Warum noch lernen? - Bob Blume - E-Book

Warum noch lernen? E-Book

Bob Blume

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  • Herausgeber: Mosaik
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Der SPIEGEL-Bestseller zur Bildungsdebatte

Warum finden die meisten Schülerinnen und Schüler, dass sie in der Schule nichts Relevantes gelernt haben? Wie kann es sein, dass der Großteil der Lerninhalte wieder vergessen wird? Und wie lässt sich die Frage nach Chancengleichheit in einem System beantworten, das schon in jungen Jahren nach Schularten aussortiert? Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume sagt: Wir müssen uns darüber klarwerden, warum wir im 21. Jahrhundert lernen. Dieses Warum muss im Zentrum der Bildung stehen. Denn nur dann kann Lernen erfüllend und sinnstiftend sein. Er formuliert eine klare Vision für die Schule der Zukunft und zeigt, dass ein gemeinsames Verständnis von Bildung und Lernen der einzige Weg aus der Bildungsmisere ist.

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Seitenzahl: 332

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Buch

Warum finden die meisten Schülerinnen und Schüler, dass sie in der Schule nichts Relevantes gelernt haben? Wie kann es sein, dass der Großteil der Lerninhalte wieder vergessen wird? Und wie lässt sich die Frage nach Chancengleichheit in einem System beantworten, das schon in jungen Jahren nach Schularten aussortiert? Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume sagt: Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir im 21. Jahrhundert lernen. Dieses Warum muss im Zentrum der Bildung stehen. Denn nur dann kann Lernen erfüllend und sinnstiftend sein. Er formuliert eine klare Vision für die Schule der Zukunft und zeigt, dass ein gemeinsames Verständnis von Bildung und Lernen der einzige Weg aus der Bildungsmisere ist.

Autor

Bob Blume ist Lehrer, Blogger, Podcaster und Bildungsinfluencer. Er studierte Germanistik, Anglistik sowie Geschichte und arbeitet nun als Oberstudienrat an einem Gymnasium in der Nähe von Baden-Baden. Daneben schreibt er Fachbücher zum Lernen im digitalen Wandel und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. Bob Blume ist ein gefragter Experte in der deutschen Medienlandschaft zum Thema Schule. Bei der Verleihung der Goldenen Blogger 2022 wurde er als Blogger des Jahres ausgezeichnet.

Außerdem von Bob Blume im Programm10 Dinge, die ich an der Schule hasse

BOBBLUME

WARUM

NOCH

LERNEN?

Wie Schule in Zeiten

von KI, Krisen und sozialer

Ungerechtigkeit

aussehen muss

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Für M. und N.

Originalausgabe September 2024

Copyright © 2024: Mosaik Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlag: Sabine Kwauka

Umschlagfoto: Benji Friant

Satz: Satzwerk Huber, Germering

KW ∙ CB

ISBN 978-3-641-31192-6V003

www.mosaik-verlag.de

Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgendwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will.

Wilhelm von Humboldt1

Inhalt

Vorwort: Das Experiment sind wir

TEIL I Fragen an das System Schule

Die neue Bildungskatastrophe

Warum haben wir noch Schulen?

Sind Prüfungen noch sinnvoll?

Wieso gibt es eigentlich Stunden?

Ist die Aufteilung in Fächer noch zeitgemäß?

Weshalb sind Klassen wichtig – oder auch nicht?

Sind Lehrpersonen verzichtbar?

Was hat es mit der Schulbürokratie auf sich?

Müssen Lehrpläne sein?

TEILIIProbleme sind so lange schwer, bis sie leicht werden

Von Strukturen beim Lernen behindert

Wozu brauchen wir das überhaupt?

Sinnstiftendes Lernen statt nützlicher Bildung

Welche Zukunft ist unsere? Herausforderungen für ein Lernen im 21. Jahrhundert

TEILIIILernen ist nicht gleich lernen

Das Warum muss ins Zentrum des Lernens

Alles dreht sich um Motivation und Inspiration

Jede Bildung ist unabgeschlossen

Denken lernen

Unterricht kann auch ganz anders aussehen

Faust, Algorithmen und ein Gedicht

Alle zusammen für bessere Bildung

TEILIVErfülltes Lernen für eine dynamische Welt

Von Schachspielern und Lernstrategien

Zu Hause lernen: Haltungen fördern – oder überwinden

10 Prinzipien für ein Lernen zu Hause

Lernen in der Schule und die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung

12 Prinzipien der Neurodidaktik

Auch das Bildungssystem kann lernen

10 Schritte zu einer veränderten Schule

TEIL V Die Schule brennt – und was man tun kann, damit sich was ändert

Sich anstrengen, ohne daran zu zerbrechen

Politische Maßnahmen für mehr Bildung und gegen Armut

10 Utopien, um nicht in einer Schulform stecken zu bleiben

Das Wichtigste auf einen Blick: Auf das kommt es an!

Nachwort: Warum ich etwas bewegen will

Danksagung

Anmerkungen

Literatur

Sachregister

Vorwort: Das Experiment sind wir

In deutschen Schulen wird nicht gelernt. Dieser Satz fiel mir ein, während ich über das hiesige Bildungssystem nachdachte. Konnte ich ihn überhaupt in dieser Radikalität äußern?

Aber doch, ja: In deutschen Schulen wird nicht gelernt. Das ist nicht als Affront gemeint, nicht als Anklage gegen Lehrpersonen, die in den Schulen in Zeiten des Mangels ihr Bestes geben, um Kindern und Jugendlichen einen möglichst reichhaltigen Schatz mitzugeben, von dem sie ihr Leben lang zehren sollen. Und es ist auch keine Anklage gegen Kinder und Jugendliche, die medial, wenn überhaupt, nur dann beachtet werden, wenn es um den ewig wiederholten Verfall von Moral, Anstand, Tugend oder Leistungsbereitschaft geht.

Nein, die Behauptung, in der Schule wird nicht gelernt, ergibt sich aus einer über Jahrzehnte eingeübten und festgezurrten Praxis, die aus einer anderen Zeit stammt und nicht mehr mit unserer heutigen in Einklang zu bringen ist.

