Warum wir schlafen - Albrecht Vorster - E-Book

Warum wir schlafen E-Book

Albrecht Vorster

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Beschreibung

Das Buch, das endlich Licht ins Dunkel bringt

Was ist das für ein komisches Zucken beim Einschlafen? Warum schnarchen wir, wenn wir Alkohol getrunken haben? Wie können wir unsere Träume selbst bestimmen? Und was macht Schlafmangel mit uns? Albrecht Vorster ist Schlafforscher und Science Slammer – er verknüpft den neuesten Stand der Forschung anschaulich und unterhaltsam mit vielen Fallbeispielen und Alltagssituationen, wie sie jeder kennt. Vorster erklärt, warum unser Immunsystem bei Schlafmangel verrücktspielt, warum Schlafmittel die Volksdroge Nummer eins sind und doch nicht wirken, was wirklich gegen Schlafprobleme hilft, wie jeder für sich herausfinden kann, wie lange er schlafen muss, um fit zu sein – und warum wir überhaupt schlafen müssen. Das Buch, das endlich Licht ins Dunkel bringt!

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Seitenzahl: 442

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Albrecht Vorster

Warum

wir

schlafen

Weshalb unsere Beine manchmal keinen Schlaf finden, auch Schnecken sich schlau schlummern und andere faszinierende Erkenntnisse über den unbekannten Teil unseres Lebens

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Hinweis

Die Wissenschaft unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess. Alle Angaben, insbesondere zu Diagnose und Therapie, basieren auf dem aktuellen Wissensstand und wurden vom Autor sorgfältig geprüft. Dennoch kann keine Garantie für deren Richtigkeit übernommen werden. Leserinnen und Leser sind aufgefordert, sich im Zweifelsfall von Spezialisten beraten zu lassen und die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen. Sie bleiben selbst verantwortlich für jede diagnostische und therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung. Hinweise auf etwaige Unstimmigkeiten oder Fehler nimmt der Verlag gern entgegen.

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Originalausgabe 2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angelika Winnen

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Random House / Kay Blaschke Fotografie und Illustrationen von © Nadine Roßa

Illustrationen im Innenteil: Nadine Roßa

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-23110-1 V003

www.heyne.de

Für alle Träumer.

Weitermachen,

denn wir müssen träumen, um die Wirklichkeit zu schaffen.

Inhalt

Vorwort

Warum wir schlafen

1 Warum Schnecken und Menschen schlafen

2 Im Halbschlaf

3 Schlaf mal drüber: Schlafen und Gedächtnis

4 Schlafen, damit das Gehirn nicht aus dem Gleichgewicht gerät

5 Nächtliche Gehirnwäsche

6 Schlaf dich gesund!

7 Den Winter verschlafen?

8 Schlaf zum Energiesparen?

9 Wie viel Schlaf brauche ich?

Rund um die Uhr

10 Alles läuft im Takt

11 Lichtverschmutzung raubt nicht nur uns den Schlaf

12 Die Nacht ist zum Schlafen da – Schichtarbeit

13 Gefährlicher Schlaf

14 Der inneren Uhr davongeflogen – Jetlag

15 Wer hat an der Uhr gedreht? – Zeitumstellung

Warum wir träumen

16 Warum wir im Schlaf träumen

17 Wenn die Nacht zum Albtraum wird

18 Träume, was du träumen willst

Schlaf im Lauf des Lebens

19 Schlafen wie ein Baby – warum Kinder schlafen oder auch nicht

20 Lieber sechs Stunden Schule als gar keinen Schlaf

21 Wenn Frauen und Männer miteinander ins Bett gehen

22 Nur noch drei Nickerchen bis zur Schlafenszeit – Schlaf im Alter

Schlecht schlafen

23 Krankhaft schlaflos – Insomnie

24 Des Lebens müde – wie Schlaf und Depressionen miteinander verknüpft sind

25 Atemlos durch die Nacht – Schnarchen und Schlafapnoe

26 Warum zu wenig Schlaf zuckerkrank und dick machen kann

27 Zähne zusammenbeißen und durch – Zähneknirschen

Wenn der Körper den Schlaf verdreht

28 Abends sind meine Beine hellwach! – Restless legs

29 Wenn der Schlafschalter wackelt – Narkolepsie

30 Im Schlaf reden, kochen und morden – Schlafwandeln und Nachtschreck

31 Die eigenen Träume ausleben – REM-Schlafverhaltensstörung

Den Schlaf dressieren

32 Die Bändigung des Schlafes – Kaffee

33 Mother’s little helper – Schlafmittel

34 Der Schlaf des Leonardo da Vinci

35 In den Schlaf wiegen

36 Mondfühlig

37 Elektrosmog: Wenn das Handy den Schlaf raubt

38 Wer besser schläft, siegt!

Quellen und Anmerkungen

Dank

Weiterführende Links und Informationen

Vorwort

»Where do you go to my lovely

When you’re alone in your bed

Tell me the thoughts that surround you

I want to look inside your head.«1

(Peter Sarstedt)

»Was ist Bewusstsein? – die Zeit zwischen den Nickerchen!«2 Was zunächst nach einer platten Scherzantwort klingt, birgt einen wahren Kern in sich. Nur wenn wir schlafen, verlieren wir auf natürliche Weise unser Gefühl, in der Welt zu sein. Plötzlich sind wir weg. Eben war da noch das Bett, der Raum, vielleicht die Körperwärme des Partners, sein Geruch, seine Stimme. Und auf einmal Stille. Dunkelheit. Nicht mal die, einfach nichts. Werden wir aus dem Tiefschlaf geweckt und gefragt, was gerade in uns vorgegangen ist, ob wir etwas geträumt oder etwas gefühlt haben, lautet die Antwort in der überwiegenden Zahl der Fälle: Nein, nichts. Was passiert mit uns, wenn wir in den Schlaf fallen? Wohin gehen wir? Wozu müssen wir schlafen? Wozu unser Bewusstsein verlieren? Warum können wir nicht gemütlich auf der Couch sitzen und dann, während sich unsere Muskeln entspannen, zumindest die Augen offen halten, um sicherzugehen, dass nicht gerade ein Säbelzahntiger um die Ecke biegt, um uns zu fressen? Warum übermannt uns der Schlaf in den ungünstigsten Momenten, wie beim Autofahren? Die größten vom Menschen verursachten Umweltkatastrophen nahmen ihren Ausgang in den Nachtstunden: die Katastrophe von Tschernobyl oder das Chemieunglück von Bhopal, die Tausenden von Menschen das Leben kosteten. Irgendjemand hat da geschlafen. Doch die Frage ist nicht nur wer, sondern warum?

Für Millionen von Menschen ist Schlaf nur ein notwendiges Übel: Augen zu und durch. In einem Zug tief durchschlafen, um am nächsten Morgen durch den Klang des Handyweckers wieder geweckt zu werden. Dabei ist der Schlaf ein Teil von uns. Der Mensch verschläft im Durchschnitt ein Drittel seines Lebens. Schlafen wir schlecht, ist der Tag hinüber, schlafen wir gut, können wir Bäume ausreißen. Unser Schlaf ist ein sicherer Spiegel unseres allgemeinen Gesundheitszustandes. Nach ein paar Jahren gestörten Schlafes treten meist schwere Krankheiten auf den Plan: Alzheimer, Parkinson, Depressionen. Alle psychischen und neurologischen Krankheiten gehen mit einer Veränderung des Schlafverhaltens einher. Ob Schlafprobleme diese Krankheiten auslösen oder diese Krankheiten Schlafprobleme verursachen, ist unklar. Unbestreitbar ist: Wenn es mit dem Schlaf nicht klappt, gehen wir die Wände hoch, sind übellaunig und unkonzentriert. Schlaf scheint so wichtig zu sein wie essen, trinken und atmen – nur, warum?

Wir wissen zumindest, dass es irgendwie mit unserem Gehirn zusammenhängt. Dort herrscht nachts reges Treiben: Während des Tages werden neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen aufgebaut. In der Nacht finden dann Umbau- und Aufräumarbeiten statt. Alles, was im Eifer des Gefechts zu viel gebaut und verknüpft wurde, wird wieder zurückgestutzt. Der Schlaf ist also gar keine Zeit der Muße und Erholung. Im Gegenteil: Zu keiner anderen Zeit in unserem Leben wird in unserem Kopf mehr herumgeschraubt als in der Nacht. Dennoch haben sich die meisten Neurowissenschaftler in den vergangenen 50 Jahren kaum dafür interessiert, was in dieser Zeit im Gehirn vonstattengeht. Verstehen wir aber den Schlaf nicht, können wir nicht verstehen, wie unser Gehirn funktioniert, wir übersehen die Hälfte des Lebens, womöglich sogar die alles entscheidende Hälfte! Inzwischen wissen wir: Für das Erlernen von Sprachen, Vokabeln und fürs Fahrradfahren ist nicht nur wichtig, wie wir gelernt haben, sondern ob und wie wir danach geschlafen haben. Im Schlaf perfektionieren wir unsere Motorik, sortieren unser Gedächtnis und klären unsere Gefühle. Wir bereiten vor, was wir tagsüber tun, denken und fühlen. Ohne Schlaf wären wir womöglich alle chronisch dement und kämen aus dem Entwicklungsstadium eines Dreijährigen nicht heraus.

