsätzlichen Blindheit gegenüber dem Unvermeidlichen geradezu tragisch. Im September 1938 kehrte Neville Chamberlain von einem Treffen mit Adolf Hitler mit den Worten zurück: »Zum zweiten Mal in unserer Geschichte ist ein britischer Premierminister mit einem ehrenvollen Frieden aus Deutschland heimgekehrt.« Weniger als ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg.

 

Die Zukunft vorherzusagen birgt Gefahren. Niemand möchte der Untergangsprophet sein, dessen apokalyptische Weissagungen nie eintreffen und der sich damit zum Gespött macht. Im Jahr 1970 brachte sich der amerikanische Wissenschaftler James P. Lodge Jr. vom National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado, in diese Lage, als er verkündete, dass »die Luftverschmutzung die Sonne auslöschen und im ersten Drittel des nächsten Jahrhunderts eine neue Eiszeit verursachen könnte«. 1971 wurden Lodges Behauptungen von S. Ichtiaque Rasool von der Columbia University und Stephen H. Schneider von der NASA bestätigt, die in der angesehenen Fachzeitschrift Science behaupteten, dass der Anstieg des atmosphärischen Staubs in den nächsten fünfzig Jahren »auf einen Rückgang der globalen Temperatur um bis zu 3,5 K hindeutet«. »Ein solch starker Rückgang«, so die beiden weiter, »wird als ausreichend angesehen, um eine Eiszeit auszulösen.«[1] Offenkundig ist diese Vorhersage nicht eingetreten. Wie wir nur zu gut wissen, stehen wir vor dem umgekehrten Problem einer globalen Erwärmung.

Am anderen Ende des Spektrums möchte niemand in der Haut des britischen Meteorologen Michael Fish stecken, der angesichts einer drohenden Katastrophe dem ganzen Land Entwarnung gab. Fish versicherte bei seiner Vorhersage im Oktober 1987 der besorgten britischen Öffentlichkeit: »Heute Morgen hat eine Frau bei der BBC angerufen und gesagt, sie habe gehört, dass ein Hurrikan im Anmarsch sei. Nun, wenn Sie gerade zuschauen – keine Sorge, es gibt keinen.« Der Sturm, der an diesem Abend über das Vereinigte Königreich zog, war der schlimmste seit Jahrhunderten. Sturmböen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 190 Kilometern pro Stunde verwüsteten den Süden Englands, verursachten Schäden in Höhe von 2 Milliarden Pfund und töteten achtzehn Menschen.

 

Trotz der Gefahren, die mit der Vorhersage der Zukunft verbunden sind, kommen wir um solche Vorhersagen nicht herum. Wir sollten wissen, wie das Wetter heute Nachmittag sein wird, damit wir entscheiden können, ob wir die Wäsche draußen aufhängen oder nicht; wir sollten wissen, wie stark der Verkehr sein wird, damit wir rechtzeitig zu einer wichtigen Besprechung aufbrechen können; und wir sollten unsere Ausgaben abschätzen, damit wir ausgewogen haushalten können. Dies sind alltägliche Prognosen, die helfen, unser Leben reibungsloser zu gestalten, die aber auch Schwierigkeiten bereiten können, wenn wir danebenliegen.

Gesellschaftlich gedacht, sollten wir zum Wohle aller in der Lage sein, wirtschaftliche Talstrecken vorherzusagen und darauf zu reagieren; wir sollten Terroranschläge vorhersagen und abwehren können, und wir sollten die aktuelle und potenzielle Bedrohung durch den Klimawandel verstehen, um etwas dagegen unternehmen zu können. Wenn wir bei derart weitreichenden Vorhersagen falschliegen, könnten Existenzen, Menschenleben und sogar das Schicksal unserer Spezies auf dem Spiel stehen. Wenn wir Lehren aus früheren Erfahrungen nicht beachten und keine ausreichend durchdachten Vorhersagen treffen, werden wir wahrscheinlich in unvorhergesehene Szenarien geraten: wie die Programme zum Rückkauf von Schusswaffen, die zu einem Anstieg des Waffenbesitzes führten, die Sicherheitseinrichtungen an Autos, die mehr Todesfälle verursachten als verhinderten, oder die zur Bekämpfung eines Schädlings eingeführten Arten, die schließlich selbst zu einer Plage wurden.[2]

Die vielen Möglichkeiten falschzuliegen

In diesem Buch werden nicht nur Möglichkeiten aufgezeigt, bessere Vorhersagen zu treffen, um unser Leben zukunftssicher zu machen, es geht auch um die diversen Möglichkeiten, falsche Vorhersagen zu treffen, und die Lehren, die man daraus ziehen kann. Ich fasse Ergebnisse aus den mir vertrauten Mathematikfeldern zusammen und verknüpfe sie mit Studien aus Biologie, Psychologie, Soziologie und Medizin, mit Theorien aus Wirtschaft und Physik und vor allem mit Erfahrungen aus der realen Welt, um Sie dabei zu unterstützen, das Unerwartete zu erwarten.

Zwei der wichtigsten verwirrenden Phänomene, denen wir fortwährend im Alltag begegnen und die schwer richtig zu begreifen sind, sind Wahrscheinlichkeit und Nichtlinearität. Wir sind von Natur aus nicht in der Lage, durch Wolken von Ungewissheit zu blicken oder zu erkennen, was hinter einer Kurve auf uns zukommt. Daher werde ich immer wieder betonen, dass die Mathematik im Mittelpunkt unserer Versuche stehen sollte, Vorhersagen zu treffen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Mathematik kann uns objektive Werkzeuge an die Hand geben, mit denen wir die Schwächen unserer eigenen Biologie umgehen können – die Beschränkungen, die uns durch unsere eigenen Denkprozesse auferlegt werden, Zwänge, die uns letztlich menschlich machen, aber in die Irre leiten, wenn es darum geht, Rückschlüsse auf die Welt um uns herum zu ziehen. Einige dieser tief verwurzelten Impulse resultieren aus zu viel, andere aus zu wenig Erfahrung mit bestimmten Phänomenen. Es sind die Abkürzungen der Menschheit, die Vorurteile und kognitiven Voreingenommenheiten, die über Jahrtausende hinweg evolutionär verfeinert wurden, uns aber nur allzu oft in die Irre führen, wenn wir diese tief im Gehirn verwurzelten Regeln auf die neuen Bedingungen der modernen Gesellschaft anwenden wollen.

Ein Beispiel: An schönen Tagen spielen meine Kinder gern auf dem Trampolin. Während ich im Garten arbeite, bitten sie mich immer wieder, Streit zu schlichten oder an neu erfundenen Spielen teilzunehmen. Wie auch immer das Spiel beginnt, es endet fast immer in einer sich hinziehenden Rangelei. Wenn wir zu müde sind, um weiterzumachen, lassen wir uns meist alle keuchend auf den Rücken fallen und schauen in den Himmel. Das ist insgeheim mein Lieblingsteil, nicht nur, weil ich mich ausruhen kann, sondern auch, weil es oft der Beginn eines neuen, ruhigeren Spiels ist. Wir schauen zu den vorbeiziehenden Wolken auf und rufen uns zu, was wir sehen. »Siehst du die Schildkröte, die da drüben vorbeifliegt?«, sagt dann einer. »Was? Du meinst die Meerjungfrau, die eine Zigarre raucht?«, sage ich darauf. »Nein, siehst du nicht, dass es ein Drache mit Zylinder ist?«, antwortet die Dritte.

Wolken zu deuten ist ein altes und verbreitetes Spiel, das sich auf eine alte und weitverbreitete Gewohnheit stützt. Die altbewährte und universelle Fähigkeit unserer Spezies, Muster in einer chaotischen Umgebung zu erkennen, wird manchmal als Mustersuche bezeichnet. So haben viele verschiedene Kulturen die Tradition des »Mannes im Mond« entwickelt, also die Überzeugung, ein Gesicht oder sogar den ganzen Körper einer Person erkennen zu können, die in den unregelmäßigen Schatten der Mondoberfläche gefangen ist. Diese universelle Verbreitung beruht wahrscheinlich auf der für unsere Spezies seit jeher wichtigen Fähigkeit, menschliche Gesichter und Gestalten in der Umgebung auszumachen. Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und ihre Emotionen schnell zu deuten, hatte in grauer Vorzeit den Vorteil, dass wir eine potenziell bedrohliche Person schnell erkennen und ihre Stimmung deuten konnten, um uns auf Flucht oder Kampf vorzubereiten. Neurologisch gesehen sind wir fest verdrahtet, Gesichter zu erkennen; es gibt sogar einen Bereich der Sehrinde – das fusiforme Gesichtsareal –, der für das Erkennen und Erinnern von Gesichtern zuständig ist.[3]

Heutzutage kann aus dem Erkennen von Jesus in einem Stück verbranntem Toast eine unterhaltsame Zeitungsgeschichte werden, aber manchmal können diese weit entwickelten Fähigkeiten zur Mustererkennung, die es uns ermöglichen, Ordnung inmitten von Unordnung zu finden, auch zu falschen Schlussfolgerungen verleiten. Glücksspieler glauben vielleicht, Muster in Lotto- oder Roulettezahlen auszumachen, auch wenn es eindeutig kein solches Muster gibt. Anleger am Kapitalmarkt mögen sich einreden, sie hätten ein System entwickelt, mit dem sie den Markt schlagen können, während sie in Wirklichkeit nur einen nicht existierenden Trend in den chaotischen Kursverläufen entdeckt haben. Wissenschaftler finden vielleicht eine Häufung von Krankheitsfällen und schließen daraus auf eine bestimmte umweltbedingte Ursache, obwohl die Häufung in Wirklichkeit zufällig auftrat, als Ergebnis der zufälligen Verteilung solcher Fälle, und eigentlich kein solcher Zusammenhang besteht. Diese Art von Fehlern, auf die wir in den Kapiteln 2, 3 und 4 näher eingehen werden, sind eine direkte Folge unserer Unfähigkeit, angesichts von Zufälligkeit und Ungewissheit vernünftig zu denken.

