Was bin ich wert? Eine Preisermittlung - Jörn Klare - E-Book

Was bin ich wert? Eine Preisermittlung E-Book

Jörn Klare

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Beschreibung

Eine Niere bekommt man in Indien für 300 Euro, ein afrikanisches Adoptivkind »kostet« mit allen notwendigen Papieren 20000 Euro, eine Frau ist in Albanien unter Umständen schon für 800 Euro zu haben. Hieß es nicht immer: Der Mensch ist keine Ware? Tatsächlich werden Menschenleben nicht nur in fernen Ländern ökonomisch bewertet, ihre Monetarisierung hat auch Deutschland längst erreicht: In Krankenhäusern, Behörden und Personalabteilungen denkt man nach über Fragen wie: »Lohnt« sich eine Ampel, wenn man den Wert eines Lebens mit 1,2 Millionen ansetzt? »Lohnt« es sich, ins »Humankapital« der Mitarbeiter zu investieren? »Lohnt« es sich, 75jährigen noch neue Hüften einzusetzen? Doch darf man solche Fragen überhaupt stellen? Ist es legitim, die Würde des Menschen ökonomisch zu relativieren? »Was bin ich wert?«: Mit dieser Frage hat sich Jörn Klare auf eine sehr persönliche Recherchereise ins Reich der Menschenwert-Berechner gemacht. Sie führt ihn auf Ämter und ins Gefängnis, zu Politikern und Philosophen, zu Ärzten und Gesundheitsökonomen, aber auch zu seiner kleinen Tochter. Ganz am Ende steht eine konkrete Zahl, auf Euro und Cent genau. Und die Erkenntnis: Die Würde des Menschen ist antastbar – zumindest wenn es sich »lohnt«.

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Seitenzahl: 340

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Jörn Klare

Was bin ich wert?

Eine Preisermittlung

Suhrkamp

Umschlagfoto: Markus Kluger, aus: pwc – Das Magazin für Vorausdenker. Ausgabe 4/2010

Suhrkamp eBook Berlin 2011

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

2., überarbeitete eBook-ausgabe 2011

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73740-8

www.suhrkamp.de

Für Mascha

1. Der Mensch, sein Wert und ich

Vor ein paar Jahren fing es an. Ich war in Albanien, recherchierte zum Thema Menschenhandel. Ein Mädchen erzählte mir, ihre Schwester sei am Vortag nach Italien verkauft worden. Für 800 Euro. Später reiste ich nach Asien, traf eine Frau in Nepal, die man in ein indisches Bordell entführt hatte. Der »Zwischenhändler« aus ihrem Dorf hatte 300 Dollar für sie bekommen. Ähnliche Geschichten hörte ich im südlichen Afrika. Und in Bolivien erzählte mir eine Mutter von ihrem geraubten Baby, das man für ein paar tausend Dollar zur Adoption in die USA verschleppt hatte.

So lernte ich ganz konkret, daß Menschen nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis haben können.

Dann wurde ich in der Berliner U-Bahn Ohrenzeuge eines Gespräches, das sich um einen kurz zuvor geschehenen Raubmord drehte. Der Täter hatte knapp 100 Euro erbeutet. Die beiden jungen Männer diskutierten über die Summe. Knapp 100 Euro für einen Mord fanden sie unsinnig, lächerlich oder besser gesagt: zu wenig. 10000 Euro, sagte der eine, wäre eine Summe, ab der er die Tat gerade noch nachvollziehen könne. Es klang naiv, nicht bösartig. Doch der andere protestierte. Er bestand auf mindestens 100000 Euro. Und plötzlich ertappte ich mich bei der Frage, ab welcher Summe ich einen Mord nachvollziehen könnte. Ich erschrak und brach das Gedankenspiel beschämt ab.

Zumindest vorläufig. Denn eine Frage, die ich nur aus Entwicklungsländern kannte, war näher gekommen. Fast schon zu nah.

Was ist ein Leben wert? Genauer: Wieviel ist ein Leben wert?

Die Frage ist schwierig, wirkt böse, und sie verfolgt mich. Genauer gesagt, ich begegne ihr immer wieder. Das macht mich nachdenklich.

Zum Beispiel wenn ich lese, Air France müsse den Hinterbliebenen der Opfer eines Flugzeugabsturzes 240000 Dollar für jeden Toten bezahlen. Warum 240000 Dollar? Warum nicht 200000? Oder 500000? Oder 10 Millionen? Oder wenn ein nach unendlichen Lösegeldverhandlungen verzweifelter Kapitän eines von somalischen Piraten entführten Frachters im Spiegel mit der Aussage zitiert wird, er und die Mannschaft könnten nicht glauben, »daß ihr Leben und Leiden weniger wert sei als Geld«. Die Frage müsse doch lauten, wieviel Geld ihr Leben und Leiden wert seien, beziehungsweise wieviel der Reeder bereit sei, dafür inklusive seines Schiffes zu zahlen?

Ich höre von einer Kampagne des Berufsverbands der Frauenärzte, der fragt: »Was ist eine kranke Frau in Deutschland wert?« Dabei dreht es sich, so ist zu vermuten, um die Frage, was Gesundheit und damit eben auch ein Leben in Deutschland kosten darf. Ja, wieviel denn?