Natürlich ist nicht alles schlecht. Denn auch wenn allenthalben erklärt wird, das deutsche Bildungssystem würde sich nicht bewegen, ist deutlich hervorzuheben: Vieles hat sich geändert. Nicht mehr nur ein Bruchteil von Kindern besucht das Gymnasium und genießt den Vorteil, nach der Schule alle Chancen zu haben. Dennoch muss im selben Atemzug erwähnt werden, dass noch immer viel zu viele Schülerinnen und Schüler wenige oder gar keine Chancen haben. Aber: Mehr Menschen denn je können an Bildung teilhaben.2 Gleichzeitig erscheint das zentrale Anliegen der Schule, wie in den Landesschulgesetzen formuliert, zunehmend in der Krise. Vielleicht sollte man sagen: wiederholt und verschärft.

Das hat mehrere Gründe, die in diesem Buch eine Rolle spielen werden. Das Drama der deutschen Bildungsmisere spielt sich – neben Lehrer- und Ressourcenmangel, Investitionsstau und Bildungsföderalismus – auch in dem riesigen Canyon ab, der zwischen den Bildungseinrichtungen und der Welt, in der wir leben, entstanden ist.

Wir sind an der Schwelle zu einer weiteren digitalen Revolution. Manche würden sagen, dass wir sie schon übertreten haben. Die künstliche Intelligenz (KI) kann – und wird – so viele Aufgaben übernehmen, dass zahlreiche Menschen in den verschiedensten Branchen ihren Job verlieren könnten. Es ist nicht verwunderlich, dass auch und gerade Eltern sich die Frage stellen, ob Schule, wie sie heute funktioniert, ihren Kindern noch alle wichtigen Kompetenzen für eine solche Welt vermittelt.

Gleichzeitig warnen nicht wenige Vertreter dieses Wandels davor, den Wettlauf um die beste KI uneingeschränkt zuzulassen.3 Nach dem Titel eines Buchs des Autors und Hochschulprofessors Christian Stöcker könnte man zusammenfassen: »Das Experiment sind wir.«4

Aber es hilft nicht weiter die realen und konkreten Gefahren, die sich aus einer unkontrollierten und unkontrollierbaren KI ergeben, zu relativieren. Schon jetzt entsteht ein unkontrolliertes Netz aus sozialen Medien, KI und Bots, die Effekte auf uns haben, die wir noch nicht absehen können.

Wenn die künstliche Intelligenz nun in der Lage ist, die unangenehmen, die langweiligen, die basalen Kompetenzen zu übernehmen, ergibt sich daraus ein fundamentales Problem für alle, die lernen oder das Lernen ermöglichen wollen. Für das Bildungssystem insgesamt, die Schulen, aber auch die einzelnen Schülerinnen und Schüler, Studierenden und Eltern. Dies ist nicht auf Deutschland beschränkt. Alle Länder der Welt stehen vor derselben Herkulesaufgabe (sofern man nicht, wie etwa die chinesische Regierung, schon seit Jahren Kurse im Umgang mit KI anbietet5). Denn wie soll jungen Menschen deutlich gemacht werden, dass Lernen sie persönlich, kulturell, finanziell und gesellschaftlich weiterbringt, unabhängig und mündig macht, wenn der Weg, der sie ans Ende eines solchen Lernens bringt, sehr viel leichter von einem digitalen Assistenten übernommen werden kann?

Und nicht nur im Bereich der technischen Entwicklung haben wir es mit einer schwer zu fassenden Beschleunigung zu tun: Die Große Beschleunigung – ein Begriff, der laut Christian Stocker darauf hinweist, dass sich »eine ganze Reihe von Kennzahlen und Messwerten […] seit vielen Jahren exponentiell verändert, das heißt, in absoluten Zahlen betrachtet: immer schneller.«6 In einem solchen Zeitalter zu lernen, bedeutet auch, die Zusammenhänge so zu verstehen, dass wir auch weiterhin auf dieser Erde leben können.

Jeder, der durch eigene Neigung oder beruflichen Zwang weiterlernen muss, wird zustimmen, dass es nicht um einen Abschluss des Lernens geht. Auch wenn der deutsche Begriff genau das glauben machen will: Abschluss. Doch gerade in einer sich so schnell verändernden Welt ist es zentral, immer weiter zu lernen. Aber wie sollen junge Leute, denen erklärt wird, dass ein Zertifikat am Ende der Schullaufbahn Bildung darstellt, erkennen, dass es eigentlich erst um den Anfang geht? Viele Eltern werden schon jetzt die Diskussion am Esstisch kennen, in der sich alles darum dreht, warum zum Teufel Aufgaben abgearbeitet werden sollen, die doch der digitale Assistent viel besser und schneller bearbeiten kann. Oder deren Sinn gar nicht erst erkannt wird. Verliert man diese Diskussion und spielt die Autoritätskarte, mag das Kind die Hausaufgaben machen. Zum frohen Lernenden wird es dadurch nicht.

Damit verkehrt sich der Vorteil von KI (und im Grunde auch der zahlreichen Lernvideos, Plattformen und Kommunikationsmöglichkeiten) ins Gegenteil. Denn die Potenziale sind enorm. Es kommt aber auf die Phase an, in der man sich – in der Ausbildung, beim Lernen oder innerhalb der Arbeit – befindet. Genau weil man die scheinbar einfachen Aufgaben nicht mehr selbst bewältigen muss, erlernt man sie gar nicht mehr. Die Gefahr ist, dass dies so weit geht, dass man sie auch mit Hilfe nicht mehr lernen kann, wenn man es muss. Im übertragenen Sinn könnte man es so sagen: Während man sich also noch über den elektrischen Akku des neuen Fahrrads freut, verlernt man, überhaupt zu fahren.

Das Problem dabei sind Schulen, deren Selbstverständnis auf Instruktionen, auf einen vorgeplanten (oder schlimmer: ungeplanten) Unterricht basiert. Anders formuliert: Wenn jener Ort, der dafür da ist, dass man Bildung erfährt, nichts weiter bietet als gleichgeartete Erklärungen, in denen der Einzelne nicht die Möglichkeit hat, sich großartig zu orientieren, geschweige denn seine eigenen Schwerpunkte zu setzen, macht er sich überflüssig. Das individuelle Lernen muss dann zu Hause passieren.

Dieses Selbstverständnis wird von Generation zu Generation weitergegeben, weshalb sich das System selbst erhält. Gerade im Referendariat geht es immer noch oft um perfekte Stunden, die genauestens geplant und nach strengem Takt durchgeführt werden. Die Konsequenz: immenser Druck für die Lehramtsanwärter, die zum Teil von Selbstaufopferung und Erniedrigung berichten.7 Mit anderen Worten: Die neue Generation der Lehrkräfte scheitert nicht selten an einem Anspruch, der im Grunde völlig überholt ist. Und einem, der Lernen nach Hause verlagert.