Mit Sicherheit ungewiss

Wenn man über Ungewissheit spricht, ist es wichtig, sich von Anfang an darüber im Klaren zu sein, dass es bei Vorhersagen nicht nur darum geht, die Zukunft zu ergründen. Auch in der Gegenwart gibt es Dinge, über die wir uns nicht sicher sind. Ja sogar in der Vergangenheit stößt man auf eine Vielzahl von Phänomenen, über die wir nicht den vollen Überblick haben. Als der irische Erzbischof James Usher die Erschaffung der Erde auf den 22. Oktober 4004 v. Chr. datierte, machte er eine beeindruckend falsche Vorhersage über etwas, das bereits geschehen war. Wirtschaftswissenschaftler sind sich dieses Problems nur zu gut bewusst. Wenn sie die Kennzahlen beisammenhaben, aus denen man auf eine bevorstehende Rezession schließen kann, befinden wir uns in der Regel bereits mittendrin. Um sich ein genaues Bild davon zu machen, was jetzt passiert, sammeln Wirtschaftswissenschaftler Daten aus der ferneren Vergangenheit, um »Nowcasts«[4] über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und die der Gegenwart zu erstellen, für die wir noch keine Daten haben. Mit ähnlichen Methoden speisen Gesundheitsforscher Daten aus sozialen Medien in Nowcasting-Modelle ein, um Grippeepidemien zu erkennen,[5] die noch nicht von den Gesundheitsbehörden erfasst wurden.

Es gibt also, grob gesagt, zwei Arten von Vorhersagen, die sich mit den zwei Arten von Ungewissheit befassen, mit denen wir täglich konfrontiert werden: aleatorische (vom lateinischen Wort aleator für Würfelspieler) und epistemische (vom altgriechischen episteme für Wissen oder Wissenschaft). Um den Unterschied zu verdeutlichen, stellen Sie sich vor, ich hätte einen fairen Würfel in der Hand. Ich frage Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine Sechs zu würfeln. Ohne Zweifel werden Sie mir sofort sagen, dass sie ein Sechstel beträgt. Sieht man von der Möglichkeit ab, dass der Würfel gezinkt ist, ist eins zu sechs richtig und spiegelt die aleatorische Ungewissheit wider: Ungewissheit bei Ergebnissen, die sich bei jeder Durchführung des Experiments unterscheiden können. Jetzt bitte ich Sie, sich umzudrehen, während ich den Würfel werfe und ihn mit meiner Hand bedecke, bevor Sie sich wieder umdrehen. Wenn ich Sie nach dem Würfeln frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Würfel unter meiner Hand eine Sechs ergeben hat, was antworten Sie dann? Widerwillig werden Sie mir wahrscheinlich wiederum sagen, dass die Wahrscheinlichkeit eins zu sechs ist. Und wieder hätten Sie recht. Doch dieses Mal spiegelt Ihre Antwort die epistemische Ungewissheit wider, die auftritt, wenn man über ein bereits existierendes Phänomen oder eine Situation urteilen soll, die sich bereits abgespielt hat, über die man aber keine vollständige Kenntnis hat.

Unterschiedliche Forschungsgebiete haben jeweils eigene, leicht voneinander abweichende Definitionen dieser beiden Begriffe – epistemisch und aleatorisch –, aber für unsere Zwecke reichen diese Charakterisierungen aus. Lotto zum Beispiel ist für uns ein Spiel mit aleatorischer Ungewissheit, da das zufällige Ereignis der Ziehung noch nicht stattgefunden hat. Der Kauf eines Rubbelloses dagegen ist eine Übung in epistemischer Ungewissheit – ein Glücksspiel auf die vorgegebenen, aber noch unbekannten Bilder, die sich unter dem Rubbelfeld befinden.

Ebenso lange, wie wir Menschen uns mit der aleatorischen Ungewissheit befassen, die mit der Vorhersage der Zukunft zu tun hat, suchen wir auch nach Antworten auf epistemische Fragen über die Natur der Realität. Die alten Ägypter glaubten, die Erde sei eine flache Scheibe.[6] Auch im antiken Griechenland stimmten dem viele zu. In der einen oder anderen Form vertraten diese Auffassung auch Hindus, Buddhisten, Mesopotamier, Chinesen und die meisten anderen alten Zivilisationen, soweit sie sich diese Frage überhaupt gestellt hatten.

Es dauerte bis weit ins Mittelalter hinein, bis sich die Vorstellung von der Erde als Kugel durchgesetzt hatte. Als Kolumbus 1492 die Segel in Richtung Asien setzte (eine Reise, die ihn schließlich in Amerika landen ließ – so viel zu dieser Vorhersage), glaubten einige Leute immer noch, er würde direkt über den Rand der Erde segeln. Erst als der portugiesische Entdecker Magellan dreißig Jahre später seine erste Weltumsegelung vollendete, war die Frage endgültig geklärt. Das Aufstellen falsifizierbarer Hypothesen über die Natur unserer Existenz, wie die frühesten Vermutungen von Pythagoras, dass die Welt nicht flach sei, ist die Grundlage jeder wissenschaftlichen Methode. Sie ist der einzige Grund, warum wir überhaupt etwas über irgendetwas wissen. Wissenschaftliche Theorien sind nichts anderes als epistemische Vorhersagen über die Natur der Realität, die noch nicht widerlegt wurden.

Die beiden Arten von Ungewissheit schließen sich nicht gegenseitig aus. Viele Ereignisse, bei denen der Zufall eine Schlüsselrolle spielt, weisen Elemente beider Arten auf, wie wir in den Kapiteln 2, 3 und 4 feststellen werden. Als Barack Obama zum Beispiel 2011 einem Team von Navy SEALs grünes Licht für den Angriff auf das Gelände in Abbottabad gab, in dem er Osama bin Laden vermutete, war er sich des Erfolgs der Mission nicht sicher. In einem Interview nach dem Ereignis räumte Obama freimütig ein, dass er mit zwei verschiedenen Quellen von Ungewissheit konfrontiert war. Mit dem Schreckgespenst früherer verpatzter Militäreinsätze (darunter die »Schlacht von Mogadischu« und die Geiselbefreiung aus der iranischen US-Botschaft) im Hinterkopf sagte Obama über die damit verbundene aleatorische Ungewissheit: »Es gibt viele Dinge, die schiefgehen können … Es gibt enorme Risiken, die diese Leute eingehen … Es handelt sich um schwierige, komplizierte Operationen.« Unabhängig davon räumte Obama ein, dass die Beweise, die ihm vorgelegt wurden, um zu zeigen, dass sich bin Laden tatsächlich im Abbottabad-Komplex versteckt hielt, alles andere als schlüssig waren. »Wir konnten nicht mit Sicherheit sagen, dass bin Laden dort war. Wäre er nicht dort gewesen, hätte das erhebliche Konsequenzen gehabt.« Er bezifferte seine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von bin Ladens Aufenthalt in dem Komplex – seine epistemische Ungewissheit über eine unbekannte Tatsache – auf »55 zu 45«.

Lineare Lösungen für nicht lineare Probleme

Unser Gehirn ist also in der Lage, überzogene Verallgemeinerungen und Vereinfachungen vorzunehmen, wenn es mit Wahrscheinlichkeiten umgehen soll. Aber wir sollten nicht vergessen, dass wir auch andere potenziell schädliche Abkürzungen nehmen, selbst bei Szenarien, in denen es scheinbar keine Ungewissheit gibt. Eine der wichtigsten kognitiven Vereinfachungen, deren Allgegenwärtigkeit ich in Kapitel 6 aufzeige, ist die Linearitätsverzerrung – die Neigung, zu glauben, dass die Dinge konstant bleiben oder sich in gleichbleibendem Tempo verändern werden. Wenn man Monat für Monat einen festen Betrag seines Einkommens zurücklegt, bedeutet dies, dass die Ersparnisse linear ansteigen. Wird man auf Stundenbasis bezahlt, steigt das Gehalt linear mit der Anzahl der Arbeitsstunden. Wenn man in einer Woche etwas mehr arbeitet, sollte eine feste Erhöhung der Arbeitszeit mit einer festen Erhöhung des Gehalts vor Steuern einhergehen. Ganz allgemein sollte bei linearen Prozessen eine feste Änderung des Inputs mit einer festen Änderung des entsprechenden Outputs einhergehen. Viele der Prozesse in unserer Welt sind jedoch nicht linear. Die Nichtlinearität, die wir in den späteren Kapiteln noch entdecken werden, ist der zweite Störfaktor (neben der Wahrscheinlichkeit), der unsere naiven Vorhersageversuche vereitelt.