»100000 Euro für ein Leben« lautet eine Schlagzeile im Essener Lokalteil der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. In diesem Fall geht es um ein 8jähriges Mädchen aus Mazedonien. Es hat eine dramatische Krebserkrankung und kann nur mit einer Stammzellentransplantation gerettet werden. Die Operation soll 100000 Euro kosten, welche die mazedonische Krankenkasse aber nicht übernehmen will. Und die Familie des Mädchens ist zu arm. Also bittet sie um Spenden. 100000 Euro für das Leben einer Tochter. Werden sie das Geld bekommen?

Ein paar Beispiele nur, doch bei jedem frage ich mich, wie es in diesem Fall wohl um mich stünde. Wären 240000 Dollar angemessen für mich? Wer würde für mich Lösegeld zahlen? Vor allem: wieviel? Und wieviel ist meine Gesundheit wert? Wer würde im Ernstfall für mich wieviel spenden?

Ich bin bei einer anderen Frage angekommen: Was bin ICH wert?

Ich nehme Stift und Papier, versuche eine Bilanz, eine vage Abrechnung meiner Lebensleistungen. Ich habe mal einen Berg bestiegen, der fast 7000 Meter hoch ist, und ich bin auch wieder runtergekommen. Ich kann kochen. Ich telefoniere jede Woche mit meinen Eltern. Ich kann ganz passabel skifahren. Ich habe ein paar gute Freunde. Wenn ich meinen Namen google, finde ich ein paar tausend Einträge. Ich habe kein Auto, kein Haus, keine Yacht und soweit ich mich erinnere auch noch nie einen Baum gepflanzt. Aber ich habe zwei wunderbare Töchter, von denen eine auch noch einen anderen Vater hat. Mit der wunderbaren Mutter bin ich glücklich. Wir teilen Tisch und Bett, Hausarbeit, Erziehungsaufgaben und angenehmerweise auch die finanzielle Verantwortung. Auch davor hatte ich meistens tolle Freundinnen. Für das Selbstwertgefühl eines Mannes ist das nicht ganz unerheblich. Ich kaufe meistens im Bioladen ein und bevorzuge fair gehandelte Produkte. Manchmal spende ich Geld für gemeinnützige Organisationen. Ich habe einen Marathon durchgestanden. Viele der Themen, mit denen ich mich als Journalist beschäftige, haben einen »sozialen Anspruch«. Manchmal bekomme ich Lob von einem Leser oder Hörer. Einmal habe ich auch einen Medienpreis bekommen. Wenn es gut läuft, verdiene ich 3000 Euro im Monat. In Berlin-Kreuzberg ist das viel Geld.

Alles Dinge, die mir ein gutes Gefühl verschaffen. Zumindest ziemlich oft. Nicht immer. Denn auf der anderen Seite sind da die zurückgehenden Haare, der vordrängende Bauch, der überforderte Rücken – kurz: ich bin 46 Jahre alt. Da wird so was schon ein Thema. Ich meine das Selbstwertgefühl. Ich meine die Midlife Crisis. Die ist noch nicht da. Nein. Wahrscheinlich kommt die auch gar nicht. Aber wenn sie vielleicht mal kommen sollte, kann ich sie nicht durch ein neues Cabrio und will ich sie nicht durch eine jüngere Frau verdrängen. Da könnte also ein wohlfundiertes und vielleicht gar monetär gesichertes Selbst-WERT-Gefühl von Vorteil sein. Denn natürlich weiß ich, daß gesellschaftlicher Status, Anerkennung und Wertschätzung sehr oft mit materiellen Fragen, also Besitz und Einkommen verknüpft sind. Wer viel verdient, wird, ob nun in der Bank oder beim Arzt, besser behandelt. So gese-hen könnte sich mein persönlicher Geldwert auch auf meinen persönlichen Selbstwert durchschlagen. Nur eine Hypothese. Aber vielleicht hilft es ja. Nach dem Motto: »Sehr geehrter Herr Hotelportier, ich bin zwar mit dem Bus gekommen, ich besitze auch nur die allereinfachste Kreditkarte, habe lediglich einen alten Rucksack, nehme bloß das billigste Zimmer, ABER – wissen Sie – ich selbst bin eine Million Euro wert!«

Wobei – das nur am Rande – für den teuersten Hund der Welt, eine Tibetdogge, in China angeblich sogar 1,1 Millionen Euro gezahlt wurden.

So oder so, ich meine »Wert« im ökonomischen Sinn, so wie der Begriff ursprünglich verstanden wurde. Seine philosophische Karriere begann erst Ende des 19. Jahrhunderts mit der modernen Axiologie, der Lehre von den moralischen Werten. Die beschäftigt sich mit den Wertungen, die der Mensch vornimmt, mit Wertgefühl, Wertrealismus und den »absoluten Werten«, die eine Kultur prägen und einer Gesellschaft Sinn und Bedeutung geben.

Darum geht es mir nicht. Ich will das trennen, auch wenn ich schon ahne, daß das schwierig werden könnte.

Also: Wieviel Euro bin ich wert?

Meine spontane Antwort lautet »unendlich viel«. Theoretisch, denn praktisch wird das schwierig. Ich habe nicht unendlich viel Geld. Nicht für mich, nicht für meine Familie und auch nicht für ein Mädchen aus Mazedonien. Dann also »alles was ich habe«. Zumindest für mich und meine Familie. Und wenn das nicht reicht? Wo ist Schluß? Keiner, nicht mal Bill Gates oder der deutsche Staat haben unendlich viel Geld.