Geschieht Lernen aber nur dort, profitieren die, denen geholfen werden kann. Oder deren Eltern sich die beste Nachhilfe leisten können. Die anderen lassen sich die Arbeit von einer KI oder weiteren Tools abnehmen und merken zu spät, dass Lernen eigentlich das Großartigste ist, das der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Weiterentwicklung geschehen kann. Und dass ein solches Lernen im besten Fall zu Bildung führt, einer Bildung, die nicht abgeschlossen ist. Denn jede Form der Bildung, die nutzbar gemacht werden kann, ist die Grundlage für einen nächsten, vielleicht höheren Schritt. Somit ist Bildung die Voraussetzung für ihre eigene Erweiterung.

Deshalb ist meine These denkbar einfach: Schulen müssen Orte des Lernens sein. Oder sie müssen es werden. Oder: Das Lernen muss ins Zentrum von Bildung.

Das klingt einfach, ist aber schwer. Das Lernen ins Zentrum zu bringen, bedeutet nämlich eine Veränderung aller Ebenen schulischer Bildung. Warum und wie das aussehen kann, ist Teil dieses Buchs. Und zwar innerhalb und außerhalb der Schule, zu Hause und, im Großen, im gesamten Schulsystem.

Es soll aber nicht nur darum gehen. Die Sinnhaftigkeit dessen, was wir Bildung nennen, wird zudem auf den Prüfstein gestellt. Gefragt wird, ob sie für junge (und alte) Menschen relevant ist. Relevanz bedeutet nicht (nur) Nützlichkeit. Relevanz bedeutet auch Verständnis, dass der Gegenstand einen bewegt und berührt. Dass man also weiß, warum man etwas tut und dies auf eine Weise, die die Gefühle berührt. Das mag sich abstrakt anhören, ist jedoch Kern von Bildung.

Doch nicht nur das Bildungssystem wird in diesem Buch unter die Lupe genommen, auch wenn der erste Teil mit seinen zunächst naiv wirkenden Fragen an die einzelnen Elemente dieses Systems versucht, scheinbar unverrückbare Säulen der Schule kritisch zu beleuchten. Dies bildet die Grundlage, um abzuwägen, was überdacht, verändert, aber auch beibehalten werden sollte.

Ich beschäftige mich zudem damit, wie Lernen überhaupt initiiert werden und wie jeder Einzelne Teil eines solchen Lernens sein kann. Das gilt für den Unterricht, die Schule, aber ebenso für das Lernen zu Hause.

Dabei hebe ich immer wieder bestimmte Methoden des Lernens hervor. Es soll darum gehen, wie nachhaltiges, sinnstiftendes Lernen funktionieren kann. Und zwar ganz praktisch anwendbar.

Genauso wichtig sind Erkenntnisse der Philosophie, Psychologie, Hirnforschung und der Soziologie, um das Lernen in all seinen Dimensionen zu erfassen und in die momentane Praxis einzuordnen. Einer Praxis, deren Teil ich immer noch bin. Meist mit Freude, wenn es möglich ist, die eigenen Ansprüche in die Tat umzusetzen. Meine eigenen Erfahrungen sind überhaupt ein wichtiger Grund dafür, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Als Lehrer mit reformpädagogischer Vergangenheit, aber auch Erfahrungen im amerikanischen Schul- und englischen Hochschulsystem, versuche ich, im staatlichen Schulsystem so zu arbeiten, dass die Kinder und Jugendlichen das Lernen als sinnstiftend erfahren. »Wenn der Stoff nicht sehr bedeutend, relevant und zeitgemäß ist, unterliegt er dem schnellen und weitgehenden Vergessen«,8 so der weltbekannte Bildungsforscher John Hattie. Dies mag keinen erstaunen, der selbst erlebt hat, wie schnell das menschliche Gehirn in der Lage ist, uninteressante Informationen über Bord zu werfen und sich an alle Details von etwas zu erinnern, das uns wirklich wichtig ist.

Zu der Praxiserfahrung kommt eine Sichtweise hinzu, die durch meine Arbeit als Netzaktivist (oder Bildungsinfluencer) und Blogger, der seit vielen Jahren im Austausch mit Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik steht, entstanden ist. Ich versuche, Theorie, Praxis und Visionen in eine konkrete Form zu bringen.

Wenngleich an vielen Stellen Forschungsbeiträge sowie die Erkenntnisse zahlreicher Experten, Pädagogen und Erziehungswissenschaftler eingeflossen sind, versteht sich Warum noch lernen? nicht als wissenschaftliche Abhandlung. Es gibt eine lange Liste pädagogischer, erziehungstheoretischer, philosophischer und didaktischer Vorreiter, darunter Platon, Sokrates, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Johann Friedrich Herbart oder Maria Montessori, die nur am Rande erwähnt oder komplett ausgelassen werden mussten. Ich bin mir darüber absolut im Klaren, auf den Schultern von Riesen zu stehen. Im besten Fall soll dieses Buch eine herausfordernde Anregung für alle sein, die an Schule und Bildung interessiert sind, diese kritisch sehen oder für verbesserungswürdig halten und sich neu orientieren wollen. Und Argumente dafür bieten, warum sie das müssen. Es soll allen eine Sprache der Veränderung an die Hand geben, die an zeitgemäßem Lernen interessiert sind, ob es nun Lehrerinnen und Lehrer, Politikerinnen und Politiker, Schülerinnen und Schüler oder Eltern sind.

Und es soll einen Fixpunkt bilden. Eine Erkenntnis, nach welchen Maßgaben sich Lernen – und damit Bildung – im 21. Jahrhundert orientieren kann. Wie man auf die unterschiedlichen Entwicklungen unserer Zeit reagieren kann, ohne in kurzfristigen Aktionismus oder in ein hohles Lamento zu verfallen. Dabei geht es nicht darum, die hier vorgeschlagenen Ansätze als einzig richtige, meine aufgezeichneten Wege als einzige Möglichkeit oder einzige Wahrheit zu betrachten. Doch ich hoffe, dass der konstruktive Diskurs über Bildung, an dem ich auch mit meinem letzten Buch 10 Dinge, die ich an der Schule hasse teilhaben konnte, weiter an Fahrt aufnehmen wird.

Meine Überzeugung ist, dass wir es besser können. Meine Vorstellung ist, dass es besser geht. Und mein Wunsch ist, dass wir ins Handeln kommen.