Da wir mit nicht linearen Prozessen relativ wenig vertraut sind, kann uns ihr Einfluss überraschen. In Kapitel 6 werden wir die wechselseitige Beziehung zwischen Kraftstoffverbrauch und Kraftstoffeffizienz kennenlernen, die uns dazu verleiten kann, schlechte Umweltentscheidungen zu treffen. In Kapitel 7 werden wir sehen, wie uns das exponentielle Wachstum der Anzahl infizierter Menschen zu Beginn einer Epidemie überraschen kann, das nur scheinbar von überschaubar und beruhigend langsam zu alarmierend und unerwartet schnell verläuft. Selbst die quadratische Beziehung zwischen dem Durchmesser einer Pizza und ihrer Fläche kann uns aus der Fassung bringen, wenn wir nicht aufpassen.

Wenn ich zum Beispiel auf dem langen Heimweg von der Arbeit über die Autobahn fahre, ist der Gedanke verlockend, die Geschwindigkeit zu erhöhen, um schneller nach Hause zu kommen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen zu können. Aber jedes Mal, wenn ich in Versuchung gerate, erinnere ich mich daran, dass eine feste Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der ich unterwegs bin, nicht zu einem festen Zeitgewinn führt. Die Beziehung ist nicht linear. Wenn man die Geschwindigkeit von 50 auf 70 Stundenkilometer erhöht, spart man auf einer Strecke von 10 Kilometern knapp dreieinhalb Minuten. Erhöht man jedoch die Geschwindigkeit um weitere 20 auf nun 90 Stundenkilometer, spart man auf der gleichen Strecke nicht weitere dreieinhalb Minuten, sondern lediglich knapp zwei Minuten mehr. Bei dieser einfachen nicht linearen Beziehung nimmt der zusätzliche Zeitgewinn ab, je schneller man fährt. Außerdem ist eine Fahrzeitverkürzung bei Überschreiten der erlaubten Höchstgeschwindigkeit das Risiko, erwischt zu werden, wirklich nicht wert. Mit diesen alltäglichen Beispielen möchte ich die einfachen kognitiven Defizite aufzeigen, die wir von Natur aus haben, und Sie mit der Fähigkeit ausstatten, diese bei sich selbst zu erkennen und diese Erkenntnis zu nutzen.

 

Manchmal kann es zu Überschneidungen zwischen der übermäßigen Vertrautheit mit bestimmten Erfahrungen und dem Mangel an Erfahrung mit anderen Situationen kommen – insbesondere mit solchen, denen ein komplexes dynamisches Verhalten und Ungewissheit innewohnen –, sodass wir uns ohnmächtig fühlen, wenn wir mit einem ungewöhnlichen Szenario konfrontiert werden. Das Phänomen der Normalitätsverzerrung resultiert aus einer solchen Kombination aus Vertrautheit mit linearen Beziehungen und Unvertrautheit mit extremen Ereignissen. Wir gehen davon aus, dass sich die Dinge linear weiterentwickeln werden – so wie sie es bis jetzt getan haben. Dies führt dazu, dass wir Warnungen vor drohenden Gefahren herunterspielen, infrage stellen oder ignorieren, weil sie so weit außerhalb unseres Erfahrungsbereichs liegen, dass sie unglaubwürdig wirken.

Der Verlust von Menschenleben auf der Titanic wird oft als Paradebeispiel für eine Normalitätsverzerrung angeführt. In den Stunden nach der Kollision des Schiffes mit dem verhängnisvollen Eisberg erkannten nicht alle Passagiere der Titanic den Ernst der Lage. Viele hatten geglaubt, das Schiff sei unsinkbar. Selbst nachdem die Berichte über die Havarie eingegangen waren, erklärte Philip Franklin, der Vizepräsident der White Star Line (der Reederei, die die Titanic betrieb), den Angehörigen und Freunden der Passagiere sowie der versammelten Presse in New York: »Es besteht keine Gefahr, dass die Titanic sinkt. Das Schiff ist unsinkbar, und die Passagiere werden nicht mehr als ein paar Unannehmlichkeiten erleiden.«

Viele Passagiere glaubten tragischerweise ebenfalls zu sehr an die »Unsinkbarkeit« und zogen die Sicherheit und den relativen Komfort des Schiffes, auf dem sie tagelang gefahren waren, der Aussicht vor, sich mitten in der Nacht in die unbekannten dunklen und eisigen Gewässer des Atlantiks zu begeben. Viele der frühen Rettungsboote, die zu Wasser gelassen wurden, waren nicht voll besetzt – nicht, weil sie zu schnell zu Wasser gelassen wurden, sondern weil die Menschen zögerten, nach vorne zu kommen, wenn sie gerufen wurden. Selbst diejenigen, die die Rettungsboote besetzten, als sie vom Deck des Schiffes herabgelassen wurden, erinnern sich, dass sie skeptisch waren, ob diese »Vorsichtsmaßnahme« wirklich sinnvoll war. Die Menschen konnten einfach nicht glauben, dass ihre tief verwurzelten Erwartungen an die nächsten Tage – die sichere Überfahrt über den Atlantik nach New York auf einem Schiff, von dem Kapitän Edward John Smith behauptete, dass »selbst Gott es nicht versenken könnte« – auf diese Weise enttäuscht werden könnten. Viele Passagiere brauchten zu lange, um sich von der bequemen Vorstellung ihrer Zukunft zu lösen, selbst angesichts der eindringlichen Warnungen, die sie erhielten.

Wie sich herausstellte, gab es ohnehin nicht genügend Rettungsboote für alle Passagiere an Bord der Titanic: eine Entscheidung der White Star Line, die aus einem falschen Vertrauen auf die Unsinkbarkeit des Schiffes und dem ästhetischen Wunsch resultierte, den Passagieren möglichst viel Platz an Deck zu bieten. Diese Selbstgefälligkeit in Verbindung mit der Unterbelegung der ersten Rettungsboote führte tragischerweise dazu, dass in dieser Nacht viele Menschen im kalten, grausamen Atlantik ihr Leben verloren – Menschen, die vielleicht gerettet worden wären, wenn die Normalitätsverzerrung nicht gewesen wäre. In Kapitel 9 werden wir mehr über die verhängnisvollen Auswirkungen dieser kognitiven Verzerrung erfahren.

 

Die bisher beschriebenen nicht linearen Phänomene – reziproke, exponentielle und quadratische Beziehungen – gehören, wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, zu den Konzepten, mit denen wir uns leichter auseinandersetzen können. Und doch machen wir auch dabei immer wieder Fehler. Wie sollen wir dann Vorhersagen über das Verhalten komplexer Systeme treffen, die mit Rückkopplungsschleifen, Unstetigkeiten, Schwankungen und anderem, komplizierterem nicht linearem Verhalten behaftet und von vielen voneinander abhängigen Variablen bestimmt sind? In solchen Szenarien können Situationen extrem schnell außer Kontrolle geraten und unseren Erwartungshorizont überschreiten.

Die Mathematik hat das Potenzial, als Wegweiser durch diese nicht lineare Welt zu dienen. Die kalte, strenge Logik der Mathematik kann uns dabei helfen, über die Abkürzungen hinwegzudenken, die das Gehirn uns intuitiv vorschlägt. Aber selbst die Mathematik kann angesichts einer von Natur aus komplexen Welt nur bedingt weiterhelfen. Sogar in Systemen, von denen wir glauben, dass wir die Ungewissheit beseitigt haben, kann es immer noch inhärente Probleme geben, die verhindern, dass wir mit absoluter Genauigkeit oder beliebig weit in die Zukunft hinein Voraussagen treffen können. Trotz der unbestrittenen Erfolge mathematischer Voraussagen – sei es die Position verschwundener Planeten[7] oder die Existenz von Radiowellen[8] – haben wir oft Mühe, scheinbar einfache Phänomene zu verstehen und vorherzusagen: das Plätschern eines tropfenden Wasserhahns[9] oder die Schwankungen von Tierpopulationen.[10] Wenn Sie schon einmal »Poohsticks« gespielt haben, wissen Sie, dass ungefähr gleich große Stöcke, die ungefähr zur gleichen Zeit an ungefähr der gleichen Stelle in strömendes Wasser fallen gelassen werden, extrem unterschiedliche Wege nehmen können, selbst über die kurze Strecke unterhalb einer Brücke. (Bei Poohsticks gewinnt diejenige Person, deren Stock als erster hinter der Brücke auftaucht.) Das ist eine Beschreibung von Chaos im Kleinformat.