Allzu lange dämmerte die Schlafforschung in einem obskuren Seitenzweig der Medizin. In deutschen Kliniken kümmert sich der Lungendoc um die Schnarcher, die Neurologin um die Restless-Legs- und Narkolepsiepatienten, die Psychologin um Albträume und in der Inneren Medizin oder beim Hausarzt werden Schlafmittel verschrieben. Kaum einer hat den Überblick, auch weil es bisher an keiner deutschen Universitätsklinik einen Lehrstuhl für Schlafmedizin gibt. Erst jetzt ist die Medizin dabei, den Schlaf als reichen, lebendigen Teil unseres Lebens zu entdecken, nicht weniger wichtig als der Wachzustand. Ich möchte mit Ihnen erkunden, wie der Schlaf maßgeblich darüber entscheidet, wie wir uns am Tag fühlen, und was des Nachts in unseren Gehirnen vorgeht.

Seit ich über Schlaf forsche, werde ich auf Partys, Familienfeiern und auch sonst bei jeder Gelegenheit mit Fragen zu meinem Forschungsthema gelöchert. Erst dadurch ist mir bewusst geworden, wie stark das Thema Schlaf jeden Einzelnen von uns beeinflusst und beschäftigt: Ist der Schlaf vor Mitternacht der beste? Darf ich Schlafwandler aufwecken? Hilft heiße Milch mit Honig wirklich beim Einschlafen? Ich habe gehört, man könne alle vier Stunden ein 20-minütiges Power-Nap halten und so mit nur vier Stunden Schlaf auskommen. Funktioniert das? Schläft man bei Vollmond schlechter? Ist Elektrosmog für meine Einschlafprobleme verantwortlich? Kann ich meine Träume beeinflussen?

Außerdem haben alle eine kuriose Geschichte zu erzählen oder verspüren das Bedürfnis, ihr Leid zu klagen: Träume, Schlafwandelepisoden, Schnarchen, Kampf mit dem Sekundenschlaf beim Autofahren. Alles Phänomene, die mich selbst faszinieren, und deren biologischen, medizinischen, aber auch psychologischen Hintergründen ich in diesem Buch nachgehe. Es ist quasi das Best of der am häufigsten gestellten Fragen und Alltagssituationen zum Thema Schlaf – und der Versuch, diesen wissenschaftlich und doch unterhaltsam auf den Grund zu gehen.

Das Buch ist dabei so geschrieben, dass Sie jedes Kapitel auch einzeln losgelöst lesen und sich Ihren drängendsten Fragen zuerst widmen können, ehe Sie sich den Grundlagen zuwenden. Dies ist kein weiterer Ratgeber für »richtiges Schlafen«, obwohl der ein oder andere Schlaftipp fällt. Ich möchte mit Ihnen vielmehr ein wenig Licht in die Dunkelheit der Nacht bringen und damit in einen unbekannten, faszinierenden Teil unseres Lebens, den wir zu oft von der Bettkante stoßen.

Ich wünsche viel Vergnügen!

Warum wir schlafen

1 Warum Schnecken und Menschen schlafen

»Wenn Schlaf nicht eine absolut überlebenswichtige Funktion erfüllt, dann ist es der größte Fehler, den die Evolution je gemacht hat.«

(Allan Rechtschaffen)3

»Und was machst du so?«

Ich stehe auf irgendeiner Party und irgendwann kommt sie, die Frage.

»Ich beschäftige mich mit Schlaf.«

»Ah, spannend …«

In den nächsten fünf Minuten fallen die Stichwörter Schnarchen, Träume, Kaffee, Schlafwandeln … Und früher oder später fragt mein Gegenüber: »Und, was machst du da genau?«

»Ich beschäftige mich mit Schnecken, schlafenden Meeresschnecken.«

Mein Gesprächspartner schaut mich mit großen Augen an. Seinen entgeisterten Blicken ist zu entnehmen, dass er meinen Forschungsgegenstand für ein total weltentrücktes Thema hält, mit dem man außer einigen ebenso weltentrückten Wissenschaftlern niemanden hinter dem Ofen hervorlocken kann.

Schnecken-Schlaf – Wer kommt auf so eine Idee?

»Aber warum forschst du gerade mit Schnecken?«

Nun, die Schnecke besitzt sehr wenige Nervenzellen, nur 20.000, um genau zu sein. Schon eine Fruchtfliege, die auf dem etwas betagten Pfirsich in der Küche herumkrabbelt, hat 200.000 Nervenzellen, ein Fisch 1 Million, die Maus 100 Millionen und wir Menschen besitzen sage und schreibe 100 Milliarden Nervenzellen. Die Schnecke ist also ein vergleichsweise einfach konstruiertes Tier. Sie besitzt zudem unter allen Tieren die größten Nervenzellen. Bis zu einem Millimeter im Durchmesser und damit so groß, dass man einige davon mit bloßem Auge erkennen kann. Deshalb wurden an der Schnecke die Grundlagen von Lernen und Gedächtnis erforscht und im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für den Neurowissenschaftler Eric Kandel honoriert. Die gleichen Mechanismen, Gene und Proteine, die man in der Meeresschnecke Aplysia californica entdeckte, fanden sich so in allen anderen Tieren auch.

Mit der Schnecke versuche ich der mysteriösen Frage nachzugehen, warum sich die Natur überhaupt solch einen Schlaf-Zustand ausgedacht hat. Was nützt es einem Tier, jeden Tag für mehrere Stunden nur eingeschränkt auf äußere Reize reagieren zu können und somit der Gefahr ausgesetzt zu sein, leichte Beute eines anderen hungrigen Tieres zu werden? Braucht es ein Hirn, und wenn ja, wie viel davon, damit ein Tier schläft? Und wenn es schläft, benötigt es den Schlaf für sein Hirn? – Wenn man eine Forschungsfrage hat, die grundlegend für alle Tiere gilt, dann kann man auch zur Erforschung den einfachsten zur Verfügung stehenden Organismus zurate ziehen, in diesem Fall eine Schnecke. Und ganz nebenbei, ein Tier, das so langsam ist, muss sich doch hervorragend für Schlafforschung eignen!

Wohin zieht sich eine Schnecke ohne Haus zurück,wenn sie schläft?

»Wie stellt man denn fest, ob eine Schnecke schläft?«

Zunächst mit Videoaufnahmen. Im Zeitraffer werden selbst die langsamsten Bewegungen einer Schnecke sichtbar. Der erste Schnecken-Forscher, den ich auf ein mögliches Schlafforschungsprojekt bei der Schnecke angesprochen hatte, hatte nur lapidar bemerkt: »Weißt du, die Tiere tun nicht viel. Wahrscheinlich schlafen die den ganzen Tag.« Er lag falsch, obwohl er sich in den 40 Jahren seiner Laufbahn allein mit diesen Tieren beschäftigt hatte. Nie war es ihm anscheinend in den Sinn gekommen, eine Videoaufnahme von den Tieren zu machen. Denn auf den ersten Videos von Meeresschnecken, die ich in einem Labor in Tallahassee, Florida, machen durfte, bewegten sich meine Tiere immerzu, den ganzen Tag über.4 Langsam, aber kontinuierlich. Der Spruch: »Wer rastet, rostet«, scheint auch für Schnecken zu gelten. Immer waren sie auf der Suche nach Futter, nach Artgenossen zur Paarung oder krochen einfach nur so herum, weil das Schnecken eben so tun. Erst ein paar Stunden nach Einbruch der Dunkelheit zogen sich die Tiere in die Ecken des Aquariums zurück, mit Vorliebe in Nischen, die gut mit frischem, sauerstoffreichem Wasser durchstrudelt wurden. Schlafen bedeutet für die Schnecke wie für alle anderen Tiere: Suche dir einen klimatisch günstigen Ort, an dem es sich sicher und ungestört ein paar Stunden aushalten lässt!

In ihren Schlafecken angekommen, zogen sich die Schnecken zusammen, zuckten noch ein paarmal und verharrten dann regungslos für die nächsten ein bis drei Stunden. Während der Nacht wachten sie ab und an auf, wanderten ein bisschen umher, nur um nach kurzer Zeit wieder für weitere Stunden zu schlummern. So schliefen die Schnecken im Schnitt neun Stunden pro Nacht.

Schnecken wecken

»Aber schlafen die Schnecken wirklich oder ruhen sie sich nur aus?«

Um alle Zweifel auszuschließen, testete ich die Reaktionsfähigkeit der Tiere auf einen Nahrungsreiz hin mit ihrer Lieblingsspeise Meeresalgen. Geringes Interesse. Gut, nachts haben auch wir weniger Lust, für etwas zu essen aus dem Bett zu krabbeln. Aber wenn Gefahr droht, sollten wir schnell auf den Beinen sein. Also Test 2 auf einen Fluchtreflex hin, mit einem leichten Salzreiz. Während Schnecken tagsüber schon bei leichten Anzeichen von einer zu hohen Salzkonzentration im Umgebungswasser die Flucht antreten, nötigte sie der gleiche Reiz in der Nacht lediglich dazu, ihr Schwanzende ein bisschen mehr einzuziehen. Nur in wenigen Fällen konnte der Salzreiz sie dazu bewegen, ihren Ruheort zu wechseln. Schnecken muss man nachts also genauso aufwecken wie Schulkinder, die den Schulbus nicht verpassen sollen.