TEIL I

FRAGEN AN DAS SYSTEM SCHULE

Die neue Bildungskatastrophe

»Weißt du, Papa, das ist gar nicht so schwer: Diejenigen, die schon alles verstanden haben, helfen den anderen beim Lernen. Und wenn es dann alle verstanden haben, machen wir zusammen weiter.« Das sagte meine Tochter an einem verregneten Sonntag im Winter 2022.

Wenn Menschen in den sozialen Medien über ihre Kinder schreiben, ist für mich immer Vorsicht geboten. Zu gut hört es sich an, was die Kleinen da angeblich alles von sich geben. Aber es ist auch keinem zu verübeln, denn jeder, der selbst Sprösslinge hat, kennt den unbändigen Stolz, den man als Elternteil verspürt, wenn das Kind etwas präsentiert, das es geübt, gelernt oder verstanden hat.

Insofern gebe ich zu, dass es sich fast zu perfekt anhörte, was meine Tochter am Frühstückstisch sagte, als sie von einer Schulstunde erzählte. Es war eigentlich viel zu spät für ein Frühstück, wir hatten zusammen getrödelt und es genossen, uns angesichts des Wetters gar nicht erst so anzuziehen, als wollten wir noch rausgehen. Die ganze Familie war also im Schlabberlook. Wie so oft am Esstisch gab die damalige Erstklässlerin das Thema vor, es ging ums Lernen.

Das mochte damit zu tun haben, dass sich ihre Eltern oft übers Lernen unterhalten. Meine Frau ist Erzieherin, sie spürt den Personalmangel in ihrer Kindertagesstätte genauso wie die Kolleginnen und Kollegen in Tausenden von Schulen, die sich mit Vertretungen über Wasser halten, bis jeder nachvollziehen kann, dass die Bildungsmisere überall angekommen ist.9 Und ich spreche als Lehrer, Vortragsredner und Podcaster sowieso häufiger mal über Schule, Bildung und Lernen. Ab und zu hört sie sogar zu, wenn ich im Radio Meinungen von mir gebe. Wir sind also alle im Thema.

Aber das Wichtigste ist: Meine Tochter lernt unglaublich gerne, nicht erst seitdem sie in die Schule gekommen ist, sondern schon zuvor. Seitdem aber umso mehr. Sie macht mit Freude Hausaufgaben und bleibt oftmals noch länger über ihnen sitzen, als sie müsste, weil sie entweder Zusatzaufgaben löst oder ihre Aufgaben verziert. Manchmal darf sie mit digitalen Lernplattformen üben – sofern der Wunsch von ihr kommt.

Und natürlich lernt sie mit uns gemeinsam auch andere Dinge, fragt uns aus, übt Gedichte, spielt Video- und Gesellschaftsspiele. Viel lernt sie ebenso draußen. Sie lernt, sich durchzusetzen und nachzugeben, wenn sie mit den Nachbarskindern spielt. Lernt, etwas zu bestimmen und sich an anderen Ideen zu orientieren. Lernt, sich in andere hineinzuversetzen und zusammen mit anderen neue Welten zu kreieren.

Kinder lernen fürs Leben gerne. Wenn sie können. Denn bei Weitem haben nicht alle solche Lernbedingungen wie meine Tochter. Sie können nicht einfach rausgehen und mit den Nachbarskindern spielen. Nicht ins eigene Regal fassen und sich ein Buch herausnehmen, weil sie selbst oder ihre Eltern keine Bücher haben. Längst ist klar, welch fundamentales Problem es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn ein Viertel der Viertklässler nicht richtig lesen kann.10 Aber sie können auch keine Gesellschafts- oder Videospiele spielen, weil das voraussetzt, dass jemand da ist, der mitmacht. Oder jemand, der bei Videospielen sagt, dass es nun Zeit sei aufzuhören. Ob Kinder ihren Drang, etwas lernen zu wollen, ausleben können, hängt also stark von der Umgebung ab, in der sie sich befinden, von ihrem Milieu, ihrer Herkunft und den oftmals damit einhergehenden finanziellen Möglichkeiten.11 Was passiert, wenn dies zu wenig berücksichtigt wird, haben die katastrophalen Ergebnisse nationaler und internationaler Vergleichsstudien gezeigt. Zwar sorgten die Folgen der Corona-Pandemie global für einen Leistungsrückgang der Kinder und Jugendlichen, aber der Abstand zwischen privilegierten und sozial benachteiligten Jugendlichen in Deutschland ist größer als im OECD-Durchschnitt.12 Dies gilt auch für die Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Mit anderen Worten: Bildungserfolg in Deutschland hängt immer noch vor allem vom Elternhaus ab.

Nicht nur aus diesem, aber auch aus diesem Grund sind Schulen so fundamental wichtige Orte für das Lernen und die Bildung der Kinder. Übrigens ebenso der Kinder, die sehr gute Voraussetzungen haben. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani bringt diese Funktion von Schulen auf den Punkt: »Wenn … etwas systematisch den Effekt der sozialen Herkunft und der Milieuzugehörigkeit abzuschwächen imstande ist, dann sind es die Institutionen der Erziehung und Bildung.«13

Doch der in allen Schulgesetzen des Landes auf ähnliche Weise festgeschriebene »Erziehungs- und Bildungsauftrag«14 wird von der Institution Schule in den meisten Fällen nicht eingelöst. Oder kann nicht eingelöst werden. Das ist fatal, weil Bildung letztlich bedeutet, überhaupt an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Nicht umsonst ist Bildung ein Menschenrecht, das in Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist.15

Warum dieser Auftrag nicht eingelöst wird, hat unterschiedlichste Gründe. Ein Grund ist aber sicherlich: Lernen spielt für die gesetzlich festgeschriebene Funktion der Schulen keine Rolle! Im gesamten Schulgesetz des Landes Baden-Württemberg etwa findet sich der Begriff »Lernen« genau sieben Mal! Einmal im Paragrafen 4a zum »Förderschwerpunkt« Lernen. Ein weiteres Mal in der Beschreibung der Aufgaben der Grundschule und, man höre und staune, explizit und mehrmals im Sinne eines kooperativen Lernens, das in Gemeinschaftsschulen durchgeführt werden soll. Ansonsten spielt das Lernen keine Rolle. Und auch wenn man den Begriff im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen 23 Mal findet und beim Spitzenreiter des Rankings der Initiative Soziale Marktwirtschaft (INSM)16 Sachsen immerhin 20 Mal, ist dies doch schockierend.