Wie ich im letzten Kapitel hervorheben werde, kann diese Art von Chaos auch bei Systemen, die theoretisch vorhersehbar sein sollten, jeden Prognoseversuch zunichtemachen. Beispiele sind die Populationen bedrohter Tierarten, die Ausbreitungswege von Epidemien, das Verhalten von Menschenmengen und natürlich das Wetter. Unvorhersehbares Verhalten kann in gut charakterisierten Systemen auftreten, selbst wenn es keine externen Zufallsquellen gibt.

Sogar die viel gepriesene Macht der Mathematik hat ihre Grenzen. Es gibt grundlegende Beschränkungen, die unsere Fähigkeit zur Vorhersage behindern. Die Mathematik bietet zwar beispiellose Werkzeuge, mit denen wir etwas vorausberechnen können, doch Ungewissheit und Nichtlinearität setzen uns endgültige Grenzen, wenn es darum geht, wie weit wir jemals in die Zukunft sehen können.

Wie man vorhersieht, womit keiner rechnet

In diesem Buch werden nicht nur Wege aufgezeigt, wie wir versuchen können, die Zukunft vorherzusagen, es geht auch darum, die Hindernisse zu erkennen und zu verstehen, auf die wir bei diesem Versuch stoßen. Wir können auf Lernerfolge hoffen, wenn wir uns die vielen und unterschiedlichen Wege ansehen – manchmal amüsant, zuweilen tragisch, aber immer relevant –, auf denen einfache Prognosen scheitern können und auch tatsächlich scheitern. Dazu gehören: unser »Bauchgefühl« – auf übernatürlichen oder instinktiven Überlegungen beruhende Weissagungen, die rein zufällig gelegentlich richtig sein können (auch eine stehen gebliebene Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit), aber meist danebenliegen, weil sie keine wissenschaftliche Grundlage haben; die »alltäglichen außergewöhnlichen« Ereignisse, die auf individueller Ebene so selten sind, dass sie fast unmöglich erscheinen, aber auf eine große Bevölkerungsgruppe bezogen fast unvermeidlich werden; Ereignisse, die »inhärente Ungewissheiten« sind, bei denen wir abstrakt zwar viel über ihre erwartete Häufigkeit sagen können, aber wenig Konkretes über das Eintreten eines einzelnen Ereignisses; die »gemeinsamen Tragödien«, bei denen das kurzfristige rationale Verhalten im Interesse des Einzelnen dazu führen kann, dass alle in der Gruppe langfristig verlieren.

Wir müssen auf »Curveballs« achten, die sich wie beim Baseball scheinbar in einer geraden Linie bewegen, aber im entscheidenden Moment von ihrer vorhergesagten Flugbahn abweichen; auf »Schneeball«-Rückkopplungsschleifen, die vielleicht harmlos beginnen, aber außer Kontrolle geraten, sich aufschaukeln und schließlich zu einer Lawine werden können; auf negative »Bumerang«-Rückkopplungen – jene Vorhersagen, die das Phänomen, das sie vorhersagen, verändern und zu einem anderen Ergebnis führen können –, und schließlich auf »fundamentale Grenzen«, die uns durch die Natur der Welt, in der wir leben, aufgezwungen sind und die uns Beschränkungen auferlegen, wie weit wir in die Zukunft blicken und auf welche Genauigkeit wir dabei überhaupt hoffen können.

Im Laufe des Buches werde ich Einblicke und Tipps geben, wie man es vermeiden kann, auf unbegründete Vorhersagen hereinzufallen, und wie man herausfindet, wem man glauben kann. Ich nehme die Folklore und die Faustregeln auseinander, die wir seit Jahrhunderten für Vorhersagen verwenden, erkläre die Wissenschaft hinter dem »roten Nachthimmel« und entlarve Mythen wie die von den »Kühen, die sich beim Hinlegen nach dem Erdmagnetfeld richten«. Ich gebe Ihnen einige Werkzeuge an die Hand, mit denen Sie Ihre eigenen Vorhersagen treffen können, und zeige Ihnen, wann Sie Ihrer Intuition nicht trauen sollten. Mithilfe von Logik und Wahrscheinlichkeit werden wir tief in die Struktur der Realität vordringen und Situationen beleuchten, in denen etwas mehr als ein verbales, lineares Argument erforderlich ist.

Als meine vordringliche Aufgabe sehe ich es an, Sie auf die vielfältigen Möglichkeiten aufmerksam zu machen, wie Vorhersagen schiefgehen können: die Möglichkeiten, wie Ihre Intuition getäuscht oder Ihr besseres Urteilsvermögen durch ein scheinbar überzeugendes Argument getrübt werden kann. Ich möchte Ihnen aber nicht nur die Fehler anderer aufzeigen, sondern Sie auch in die Lage versetzen, selbst zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen, indem Sie die einfachen Tipps und Hilfsmittel, die ich Ihnen anbiete, in realen Situationen anwenden.

Es gibt kein Patentrezept für genaue Vorhersagen für alle nur denkbaren Szenarien – kein Teleskop, das uns zielgenau in die ferne Zukunft blicken lässt. Manchmal geschehen Dinge, die wirklich nicht vorhersehbar sind. In anderen Fällen hat unser heutiges Handeln weitreichende und unbeabsichtigte Folgen für morgen. Keine noch so gut aufbereitete mathematische Formel und kein noch so gut aufbereitetes Datenpaket werden in der Lage sein, mit perfekter Genauigkeit einen Alarm auszulösen.

Es gibt jedoch zahlreiche Szenarien, in denen wir glaubwürdige Vorhersagen über die Zukunft treffen können, dies aber nicht tun, weil wir entweder die Instrumente der Vorhersage nicht kennen oder glauben, dass uns die Autorität fehlt, sie einzusetzen. Genau darum geht es in diesem Buch: Lehren aus den erfolglosen Prognosen der Vergangenheit zu ziehen und diese Fehler in ein Arsenal umzuwandeln, mit dem sich zuverlässigere Vorhersagen für die Zukunft treffen lassen. Am Ende des letzten Kapitels werden Sie in der Lage sein, den Nebel der scheinbar ungewissen Ereignisse, die auf Sie warten, besser zu durchschauen, sobald Sie anfangen, vorherzusehen, womit keiner rechnet.

Kapitel 1: Bauchgefühle

Es ist ungewöhnlich warm für Oktober, als ich aus der dunklen, geschäftigen Straße im Zentrum von London in das kleine, hell erleuchtete Geschäft trete. Hier ist der Spiritismus auf ein breites Spektrum magischer Hilfsmittel spezialisiert, darunter heilende Kristalle, ayurvedische Tinkturen und übernatürliche Steine – genug, um einen ganzen Steinbruch zu füllen. Sie mögen sich fragen, was um alles in der Welt ich, ein Wissenschaftler und Skeptiker, hier suche. Nun, ich bin nicht hier, um ein Amulett oder einen Traumfänger zu kaufen, so viel steht fest. Die über den ganzen Laden verteilten magischen Steine und der ganze andere mystische Schnickschnack erscheinen mir völlig überteuert, doch wirklich Geld macht der Spiritismus durch Wahrsagerei – damit, Menschen ihre Zukunft vorherzusagen oder sie in Kontakt mit »der anderen Seite« zu bringen –, und das ist es, was mich interessiert. Wann ließe sich ein solcher Kontakt besser herstellen als in der Woche vor Halloween, sage ich mir, wenn, wie mir zuverlässige Informanten versichern, »der Schleier zwischen unserer Welt und der Welt der Geister dünner wird«. Zweifellos hätten sie vorhersagen können, dass ich für eine Séance in den Laden kommen würde, doch für alle Fälle hatte ich in der Vorwoche angerufen und einen Termin mit Paula ausgemacht, eine der hier tätigen Hellseherinnen.

Als ich darauf wartete, dass sich Paula aus ihrem spiritistischen Heiligtum (dem Untergeschoss) materialisierte, schlenderte ich ein wenig nervös zwischen den vollgestopften Regalen herum und versuchte, die fast schon humoristischen Beschriftungen an jedem Ausstellungsstück zu entziffern. »Blutstein – wirkt gegen negative Einflüsse wie elektromagnetischen Stress«, »Bronzit – schützt nachweislich vor Verwünschungen«, »Amethyst – bewahrt vor psychischen Angriffen«. Wenn da unten etwas schiefgeht, brauche ich diesen Stein vielleicht.