Wenn Schnecken die Nacht durchmachen

»Aber vielleicht sehen die einfach nichts im Dunkeln und versuchen, die dunkle Periode nur möglichst energiesparend zu überbrücken?«

Schnecken haben Augen, die häufig auf ihren Fühlern sitzen, bei meinen jedoch knapp unterhalb auf der Haut. Und zugegeben, ihre Augen sind nicht besonders gut. Hell und Dunkel lassen sich damit unterscheiden, aber dann ist es auch schon vorbei mit der optischen Auflösung. Also unternahm ich ein weiteres Experiment. Sollte es sich bei der Nachtzeit nur um einen Überdauerungszustand handeln, dann gäbe es keinen Grund für die Schnecken, diesen am helllichten Tage nachzuholen, sollten sie einmal die Nacht durchfeiern.

Also bescherte ich meinen Schnecken im Labor eine Nachtcluberfahrung der Extraklasse. Im Dunkeln, nur mit Dunkelkammerbeleuchtung und Radio machten wir gemeinsam die Nacht durch. Die Schnecken wurden durch behutsames zeitweiliges Anstupsen zum Mitmachen animiert. Auf dem Video zeigte sich später: Auch Schnecken schlafen nach einer durchzechten Nacht tagsüber prächtig. Also muss es sich bei ihrem Ruheverhalten um Schlaf handeln, denn Schlaf hat eine Batterie aufladende Eigenschaft. Je länger wir wach sind, desto größer wird der Drang, die Augen zu schließen und alle Glieder von uns zu strecken. Wachheit scheint unseren Körper zunehmend ins stoffliche Ungleichgewicht zu bringen. Gehen wir schlafen, ist am nächsten Morgen die stoffliche Ordnung wiederhergestellt. Verpasst unser Körper diese erholsame Schlafenszeit, holt er sie später nach.

Die drei getesteten Merkmale – vermindertes Reaktionsvermögen, Aufweckbarkeit und Aufholschlaf nach Schlafentzug – fanden sich bisher bei allen genauer untersuchten Tieren. Diese Charakteristiken wurden bereits vor hundert Jahren vom französischen Schlafforscher Henry Piéron beschrieben.5 Sie haben Bestand bis heute. Schlaf ist ein universeller, essenzieller Bestandteil allen tierischen Lebens. Alle Tiere müssen schlafen, auch angeblich »hirnlose« Lebewesen wie Fadenwürmer und Quallen, denn auch sie haben Nervenzellen, die ihre Tätigkeiten koordinieren.6

Auf der Suche nach dem Schlafsinn

»Was bringt es dir jetzt zu wissen, dass die Schnecken schlafen, so wie alle anderen Tiere auch?«

Es ist quasi nur die Grundlage meiner Arbeit. Mein Ziel ist es, herauszufinden, warum diese Tiere – alle Tiere, und auch wir – schlafen. Denn im Gegensatz zu ebenso grundlegenden Bedürfnissen wie Essen, Trinken und Atmen ist erst ansatzweise geklärt, was der Sinn des Schlafes ist. Wie ich eingangs erwähnte, sind bei den Schnecken Lern- und Gedächtnisprozesse besonders gut erforscht. Ein heißer Kandidat für die zentrale Funktion des Schlafes ist sein Nutzen für das Gedächtnis. Sollte der Schlaf bei Schnecken also auch mit der Gedächtnisbildung zusammenhängen, dann böte uns das die Möglichkeit, diese elementaren Zusammenhänge zu studieren – in einem Tier, welches bedeutend einfacher gestrickt ist als der Mensch.

In einem nächsten Experiment ließ ich die Tiere zunächst etwas lernen. Wer jetzt an Schneckendressur mit Trillerpfeife und Sprung durch den Feuerreifen denkt, den muss ich leider enttäuschen. Lernaufgaben funktionieren immer gut mit Essen, und Meeresschnecken lieben Meeressalat (Ulva lactuca). Die Schnecken wachsen, bis sie die Größe von zwei Fäusten erreicht haben. Eine ausgewachsene Meeresschnecke (Aplysia californica) kann schon mal ein, zwei Kilo auf die Waage bringen. Klar, größere Tiere haben größere Münder und können auch gröberen Meeressalat mit ihrer Raspelzunge abbeißen. Die Tiere lernen also im Laufe ihres Lebens beständig, welchen Meeressalat welcher Festigkeit sie schon zerkauen können. Ich entschied mich, die Schnecken Bekanntschaft mit extrem hartem Futter machen zu lassen, indem ich den leckeren Meeressalat in ein engmaschiges Plastiknetz verpackte. Die Schnecken stürzten sich auf das gut riechende Meeressalatbonbon, doch ohne jegliche Chance. Nach 30 Minuten gaben sie es auf, auf dem Bonbon herumzukauen. Anschließend durfte die eine Hälfte der Schnecken schlafen, die andere wurde wach gehalten. Würden die Schnecken nach einem ausgiebigen Schläfchen cleverer reagieren und ihre Schlüsse aus der Trainingseinheit gezogen haben? Am nächsten Tag bemühten sich die ausgeschlafenen Schnecken lediglich 10 Minuten lang, an den Inhalt des Meeressalatbonbons zu kommen, ehe sie sich auf die Suche nach einer anderen Futterquelle begaben. Die Schnecken aber, die nicht über das Esstraining schlafen konnten und wach geblieben waren, versuchten sich annähernd doppelt so lange an der Aufgabe.7 Sie hatten nicht gelernt, dass Plastik zu hart für ihre Raspelzunge ist. Die Festigung des Gedächtnisses scheint also eine elementare Aufgabe des Schlafes zu sein. Auch für Schnecken lohnt es sich, über wichtige Entscheidungen erst einmal eine Nacht zu schlafen.

Gehirnströme und Schlaf – das EEG

Schlaf ist, wie wir mittlerweile wissen, für das reibungslose Funktionieren unseres Gehirns von zentraler Bedeutung. Kein Wunder also, dass wir in Schlaflaboren weltweit die Aktivität des Gehirns messen und aufzeichnen, um den Schlaf von Patienten zu bewerten.

Es war ein deutscher Arzt aus Jena, Hans Berger, der vor knapp hundert Jahren, im Jahr 1924, entdeckte, dass man den elektrischen Signalen der Nervenzellen unter der Schädeldecke lauschen kann, indem man kleine Silberplättchen mit Kabeln auf der Kopfhaut befestigt und diese mit einem Spannungsmessgerät verbindet. Aber was messen wir da eigentlich?

Nervenzellen leiten elektrische Ströme mittels geladener Teilchen (Ionen). Mit weitverzweigten Ärmchen (Dendriten) lauschen sie den Signalen ihrer Freunde und Nachbarn. Auf Basis dieser Signale und ihres eigenen Stimmungszustands geben sie ihre Meinung mit ihren Füßen (Axon) an Freunde und Verwandte weiter. Auf der Empfangsseite enthalten sie im Durchschnitt Informationen von 10.000 Nachbarn. Nervenzellen steht in der Kommunikation nicht viel mehr zur Verfügung als eine Art Morsecode. Sie können entweder feuern oder nicht feuern. Den genauen Code, mit dem Nervenzellen untereinander kommunizieren, versucht die Wissenschaft schon seit Jahrzehnten zu entschlüsseln.

Mit den Silberplättchen auf dem Kopf messen wir kleinste magnetische Veränderungen, die unter der Schädeldecke durch die Aktivität der Nervenzellen ausgelöst werden. Denn wenn Strom durch eine Leitung fließt, entsteht ein magnetisches Feld, wie bei einem Elektromagneten. Leider vernehmen wir zunächst einmal ein lautes Gemurmel der Signale. Wir nehmen das Rockkonzert der Nervenzellen zwar wahr, sitzen aber nur vor dem Eingangstor. Denn zwischen Silberplättchen und Nervenzellen liegt, wie eine dicke Betonmauer, unsere Schädeldecke, nebst Kopfhaut, äußerer Hirnhaut, Spinnengewebshaut und innerer Hirnhaut, Hirnflüssigkeit und etwaigen Blutgefäßen. Wie beim Warten vor der Konzerthalle kommen die tiefen Bässe ganz gut durch, die hohen schnellen Vibrationen werden von den dicken Mauern aber herausgefiltert. Hinzu kommt: Nervenzellen sind extrem klein. Eine auf dem Gehirn platzierte Elektrode verhält sich wie ein Mikrofon über dem größten Fußballstadion Europas8 mit dem Ziel, den Unterhaltungen der Besucher zu lauschen. Wenn die Besucher gerade ins Stadion strömen oder sich vor dem Spiel miteinander unterhalten, wird man durch das Stadionmikrofon nur ein Grundrauschen hören. Genau das erhalten wir mit der EEG-Elektrode im Wachzustand. Nur wenn etwas Aufregendes passiert, der Menge am Spannungshöhepunkt der Atem stockt oder ihr ein gemeinsames »Ahh« entfährt, wird man das mit dem Mikrofon hören. Noch etwas wird man belauschen: gemeinschaftliche Euphorie nach einem Tor, insbesondere rhythmisches Klatschen zum Anfeuern der Spieler und La-Ola-Wellen, die kreisend durchs Stadium ziehen. Im Gegensatz zum Wachzustand ist der Schlaf voll von gemeinschaftlichen Feuermustern der Nervenzellen, die wir kategorisieren können und nach denen wir den Schlaf in Schlafstadien unterteilen. Man könnte sagen: Schlaf ist der Zustand des Gehirns, in dem die Nervenzellen gemeinsam leicht unterscheidbare Rhythmen klatschen.9