Die 100000 Euro für das mazedonische Mädchen kamen übrigens innerhalb einer Woche zusammen, und für die 24 Seeleute und ihr Schiff vor Somalia zahlte der Reeder schließlich etwa zwei Millionen Euro Lösegeld. Von daher waren die Seeleute billiger als das mazedonische Mädchen. Sogar wenn man das Schiff nicht mitrechnet. Das kann man natürlich nicht vergleichen. Oder?

Je mehr ich mich mit dem klassischen Bankräuberslogan »Geld oder Leben« beschäftige, desto mehr Fragen drängen sich auf. Was heißt eigentlich »in eine Beziehung investieren«? Kann es zum Beispiel sein, daß es immer weniger anstrengende, kraftraubende Beziehungen gibt? Daß also weniger investiert wird? Oder sollte man sagen: daß klüger investiert wird? Ich meine Zeit, Kraft, Geduld und Energie. Wobei sich zumindest in den Zeiten der expandierenden beruflichen Selbständigkeit Zeit, Kraft, Geduld und Energie leicht in Geld umrechnen lassen. Wer kann oder will es sich noch leisten, langfristig energieraubende Auseinandersetzungen auszutragen, eine amour fou auszuleben? Okay, ein paar gibt es vielleicht noch. Ich kenne nur keine mehr. Das kann aber auch am Alter liegen.

Andererseits fallen mir Situationen auf, in denen ich so was wie den Wert meines Lebens zumindest intuitiv schon längst berechne. Etwa beim Bergsteigen. Das mache ich gern. Früher war ich oft allein unterwegs und habe Sachen gemacht, die für einen Laien, der ich war und immer noch bin, sehr riskant, heute würde ich sagen: äußerst dumm waren. Ich habe Glück gehabt.

Wenn ich heute mit Ski an den Füßen durch die Berge steige, schließe ich mich einem Bergführer an. Das ist recht teuer, verringert aber potentielle Gefahren. Aber – jetzt kommt es – das Geld ist mir mein Leben wert. Also investiere ich ein paar hundert Euro in die Risikoreduktion, die ich mir von der Erfahrung des Bergführers erhoffe. Aber ist mein Leben deswegen nur ein paar hundert Euro wert? Sicher nicht.

Das sind zu viele Fragen. Ich brauche Antworten. Der Entschluß steht fest. Die Projekte, die ich für die nächsten Monate geplant habe, sage ich ab oder verschiebe sie. Ich schreibe eine Liste. Wen könnte ich fragen? Denn abhängig davon, wen ich frage, werde ich, so meine dringende Vermutung, unterschiedliche Antworten bekommen. Aber vielleicht, so meine heimliche Hoffnung, gibt es auch eine Art Gesamtwert, einen Universalpreis, also meinen Universalpreis. Ich notiere Namen von Einzelpersonen und Institutionen. Die Liste ist lang und wird mit der Zeit noch länger. Recht häufig geht es dabei um Fragen der lebensnotwendigen Gesundheit, das heißt um die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die Bewertung von Behandlungsmethoden, die nötigen oder möglichen Einsparungen.

Ich will wissen, was ich wert bin. Ich will Zahlen. Oder noch besser: nur eine Zahl. Und zwar möglichst genau und gern auch möglichst hoch. Das ist wichtig. Es geht ja, ich habe es angedeutet, auch ein bißchen um mein »Selbst-WERT-Gefühl«.

Obwohl – hin und wieder kommt mir ein Zweifel, ein ganz kleiner Zweifel. Will ich es wirklich wissen? Will ich überhaupt einen monetären Wert, einen Preis haben? Und wie wird es sein, wenn ich ihn kenne? Wird dann jede Finanzkrise zur Identitätskrise? Und ist mein Selbstwert inflationsgeschützt?

Doch Zweifel, das ist bekannt, dürfen einen Forscher nicht aufhalten. Im Gegenteil. Und was bin ich anderes als ein Marktforscher in eigener Sache?

Und da ist noch etwas: Ein Verdacht, dem ich auf den Grund gehen möchte. Er betrifft die »Pekuniarisierung« der Gesellschaft, das Vordringen ökonomischer Prinzipien, monetärer Berechnungen und Bewertungen in Lebensbereiche, in denen wir diese Prinzipien gar nicht vermuten würden und vermutlich auch gar nicht wollen. Wenn im Geiste des Neoliberalismus anscheinend alles zur Ware und damit zu Geld gemacht werden kann und auch gemacht werden soll – was bedeutet das dann für den Wert des Menschen?

2. Die erste Rechnung. Eine Warnung

Ich beginne mit einer historischen Rechnung. Es ist, das kann ich jetzt schon sagen, die schlimmste aller möglichen Rechnungen. Man kann sie nicht verdrängen. Ich hatte nicht erwartet, daß sie so detailliert und laienhaft zugleich ist.

Diese Kalkulation wurde im Jahr 1941 von der SS-Führung im Konzentrationslager Buchenwald vorgenommen. Der Kaufkraft einer Reichsmark aus dem Jahr 1939 entsprechen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes etwa 3,70 Euro. 1631 Reichsmark wären demnach 6034,70 Euro.