Das Lernen als Prozess spielt eine untergeordnete Rolle im staatlichen Bildungsauftrag. Jener Prozess also, den ich als stolzer Vater beobachten kann, weil er mich interessiert, weil ich die Zeit dafür habe und weil meine eigene Lebensgeschichte es mir ermöglicht, teilzuhaben an Diskussionen rund um Bildung in Deutschland. Der Prozess, der in meinem gesamten Studium zum Gymnasiallehrer überhaupt kein Thema war. Der Prozess, der die Grundlage ist für ein erfülltes Leben – zumal in der dynamischen Gesellschaft, in der wir leben.

Es fällt nicht schwer, dies irritierend, wenn nicht gar problematisch zu finden. Zumindest vor dem Hintergrund einer nun in allen gesellschaftlichen Bereichen wahrgenommenen Bildungsmisere. Vielleicht sollte man frei nach dem Philosophen und Pädagogen Georg Picht, dessen mahnende Worte in unzähligen Bildungsbüchern wiederholt wurden und der schon 1964 den Begriff der »deutschen Bildungskatastrophe«17 prägte, von der »neuen Bildungskatastrophe« sprechen. Diese neue Bildungskatastrophe zeigt sich an den unterschiedlichsten Punkten, sicherlich aber am deutlichsten am riesigen Lehrermangel. Die Prognosen schwanken, aber eine Zahl, die häufig genannt wird, da sie auf den Erkenntnissen des Bildungsforschers Klaus Klemm basiert, ist 81 000.18 Es fehlen also so viele Lehrerinnen und Lehrer bis 2030, wie ins gesamte Dortmunder Fußballstadion passen. El-Mafaalani sprach in der Talkshow Markus Lanz im November 2022 gar vom »größten innenpolitischen Problem« des Landes. Und weiter: »Es ist so, als würden wir den Bremsweg noch ausrechnen, wo schon klar ist: Wir fahren gegen die Wand.«19

Hätten wir genügend Lehrkräfte, die Lernexperten und digitale Vordenker wären, und hätten wir es nicht mit einem milliardenschweren Investitionsstau zu tun,20 wären die Gelder des Digitalpakts für sinnvolle Technik abgerufen worden und der neue in trockenen Tüchern. Und wären die Schulen auf dem neuesten Stand,21 würden wir es mit Schülerinnen und Schülern zu tun haben, die nach der Schule weiterhin Lust am Lernen hätten. Die wüssten, wie es geht. Die eine Chance hätten. Und die sich vorbereitet fühlen würden auf die zahlreichen Herausforderungen einer sich rasch wandelnden Zeit. Dann müssten wir auch nicht darauf achten, ob ein Begriff nun in einem Schulgesetz steht oder nicht.

Da aber 50 000 Schülerinnen und Schüler die Schulen ohne Abschluss verlassen22 – oder aber mit dem Hauptschulabschluss einen solchen haben, der immer weniger wert ist23 –, und da Schülerinnen und Schüler, die Abitur haben, dennoch nicht wissen, was sie machen oder wie sie sich orientieren sollen, sollte Lernen wieder im Vordergrund stehen. Übrigens auch deshalb, weil ansonsten der Generationenvertrag gefährdet ist. Jene Übereinkunft also, dass junge Menschen die Renten der älteren zahlen, weil sie davon ausgehen, dass dies auch andersherum geschehen wird. Aber genau dieser Generationenvertrag gerät ins Rutschen24, und dies verschärft sich, wenn junge Leute nach der Schule nicht in Lohn und Arbeit kommen. Niemand sollte sich fragen, was zum Teufel die Schulzeit denn überhaupt gebracht hat. Denn wer die Frage, warum er oder sie lernt, nach neun, zehn oder zwölf Jahren Schule nicht beantworten kann, hat nicht verstanden, wofür Schule eigentlich da sein müsste.

Da wir es also mit einer Situation zu tun haben, in der es an allen Ecken und Enden brennt, ist es sicherlich naheliegend, nicht nur nach den Gründen zu fragen, sondern genau hinzuschauen, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Beim einzelnen Lerner. Bei den Lehrkräften und Schulen. Bei den Hochschulen. Und bei den verschiedenen Ebenen der Verwaltung, deren unübersehbares Chaos Bildungssystem genannt wird.

Das Lernen sollte also wieder im Mittelpunkt stehen. Dabei sollte eine Rolle spielen, wie man zu Hause und in der Schule lernt. Wieso das Lernen momentan so vernachlässigt wird. Und nicht zuletzt, was getan werden muss, damit Schulen zu ebenjenen Lernorten werden, als die sie gedacht sind. Und wie Schulen selbst lernen können.

Warum lernen wir eigentlich? Und wie kann ein Lernen im 21. Jahrhundert aussehen, das alle einbezieht und sich an einer Bildung orientiert, die weder abstrakt ist noch nur die vermeintliche Nützlichkeit im Blick hat, bei der es einzig um die spätere Arbeitskraft geht.

Die damals von Georg Picht in der Zeitschrift Christ und Welt festgestellte »Bildungskatastrophe« hatte gewiss internationale Wettbewerbsnachteile im Auge gehabt.25 Ebenso die von dem deutsch-britischen Soziologen Ralf Dahrendorf konstatierte Gefährdung der Demokratie durch fehlende Bildung, ein Thema, das aufgrund des zunehmenden Zuspruchs für rechtspopulistische Parteien in ganz Europa und eine in Teilen rechtsextreme Partei wie die AfD in Deutschland eine neue Aktualität bekommt. Nebenbei: Auch die Demokratiebildung ist in den Bildungsplänen und verschiedenen Fachbereichen der Landesämter beschrieben.26 Allerdings fristet sie ihr Dasein viel zu oft als eine Karteileiche, die zwischen Konzeptideen und Arbeitsgruppen verrottet. Dennoch lässt sich die Krise von 1964 nicht eins zu eins auf die heutige übertragen – diese ist deutlich gravierender.