Hirnwellen

Jedes Mal, wenn das Publikum nach einem Konzert begeistert applaudiert, werde ich an die Aktivität meines Gehirns erinnert. Klingt ein bisschen nerdig, aber vielleicht geht es Ihnen nach dem Lesen dieses Buchs auch so. Denn Nervenzellen sind wie applaudierende Zuschauer. Ob Sie applaudieren oder nicht, hängt stark von Ihrem direkten Umfeld ab. Klatschen Ihre Nachbarn, werden Sie mitgerissen, je entfernter jemand klatscht, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mitklatschen. Besonders fasziniert bin ich, wenn sich am Ende eines Konzertes ein rhythmisches ekstatisches Klatschen entzündet. Wumm – Wumm – Wumm. Etwa ein Klatscher pro Sekunde. Es ist unfassbar, aber genauso verhalten sich die Nervenzellen unserer Großhirnrinde im Tiefschlaf. Sie klatschen gemeinschaftlich mit ungefähr einem Schlag pro Sekunde (1 Hertz). Hirnoszillationen oder Hirnwellen sind das gemeinschaftliche rhythmische Klatschen (Feuern) von mehr als 10.000 Nervenzellen.

Rhythmusgymnastik im Schlaf

Die ersten regelmäßigen Hirnwellen, die Hans Berger damals mit seinem Elektroenzephalografen maß, hatten einen Rhythmus von acht bis 13 Schlägen pro Sekunde. Weil es die ersten Hirnwellen waren, die er sah, nannte er sie Alpha-Wellen. Sie treten vor allem beim entspannten Sitzen mit geschlossenen Augen auf, und auch während des ersten Schlafstadiums (N1), das mit Dösen gleichzusetzen ist. Je wacher das Gehirn, desto schneller die Rhythmen. Bei hoher geistiger Konzentration kommunizieren die Nervenzellen mit über 40 Schlägen pro Sekunde (Gamma-Wellen). Je schläfriger, desto langsamer. Das zweite Schlafstadium N2 zeichnet sich durch das Auftreten von sogenannten K-Komplexen aus. Das sind einzelne gemeinsame Schläge vieler Nervenzellen, erste, einzelne Tiefschlafwellen. Im Schlafstadium N3, dem eigentlichen Tiefschlaf, wird dann lang anhaltend im 1-Sekunden-Rhythmus geklatscht. Auf den K-Komplexen wie auch auf den Tiefschlafwellen reiten wie kleine Surfer sogenannte Schlafspindeln. Das sind kleine, zehnmal so schnelle Zwischenwellen, auf die ich im nächsten Kapitel noch genauer eingehen werde.

Tiefschlafwellen

Der Schweizer Schlafforscher Alexander Borbély entdeckte in den 1980er-Jahren, dass die Stärke und Menge der Tiefschlafwellen davon abhängt, wie lange wir zuvor wach gewesen sind.10 Nach einem überlangen, geistig herausfordernden Tag fallen wir in einen besonders tiefen Schlaf mit besonders vielen langsamen Tiefschlafwellen. An ihnen können wir den Schlafdruck abmessen. Ihre Rolle scheint mit der sogenannten homöostatischen Funktion des Schlafes zusammenzuhängen, d.h. mit seiner Aufgabe, den Körper wieder ins stoffliche Gleichgewicht zurückzubringen.

Wenn einzelne Nervenzellgruppenübermüdet sind

Was passiert, wenn einzelne Nervenzellen übermüdet sind? Sie fallen bereits vorzeitig alleine in den langsamen 1-Sekunden-Feuer-Rhythmus. Schlaf kann also auch lokal in unserem Gehirn auftreten, während der Rest des Gehirns noch leidlich wach ist. In einem wegweisenden Experiment maß der Wissenschaftler Vlad Vyazovskiy die Hirnaktivität übermüdeter Ratten, während diese einen Hebelmechanismus drückten, um an ein Futterstückchen zu gelangen.11 Fielen während der Aufgabe einzelne Nervenzellgrüppchen aufgrund von Übermüdung in den Tiefschlafmodus, gelang es den Ratten nicht, den einfachen Hebelmechanismus zu bedienen. Der Schlaf einzelner Nervenzellgruppen aufgrund von Übermüdung, während wir noch wach und bei Bewusstsein sind, lässt unsere Handlungen fahrig und unpräzise werden. Wir machen Fehler und vergessen, was wir eigentlich tun wollen. Bei Menschen lässt sich in übermüdeten Hirnregionen langsam-wellige Theta-Aktivität messen (5–9 Schläge pro Sekunde).12 Wenn wir anschließend in den Schlaf fallen, zeigen sich in den übermüdeten Regionen verstärkt langsame Tiefschlafwellen.

Unser Gehirn ist auch in der Lage, lokal tiefer zu schlafen, wenn einzelne Teile während des Tages besonders intensiv genutzt wurden. Nach intensiven Fingerübungen, wie beispielsweise nach stundenlangem Klavierspielen, treten solche Tiefschlafwellen vermehrt im rechten Parietallappen auf, der für die Fingermotorik von großer Bedeutung ist.13 Im Gegensatz dazu bewirkt eine Ruhigstellung des Armes durch eine Schiene eine Verminderung der Tiefschlafwellen im für Bewegungen zuständigen Bereich des Gehirns, dem sensomotorischen Kortex.14

Schlaf in der Petrischale

Langsamwellige Hirnaktivität scheint so etwas wie der Grundzustand von Nervensystemen zu sein. Lässt man junge Nervenzellen im Labor in einer Nährlösung wachsen, zeigen sie nach ein paar Tagen gemeinschaftliche An-Aus-Feuermuster im 1-Sekunden-Rhythmus.15 Es scheint, als würden die Nervenzellen eine Art Testsignal nutzen, um ihre Verbindungsstärke zu testen und einzustellen.

Ähnlich tritt langsamwellige Hirnaktivität nach großen Hirnschäden auf, beispielsweise nach Verkehrsunfällen oder Schlaganfällen. Je größer die geschädigten Bereiche, desto mehr Teile des Gehirns verharren im langsamen 1-Sekunden-Rhythmus. Nach meiner persönlichen Interpretation senden die Nervenzellen Testsignale, bis sich wieder eine normale Hirnaktivität entwickelt hat.

Zuckende Augen im Schlaf – die Entdeckung des REM-Schlafs

Erst 20 Jahre nach der Erfindung des Elektroenzephalografen (EEG) durch Hans Berger kam man dem letzten Schlafstadium auf die Schliche, dem sogenannten Rapid-Eye-Movement-Schlaf, kurz: REM-Schlaf. Er bezeichnet eine Phase, während der die Augen hinter den geschlossenen Lidern wild hin und her wandern.

Warum brauchte es so lange für diese Entdeckung? Ganz einfach: Die Hirnaktivität im REM-Schlaf unterscheidet sich nur minimal vom Wachzustand. Die ersten Wissenschaftler, die den Schlaf mittels EEG untersuchten, vermuteten zunächst, dass die Testperson, die im Nebenraum verkabelt im Bett lag, für eine kurze Periode aufgewacht sei. Erst die zuckenden Augen seiner schlafenden kleinen Nichte bewegten den Entdecker Nathaniel Kleitman dazu, genauer hinzusehen und den Augenbewegungen im Schlaf Aufmerksamkeit zu schenken.16 Die Forscher trauten ihren Augen nicht, als sie bei einer erneuten vermeintlichen Wachperiode den Testschläfer im Nebenzimmer selig schlafend fanden, während seine Augen unter den Lidern wild hin und her zuckten. Wecken ließ er sich dennoch nicht leicht. Keine Spur von Wachphase oder leichtem Schlaf. Aufgrund dessen wird der REM-Schlaf auch paradoxer Schlaf genannt. Unser Gehirn scheint wach, während unsere Muskeln schlaff sind und wir tief und fest schlafen.