* Die Abbildung stammt aus dem Buch: Walter Strand, Das KZ-Außenlager Schlieben – Das Verhängnis Tausender Frauen und Männer vor ihrer Befreiung, Herzberg: BücherKammer 2005, S. 52.

3. »Alles was ich habe«, sagt meine Frau

Der erste Weg führt mich zu meiner Liebsten. Wir leben seit zehn Jahren zusammen. Sie sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, ich am Tisch. Vor mir Papier und Bleistift.

–Was bin ich wert?

Sie läßt ihr Buch sinken, schaut mich fragend an.

–Wie?

–Also: Was bin ich dir wert?

Der fragende Blick bleibt, sie überlegt.

–Sehr viel, natürlich.

–Mhm.

–Mhm.

So kommen wir nicht weiter.

–Meinst du, wenn du entführt würdest oder so was?

Genau. Die Richtung stimmt. Tatsächlich war ich als Reporter schon mal in Afghanistan, Pakistan, Kaschmir, Palästina oder in Regionen Südamerikas, wo man so was nicht absolut ausschließen kann.

–Ja, zum Beispiel wenn ich entführt würde.

–Also, mein Leben würde ich nicht für dich geben.

–Okay. Was dann?

–Na, eine Hand vielleicht. Dann könnte ich aber nicht mehr Klavier spielen.

Ich bin gerührt. Es läuft gerade ganz gut bei uns. Ich bin diese Woche mit Kochen dran.

–Und ein Bein auch, glaube ich.

Sie schaut unglücklich und ein wenig zweifelnd. Wahrscheinlich denkt sie gerade an ein Leben mit nur einer Hand und nur einem Bein. Und ich frage mich, welcher Entführer die andere Hand und das andere Bein wohl haben will

–Und was wärest du bereit, für mich zu bezahlen?

Sie schaut weniger unglücklich. Der Gedanke, nur Geld geben zu müssen, scheint sie zu erleichtern.

–Na, wenn du entführt würdest – alles was ich habe!

–Schön.

–Ich würde auch Schulden machen. Wenn es sein muß, bis an mein Lebensende.

Wir schauen uns an. Ein zartes Grinsen. Ich will sie weder zu einem Kassensturz zwingen noch mit einem Entführungsszenario unnötig beunruhigen. Wir wechseln das Thema.

Ihre Antwort beruhigt mich emotional. Rein ökonomisch bleibt sie unklar und somit etwas unbefriedigend. Ich brauche Sachverstand, genauer gesagt ökonomischen Sachverstand. Der ist bei mir und meinen Freunden nicht sonderlich ausgeprägt. Ein Fachmann muß her. Ich finde ihn in meiner Familie. Ein Betriebswirt mit Diplom, Erfahrung und Erfolg.

4.Über Kopfjäger, Märkte, Werte und Preise. Mein Schwager gibt mir eine Einführung in die Betriebswirtschaft

Nach einem Familienessen im Haus meiner Schwiegermutter sitze ich mit meinem Schwager am Kamin. Er ist Manager in einem großen Unternehmen. Er verdient vier-, fünf-, vielleicht auch sechsmal soviel wie ich. Manchmal beneide ich ihn um das viele Geld. Um seinen Job beneide ich ihn nicht. Aber er hat Erfahrungen mit Headhuntern, Personalvermittlern für das gehobene Management, die wirtschaftliche Elite. So ein Kopfjäger sollte eine Vorstellung haben, was das wert ist, was er jagt. Daß die Beute in der Regel gerade für ein anderes Unternehmen arbeitet, ist egal. Es macht die Sache nur spannender. In erster, zweiter und dritter Linie geht es dabei ums Geld.

–Hattest du schon mal mit einem Headhunter zu tun?

–Natürlich.

Mein Schwager, das muß ich an dieser Stelle sagen, ist kein Angeber. Was ich vor allem an ihm schätze, ist seine Offenheit.

–Und wie läuft das?

–Manchmal gibt es einen Anruf. Meistens wenn ich bei der Arbeit bin. Die erste Frage lautet immer, ob ich frei sprechen kann. Ob niemand mithört. Dann geht es sehr schnell darum, ob ich mir vorstellen könnte, den Job zu wechseln. Und eventuell auch, ob ich zu einem Umzug bereit wäre.

Klingt konspirativ. Natürlich habe ich noch nie so einen Anruf bekommen.

–Geht es bei so was nicht auch um deinen Marktwert?

Das, denke ich, kommt meinem Thema schon recht nahe.

–Klar.

Wenn er einen Marktwert hat, dann könnte ich ja vielleicht auch einen haben.

–Und wie läuft das? Welche Tests machen die?

–Keine Tests, nur Fragen.

–Was für Fragen?

–Mein Ausbildung, meine Erfahrung. Aber das wissen die meistens schon, bevor sie anrufen.

–Und dann?

–Dann fragen die mich, wie ich wirke, ob ich konfliktfähig bin, ob ich mich durchsetzen kann. Manchmal soll ich ihnen dafür dann auch Beispiele liefern.

–Und was erzählst du denen dann?

–Die Wahrheit.

Mein Schwager grinst.