 

Der Versuch, die Zukunft vorherzusagen, hilft uns gefühlsmäßig, deren Ungewissheiten zu kontrollieren, unsere Erwartungen zu steuern und wichtige Entscheidungen zu treffen. Vorhersagen zu treffen, selbst wenn es keinerlei verlässliche Anhaltspunkte gibt, ist ein natürliches menschliches Bedürfnis – ein Bauchgefühl, ein Instinkt. Seit Jahrtausenden benutzen wir zu diesem Zweck eine Vielzahl bizarrer und unwissenschaftlicher Methoden, von denen offenbar keine zuverlässiger ist als die andere. In der Regel sahen unsere Vorfahren in ihren verschiedenen Wahrsagemethoden eine Möglichkeit, den Willen ihres Gottes oder ihrer Götter zu deuten. Es ist kein Zufall, dass das Verb »divine« (übernatürliche Erkenntnisse gewinnen) und das Adjektiv »divine« (mit Gott in Kontakt stehen oder gottgleich sein) im Englischen und vielen anderen Sprachen nahezu gleichlautend sind; im Deutschen steckt er im Begriff Divination.

Bereits seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. benutzten die alten Chinesen eine Wahrsageschrift, das I Ging – Das Buch der Wandlungen, um mit dessen Hilfe die »göttliche Wahrheit« zu enthüllen. Die Gläubigen warfen wiederholt Schafgarbenstängel (oder heute in der Regel Münzen), um eine Zufallsreihe von sechs Einsen oder Nullen zu erzeugen, die anschließend in Muster von in der Mitte unterbrochenen (yin) oder durchgezogenen waagerechten (yang) Linien umgewandelt werden konnten, ein Hexagramm. Die beiden gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten für jede der sechs Linien bedeuteten, dass es 26 oder 64 gleich wahrscheinliche Hexagramme gab, die einen binären Code bildeten, wie in Abbildung 1-1 dargestellt. Jedes Hexagramm korrespondierte mit einem Abschnitt im Text, der von einem geübten Leser gedeutet werden konnte, um Vorhersagen zu treffen oder Handlungen vorzuschlagen.

Abbildung 1.1: Die 64 Hexagramme des I Ging. Von oben nach unten lässt sich jede der sechs Positionen mit einer durchgezogenen oder einer unterbrochenen waagerechten Linie füllen. Diese beiden Optionen in jeder der sechs Positionen ergeben 64 (26) gleich wahrscheinliche Möglichkeiten.

 

Der Gebrauch von Objekten zur Erzeugung von Zufallszahlen oder Zufallsmustern, die dann von einem geübten »Seher« gedeutet wurden, war bei vielen frühen Formen der Divination zu finden. Diese Praktiken werden unter dem Überbegriff Kleromantie zusammengefasst – eine latinisierte Kombination aus dem altgriechischen kleros, was »Los, Auslosung« bedeutet, und dem Anhang mantie für »Seherkunst, Orakel«. Kleromantische Methoden gehören zu den ältesten Formen des Wahrsagens und entwickelten sich unabhängig voneinander in vielen verschiedenen Kulturen. In ähnlicher Weise, wie das I Ging benutzt wurde, praktizieren die Yoruba in Westafrika das Ifá-Orakel. Die Babalawos – Priester des Ifá-Orakels – werfen Palm- oder Kolanüsse, um in einer Schale, die traditionellerweise mit heiligem Holzstaub gefüllt ist, ein Muster von acht unterbrochenen oder durchgehenden Linien zu erzeugen. Das binäre System aus acht Linien bildet einen Code, der auf eines von 28 oder 256 tonalen Gedichten verweist, die Hinweise auf die Zukunft geben können.

Das Auslosen, sei es durch Würfeln, Münzwurf oder Ziehen von Strohhalmen, ist auch Teil der jüdisch-christlichen Tradition. Das berühmteste Beispiel ist wohl das von Jona und dem Wal: Nachdem Jona (selbst ein Prophet, auf dessen selbstzerstörerische Prophezeiungen wir in Kapitel 8 zurückkommen werden) Gottes Befehl missachtete und davonlief, findet er sich auf einem Schiff wieder, das in einen schweren Sturm gerät. Um herauszufinden, wessen Gott diesen Sturm geschickt hat, losen die Seeleute, und »das Los fiel auf Jonas«, heißt es in der Geschichte. Dieser Akt göttlicher Fügung führt dazu, dass er über Bord geworfen und dann von einem großen Fisch (oder nach einer anderen Version von einem Wal) verschlungen wird.

 

Eine andere Möglichkeit, den Zufall ins Spiel zu bringen, der nötig ist, um den »Unbegreifliche göttliche Fügung«-Faktor zu erzeugen, ist das Generieren von unvorhersehbaren Mustern. Tasseografie (das Lesen aus Teeblättern) ist eine klassische Methode der Wahrsagerei, bei der eine Tasse ungefilterten Tees bis zur Neige ausgetrunken wird. Die Teeblätter, die sich an den Seiten und am Boden der Tasse absetzen, bilden ein Muster, das mithilfe einer lebhaften Fantasie von der Wahrsagerin gedeutet werden kann. Typischen Symbolen wie Pfeilen, Monden und Rädern, werden im Tasseografie-Handbuch eine ganze Reihe unscharfer Bedeutungen (Veränderung, Neues, Erfolg etc.) zugeordnet, was der Wahrsagerin erlaubt, ihre Vorhersagen auf das abzustimmen, was die Kundschaft ihrer Meinung nach zu hören wünscht. Zu älteren Versionen einer ähnlichen Praxis gehört die Deutung von Spritzern und Lachen beim Wachsgießen (Zeromantie) oder beim Bleigießen (Molybdomantie).

Eine blutigere Methode, ein unvorhersehbares Muster zu finden, das sich deuten lässt, war im antiken Griechenland, in Italien und Mesopotamien weitverbreitet und reicht mindestens bis ins dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Bei Haruspizien werden die Eingeweide, vor allem die Leber, von Opfertieren untersucht und gedeutet – da kann man nun wirklich von »Bauchgefühl« sprechen. Das wohl berühmteste Beispiel für eine Voraussage, die auf einer solchen Eingeweideschau basierte, war die Prophezeiung, die der Augur Spurinna im Jahr 44 v. Chr. dem römischen Imperator Julius Caesar machte. Nachdem er angeblich festgestellt hatte, dass der von Caesar geopferte Stier kein Herz besaß, warnte der Augur den Imperator absichtlich vage, dessen Leben sei »in den nächsten dreißig Tagen« in Gefahr. Wäre nichts Bedrohliches passiert, hätte Spurinna, um nicht auf einer falschen Vorhersage sitzen zu bleiben, auf die verbesserten Sicherheitsvorkehrungen verweisen können, die der Imperator dank der Prophezeiung getroffen habe. Bekanntlich wurde Caesar dreißig Tage nach der Prophezeiung an den Iden des März (15. März) von einer Gruppe Senatoren ermordet. Dass sich diese Prophezeiung so spektakulär erfüllte, erklärt ihre Erwähnung in einem Shakespeare-Stück, während sämtliche anderen, vielleicht weniger erfolgreichen Prophezeiungen des Augurs auf rätselhafte Weise im Dunkel der Geschichte verloren gingen. In Kapitel 3 werden wir dieses Phänomen des Reporting Bias (Selektives Berichten von Ereignissen) genauer unter die Lupe nehmen; diese Verzerrung führt dazu, dass nur zutreffende Vorhersagen so bemerkenswert sind, dass sie unsterblich werden, während unzutreffende Prognosen bald verblassen, was zu einer Überschätzung der Treffsicherheit eines Wahrsagers führt.

 

Eine andere Form der Kleromantie, die in vielen antiken Kulturen sehr populär war, um den Willen der Götter zu erkennen, war die Astragalomantie oder Divination mithilfe von Würfeln. Ursprünglich benutzte man nicht die regelmäßig geformten, mit Zahlen versehenen Würfel, die wir heute verwenden, sondern unverarbeitete Tierknochen – vor allem den annähernd würfelförmigen Knochen im Sprunggelenk von Schaf, Schwein, Ziege und Reh, das sogenannte Sprungbein (Talus, früher auch Astragalus). Bei welchen Ritualen und Spielen die Würfel verwendet wurden, unterschied sich je nach Tradition. Als bestimmten Würfen eine bestimmte Bedeutung zugeordnet wurde, wurden die Seiten des Würfels schließlich mit repräsentativen Symbolen gekennzeichnet. Im Rahmen von Weissagungen ließ sich die nach dem Wurf oben liegende Seite vom Wahrsager als Antwort auf die gestellte Frage deuten. Diese heiligen Orakel waren die Vorläufer der modernen Glücksspiele, und als man begann, auf das Ergebnis der Orakel zu wetten, entwickelte sich das, was wir heute als »Glücksspiel« (im Wettbüro, Casino etc.) bezeichnen, und verschmolz mit diesen spirituellen Praktiken.

Die uneinheitlichen Ergebnisse der Knochenwürfel führten dazu, dass sie zu Kuben zurechtgeschnitzt wurden. Dies waren die ersten Objekte, die wir als moderne Würfel erkennen würden, wie man sie bei Brettspielen oder auf den Craps-Tischen (Craps ist ein altenglisches Glücksspiel) in aller Welt benutzt. Die Erforschung der Ergebnisse von Würfelspielen führte zu den Grundlagen der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, die, wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, grundlegend für moderne Methoden der Zukunftsvorhersage ist.