Der REM-Schlaf ist der Grund dafür, dass wir bei Schlafuntersuchungen im Labor heute nicht nur den Kopf verkabeln, sondern ebenfalls die elektrische Muskelaktivität der Augen- und der Kinnmuskeln messen. Im phasischen REM-Schlaf zucken die Augen hin und her, während die restliche Muskulatur, inklusive der des Kinns, erschlafft. Mehr noch, sie ist gelähmt. Im Hirnstamm wird in dieser Schlafphase jegliche Muskelaktivität geblockt – möglicherweise, damit unser Gehirn im wachähnlichen Zustand nicht seine Träume ausleben kann, die während des REM-Schlafs besonders lebhaft sind. Was passiert, wenn diese eingebaute Muskelparalyse einmal versagt, erfahren Sie später im Kapitel über REM-Schlafverhaltensstörungen. Als kleiner Vorgeschmack: Wir verhalten uns in etwa so wie Katzen mit einer Schädigung dieser kleinen Hirnregion.17 Während des Schlafes erheben sie sich mit geschlossenen Augen, ihr Fell sträubt sich, sie fauchen, formen einen Buckel, springen, kämpfen gegen einen unsichtbaren Angreifer oder jagen unsichtbare Mäuse.

Als Nebenprodukt zuckt unser Körper im REM-Schlaf auch mal häufiger. Vielleicht die ein oder andere Bewegung, die die Blockade im Hirnstamm überwindet. Bei Kleinkindern treten diese Zuckungen sogar in koordinierten Mustern auf. Möglicherweise als geheimes Testprogramm, um die Verbindungen zwischen Hirn und Muskeln in einem ruhigen Moment zu überprüfen und zu verstärken.18

Was die Morgenlatte mit unseren Träumenzu tun hat

Nicht nur Muskeln werden im Schlaf getestet, sondern auch unsere Durchblutung, insbesondere die der für die Fortpflanzung notwendigen Organe. Die sprichwörtliche Morgenlatte, bei Frauen eine ungleich besser zu verbergende geschwollene Klitoris, sind Zeugnisse des REM-Schlafes, der vor dem Klingeln des Weckers Besitz von unserem Körper ergriffen hat. Während der REM-Schlafphasen treten häufig Erektionen auf, bei Männern drei- bis fünfmal pro Nacht. Sie sichern eine gute Sauerstoffversorgung des Penisgewebes und wirken dem Alterungsprozess entgegen. Ein nächtliches Jogging für das wichtigste Stück des Mannes sozusagen. Mit erotischen Träumen oder gar verdrängten Sehnsüchten haben die Erektionen während des traumreichen REM-Schlafes hingegen nichts zu tun.19 Passend dazu steigen während dieser Zeit Puls und Atmung an. Die Messung der Zahl der Erektionen während der Nacht mittels einer speziellen Ringelektrode ist ein hilfreicher Test bei der Suche nach der Ursache einer Impotenz. Treten Erektionen nachts weiterhin auf, handelt es sich nicht um ein rein körperliches Problem.

Mit dem Schlafphasenrechner denAufwachzeitpunkt optimieren?

Leichtschlaf (N1 und N2) und Tiefschlaf (N3) werden als NonREM-Schlaf zusammengefasst und wechseln sich mit dem REM-Schlaf innerhalb eines etwa 90-minütigen Schlafzyklus ab. In der ersten Nachthälfte verbringen wir mehr Zeit im Tiefschlaf (N3), in der zweiten Nachthälfte mehr Zeit im REM-Schlaf. Die ersten auftretenden REM-Phasen sind häufig nur 5–10 Minuten lang, am Ende der Nacht dauern sie dann gut und gerne 20 Minuten.

Mein Bruder erzählte mir kürzlich begeistert, er würde ab jetzt seinen Schlafbeginn immer so legen, dass er genau nach einem Vielfachen von 90 Minuten von seinem Wecker geweckt würde. Er entscheide sich also für sechs oder siebeneinhalb Stunden Schlaf, um genau am Ende einer Schlafphase aufzuwachen. Leider musste ich ihn enttäuschen. Jeder Jeck ist anders, wie es in Köln heißt, das gilt auch für die Länge der Schlafzyklen. Sie dauern individuell und je nach Tagesform zwischen 80 und 110 Minuten und sind somit weit entfernt von einem regelmäßigen Uhrwerk, anhand dessen sich der optimale Aufwachzeitpunkt ermitteln ließe. Gönnen Sie sich so viel Schlaf wie möglich und nötig, anstatt sich auf einen speziellen Aufwachzeitpunkt zu konzentrieren. Am besten ist es, so viel zu schlafen, dass der Körper von selbst aufwacht! Falls man sich den Beginn seiner Arbeit nicht aussuchen kann, halte ich mehr von einem Lichtwecker, der einen sanft weckt, indem er Licht durch die Augenlider scheinen lässt. Das wird einen nicht aus den tiefsten Träumen herausreißen und den Weckvorgang angenehmer gestalten.

Ist der Schlaf vor Mitternacht der beste?

Es ist übrigens unwesentlich, wann Sie nachts in den Schlaf fallen. Wenn Sie müde zu Bett gehen, wird in der ersten Nachthälfte vermehrt erholsamer Tiefschlaf auftreten, ganz egal, ob Sie nun vor oder nach Mitternacht in die Federn steigen. Für die, die bereits um 22 Uhr zu Bett gehen, ist der Schlaf vor Mitternacht somit tatsächlich der beste, denn im ersten Schlafzyklus haben wir für gewöhnlich den meisten Tiefschlaf. Dieser ist besonders wichtig für die Regeneration des Gehirns und des Körpers. Welche Rolle die unterschiedlichen Schlafphasen spielen und welche Prozesse im Schlaf ablaufen, werde ich in den folgenden Kapiteln genauer erläutern.

2 Im Halbschlaf

Von Hunden sagt man, sie würden im Schlaf stets mit einem Auge Wache halten. Das ist wahrscheinlich ein Märchen. Hunde und Menschen zeigen die gleichen Schlafstadien und schlafen mit beiden Gehirnhälften und gleichzeitig geschlossenen Augen. Vielleicht würden sich in dieser Hinsicht Delfine besser als Wachhunde eignen, denn von Delfinen ist nachweislich bekannt, dass sie mit nur einer Gehirnhälfte schlafen können.20 Meeressäuger wie Delfine, Wale und Seehunde stammen evolutionär von den Landsäugern ab und sind erst nachträglich wieder ins Meer als Lebensraum zurückgekehrt. Dumm nur, wenn man für das Leben an Land eine Lunge entwickelt hat, die einen dazu nötigt, in regelmäßigen Abständen an die Wasseroberfläche zu kommen, um Luft zu holen. Darunter leidet der Schlaf. Diese Tiere können nicht einfach wie Fische bequem mit den Kiemen atmen, während sie an einem Ort ruhig verharren oder sogar auf dem Meeresgrund liegen.

Delfine mussten also ihren Schlaf dem Leben im Meer anpassen und entwickelten dazu den Halbseitenschlaf: Sie schlafen abwechselnd mit je einer Hirnhälfte und können so mit der wachen Hälfte Atmung und Schwimmverhalten koordinieren. Allerdings eignet sich nur der Non-REM-Schlaf dafür, halbseitig geschlafen zu werden, beim REM-Schlaf hingegen muss immer das ganze Gehirn schlummern. So stellt der REM-Schlaf Delfine vor ein besonderes Problem, denn im REM-Schlaf würden sie ihre Muskelkraft verlieren und auf den Boden des Meeres niedersinken. Um nicht zu ertrinken, verbringen Delfine deshalb nur äußerst wenig Zeit im REM-Schlaf und dies auch nur in zerstückelten kurzen Perioden.

Einseitiger Schlaf als Schutz vor Angreifern

Nicht nur Delfine vermögen mit nur einer Hälfte des Gehirns zu schlafen. In Gruppen schlafende Stockenten schließen, wenn sie die Außenposition erwischt haben, nur das Auge, welches nach innen schaut.21 Mit dem äußeren Auge halten sie Wache. Die für das geschlossene Auge zuständige gegenüberliegende Gehirnhälfte hat Pause und darf schlafen. Doch der Schlaf mit beiden Hirnhälften wird dem mit nur einer Hirnhälfte bevorzugt: Enten im Inneren des Kreises schließen beide Augen und schlafen mit beiden Hirnhälften. Um diese Ungerechtigkeit auszugleichen, wechseln sich die Mitglieder einer Gruppe innerhalb einer Nacht ab. Die Enten aus dem Kreisinnern watscheln dann nach außen, sodass alle einmal entspannt mit beiden Seiten schlafen dürfen. Offenbar entwickeln Tiere die Fähigkeit, einseitig zu schlafen, nur unter widrigen Umständen. Wer sich nun also wünscht, mit einer Gehirnhälfte schlafen zu können, um mit der anderen weiterhin auf Facebook zu chatten, dem sei gesagt, dass er wahrscheinlich in Folge einer solchen Anpassung länger schlafen müsste und trotzdem nicht richtig ausgeschlafen wäre. Dann doch lieber mit beiden Hälften effizient durchschlafen!