–Aber die wollen dann auch Referenzen haben, Leute, die sie anrufen können, um sie über mich auszufragen.

–Ist das ein Problem für dich?

–Nein.

Wieder grinst mein Schwager. Das mit den Headhuntern und dem Marktwert läuft wohl doch nicht ganz so seriös, wie ich dachte.

–Und dann?

–Irgendwann kommt dann so ein Satz wie: So einen Typen wie Sie kann ich da und da hin vermitteln. Und da können Sie dann das und das verdienen.

–Lohnt sich das?

–Ja, das lohnt sich. Bei so einem Wechsel erhöht sich das Gehalt in der Regel um 20, 30 oder auch 40 Prozent.

Es fällt mir schwer, meinen Neid zu unterdrücken.

–Und dieses Gehalt ist dann dein Marktwert?

–Nein.

–Nein?

–Nein. Das ist ja kein freier Markt, und deswegen ist das auch kein Marktpreis.

Mein Schwager ist studierter Betriebswirt. Er ist genau. Man kann ihm nichts vormachen, und blenden lassen will er sich auch nicht.

–Dem Headhunter geht es nicht um meinen Wert. Dem Headhunter geht es um seine Kohle. Die macht er, in dem er mich von A nach B vermittelt. Und er versucht, für mich ein möglichst hohes Gehalt rauszuschlagen, weil er dann auch eine hohe Provision bekommt. In der Regel sind das zwei bis drei Monatsgehälter.

Wenn es keine wirklichen Marktpreise gibt, muß ich auch keinem Headhunter hinterhertelefonieren, um etwas über meinen entsprechenden Wert rauszukriegen. Ich bin ein bißchen enttäuscht, aber auch erleichtert, daß mir diese Demütigung erspart bleibt.

–Sonst noch Fragen?

Mein Schwager sinkt ein wenig tiefer in das bequeme Sofa unserer Schwiegermutter. Eine Frage hätte ich noch.

–Was ist ein Mensch wert?

–In Geld?

–Ja.

–Geht nicht.

Ich bin ein bißchen enttäuscht.

–Ich will’s aber wissen.

–Also wenn man alle ethischen und moralischen Grundsätze über Bord wirft …

–Ja, mach mal!

–Wenn man sich also von den alten Denkmustern befreit …

–Weg mit den alten Denkmustern!

–… dann muß man Kriterien für die Bewertung finden.

Super. So habe ich mir das vorgestellt. Ich komme der Sache näher.

–Man muß genau definieren, um welchen Wert es geht. Und wenn man es dann nicht ideell betrachtet …

–Nein, nicht ideell betrachten!

–… dann gibt es für jeden Wert auch einen Preis. Und der wird in der Regel in Geld bemessen. Oder in Kokosnüssen.

–Keine Kokosnüsse!

–Also: Der Preis einer Ware ist Ausdruck ihres Wertes in Geld. Oder anders: Der Tauschwert einer Ware, in Geld ausgedrückt, ist der Preis.

–Das klingt ein bißchen nach Marx.

Marx habe ich bisher immer eher intuitiv verstanden.

–Egal. Aber um den Wert zu realisieren, brauche ich einen Markt, auf dem es theoretisch eine Preisforderung des Anbieters und ein Preisgebot des Nachfragers gibt. Und aus der Nachfrage, dem Knappheitsverhältnis, also dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage, ergibt sich dann der genaue Preis.

–Der dann den Wert der Ware ausdrückt.

–Richtig.

Gar nicht so schwer, denke ich.

–Und für einen Menschen?

–Brauchen wir noch ein Kriterium, über das man seinen Wert definieren kann.

–Klar. Wir brauchen ein Kriterium.

–Dafür müssen wir aber alle ethischen und moralischen Grundsätze …

–… über Bord werfen.

Das muß ich tun. Ich darf mich jetzt nicht aufhalten lassen.

–Genau. Nehmen wir zum Beispiel mal Blutgruppen. Einige sind seltener. Die sind dann mehr wert.

Während ich versuche, mich an meine Blutgruppe zu erinnern, denkt mein Schwager schon weiter.

–Entscheidend ist das Kriterium, das man zuläßt. Zum Beispiel ob einer schneller rennen kann. Dem Menschen geht es ja immer darum, sich zu messen. Wer schneller rennen kann, ist dann mehr wert.

–Und bekommt dann die besseren Werbeverträge, Startgelder und so weiter. Er wird reicher und angesehener. Und wenn er gedopt ist?

–Darum geht es nicht. Es geht um das Kriterium. Komplizierter wird es zum Beispiel bei Schönheit. Schwer zu definieren, was das genau sein soll.

Das sagt er als Betriebswirtschaftler.

–Aber eine schöne Frau erfährt in der Regel mehr Wertschätzung als eine weniger schöne.

Er grinst wieder.

–Das einzige Kriterium zur Bewertung von Menschen, bei dem es mit der gesellschaftlichen Legitimierung keine Probleme gibt, ist der Arbeitslohn. Eigentlich heißt es, alle Menschen sind gleich.

–Klar.

–Aber Arbeit wird sehr unterschiedlich bezahlt.

–Stimmt.

–Eine Friseuse, ein Arzt, du, ich. Aber wenn man andere Kriterien als den Arbeitslohn nimmt, wird es ganz schnell absurd. Und abwegig.