Während der Gebrauch von Würfeln zum Wahrsagen ihrem Gebrauch als Generator von Zufallszahlen für Glücksspiele vorausging, war es beim Kartenspiel genau andersherum. Wahrscheinlich stammt das Kartenspiel ursprünglich aus der chinesischen Tang-Dynastie des 9. Jahrhunderts. Aber erst als es im 14. Jahrhundert nach Westen gelangte, gewann das Kartenlegen – also das Wahrsagen mithilfe von Kartendecks (Kartomantie) – an Popularität. Zwar sind Tarot-Karten inzwischen eine weitverbreitete Methode, um in die Zukunft zu sehen, doch ihre okkulten Konnotationen und damit ihre Popularität in der Wahrsagerei stammen aus dem 18. Jahrhundert. Die Schwerter der traditionellen italienischen Kartenfarbe Spada (deutsch: Kreuz) wurden in Zauberstäbe umfirmiert, um dem Ganzen ein mystisches Flair zu verleihen. Die Denari (deutsch: Karo oder Eckstein) wurden zu magischen Pentagrammen umgeformt. Dazu kamen 21 Karten mit Sinnbildern, darunter »der Magier« und »der Herrscher«, die vermutlich eingeführt wurden, um das Erinnern an die vermeintlichen Bedeutungen der Karten ein wenig zu erleichtern. Die Tarot-Karten werden gemischt, um im Deck eine zufällige Reihenfolge herzustellen. Danach bittet die Wahrsagerin die Klientin in der Regel, eine gewisse Anzahl zu ziehen, und diese Karten werden dann von der Kartenlegerin gedeutet, sodass sich eine personalisierte Botschaft ergibt.

Die Illusion der Zufälligkeit

Das zentrale Thema, das sich wie ein roter Faden durch so viele dieser frühen Formen der Divination zieht, von Akultomantie (Deutung der unvorhersehbaren Muster, die in Mehl geworfene Nadeln bilden) bis zu Zoomantie (Deutung von anscheinend erratischem tierischem Verhalten), ist das des Zufalls. Die Karten werden gemischt, und aus dem Deck werden einzelne Karten zufällig gezogen, es wird gewürfelt, um ein zufälliges Ergebnis zu erzielen, oder es werden Münzen geworfen, um Zufallsfolgen von Kopf und Zahl zu erhalten. Aber warum spielte mathematische Randomisierung oder natürliche Zufälligkeit eine so wichtige Rolle bei der Wahrsagerei – und tut es noch bis heute?

Hier ist ein Spiel, das Sie spielen können. Es stammt aus der mathematischen Trickkiste des Gedankenlesens. Diese moderne Vorhersage beginnt wie einer dieser bekannten »Denken Sie sich eine Zahl aus«-Kunstgriffe, die Mathemagier so mögen. Dazu werden Sie ein sich fortlaufend veränderndes Ergebnis nachhalten und die Aufgabe so schnell wie möglich lösen müssen; wenn Sie also den Taschenrechner auf Ihrem Smartphone aktivieren müssen, tun Sie das. Alles klar? Dann los!

Denken Sie an eine Zahl zwischen 1 und 10. Verdoppeln Sie diese Zahl. Addieren Sie 36 hinzu. Teilen Sie die Summe durch 2. Und schließlich ziehen Sie die Zahl ab, an die Sie gedacht haben. Das Ergebnis ist eine Zahl, die Sie im Kopf behalten sollten. Wir werden diese Zahl entsprechend ihrer Position im Alphabet mithilfe eines simplen numerischen Codes in einen Buchstaben umwandeln, und zwar wie folgt:

 

Nehmen Sie den Buchstaben, der mit der Zahl korrespondiert, die Sie im Kopf behalten sollten, und denken Sie an ein beliebiges Land, das mit diesem Buchstaben beginnt. Nun nehmen Sie den zweiten Buchstaben des Landes, an das Sie gedacht haben, und denken Sie an ein Tier, das mit diesem Buchstaben beginnt. Wenn alles richtig gelaufen ist, dann sage ich voraus, dass das Tier, an das Sie gedacht haben, fliegen kann und spitze Ohren hat. Ich gehe sogar so weit vorherzusagen, dass es ein Uhu aus Russland ist!

Habe ich richtig geraten? Wenn nicht, dann gehören Sie zu der kleinen Minderheit von Menschen, die nicht in Schubladen denken, oder Sie haben sich verrechnet. Wenn Sie tatsächlich an einen russischen Uhu gedacht haben, fragen Sie sich vielleicht, wie ich eine derart spezifische Antwort aus Ihrem definitiv zufälligen und unkontrollierbaren Input vorhersagen konnte. Und hier ist der entscheidende Punkt. Natürlich konnte ich Ihre Gedanken nicht so manipulieren, dass Sie anfangs eine bestimmte Zahl gewählt haben. Das war tatsächlich Ihre eigene Wahl. Aber wie sich herausgestellt hat, konnte ich diesen Zufallsinput in alles verwandeln, was ich wollte. Der Mathe-Teil ist Routine. Wenn Sie nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen wären, die Rechenoperationen durchzuführen, hätten Sie gemerkt, dass durch meine Vorgaben – verdoppeln Sie Ihre Zahl, addieren Sie 36 und teilen Sie durch 2 – alles, was Sie getan haben, darin bestand, 18 zu Ihrer ursprünglichen Zahl hinzuzufügen. Als ich Sie dann aufforderte, Ihre ursprüngliche Zahl von der erhaltenen Summe zu subtrahieren, blieb die 18 übrig, die ich Sie so umständlich zu addieren bat. Ganz gleich, was die Ausgangszahl war, sollte jede Rechnung mit 18 enden.

Hat man einmal die Zahl 18 und damit den Buchstaben R, besteht der Rest des Tricks darin, sich häufige Tendenzen zunutze zu machen. Die meisten Deutschen nennen, wenn sie aufgefordert werden, an ein Land zu denken, das mit R beginnt, Russland, vor allem unter Zeitdruck. Selbst wenn man darüber nachdenkt, fällt einem nicht so schnell ein anderes Land ein. Wenn Sie an Ruanda oder die Republik Kongo gedacht haben, dann sind Sie eine Ausnahme. Vom U in Russland ausgehend denken die meisten an einen Uhu. Natürlich sind auch der Ur (für Auerochse) oder der Ukelei (ein Fisch) eine Option, werden aber weitaus seltener genannt.

Durch das Ausnutzen dieser Vorlieben wird die Aufmerksamkeit von der Mathematik abgelenkt, und die Teilnehmer denken nicht so leicht daran, dass sie einem einfachen numerischen Taschenspielertrick aufgesessen sind. Selbst wenn die meisten von uns nicht an Gedankenlesen glauben, gewinnt diese Alternative plötzlich an Plausibilität. Der Schlüssel zum Wow-Faktor des Tricks liegt in der Vorspiegelung, man habe zwischen zehn Möglichkeiten für die Ausgangszahl und anschließend zwischen den 26 Buchstaben des Alphabets eine Wahl. Nach dem mathematischen Trick ist die Handlungsmacht der Teilnehmer jedoch verschwunden. Sobald das Zufallselement ausgeschaltet ist, kann ich Ihre kognitiven Abkürzungen nutzen, um Vorhersagen zu treffen, die es so aussehen lassen, als könnte ich tatsächlich Ihre Gedanken lesen.

Der Zufall steht auch im Zentrum vieler alter und moderner hellseherischer Praktiken, wobei sein in die Irre führender Effekt mit einer Reihe von Techniken ausgenutzt oder neutralisiert wird. Wie ließe sich der launische Wille einer allwissenden Gottheit besser illustrieren als durch einen Divinationsmechanismus mit einem scheinbar unvorhersehbaren Ergebnis? Die Kontrolle der Vorhersage wird dem Seher in einem klassischen »Ich habe nichts im Ärmel«-Trick eines Bühnenzauberers offenbar aus der Hand genommen. Der Eingeweideschauer oder der Kleromantiker, der Babalawo oder die Tarot-Deuterin geben scheinbar alle Kontrolle an eine wie auch immer geartete randomisierende »Kraft« ab, die die Objekte der Divination lenkt.

In Wahrheit wird das Zufallselement des Zaubertricks von der Schaustellerei im Zaum gehalten, die typischerweise mit dem Wahrsageakt einhergeht. Der Taschenspielertrick besteht in der Deutung der Zeichen, wenn das Publikum denkt, der Trick sei bereits geschehen – also nachdem der Würfel gefallen ist. Der Zufall ist für die Wahrsagerin wie ein leeres Blatt, auf dem sie diejenige Geschichte entwickeln kann, die am besten geeignet scheint, ihr Gegenüber von ihren hellseherischen Kräften zu überzeugen. Dieser Zufall liefert die nötige Ablenkung und lässt das Gegenüber annehmen, die Botschaft sei überbracht worden und der Trick geschehen, wenn das Entscheidende, nämlich das willkürliche Ausspinnen der Geschichte, tatsächlich gerade erst beginnt.