Schlaf im Flug

Was machen nun Vögel wie der Mauersegler, die vermutlich bis zu 300 Tage am Stück in der Luft bleiben? Mauersegler steigen abends bis in 2500 Meter Höhe und bauen somit einen Puffer auf, falls sie doch einmal während eines Kurznickerchens die Kontrolle über den Flugapparat verlieren sollten. Auf dieser Höhe sollte ein Blindflug keine allzu große Gefahr darstellen. Zudem eignet sich der Non-REM-Schlaf, um weiterhin stereotyp mit den Flügeln zu schlagen. In den Genuss des REM-Schlafs mit einhergehender Muskelentspannung kommen die Mauersegler vermutlich während der kurzen Gleitphasen. Möglicherweise können sie wie Huftiere im REM-Schlaf ihre Gelenke einschnappen lassen, um auf diese Weise die Gleitphasen für REM-Powernaps zu nutzen. Vögel unterteilen generell ihre Schlafperioden in sehr kleine Zeitfenster. Non-REM-Phasen dauern für gewöhnlich nicht länger als ein paar Minuten, REM-Schlaf-Episoden sind auf durchschnittlich zehn Sekunden beschränkt. Dennoch bleibt der luftige Schlaf der Vögel noch ein Mysterium.

Von Zugvögeln, die im Winter in südlichere Gebiete ziehen, nimmt man an, dass ihre keilförmigen Flugformationen dem Schlaf dienen könnten. Denkbar ist, dass sie wie die Enten das nach innen blickende Auge schließen, um während des mehrtägigen Fluges mit der gegenüberliegenden Gehirnhälfte zu schlafen. Das böte eine Erklärung dafür, wie sie die überaus großen Flugdistanzen über mehrere tausend Kilometer überhaupt bewältigen können.

Mittlerweile ist aber auch bekannt, dass Vögel Meister der Schlafreduktion sind. Bindenfregattvögel (Fregata minor), die während dreiwöchiger Perioden nonstop zur Futtersuche über dem Meer fliegen und nie auf Land oder Wasser aufsetzen können, nutzen vor allem im Gleitflug halbseitigen, aber – zum Erstaunen der Forscher – auch beidseitigen Schlaf.22 Dabei beschränken sie ihre Schlafdauer auf eine Dreiviertelstunde täglich. Erreichen sie wieder das Festland, schlafen sie dort bis zu 13 Stunden am Stück, um ihr Schlafdefizit abzubauen. Sie sind also Meister im Wachhalten und Nachschlafen.

Kurzschläfer haben den größten Paarungserfolg

Die Fähigkeit, kurzfristig auf Schlaf zu verzichten, kann auch einen entscheidenden Vorteil bei der Vermehrung bringen. Bei Graubruststrandläufern zeugen diejenigen Männchen die meisten Nachkommen, die während der dreiwöchigen Paarungszeit am effizientesten ihren Schlaf unterdrücken können.23 Die besten unter ihnen reduzieren dabei ihren Schlaf um bis zu 95 Prozent seiner sonstigen Dauer und haben dadurch mehr Zeit für Balztänze, Balzkämpfe und Nahrungsgeschenke, um die Weibchen – eine nach der anderen – zu überzeugen. Der langschlafende Kollege geht dagegen leer aus. Drei Wochen lang wenig zu schlafen und dafür mit möglichst vielen Partnern Kinder zu zeugen, ist eine durchaus interessante Überlebensstrategie.

3 Schlaf mal drüber: Schlafen und Gedächtnis

»Nach müde kommt doof.«

(Volksmund)

Henry Molaison lebte mit seiner Familie in Hartford, Connecticut. Er war gerade zehn Jahre alt geworden, als es begann: Immer wieder war er für einige Sekunden weggetreten. Wenn es vorbei war, schüttelte er sich, als wäre er aus einem kleinen Nickerchen erwacht. Es waren aber keine Sekunden des Schlafes, die er einlegte. Mit 15 wurden die Anfälle stärker. Seine Beine und Arme verhärteten sich, gefolgt von rhythmischen Krampfanfällen. Henry litt unter Epilepsie.

Epileptische Anfälle gehen zurück auf eine Übererregbarkeit einer meist kleinen Gruppe von Nervenzellen im Gehirn. Ausgehend von diesem Herd werden weitere Nervenzellverbände zu einem abnormalen, gleichzeitigen rhythmischen Feuern verleitet. Bleibt die Aktivität weitgehend lokal, tritt lediglich ein unwillkürliches stereotypes Verhalten auf. Breitet sich das rhythmische Feuern der Nervenzellen aber wie eine Lawine über das ganze Gehirn aus, werden alle Muskeln gleichzeitig angesprochen und der Betroffene liegt krampfend am Boden.

Der Mann, der sein Gedächtnis verlor und uns lehrte,wie das Erinnern funktioniert

Traten Henrys Anfälle zunächst nur alle paar Tage auf, hatte er mit Mitte 20 täglich mehrmals mit ihnen zu kämpfen. Einer normalen Tätigkeit konnte der freundliche und hilfsbereite junge Mann nicht nachgehen, obwohl die Dosis seiner Medikamente, die die Anfälle reduzieren sollten, schon grenzwertige Ausmaße angenommen hatte. Am Dienstag, dem 25. August 1953, wurde Henry operiert. Durch zwei Öffnungen über den Augenbrauen entfernte sein Arzt Dr. William Beecher Scoville zwei Drittel der Hippocampi auf beiden Seiten des Gehirns, den vermuteten Ausgangsorten seiner epileptischen Anfälle.24 Die OP war erfolgreich, Henry war für den Rest seines Lebens von epileptischen Anfällen weitgehend befreit. Doch etwas Schlimmeres trat an die Stelle seiner Epilepsie: Ab dem Tag dieser Operation konnte er sich keine neuen Dinge merken. Seine Kindheit lag in seinem Gedächtnis ausgebreitet vor ihm: sein Elternhaus, seine erste Zigarette oder die Erinnerung an einen Rundflug in einem kleinen Propellerflugzeug mit grüner Innenausstattung über seinen Heimatort. Bis zu seinem Tod im Jahr 2008 konnte er detailliert davon berichten, wie er eine Zeit lang den Steuerknüppel halten durfte und die Maschine seinen Bewegungen gehorchte.25 Aber welcher Wochentag es gerade war, was er morgens gefrühstückt hatte, wie seine Pfleger hießen, das konnte er nicht benennen. Beim Blick in den Spiegel war er stets aufs Neue überrascht, einen gealterten Mann vor sich zu sehen statt den 27-jährigen, der er zum Zeitpunkt seiner Operation gewesen war.

Henry Gustav Molaison lehrte die Welt, welche Rolle der Hippocampus für die Gedächtnisbildung spielt. Fällt diese Hirnregion aus, sind wir gefangen im Hier und Jetzt.

Wir sind gelebte Erinnerung

Erinnerung ist für uns etwas Selbstverständliches. Egal ob wir spazieren gehen, essen oder reden, jegliches Verhalten hängt davon ab, was wir einst gelernt haben. Unsere Erinnerungen machen uns erst zu dem, was wir sind. Ein Mensch ohne Geschichte ist ein Niemand. Wir sind das Narrativ unseres Lebens. Wie formiert sich unser Langzeitgedächtnis? Wie wird aus einer Kurzzeit-Erinnerung eine bleibende, das Leben überdauernde Erinnerungsspur?

Durch Henry Molaison haben wir gelernt, dass Erinnerung nicht an einem einzigen begrenzten Punkt unseres Gehirns sitzt, sondern an vielen unterschiedlichen Orten und dass sie im zeitlichen Verlauf auf unterschiedliche Orte angewiesen ist: Zunächst braucht es den Hippocampus, später übernimmt die Großhirnrinde das vorwiegend alleine. Dem Schlaf kommt nach aktuellem Kenntnisstand bei der Umverteilung und Festigung des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle zu. Die meisten Erinnerungen werden vermutlich erst durch den Schlaf wirklich nützlich.

Dialog zwischen Hirnrinde undHippocampus im Schlaf

Um frische Erlebnisse dauerhaft in unserem Gedächtnis zu festigen, läuft während des Schlafens eine Folge von fein abgestimmten Prozessen ab. Im Hippocampus von Mäusen und Ratten findet man sogenannte Ortszellen (Place-cells26).27 Diese Zellen feuern immer genau dann, wenn ihr Träger an einer bestimmten Stelle seiner Umgebung, zum Beispiel einer Ecke eines Labyrinths, entlangläuft. Dabei feuert jede Zelle bevorzugt an einer anderen Stelle des Labyrinthes, sodass im Hippocampus eine Karte der Umgebung entsteht. Bei der Erforschung dieser Place-cells machte der Amerikaner Matt Wilson per Zufall eine bahnbrechende Entdeckung: Als er einmal vergessen hatte, die Apparatur zur Aufnahme der Hirnaktivität auszuschalten, stellte er am nächsten Morgen überrascht fest, dass dieselben Zellen, die während des Erkundungsganges durch das Labyrinths aktiv gewesen waren, während des anschließenden Schlafes im selben Muster gefeuert hatten. Er konnte mittels der Elektroden, die im Gehirn der Ratte implantiert waren, förmlich sehen, welche Stellen des Labyrinthes die Ratte im Schlaf besucht hatte.28 Noch wichtiger aber war die Entdeckung, die er ein paar Jahre später machen sollte. Diesmal untersuchte Wilson nicht nur die Aktivität der Nervenzellen im Hippocampus, sondern gleichzeitig die der Großhirnrinde, in der die Langzeiterinnerungen gespeichert werden. Und siehe da, die beiden Hirnbereiche feuerten im Schlaf fein aufeinander abgestimmt.29 Der Hippocampus schien die Hirnrinde dazu anzuregen, im selben Muster zu feuern wie während des vorausgehenden Erkundungsganges. Mit einem kleinen Unterschied: Die Aktivität der Nervenzellen im Schlaf lief im Zeitraffer ab, und zwar etwa zwei- bis fünfmal schneller als beim Erkundungsgang im Wachzustand.