Er grinst jetzt nicht, er lächelt freundlich. Das Thema ist für ihn beendet. Keine abwegigen Wege mehr. Für mich gilt das nicht. Ich weiß jetzt, wie man Wert bemessen kann. Aber auch, daß es bei Menschen irgendwie nicht geht. Das Problem sind die Kriterien.

Dabei finde ich das mit dem »Wert der Schönheit« sehr interessant. Mir ist ein schönes Lächeln auch lieber als ein häßliches. In der Psychologie spricht man da vom »What-is-beautiful-is-good«-Stereotyp. Ökonomen schätzen, so lese ich, daß schöne Menschen zwischen zehn und 15 Prozent mehr verdienen als nicht so schöne. Das betrifft im übrigen nicht nur die »reine Schönheit«. Laut einer Untersuchung der Universität München verdienen große Menschen mehr als kleine: Pro Zentimeter mehr an Körpergröße sollen 0,6 Prozent mehr Bruttogehalt die Regel sein. Eine wirklich überzeugende Erklärung dafür gibt es allerdings nicht. Interessant sind aber die Studien der Wirtschaftswissenschaftlerin Sonja Bischoff von der Uni Hamburg. Demnach halten ein Drittel der männlichen, aber nur ein Viertel der weiblichen Manager die äußere Erscheinung für karrierefördernd.

Bischoffs Untersuchungen zeigen auch, daß die »Schönheit« in den letzten 20 Jahren an Bedeutung gewonnen hat. 1986 fanden bloß sechs Prozent aller Befragten die äußere Erscheinung wichtig für den Berufseinstieg. 2003 waren es bei Männern und Frauen schon 27 Prozent. Damit überholte die Optik die Bedeutung von Sprachkenntnissen (26,6 Prozent) und war fast ebenso wichtig wie die persönlichen Beziehungen (28 Prozent).

Attraktivität kann man wiederum kaufen. Davon leben die Mode- und die Kosmetikindustrie. Deshalb werden weltweit jährlich über 20 Milliarden Euro für sogenannte Schönheitsoperationen ausgegeben. In Deutschland wurden solche chirurgischen Optimierungen erstmals in den zwanziger Jahren in Berlin populär. Mittlerweile finden laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie jedes Jahr etwa 750000 solcher Eingriffe statt. Eine Preissuchmaschine im Internet beziffert den niedrigsten Preis für eine Nasenkorrektur mit 2200 Euro, ein Facelifting gibt es ab 4200 Euro, eine größere Brust ab gut 3000 Euro, Fettabsaugen am Bauch schon für um die 2000 Euro, eine Schamlippenverkleinerung ab 400 Euro und eine Penisverlängerung für rund 3500 Euro.

Ich könnte also wie viele andere auch in so eine Operation investieren, beispielweise mein Übergewicht mittels Absaugen zumindest kurzfristig besiegen. Da sich diese Wertsteigerung aber nicht wirklich bemessen läßt, wäre so eine Aktion rein ökonomisch fragwürdig. Außerdem habe ich meiner schönen Frau schon mal angedroht, daß ich sie verlasse, wenn sie so einen Blödsinn macht.

Es gibt da aber auch noch einen anderen Preis, der für Schönheit bezahlt wird. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts leiden fast 30 Prozent der deutschen Mädchen zwischen elf und 17 Jahren an Eßstörungen wie Magersucht, Eß-Brech-Sucht oder Fettsucht. Und laut einer US-Studie sind gar 65 Prozent aller Frauen mit ihrem Körper unzufrieden. Das ist nun wiederum alles andere als schön.

5. »Eine tote Oma kommt billiger.« Mißverständnisse bei meiner Versicherungsagentur

Ich habe einen Brief von einer Versicherungsagentur bekommen, bei der ich vor vielen Jahren eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen habe. Der Brief informiert mich darüber, daß ich in Zukunft mit besseren Leistungen rechnen kann – und zwar bei gleichbleibender Prämie. Das finde ich interessant. Soweit ich weiß, geht es bei einer Haftpflichtversicherung unter anderem auch um die Abdeckung von mir verursachter Personenschäden. Das könnte eine Spur sein, eine Antwort auf die Frage nach dem Wert eines Menschen zu finden, vielleicht sogar nach meinem Wert. Ich rufe an. Die Frau von der Agentur möchte mich gern telefonisch beraten. Persönlich ist mir aber lieber. Schließlich geht es um meinen Selbstwert.

Ein paar Tage später klingle ich an der Haustür eines gutbürgerlichen Berliner Mietshauses. Eine junge Frau macht auf. Das Büro im Parterre wirkt ein bißchen wie eine Rumpelkammer. Die Frau holt noch einen jungen Mann dazu. Er ist neu im Geschäft, deswegen soll er gut zuhören und lernen, wie man einen Kunden berät, und vor allem, wie man ihm eine Versicherung verkauft. Beide sind sehr freundlich zu mir. Wir reden über Klassik-Tarife, Single-Tarife und Familientarife. Dann möchten die beiden mit mir eine »Risikoanalyse« machen. Sie fragen, ob ich wilde Tiere besitze. Oder vielleicht einen Öltank. Ich wiederum möchte nicht wissen, wie gefährdet, sondern was ich wert bin. Um das herauszufinden, habe ich mir behelfsmäßig folgende Frage zurechtgelegt:

–Was kostet es, wenn ich jemanden totfahre?