Das Entwickeln dieser Geschichte erfordert einige kognitive Fertigkeiten – es geht darum, sich unsere Neigungen, Verzerrungen und Vorurteile nutzbar zu machen, um einige der unvorhersehbaren Zeichen, die beim Herstellen einer Zufallsordnung auftreten, selektiv zu betonen oder herunterzuspielen. Ohne dieses Fingerspitzengefühl, das zur Entwicklung einer guten Geschichte gehört, hätten Wahrsagerinnen, Mystiker und Medien sicherlich nicht so lange überdauert und in vielen antiken Gesellschaften derart wichtige Positionen eingenommen.

Für jeden etwas

Belege für die Popularität von Wahrsagern und Wahrsagerinnen datieren viele Tausend Jahre zurück bis zu den antiken Kulturen Ägyptens, Chinas, Mesopotamiens und Assyriens. Mit Anbruch der Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts schwand die Beliebtheit der Wahrsagerzunft, und viele ihrer Zeremonien fielen der wachsenden Skepsis zum Opfer, mit der diese unwissenschaftlichen Praktiken zunehmend betrachtet wurden. Mit der Ausbreitung europäischer Kolonialreiche verbreitete sich diese Skepsis rund um die Welt.

Heute belächeln viele diese Schamanen und ihre Vorhersagepraktiken als unseriösen Unsinn. Aber auch heute noch hegen viele »Gläubige« den nicht klar umrissenen Wunsch, an extrasensorische Fähigkeiten zu glauben, also an ein nicht genau fassbares Bewusstsein für Informationen, die durch andere als unsere gewöhnlichen Sinne empfangen werden. Wie eine Umfrage des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup im Jahr 2005 erbrachte, glaubte damals mehr als ein Viertel aller Amerikaner an Hellseherei, und drei Viertel glaubten zumindest an eines von zehn paranormalen Phänomenen, von Astrologie bis Telepathie.[11] Warum glauben so viele Menschen trotz des modernen wissenschaftlichen Einvernehmens über das Gegenteil an die Macht von Horoskopen, Vorahnungen und Menschen mit übersinnlichen Kräften?

Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist es, der mich zum Spiritismus zieht und dazu veranlasst, mir von Paula die Zukunft voraussagen zu lassen. Ich bin hier, um die Tricks des Gewerbes zu lernen und die alltäglichen psychologischen Kunstgriffe zu verstehen, mit denen hellseherische Scharlatane ihre willigen Opfer umgarnen. Wenn mich Paula jedoch jemals in ihren Bann gezogen haben sollte, so ist dieser Bann fast augenblicklich gebrochen, als sie mich nach unten in ihr Sprechzimmer führt. Statt in ein stimmungsvoll beleuchtetes Wohnzimmer mit bequemen Sesseln, Kristallkugeln und sanfter Hintergrundmusik werde ich in einen Raum gequetscht, der kaum größer ist als eine gewöhnliche Toilettenkabine. Das Licht ist grell, die Wände nackt, und auf dem Tisch zwischen zwei geradlehnigen Stühlen liegt etwas, das wie ein Päckchen stark abgenutzter Spielkarten aussieht. Mir fällt ein, dass Paula eine Tarot-Leserin ist, und dies muss ihr Handwerkszeug sein.

Wir setzen uns, und Paula fragt mich: »Was soll ich mir für Sie anschauen?« Ich erzähle etwas vage Überzeugendes über das Freilegen von vielleicht unterbewussten, in meiner Vergangenheit verschütteten Erinnerungen, die meine Zukunftsperspektiven beeinträchtigen könnten. Paula drückt mir das Tarot-Deck in die Hand und fordert mich auf, die Karten zu mischen. Anschließend verbringt sie ein paar Sekunden damit, die Karten in einer langen Reihe auszulegen und bittet mich, fünf beliebige Karten auszuwählen. An dieser Stelle mache ich meinen ersten Fehler.

Da ich das Deck bereits durch das Mischen randomisiert habe, denke ich mir, dass es keine Rolle spielt, welche Karten ich wähle. Ich nehme also die ersten fünf Karten vom rechten Ende des ausgebreiteten Decks und fächere sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch aus. Paula hebt ihre Augenbrauen. Meine Wahl kommt ihr offenbar nicht sehr zufällig vor. Wie die 10 000 Menschen in Großbritannien, die jede Woche auf die Lottozahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6 tippen – in der korrekten Annahme, dass diese Kombination genauso wahrscheinlich ist wie jede andere aus sechs Zahlen (mehr dazu in Kapitel 3), was beim Gewinn aber dazu führt, dass mit 10 000 anderen geteilt werden muss –, ermahne ich mich, dass es in meiner Situation eher kontraproduktiv ist, ein mathematischer Klugscheißer zu sein. Ich muss darauf achten, meine Karten das nächste Mal »zufälliger« zu wählen.

Während Paula die Karten umdreht und beginnt, mir von den »Fäden« zu erzählen, die sie »im Dunkel der Vergangenheit gesammelt« habe, wird rasch klar, dass sie bei mir eine Technik anwendet, die als Cold Reading (»kalte Lesung/Deutung«) bezeichnet wird. Sie hat keinerlei Hintergrundinformationen, daher muss sie mir Informationen aus der Nase ziehen, um ihre Vorhersagen zu machen. Also schaut sie auf die umgedrehten Karten und beginnt damit, mir einige Komplimente zu machen: Ich sei sehr »intuitiv« und »empathisch« und könne mich »gut in Menschen einfühlen«. Diese Allgemeinplätze sind nach dem amerikanischen Geschäftsmann, Schausteller und psychologischen Manipulator Phineas Taylor Barnum benannt und als Barnum-Aussagen bekannt.[12] Sie dienen Wahrsagern häufig als Eröffnungszüge und sollen Paula helfen, mehr über mich zu erfahren, ohne dabei etwas zu riskieren. Barnum, dessen Vorführungen voller aufwendiger Tricks und Täuschungen steckten, soll behauptet haben, sein Zirkus biete »für jeden etwas«. Dies fasst die Idee einer Barnum-Aussage aufs Beste zusammen – eine allgemeine Persönlichkeitscharakteristik, die auf praktisch jeden passt. Überlegen Sie zum Beispiel, wie gut die folgenden Aussagen Ihre Persönlichkeit beschreiben:

 

Sie sind auf die Zuneigung und Bewunderung anderer angewiesen. Sie haben eine Neigung zur Selbstkritik. Sie haben beträchtliche Fähigkeiten, die Sie nicht zu Ihrem Vorteil nutzen. Ihre Persönlichkeit weist einige Schwächen auf, die Sie aber im Allgemeinen auszugleichen wissen. Nach außen hin sind Sie diszipliniert und kontrolliert, innerlich neigen Sie dazu, sich besorgt und unsicher zu fühlen. Manchmal zweifeln Sie stark an der Richtigkeit Ihres Tuns und an Ihren Entscheidungen. Sie bevorzugen ein gewisses Maß an Abwechslung und Veränderung und sind unzufrieden, wenn Regeln und Verbote Sie einengen. Sie sind stolz auf Ihr unabhängiges Denken und nehmen die Aussagen anderer nicht ohne Beweis hin. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass es unklug sein kann, sich anderen allzu bereitwillig zu öffnen.

 

Das passt recht gut auf Sie, nicht wahr? Tatsächlich handelt es sich lediglich um ein zusammengeschustertes Bündel Barnum-Aussagen, das auf den Forer-Effekt[13] abzielt, ein verbreitetes psychologisches Reaktionsmuster, bei dem der Empfänger einer ganz allgemeinen und vagen Persönlichkeitseinschätzung diese so interpretiert, als wäre sie eine höchst individuelle Charakteranalyse. Dieser Effekt ist nach dem Psychologen Bertram Forer benannt, der seine 39 Studenten und Studentinnen einen Fragebogen ausfüllen ließ und ihnen wenig später eine individuelle Persönlichkeitsanalyse aushändigte, die, wie er sagte, auf ihren Resultaten beruhte. Aufgefordert, die Treffsicherheit der Beschreibung auf einer Skala von 0 bis 5 zu bewerten, vergaben die Teilnehmer im Durchschnitt 4,3 Punkte und zeigten damit, dass Forers Analyse ihre Persönlichkeit ihrer Meinung nach außerordentlich gut beschrieb. Erst danach enthüllte Forer, dass jeder Teilnehmer genau dieselbe Charakterisierung erhalten hatte; viele der obigen Aussagen hatte er eins zu eins aus einem Astrologiebuch abgeschrieben.