Die Ansätze und Problemlösungen der Politik sind, wie so oft, oberflächlich oder stammen aus dem Elfenbeinturm. Ein Beispiel dafür lieferten die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK), die deutschlandweit große Resonanz – oder spezifischer: Entsetzen – auslösten.27 Mit Mehrarbeit, größeren Klassen und Hürden für Teilzeitarbeit wollte man dem Lehrermangel beikommen und Kollateralschäden mit Yoga und Resilienztrainings vorbeugen. Das Folgegutachten28 ist für ein fachfremdes Publikum nahezu unverständlich und löste entsprechend wenige Reaktionen aus. Der »Bildungsrat von unten«, eine Initiative von Praktikerinnen und Praktikern aus der Schulpraxis, dessen Mitinitiator ich war, machte deutlich, was das Problem war: »Praxisfern und mit blinden Flecken.«29 Während dieser politische Aktionismus seine eigene Handlungslogik hat, die sich in einem kurzfristigen Anstieg der Unterrichtsversorgung zeigt, verlängert man damit nur die grundsätzlichen Systemprobleme – oder verschärft sie, indem man jenen Lehrkräften, die sich bisher durchgeschlagen haben, zum Dank noch die Verantwortung für die Probleme überträgt, die sie eigentlich nicht zu verantworten haben.

Es ist Zeit für grundsätzliche Veränderungen. Und diese beginnen ganz konkret beim Lernen. Ein Lernen, das sinnstiftend ist und dessen Bedeutung für den Einzelnen klar wird. Ein Lernen, das motiviert und es erlaubt, eigene Interessen zu verfolgen. Ein Lernen, dessen Gelingen nicht an standardisierte Leistungsmessungen gebunden ist, deren Messbarkeit nur vorgegaukelt ist. Und ein Lernen, an dessen Ende eine Form von Bildung für jeden steht, die eine Grundlage für gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe bietet. Denn genau dieses Lernen ist auch dann noch so wichtig, wenn man längst aus der Schule entlassen worden ist. Lebenslanges Lernen mag eine mittlerweile viel zitierte und deshalb für viele leere Forderung sein. In Wirklichkeit ist es die Grundlage für ein erfülltes Leben und für jeden Beruf, der sich momentan in einer Veränderung befindet. Und das heißt: für jeden! 

Wer hat die Verantwortung für das System Schule?

Für die meisten Menschen ist es wichtig, dass jemand eine konkrete Antwort gibt auf das, was sich als Frage noch nicht richtig herauskristallisiert hat. Die Erwartungshaltung an Referenten, wenn es beispielsweise um die Digitalisierung in Schulen geht, ist meistens: Nun bekommen wir die Antwort darauf, wie es richtig geht. Meistens fehlt jedoch der entscheidende Bestandteil dessen, was »es« überhaupt sein soll. Denn es macht einen großen Unterschied, ob es darum gehen soll, wie die Infrastruktur der Schule ausgebaut werden kann, welche Systeme sich anbieten, wenn man mit Eltern kommuniziert, oder welche Formen von Unterricht digital erweitert werden können.

Daraus ergibt sich die Frage, die ich in ähnlicher Form schon in meinem letzten Buch gestellt habe30: Wie wollen wir Lernen im 21. Jahrhundert gestalten? Die Frage lautet nicht: Wie wird der Unterricht durch das Digitale besser? (Wird er nicht zwangsläufig.) Wie können wir ab jetzt nur noch digital unterrichten? (Das sollte keiner wollen.) Oder: Welche Strategie passt auf alle Schulen? (Es gibt keine Strategie, die sich auf alle Schulen anwenden lässt.)

Bei der Gestaltung von Lernen spielen drei Dimensionen eine Rolle. Zunächst geht es um das Lernen selbst. Nicht als gegebene Fähigkeit, an die man nur appellieren und die dann jeder abrufen kann. Dies ist deshalb zentral, weil die Forderung nach gestaltetem Lernen als Mittelpunkt der Institution Schule bedeutet, ihre Aufgabe fundamental zu überdenken.

Die zweite Dimension betrifft die Zeit, in der wir uns befinden. Oder präziser: den Zeitabschnitt. Es ist längst keine Frage mehr, ob Schulen digitaler werden sollen, sondern nur wie und wann. »In Wahrheit geht es nicht um die Frage, ob Schülerinnen und Schüler mithilfe von Computern besser rechnen, schreiben und lesen lernen können. Es geht darum, dass sie in einer Welt aufwachsen, in der Computer nun einmal zum Alltag gehören«31, so Christian Stöcker. Die Frage des Zeitpunkts ist in Schulen immer relevant. Die gut durchdachte Strategie der Kultusministerkonferenz über die »Strategie der Bildung in einer digitalen Welt« ist mittlerweile acht Jahre alt – und immer noch nicht überall angekommen. Und auch die Ergänzung aus dem Jahr 2021, in der das Lernen im digitalen Wandel ganz konkret umrissen wird, spielt im schulischen Alltag keine Rolle.32

Und genau dieses Problem betrifft den dritten Bereich, den der ehemalige Innenminister und jetzige Vorsitzende der Deutschen Telekom Stiftung, Thomas de Maizière, im März 2023 in der Fernsehsendung Markus Lanz ansprach, indem er sagte: »So wie das Bildungssystem jetzt strukturiert ist, kann es nicht richtig gut werden. An der Schule fummeln zu viele Leute rum.«

Und in der Tat teilen sich Bund, Länder und Kommunen Zuständigkeiten, was oft dazu führt, dass das in der Frage zum Lernen enthaltene »Wir« gar nicht so leicht zu definieren ist. Zumindest dann nicht, wenn man etwas verändern will. Und schon gar nicht, wenn man auf der Suche nach denjenigen ist, die Veränderungen verhindern wollen. In diesem Zusammenhang ist es also auch kein Wunder, dass de Maizière der Schule »Veränderungsresistenz« attestierte. Das ist fatal. Zumindest dann, wenn man findet, dass 180 000 Kinder, die nicht richtig lesen können, und 50 000, die einige Jahre später die Schule ohne Abschluss verlassen, kein besonderes Qualitätsmerkmal darstellen. Nach der Leseschwäche, die die IGLU-Studie darlegte, folgten die katastrophalen PISA-Ergebnisse, die Ende des letzten Jahres veröffentlicht wurden und unter anderem zeigten, dass auch 30 Prozent der Kinder das Mindestniveau in Mathematik verfehlen.33

Es gibt so gut wie niemanden, der das Bildungssystem durchweg positiv sehen würde. Um Lernen und damit Bildung zu ermöglichen, muss man das System hacken. Eine traurige Feststellung.34 Gleichzeitig ist die Rede vom »Bildungssystem« als etwas, das man kritisieren kann, nur eine Denkhilfe. Für dieses trifft zu, was der Soziologe Armin Nassehi als Systemtheoretiker grundsätzlich für die Gesellschaft festhält: Es gibt letztlich keinen Ort, an dem die unterschiedlichen Zusammenhänge aufeinander abgestimmt werden können.35