An dieser Stelle kommen die langsamen Hirnwellen des Tiefschlafs ins Spiel. Jede dieser Tiefschlafwellen, die die Nervenzellen der Hirnrinde durch synchrones Feuern hervorbringen, bietet eine Phase erhöhter Erregbarkeit, etwa so wie jede Welle im Meer für einen Surfer die Möglichkeit zum Lossurfen bietet. Die Nervenzellen des Hippocampus nutzen die Anstiege vor den Wellengipfeln, sie feuern immer dann mit sogenannten Hippocampal-sharp-wave-ripples, kurz bevor in der Hirnrinde ein Gipfel der Erregung erreicht wird. Um das Zusammenspiel zu optimieren, spielt eine weitere Hirnstruktur, der sogenannte Thalamus, einen Zwischentakt ein, sogenannte Schlafspindeln. Da die Nervenzellen des Hippocampus mit ungefähr 100 Schlägen pro Sekunde feuern, die Erregungswellen der Hirnrinde dagegen nur mit einem Schlag pro Sekunde, bieten die Schlafspindeln des Thalamus mit 10 Schlägen pro Sekunde ein optimales Raster, das dabei hilft, die Signale des Hippocampus passgenau an der Erregungsfähigkeit der Hirnrinde auszurichten.

Der Thalamus fungiert hier als Taktgeber fürs Gehirn. Wenn verschiedene Stellen miteinander sprechen, dann braucht es einen, der die Funkfrequenz ansagt. Dank seiner Vermittlung kann der Hippocampus immer dann, wenn wir in den Tiefschlaf fallen, Erlebnisse des Tages wieder aufrufen und damit festigen. Diese Reaktivierung ist essenziell, um neue Gedächtnisinhalte in das bestehende Gedächtnissystem der Hirnrinde zu integrieren.30

Der Hippocampus: Zugang zu frischen Erlebnisspuren

Etwas zu erinnern, bedeutet, dass in unserem Kopf das entsprechende Feuermuster von Nervenzellen erneut abläuft, vergleichbar einer Lichterkette an einem Weihnachtsbaum, an der einzelne Kerzengruppen nach einem bestimmten Muster an- und ausgehen. Der Hippocampus scheint beim ersten Erleben den Zugang zu solch einem Muster zu speichern. Er merkt sich schnell, welche Hebel er in Bewegung setzen muss, damit zur erneuten Erinnerung bei den richtigen Nervenzellgruppen in der gleichen Reihenfolge die Lichter angehen. Damit ermöglicht er uns, die Frage zu beantworten: »Was habe ich vor zwei Stunden, gestern oder vorgestern erlebt?« Die Hirnrinde hingegen ist erst durch häufiges Wiederabspielen in der Lage, von sich aus in eine bestimmte Feuerungskonstellation von Nervenzellen hineinzufinden. Sie ist auf den Impuls des Hippocampus angewiesen, damit im Schlaf für uns als wichtig markierte Erlebnisse durch wiederholtes Abspielen verfestigt werden.

Der Hippocampus ist sozusagen der Notizblock des Gehirns. Ständig wird auf ihm herumgekritzelt, wichtige Namen, Orte und Ereignisse werden notiert. Er ist eine der plastischsten Hirnregionen, denn ständig müssen Nervenverbindungen umgeformt, neu gebildet oder abgebaut werden. Wahrscheinlich altern die Nervenzellen des Hippocampus schneller durch diese ständigen Umbaumaßnahmen und müssen ab und an ersetzt werden. Zumindest ist der Hippocampus neben unserem Riechkolben die einzige Hirnregion, für die ständig neue Nervenzellen gebildet werden. Gleichzeitig besteht bei einem Austausch der Nervenzellen im Hippocampus nicht die Gefahr, bestehende Gedächtnisinhalte des Langzeitgedächtnisses zu schädigen. Auch nach einem fast vollständigen Verlust des Hippocampus konnte sich Henry Molaison an die Zeit vor seiner Operation gut erinnern.

Bei Alzheimerpatienten ist insbesondere der Hippocampus vom Absterben der Nervenzellen betroffen. Deshalb fehlt diesen Menschen zunächst die Erinnerung daran, was sie vor ein paar Stunden oder am Vortag getan haben, sie verlieren den Bezug zu ihrer Gegenwart, nicht ihre Vergangenheit. Sie ähneln in erheblichem Maße Henry Molaison: Ihre Kindheitserinnerungen bleiben ihnen sehr lange erhalten.

Im Schlaf Erinnerungen manipulieren

Wenn im Schlaf Erinnerungen in die Hirnrinde integriert werden, ist das ein Vorgang, bei dem unsere Erinnerungen verwundbar sind. Es ist wie in der Schule: Passieren beim Abschreiben Fehler, dann wird es trotz des schlauen Banknachbarn nichts mit der guten Note. Wahrscheinlich ist das auch ein Grund dafür, warum wir im Schlaf das Bewusstsein verlieren müssen. Beim Wiederabspielen der Erinnerungen dürfen keine neuen Erlebnisse in die Quere kommen und die Vergangenheit verfälschen. Dass man im Schlaf leicht die Erinnerungen manipulieren kann, zeigte erst kürzlich der französische Hirnforscher Karim Benchenane mit seinem Team.31 Die Forscher hatten Mäuse zunächst in einem Labyrinth nach Futter suchen lassen. Während des Schlafes beobachteten sie über das Feuerungsmuster der Place-cells im Hippocampus, an welcher Stelle des Labyrinthes sich die Mäuse gerade befanden. Kam die Maus im Schlaf an einem bestimmten Ort des Labyrinthes vorbei, an dem im Experiment zuvor kein Futter zu finden war, stimulierten die Forscher ihr Belohnungszentrum, das sonst nur an den Stellen aktiv wurde, an denen die Maus tatsächlich Futter gefunden hatte. Nach dem Aufwachen liefen die Mäuse direkt zu der im Traum künstlich belohnten Stelle. Die Forscher hatten das Gedächtnis der Mäuse im Schlaf erfolgreich manipuliert.

Mit Düften das Gedächtnis im Schlaf verbessern

Könnte man denn den Dialog zwischen Hippocampus und Hirnrinde im Schlaf gezielt fördern, also Erinnerungen absichtlich auslösen und damit verfestigen? Ja, man kann! Der Schlafforscher Jan Born und sein damaliger Doktorand Björn Rasch konnten nachweisen, dass der gezielte Einsatz eines Dufts während des Schlafens das Wiederabspielen von Erinnerungen stärken kann.32 Probanden, denen während einer Memory-Lernaufgabe zarter Rosenduft in die Nase stieg und denen in den darauffolgenden Tiefschlafphasen gezielt Rosenduft in die Nasenlöcher geleitet wurde, waren nach dem Aufwachen beim Wiederholen der Lernaufgabe um 10 Prozent erfolgreicher als eine Kontrollgruppe, die ohne Duft geübt und geschlafen hatte. Der Duft löste im schlafenden Gehirn eine Erinnerung an die Lernaufgabe aus.

Gerüche eignen sich besonders gut als ein Hintergrundreiz, denn unsere Hirnrinde hat sich im Laufe der Evolution aus dem Riechhirn entwickelt. Wir denken hauptsächlich mit dem Teil des Gehirns, der früher allein für die Verarbeitung von Gerüchen zuständig war. Geruchsinformationen gelangen daher direkt in die Hirnrinde und in den Hippocampus, ohne vorher von anderen Hirnregionen wie dem Thalamus vorverarbeitet oder gefiltert zu werden. Zudem wecken uns Gerüche in den seltensten Fällen auf, im Gegensatz zu Tönen, mit denen ein solches Experiment aber auch möglich ist.33

Sollte man also Vokabeln am besten neben einer Duftkerze lernen, die dann die ganze Nacht über brennt? Eher nicht. Zum einen liegt der zusätzliche Lernerfolg nur bei rund 10 Prozent, zum anderen muss man den Duft gezielt, allein in den Tiefschlafphasen, in die Nase wehen lassen. Bei konstantem Raumduft adaptiert unser Riechsinn schnell und nimmt diesen bereits nach einigen Minuten gar nicht mehr wahr. Das ist der Grund, warum uns der Mief im Schlafzimmer erst auffällt, wenn wir morgens aus dem Badezimmer zurückkommen. Der charakteristische Geruch unserer Ausdünstungen baut sich schleichend in der Nacht auf, sodass sich unser Gehirn daran gewöhnt und ihn als solchen nicht bemerkt.