Barum-Aussagen und der Forer-Effekt spielen auch eine große Rolle bei Online-Persönlichkeitstests, bei denen Teilnehmern gewöhnlich einige scheinbar unzusammenhängende Fragen gestellt werden und dann offenbart wird, welchem Harry-Potter-Charakter oder welcher Disney-Prinzessin sie am stärksten ähneln. Als ich den Harry-Potter-Test bei BuzzFeed machte, erfuhr ich, dass Hogwarts Schulleiter Alfred Dumbledore mein Alter Ego sei: »Sie sind verständnisvoll, spleenig und sehr vertrauenswürdig. Jedermann mag und respektiert Sie, doch manchmal setzen Sie sich selbst zu stark unter Druck, alles richtig zu machen« – eine klassische Sammlung von Barnum-Aussagen, die ich gern akzeptierte. Die Kommentare unter der letzten Seite des Tests – beispielsweise »Wow, das stimmt genau!« und »Das beschreibt mich perfekt!« – zeigen die Macht des Forer-Effekts.

Eine andere Aussage, die sich Forer für seine Studenten ausgesucht hatte, lautete:

 

Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, redselig und aufgeschlossen, dann wieder introvertiert, vorsichtig und zurückhaltend.

 

Diese Beschreibung ist nicht nur eine vage Barnum-Aussage, sondern auch ein Beispiel für ein Phänomen, das als Rainbow Ruse (»Regenbogen-List«) bezeichnet wird: In ein und derselben Aussage stecken zwei oder mehr konträre Aspekte eines Gefühls, von denen fast jeder irgendwann im Leben mindestens eine Variante kennengelernt hat, wodurch sie praktisch alle Möglichkeiten abdeckt. Diese Aussagen dienen dazu, das gesamte Spektrum eines Gefühls oder eines Charakterzugs vom Positiven bis zum Negativen aufzufächern, genau so, wie der Regenbogen weißes Licht in sein volles Farbspektrum von Rot bis Violett auftrennt. Der Bestätigungsfehler (confirmation bias) besorgt den Rest der Arbeit für die Wahrsagerin, denn unser Gehirn wählt den oder die Aspekte der Aussage, die am besten auf uns passen.

Während Paula versucht, potenzielle »emotionale Blockaden« bei mir zu finden, illustriert sie die Rainbow-Ruse-Technik auf recht grobe Weise, indem sie mir erklärt: »Es gibt Zeiten, in denen Sie glücklich sind, und dann fühlen Sie sich so« – sie hält ihre Hand hoch – »und zu anderen Zeiten sind Sie traurig und fühlen sich so« – sie hält ihre Hand entsprechend tiefer. Wer hat sich im Laufe seines Lebens nicht manchmal glücklich und manchmal traurig gefühlt?, denke ich, murmle aber etwas Zustimmendes.

Den Klienten zufriedenstellen

Nach einigen dieser nichtssagenden Aussagen dämmert mir, dass Paulas Ziel bei dieser Sitzung nicht unbedingt darin besteht, mir aufschlussreiche Informationen zu liefern, sondern sie mich vielmehr dazu bringen will, möglichst vielen ihrer Behauptungen zuzustimmen – um mich von ihren Fähigkeiten zu überzeugen, sodass ich vielleicht wiederkomme oder zumindest mein Geld nicht zurückfordere. Ihre Aussagen vage und allgemein zu halten, ist eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Ganz allgemein schätzen es Leute, wenn jemand sie in einem positiven Licht erscheinen lässt – ihnen sagt, dass sie geschickt oder freundlich oder lustig sind und man gern mit ihnen zusammen ist –, und ich bin da keine Ausnahme. Als Paula mir daher erklärt: »Sie haben eine Menge wunderbarer Energie, sehr tief, sehr stark verbunden mit Ihren Gefühlen«, stelle ich fest, dass ich zustimmend nicke, obwohl ich nicht an übernatürliche Energie glaube. Paula sieht meine Reaktion und fährt fort, indem sie ihre Vermutungen weiterspinnt: »Mir gefällt, was ich hier sehe, denn, ja, Sie haben die spirituellen Verbindungen, Sie haben tatsächlich eine sehr schöne Energie, sehr warm und sehr fürsorglich, auch für andere.«

Ihr Kunstgriff mit der Schmeichelei basiert auf einer unbewussten Neigung, die als Pollyanna-Prinzip[14] bezeichnet wird – die menschliche Tendenz, positives Feedback eher zu akzeptieren und zu erinnern als negatives. Dieses Phänomen ist nach Eleanor H. Porters 1913 erschienenem Kinderbuch Pollyanna benannt, in dem die gleichnamige Protagonistin in jeder Situation, in die sie gerät, etwas Positives findet. Selbst nachdem sie überfahren wurde und beide Beine verliert, empfindet sie es als Glück, dass sie überhaupt einmal hat laufen können.

Wissenschaftlern am Forschungsinstitut für Physiologie in Tokio ist es sogar gelungen herauszufinden, auf welche Weise Komplimente neurologisch dafür sorgen, dass wir uns gut fühlen.[15] Die Studienteilnehmer wurden aufgefordert, Fragebogen zu ihrer Persönlichkeit auszufüllen und sich selbst in einem kurzen Video vorzustellen. Dann bugsierte man sie in einem fMRT-Scanner und gab ihnen Feedback zu ihren Antworten. Bei den Teilnehmern, die positives Feedback erhielten, zeigte sich ein Bereich im Gehirn, der als Striatum bezeichnet wird, deutlich aktiviert. Dabei handelt es sich um dasselbe Belohnungszentrum, das aufleuchtet, wenn Probanden andere Dinge erhalten, sei es Essen oder Trinken, ja sogar bei Geldgeschenken. Das spricht dafür, dass man ein Kompliment als eine Art emotionale Bestechung ansehen kann.

Auf bestimmte Art formuliert kann ein Adressieren der Eitelkeit als subtiles Werkzeug eingesetzt werden, um vom Klienten Zustimmung zu erlangen. Aussagen wie »Als intelligenter Mensch verstehen Sie, worüber ich hier spreche« verlangen nach Bestätigung. Widerspricht man, so ist das ein stillschweigendes Eingeständnis der eigenen Dummheit. Selbst das freundliche »Macht das Sinn?«, das Paula nach fast jeder Aussage einschiebt, lässt kaum Raum für Widerspruch. An dem Satz »Sie sind Geistern gegenüber offen und nehmen Botschaften auf« lässt sich kaum etwas missverstehen, auch wenn ich kein Wort davon glaube.

Die letzte Aussage ist ein Beispiel für eine weitere Taktik, die Paula anwendet. Indem sie mir zu meiner Aufgeschlossenheit gratuliert und sogar andeutet, ich selbst könne übernatürliche Fähigkeiten haben – »Obwohl dies Ihr erstes Mal ist, muss ich zu meinem Erstaunen sagen, dass es rund um Sie herum sehr starke spirituelle Verbindungen gibt« –, stattet sie mich mit einem übersinnlichen Guthaben aus. Wenn Paula ihre Klienten überzeugen kann, dass sie ebenfalls über übernatürliche Fähigkeiten verfügen, sinkt das Risiko, dass sie die angewandten Methoden oder Schlussfolgerungen aus dem Kartenlesen infrage stellen. Paula liefert auch sofort ein bekräftigendes Beispiel, um mein übersinnliches Konto aufzufüllen: »Es ist, als ob Sie an jemanden denken, und schon nimmt er Kontakt mit Ihnen auf.«

Natürlich ist mir, und wahrscheinlich auch Ihnen, so etwas schon einmal passiert. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, sind derartige Zufälle erstaunlich wahrscheinlich. Ich habe am Telefon schon häufiger gesagt: »Gerade habe ich an dich gedacht!« Das passiert gewöhnlich dann, wenn ich über ein Treffen mit einem Freund nachgedacht habe und wir beide festgestellt haben, dass wir die Einzelheiten noch abklären müssen, oder wenn ich mit jemandem längere Zeit nicht gesprochen habe und wir beide einander vermisst haben. Wer auch immer als Erster anruft, wird beim anderen ein gutes Gefühl auslösen, das mit einer derartigen gedanklichen Übereinstimmung einhergeht. Je größer die Anzahl der Leute, mit denen man Kontakt hält, und je häufiger man anruft oder Nachrichten versendet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Zusammentreffen. Tatsächlich handelt es sich um einen der am häufigsten zitierten Zufälle, und darum ist es auch für Paula ein so gut gewähltes Beispiel, um mir zu suggerieren, ich verfüge über eine extrasensorische Wahrnehmung.

Magisches Denken

Im Handel wird das Erleben scheinbar bedeutungsvoller Zufälle ohne offensichtliche kausale Verbindung als Synchronizität bezeichnet. Der Psychologe Carl G. Jung führte dieses Konzept[16] in den 1920er-Jahren ein und argumentierte, der Kausaleffekt sei tatsächlich nichts anderes als paranormale Aktivität. Das ist ein Beispiel für sogenanntes magisches Denken – wenn die Kausalbeziehung zwischen zwei verknüpften Ereignissen nicht sofort offensichtlich ist, kommt es vor, dass unser Gehirn rasch ungerechtfertigte Schlüsse zieht; darauf werden wir im nächsten Kapitel noch ausführlicher zurückkommen. Bei »Gläubigen« kann die Bedeutung, die solchen Zufallsereignissen fälschlicherweise zugeschrieben wird, zur Ausbildung von Aberglauben führen.