–Mit Vorsatz?

–Ohne.

–Wenn Sie zum Beispiel volltrunken Auto …

–Nein, nüchtern.

Die beiden schauen mich an. Dann schauen sie sich gegenseitig an. Dann schauen sie wieder mich an. Ich glaube, daß sie etwas denken, was sie nicht denken sollen.

–Mich interessiert das nur rein theoretisch, ich hab’s nicht wirklich vor!

Die beiden wirken erleichtert.

–Also, so ganz konkret können wir Ihnen das nicht sagen. Aber es käme schon teurer, wenn Sie einen Familienvater erwischen, als eine Oma, die eine lebensbedrohende Krankheit im Endstadium hat. Das hängt im Zweifelsfall vom Richter ab. Auf Personen bezogen geht es dabei meist um Schmerzensgeld, Heilkosten oder Versorgungsansprüche.

Ich verstehe. Wer einen Schaden verursacht, muß dafür bezahlen. Und wenn ich eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen habe und einen Schaden verursache, zahlt meine Versicherung für mich. Allerdings nur, wenn dieser Schaden durch den Versicherungsvertrag auch abgedeckt ist und ich nicht vorsätzlich gehandelt habe und so weiter. Und wenn es um das Opfer eines von mir verursachten Unfalls geht, wird die genaue Schadenshöhe von einem Gericht bestimmt. Ich nicke. Sie macht weiter.

–Wenn Sie also den Vertrag ihrer Privathaftpflichtversicherung auf acht Millionen umstellen, dann sind wir schon ganz gut versichert.

Acht Millionen Euro sind die vertragliche Obergrenze, bis zu der meine Versicherung die Kosten für von mir verletzte oder getötete Menschen pro Unfall übernimmt.

–Diese acht Millionen würde die Versicherung aber nur zweimal in einem Jahr zahlen. Beim dritten Mal müssen Sie dann selbst ran.

Ich sollte also nicht mehr als zwei Acht-Millionen-Euro-Personenschäden im Jahr verursachen. Die Frau lacht, der Mann auch. Versicherungsagentenhumor.

–Wieso eigentlich acht Millionen, wieso nicht eine oder 100?

Die Frau hört auf zu lachen, guckt mich an, kramt in ihren Papieren. Für die Privathaftpflicht gibt es keine gesetzlich geregelten Mindestdeckungssummen. Bei der Kfz-Haftpflicht, zu der jeder Fahrzeughalter verpflichtet ist, sind aber mindestens 7,5 Millionen Euro für Personenschäden und eine Million Euro für Sachschäden vorgeschrieben.

–Und wir bieten ihnen sogar acht Millionen für Personenschäden im Rahmen ihrer privaten Haftpflicht. In den meisten anderen Ländern sind die Mindestdeckungssummen bei der Kfz-Haftplicht übrigens wesentlich niedriger.

–Wieso? Sind da die Menschen weniger wert?

Blicke von beiden. Dann wieder Lachen. Aber nur kurz.

–Das ist eine anstößige Frage.

Ich verstehe. Andere Länder, andere Sitten. Die deutschen Garantiesummen beruhen auf Erfahrungswerten und reichen »praktisch immer«, sagen die Versicherer. Zumindest im privaten Bereich und zumindest für die Personenschäden. Wer will, kann aber grundsätzlich auch als Einzelperson eine unbegrenzte Schadenshöhe versichern, wenn er bereit ist, die entsprechend höheren Prämien zu bezahlen. Bei der Frage, was ich wert bin, können mir die Haftpflichtversicher also nicht helfen. Aber Moment, wie steht es denn um die Lebensversicherungen? Doch leider ist mein Gesprächstermin hier in der Agentur schon lange überzogen. Und da ich eh nichts kaufen will, möchte ich die Geduld und auch den Humor der beiden Berater nicht überstrapazieren. Aber wer könnte mir weiterhelfen? Die Frau drückt mir ein Kärtchen in die Hand.

–Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft.

Ich bedanke mich. Die beiden scheinen ein bißchen enttäuscht, daß ich keine neue Versicherung abgeschlossen habe. Aber mit so was kann ich mich jetzt nicht aufhalten.

6.Von unendlich bis gar nichts. Meinen Wert bestimme ich selbst, sagen die Versicherer. Ein Besuch bei ihrem Gesamtverband

Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft hat seinen Sitz in der Wilhelmstraße in Berlin-Mitte. Ein siebenstöckiger Bürobau, schmucklose Glasfassade, Konfektionsarchitektur. Am Empfang hängen riesige Hochglanzfotos von Mexiko City, dazu der Slogan, die deutschen Versicherer seien fit für die Zukunft, auch für die Risiken der Mega-Citys. Angeber. Dann weisen sie noch darauf hin, daß auf ihrer Homepage »virtuelle Frauen auf Kundenfragen antworten«.

Eine zum Glück ganz reale Frau drückt mir einen Anstecker mit dem Schriftzug »Besucher« in die Hand und schickt mich mit dem Aufzug in den siebten Stock. Dort wartet bereits eine andere nette Dame, die mich in ein Konferenzzimmer führt. Dort treffe ich auf einen Pressereferenten, der schon weiß, worum es geht, weil ich meine Gesprächsanfrage schriftlich formulieren mußte. Daraufhin hat mich der Referent gleich angerufen und gefragt, ob ich es mit meiner Frage »Was bin ich wert?« tatsächlich ernst meine.