Einfach auf »das System« zu schimpfen, ist insofern auch zu einfach, denn ohne schon zu weit in die Organisation von Schule hineinzublicken, muss festgehalten werden: Es gibt kein System ohne Teilnehmerinnen und Teilnehmer – und ihre Kommunikation. Deshalb ist die oft wiederholte Forderung, »das Schulsystem, wie es besteht, abzuschaffen«, auch erst einmal Unsinn. Denn es würde an vielen Stellen bedeuten, dass Menschen sich und ihre Arbeit abschaffen müssten. Hier liegt in gewisser Weise die Crux eines Systems, das auf dem Beamtentum aufbaut. Auch wenn jemand in einer neu gegründeten Behörde keine Expertise hat, muss er oder sie untergebracht werden. Im besten Fall hat man dann Menschen, die ihre neue Aufgabe als Herausforderung sehen und sich gut in diese einarbeiten. Im schlechtesten Fall arbeiten innerhalb des Systems an wichtigen Stellen Menschen, die sich nicht auskennen. Und die dennoch über andere und deren Handeln bestimmen. Da muss dann schnell mal eine Grundschullehrerin über die Details der neuen Leitlinien für das Sportabitur entscheiden.

Hierarchische Systeme bestehen aus Amtsträgern, denen man nicht vermitteln kann, dass sie nun nicht mehr gebraucht werden – zumal dann nicht, wenn sie als Beamte gar nicht entlassen werden können.

Das bedeutet nicht, dass das Schulsystem unabänderlich wäre. Im Gegenteil. Schaut man auf die Geschichte der Schule – gerade und vor allem ab dem 18. Jahrhundert –, als in Deutschland im Zuge aufklärerischer Ideen überhaupt erst Ideen und Strukturen erschaffen worden sind, die in organisierter Bildung mündeten, sieht man durchgehende und oftmals auch langanhaltende Veränderungen. Diese waren nicht immer jene, die die Verantwortlichen sich gewünscht hatten. Anders formuliert: Schon in der Zeit des zweifellos großen Reformers Wilhelm von Humboldt war ein Großteil der Ideen eher ideeller Natur und wurde gar nicht erst umgesetzt. So könnte man nur konsequent behaupten, dass wir nicht zu einem humboldtschen Bildungsideal zurückkehren sollten, sondern dass wir zweihundert Jahre danach immer noch nicht bei ihm angekommen sind.

»Vergegenwärtigt man sich die schulgeschichtliche Entwicklung der letzten zweihundert Jahre in einer distanzierten Schlussbetrachtung, dann tritt als beherrschender Grundzug deren hohe Kontinuität hervor.«36 Schöner als in dieser Geschichte der deutschen Schule kann man grundsätzlichen Stillstand nicht beschreiben. Dennoch hat sich seit den preußischen Reformprozessen vieles verändert. Aber nicht immer konnten Veränderungen dort eingeführt werden, wo sie am meisten gebraucht wurden. Letztlich kann Schule nur verändert werden, wenn alle Interessierten und Beteiligten ihre Organisation verstehen. Und damit sind nicht die kleinteiligen politischen Entscheidungen, Verwaltungsvorschriften und Erlasse gemeint, die das Handeln der Lehrkräfte bestimmen, sondern die Grundannahmen darüber, wie Bildung funktionieren soll, wenn man der Überzeugung ist, dass diese staatlich organisiert zu sein hat. Das mag sich abstrakt anhören, ist aber sowohl für Lehrkräfte als auch für Kinder, Jugendliche als auch deren Eltern relevant. Denn allzu oft bedingen die Vorstellungen von etwas, das man selbst kennengelernt hat, die Strukturen. Aus diesem Grund haben Eltern großen Einfluss, indem sie Erwartungen an ein System schüren, das sie selbst erlebt haben. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich das System selbst reproduziert. Eltern haben aber auch einen Einfluss darauf, Druck auf schulische Veränderungsprozesse aufzubauen. Dafür ist gar nicht so viel nötig. Denn das kann auch schlicht bedeuten, Innovation zum Wohle ihrer Kinder zu begrüßen.

In diesem Sinne bleibt es zwar dabei, dass es unterschiedlichste Menschen(gruppen) sind, die Verantwortung für das System Schule haben. Aber aus der Arbeit an der Basis kann sich dennoch die Hoffnung schöpfen, dass Veränderung möglich ist, wenn sie von genügend Menschen als sinnvoll erkannt und gemeinsam eingefordert und gestaltet wird.

Dumme Algorithmen

Schulen sind Organisationssysteme. In ihnen arbeiten Menschen, die positive und nachhaltige, aber auch erstaunlich dumme oder problematische Entscheidungen fällen können. Um diese nachvollziehen zu können, kommt es darauf an, wie genau man hinschaut. Man kann sich das vorstellen wie bei dem bekannten Programm Google Earth. Je näher man heranzoomt, desto mehr Details sind zu sehen. Um diese unterschiedlichen Zoomstufen geht es hier. Sie sind die Grundlage, um zu verstehen, welche Probleme es gibt und wie man sie lösen kann. Und zwar indem man darüber nachdenkt, an welchen Stellen Veränderungen überhaupt möglich sind.

Denkt man über Schulen als Organisationssysteme nach, sind Algorithmen nicht weit. Mit Algorithmen in diesem Zusammenhang ist aber keine computergenerierte Strukturierung von Daten gemeint, die die Ausführung von Datenzugriffen gewährleistet.37 Es sei denn, wir sprechen über die Digitalisierung der Verwaltung, beispielsweise durch Messenger. Und auch die Definition als Datenstrukturierung ist eine für unsere Zwecke stark verkürzte Definition dessen, was man unter Algorithmen verstehen kann. Der Brockhaus etwa definiert Algorithmen als unterschiedlichste Verfahren zur Berechnung, Messung oder anderweitige Möglichkeiten zur Lösungsoptimierung. Algorithmen können aber auch analog durchgeführt werden. So heißt es weiter im Brockhaus: Algorithmen haben »heute eine Verarbeitungsvorschrift, die aus einer Folge von Anweisungen besteht und mit der eine Vielzahl gleichartiger Aufgaben gelöst werden kann«.38

Mit anderen Worten: Schon eine Unterschrift, die Eltern unter eine Information schreiben, die dann an die Lehrkraft weitergereicht wird oder eine Krankmeldung eines Schülers löst einen Algorithmus aus, der aus Handlungsanweisungen und deren Durchführung besteht. Beispielsweise ein Anruf, der im Sekretariat eingeht, der Gang der Sekretärin zum Fach der Lehrkraft. Die Ablage der Meldung in dieses Fach. Die Entnahme durch die Lehrkraft und die mögliche Information an den Schüler, welches Thema nachgearbeitet werden muss.