Dass es sich auch hier nicht nur um ein Phänomen des menschlichen Schlafs, sondern um ein generelles Phänomen bei allen Tieren handelt, zeigt eine Studie an Honigbienen aus Berlin. Auch bei ihnen führte ein Hintergrundduft, der sowohl während der Lernphasen als auch im Tiefschlaf ausgesandt wurde, dazu, den Lerneffekt zu verstärken.34

Dem Gehirn im Schlaf den richtigen Schubs verpassen

Ein anderer Versuch, den Dialog zwischen dem Hippocampus und der Hirnrinde zu verstärken und das Lernen im Schlaf zu fördern, konzentriert sich auf die Tiefschlafwellen. Die Nervenzellen des Hippocampus feuern ja, wie beschrieben, gezielt in den Momenten, in denen sich auf der Gehirnoberfläche die Tiefschlafwellen einstellen. Wenn man nun die Tiefschlafwellen verstärken könnte, müsste sich doch auf diese Weise der Lernerfolg steigern lassen. Genau mit dieser Idee beschäftigte sich ein weiterer Doktorand von Jan Born, Hong-Viet Ngo, und entwickelte eine Methode, die Tiefschlafwellen zu verstärken. Die Idee dahinter klingt ebenso einleuchtend wie banal. Schubst man ein Kind auf einer Schaukel genau im richtigen Moment an, schwingt es anschließend höher und länger, bis es den nächsten Schubs braucht. Die Wellen der Hirnrinde lassen sich gleichermaßen hochschaukeln, indem man im richtigen Moment einen kurzen Ton im Rhythmus der feuernden Hirnzellen einspielt. Der weniger banale Part an dem Experiment besteht allerdings darin, ein Computerprogramm zu schreiben, welches die Hirnwellen aus den EEG-Elektroden abliest und den Ton innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die Kopfhörer des Schlafenden gibt. Wann stößt man eine Schaukel an? Am besten am höchsten Punkt. Also wurde auch der kurze Ton mit einer Länge von 0,05 Sekunden genau zum Zeitpunkt der höchsten Erregbarkeit der Tiefschlafwellen abgespielt. Studierende, die vor dem Schlafen 120 Wortpaare auswendig gelernt hatten und deren Tiefschlafwellen zusätzlich angestupst wurden, konnten sich nach dem Schlafen an neun Wortpaare mehr erinnern als die Vergleichsgruppe, die keine Tiefschlafstimulation erfahren hatte.

Mittlerweile bietet ein großer Elektronikhersteller ein Stirnband zur Tiefschlafverstärkung an. Man darf jedoch bezweifeln, ob es hält, was es verspricht. Erst kürzlich konnten Züricher Schlafforscher zeigen, dass eine Stimulation im falschen Moment sogar einen gegenteiligen Effekt auf die Gedächtnisfestigung im betroffenen Hirnareal haben kann. Das wirkt dann etwa so, als wenn man die Schaukel mitten im Schwung mit einer Gegenbewegung abrupt stoppt.35 Und noch etwas ist wichtig: Die Einschlafzeit oder das Durchschlafen kann solch ein Gerät nicht verbessern. Wenn aufgrund von Stress weniger Tiefschlafwellen auftreten, können auch nur wenige Wellen verstärkt werden. Die Technik steckt noch in den Kinderschuhen und es wird einige Jahre dauern, bis sie ausgereift ist und ihre Wirksamkeit von unabhängigen Wissenschaftlern getestet wurde.

Neue Einblicke durch Schlaf

Schlaf dient aber nicht nur dem bloßen Einbimsen von Wissen mittels stupider Wiederholung. Nein, er führt uns sogar zu neuen, tiefgründigen Erkenntnissen über unsere Umwelt. Den Rat, ein, zwei Nächte über eine Sache zu schlafen, sollten wir ernst nehmen, er birgt mehr Wahrheit, als wir denken. Beispiele gefällig? Der Wissenschaftler August Kekulé stieß 1865 unverhofft auf die Struktur des Benzolmoleküls. Es war bereits bekannt, dass das Molekül aus sechs Kohlenstoffen und sechs Wasserstoffen zusammengesetzt sein musste, aber die Anordnung erschien unlogisch. Die Kohlenstoffatome boten viel mehr Bindungsstellen, als die Zahl der vorhandenen Wasserstoffatome verlangte. Mit dieser Fragestellung im Kopf schlummerte er vor dem Kaminfeuer ein. Im Traum formten die Atome Schlangen und eine von ihnen biss sich in den Schwanz. Heureka, das war es! Das Benzolmolekül musste eine ringförmige Struktur besitzen. Wie vom Blitz getroffen, erwachte er aus seinem Traum. Die Struktur des Benzols war gefunden und sollte sich als richtig und wegweisend beweisen. Auf dieser Grundlage wurden alsbald synthetische Farbstoffe produziert, die Bayer und BASF zu Marktführern machen sollten.

Ein Einzelfall? Wohl kaum. Dmitri Mendelejew, der Begründer des chemischen Periodensystems, beschreibt in seinem Tagebuch, wie er 1869 auf die Idee der Anordnung der chemischen Elemente in einem System kam. Während der Arbeit an einem Lehrbuch über die damals 63 bekannten chemischen Elemente schoben sich im Traum wie von Geisterhand geleitet die Elemente an die richtigen Plätze einer Tabelle. Der Schlaf hatte ihm zu einer der größten Entdeckungen der Chemie verholfen. Eines wird an beiden Beispielen klar: Geniale Einfälle ergeben sich aus freigeistiger Kombination bekannten Wissens durch das Hervortreten einer bisher verborgenen Regelhaftigkeit.

Wie ließe sich testen, ob der Schlaf wirklich dazu geeignet ist, uns auf verborgene Regeln aufmerksam zu machen? Der Wissenschaftler Ullrich Wagner ließ Studierende nach einem gewissen Schema aus vorgegebenen Zahlenreihen wieder neue Reihen berechnen.36 Eine etwas langweilige und stupide Aufgabe, in der es im Grunde nur darum ging, die letzten beiden Zahlen einer Reihe richtig einzutragen. Dafür musste man aber zunächst neun andere Zahlen berechnen. Was den Probanden nicht verraten wurde, war eine geheime Abkürzung, mit deren Hilfe sie leichter zu dem Ergebnis gelangen konnten: Aus den Anfangszahlen ließen sich nämlich bereits die Endzahlen ableiten. Nach dem ersten Versuchsdurchgang durfte eine Hälfte der Studierenden eine Nacht schlafen, bevor sie erneut einige Reihen zum Ausrechnen vorgelegt bekamen, die andere Hälfte wurde nach morgendlichem Training am Abend nach einem Tag ohne Mittagsschlaf wieder vor die Aufgaben gesetzt. Über die Hälfte der Personen aus der Schlafgruppe waren morgens besonders schnell mit der Aufgabe fertig. Sie waren auf die Abkürzung, d.h. auf die im Hintergrund schlummernde Regelhaftigkeit, gekommen. Bei der Wachgruppe war es nur jeder Fünfte, dem während des Tages ein Licht aufgegangen war. Im Schlaf verbessern wir also nicht nur unser Gedächtnis, sondern unser Gehirn zieht gleichzeitig intelligente Querverbindungen. Sherlock Holmes muss ein begnadeter Schläfer gewesen sein!

Schlaf schafft Wissen

Wahres Wissen zeichnet sich durch Regelhaftigkeit aus. Angenommen, ich treffe eine Freundin im Park und sie trägt zufälligerweise einen roten Pullover, so ist das Wissen um den roten Pullover für sich genommen relativ unbedeutend. Bedeutung erhält es erst im Kontext von vergangenen und zukünftigen Ereignissen. Nehmen wir an, ich hätte die Freundin bereits die letzten Male mit einem roten Pullover angetroffen, dann ließe sich in Kombination der Ereignisse eine Vorliebe für rote Pullover ausmachen. Wenn ich dann noch weiß, dass die Freundin in der nächsten Woche Geburtstag hat, könnte ich aus diesem Wissen eine kluge Handlungsempfehlung ableiten, indem ich ihr als Geschenk einen farblich passenden Schal oder dergleichen kaufe.

In der Rückschau verblassen genaue Orte, Zeiten und Personen. In unserem Gedächtnis bleibt lediglich eine Quintessenz aus den Dingen haften, die für uns wichtig und bedeutend waren. Aus einem episodischen Gedächtnis darüber, wann wir uns mit wem an welchem Ort getroffen haben, entsteht ein abstrahiertes Bild der Welt, ohne genaue Zeit- und Ortsangaben. Am Ende dieses Buches werden Sie sicher nicht mehr alle Details aus den verschiedenen Kapiteln vor Augen haben. Zurück bleiben ein Grundgefühl und einige zentrale Aussagen, die Sie für sich abgeleitet haben.

Wir gehen heute davon aus, dass dieser Abstraktionsprozess im Schlaf besonders effizient abläuft. Im Schlaf werden all die kleinen und großen Erlebnisse miteinander verknüpft und Regelhaftigkeiten abgeleitet. Würden wir allein aufgrund von Einzelerlebnissen unsere Handlungen ändern, wir drehten uns wie ein Fähnchen im Wind. Nur auf Grundlage von mehrfach erlebten Zusammenhängen lässt sich die Zukunft planen. Im Schlaf verlieren unsere Erinnerungen mit der Zeit ihre Emotionalität, das macht sie rational handhabbar.