Gerade weil dieses Beispiel sehr banal ist, verdeutlicht sich das in Organisationen zunächst nachvollziehbare Streben danach, den Ablauf eines solchen Vorgehens – aka Algorithmus – möglichst effizient zu gestalten. Laut Brockhaus: »Ein Algorithmus heißt effizient, wenn er ein vorgegebenes Problem mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch (Zeit, Speicher) löst.«39

Eine Zielsetzung digitaler Unternehmen im Bereich Verwaltung ist dementsprechend, eine möglichst effiziente Gestaltung von Abläufen zu gewährleisten, die in der digitalen Aufbereitung weniger Zeit und so wenig wie möglich Speicher oder andere Ressourcen verbrauchen. Es ist naheliegend, sich in dem entsprechenden Beispiel ein Vorgehen vorzustellen, das komplett digital und automatisiert funktioniert. Die Krankmeldung erfolgt durch einen Klick, die durch eine Krankmeldung bescheinigt werden muss. Nach erfolgter Bescheinigung erfolgt eine Information an die Lehrkraft, deren sowieso schon bereitgestellten digitalen Inhalte nun an die Schülerin geschickt werden. Das Fernbleiben wird sofort in das Fehlstundenarchiv der Schülerin übertragen, woraufhin am Ende des Jahres entschuldigte mit unentschuldigten Stunden abgeglichen werden. Das Einzige, das dem Unwohlsein, das sich womöglich einstellt, noch fehlt, ist eine direkte Verknüpfung mit weiteren Verwaltungsabläufen. So etwa die Verknüpfung der unentschuldigten Fehlstunden mit einem Malus, der in Wartewochen für den künftigen Arbeitgeber abgegolten werden muss.

Womöglich wird man den letzten Punkt als dystopische Science-Fiction abtun, wird aber eines Besseren belehrt, wenn man einen Blick auf das chinesische Sozialkreditsystem wirft. Dieses sieht vor, Daten von Personen zu sammeln und dem Staat zugänglich zu machen. Der Staat kann nach der Auswertung der Daten Sanktionen verhängen. »Das kann heißen, dass man keine Erste-Klasse-Tickets mehr im Zug bekommt, sondern harte Holzbänke. Irgendwann wird die Reisefreiheit ganz eingeschränkt, man darf keine Flugtickets mehr buchen und bekommt keine Visa mehr. Irgendwann können die eigenen Kinder keine guten Schulen mehr besuchen.«40 Hier wird jede Handlung in ein Bewertungssystem überführt, das für das Wohl und Weh jedes Menschen verwendet werden und vom sozialen Aufstieg zum totalen Existenzverlust alles bedeuten kann.

Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass mit Blick auf das chinesische System vom »gefährlichsten Bonitätssystem der Welt«41 gesprochen wird. Eine (irgendwie42) humanistisch geprägte, europäische Perspektive wird wenig überraschend solcherlei Systeme als unmenschlich ablehnen. Aber die Ablehnung, die ein doch scheinbar effizientes System erfährt, speist sich hier aus der Vermischung von zwei Ebenen, die Armin Nassehi als Sach- und Sozialdimension definiert.43 Sehr vereinfacht bedeutet die Sachdimension das Was der modernen Gesellschaft und die Sozialdimension das Wer.

Mit anderen Worten: Obwohl wir wollen, dass in einer Gesellschaft alles geregelt ist und wir entsprechend auch die Beschneidung unserer individuellen Freiheit in Kauf nehmen, ist uns nicht wohl dabei, wenn das Individuum seine Freiheit in Gänze von gesellschaftlichen Sanktionssystemen abhängig machen muss. Mit anderen Worten: Wenn gar keine Sozialdimension mehr stattfindet, sondern es eine Hegemonie (also eine Herrschaft) der Sachdimension gibt, fühlen wir uns in unserem westlich geprägten Wertesystem eingeengt und in unserem Handlungsspielraum begrenzt.

Auf das Schulbeispiel bezogen kann das heißen, dass eine grundsätzlich für viele effiziente Regel der Verarbeitung von Entschuldigungen – auch dann, wenn sie nicht in einer dystopischen Sanktion des späteren Arbeitgebers endet – schon deshalb abzulehnen ist, weil sie keinen Spielraum für die vielen individuellen Fälle für mögliches Fernbleiben bietet. Ähnliche Überlegungen ergeben sich auch für verschiedene Systeme künstlicher Intelligenz, deren neuronale Netzwerke auch durch Algorithmen gesteuert werden: Während es sinnvoll erscheint, individuelles Lernen durch Chatprogramme effizienter zu gestalten, ist das Sammeln von Schülerdaten ein Problem. Entsprechend betont beispielsweise der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zur künstlichen Intelligenz, dass verschiedene ethische Fragen geklärt werden müssen, wenn der Algorithmus übernehmen soll.44

Man kann es auch so formulieren: Ein effizienter Algorithmus von Handlungsabläufen – ganz gleich, ob digital oder analog – basiert auf der Nichtbetrachtung ebenjener individuellen Problemstellungen, deren Lösung doch gerade Teil schulischer Wirklichkeit ist – und sein muss: »Bildung ohne Erziehung und Sozialisation ist nicht denkbar.«45

Damit ergibt sich ein Problem, das Armin Nassehi in Bezug auf Organisationen als Tautologie beschreibt: »Organisieren lässt sich nur, was sich organisieren lässt.«46 Eine Tautologie mögen die meisten noch aus der Gedichtanalyse kennen, in denen eine doppelte Wortfolge dasselbe meint und dadurch eine irritierende Betonung erzeugt. Typisches Beispiel: der weiße Schimmel.

In dem hier angewandten Sinn ist eine Tautologie eine Art Zirkelschluss und erscheint als »Beweisfehler, bei dem die zu beweisende Aussage für den Beweis vorausgesetzt wird«.47 Dies ist aber ja nur ein Schein. Denn, so Nassehi weiter: »Das große Problem ist der nicht organisierbare Rest in der Organisation.«48