Das Gespräch, das ganze Thema ist ihm offensichtlich unangenehm. Er wolle, sagt er, in kein Fettnäpfchen treten. Dann entwickelt sich ein etwas verkrampfter Dialog um die Frage, welchen Wert ein Mensch aus Sicht der Lebensversicherungen hat. Er sucht dabei nach Worten, scheint über die gefundenen aber nicht immer glücklich zu sein. Auf ein paar Fragen antwortet er mit einem Nicken, am Ende meist nur noch mit einem Seufzer.

Als ich ihn später um die schriftliche Bestätigung seiner, wie ich finde, harmlosen Aussagen bitte, verweigert er die Autorisierung und schreibt statt dessen bestens abgesicherte Sätze wie »Jeder kann sich so hoch versichern, wie er möchte und es ihm möglich ist«. Oder: »Jeder bestimmt für sich ganz individuell die für ihn benötigte Risikoabsicherung«. Und: »Die Summe der Versicherungsprämien drückt lediglich das finanzielle Volumen der vertraglichen Vereinbarungen zwischen Kunden und Versicherung aus.«

Dabei ist alles ganz einfach. Die Lebensversicherer bestimmen nicht den Wert von Menschen. Das macht im Grunde jeder für sich selbst, indem er entscheidet, über welche Summe er sein Leben versichern will. Die Versicherung kalkuliert dann anhand ihrer komplexen Statistiken das entsprechende Risiko und berechnet die Höhe der zu zahlenden Prämie. Die muß dann der Mensch, also der Kunde, auch zahlen können. Basta.

Die durchschnittliche Versicherungssumme bei Risikolebensversicherungen betrug im Jahr 2010 in Deutschland 71900 Euro. Ich besitze keine solche Versicherung. Also habe ich für die Versicherung auch keinen Wert. Im 19. Jahrhundert galten derartige Verträge – man bekommt Geld, wenn einer früher stirbt als erwartet – als »vulgäre Kommerzialisierung des Todes«. Passend dazu musste die Deutsche Bank vor ein paar Jahren Hunderte Millionen Euro Verlust mit extra aufgelegten Fonds einräumen, die im großen Stil Lebensversicherungen hochbetagter Amerikaner aufkauften. Da diese aber länger lebten, als vorausgesagt bzw. von den Anlegern erhofft, ging das Geschäft nach hinten los.

Ich denke noch ein wenig über das Leben nach. Und das Risiko. Und über beides zusammen. Ich lese von verschiedenen Versicherungsrekorden. Von den 3,7 Millionen Euro, für die Claudia Schiffer ihr Gesicht, oder den 100 Millionen Euro, für die Cristiano Ronaldo seine Beine versichern ließ. Bei Mariah Carey sollen die kurzfristig gar mal eine Milliarde Dollar wert gewesen sein. Auch Jennifer Lopez’ Versicherungsmakler muß einen guten Tag gehabt haben, als er Verträge für ihre Haare und ihr Gesicht über jeweils 50 Millionen Dollar, für den Busen über 220 Millionen Dollar und für den – ja tatsächlich – Po über »mindestens« 425 Millionen Dollar abschloß. Was im übrigen bedeutet, daß ihr Hintern Frau Lopez achtmal wertvoller war als ihr Gesicht.

Schätze ich mein Leben weniger hoch ein, wenn ich Risiken eingehe, und sei es nur eine harmlose Bergtour oder die Fahrt in einem öffentlichen indischen Reisebus? Bedeuten diese Risiken, daß mir mein Leben weniger wert ist? Ich zweifle.

Allerdings ist mir mein Leben zu lieb und sicher auch zu wertvoll, als daß ich zum Beispiel als freier Journalist im Irak arbeiten oder auf einem schweren Motorrad ohne Helm fahren würde. Andererseits war ich schon im bürgerkriegsgeplagten Nepal, im von den Taliban regierten Afghanistan und im terrorisierten Kaschmir unterwegs. Und beim Fahrradfahren verzichte ich auf einen Helm. All diese unterschiedlichen Abwägungen sind, strenggenommen, alles andere als logisch. Ist denn ein langes Leben überhaupt wertvoller als ein kurzes? Als mir meine Ärztin aufgrund meines niedrigen Blutdrucks nur halb im Scherz ein eher langes, aber auch eher langweiliges Leben voraussagte, war ich unsicher, was ich davon halten sollte. Ich bin es bis heute.

Da fällt mir noch was ein: meine Nase! Die wurde mal gebrochen. Und dafür und ein paar zusätzliche Prellungen habe ich damals 2500 Euro Schmerzensgeld bekommen. Zumindest hatte mir ein Gericht die Summe zugesprochen. Der Typ, der zugeschlagen hatte, war allerdings pleite, das Geld habe ich nie erhalten. Allerdings könnte das eine Spur sein. Der Anwalt sprach damals von Schmerzensgeldtabellen. Die muß ich mir besorgen. Also auf zur nächsten Bibliothek.

7.5000 Euro für einen Zeh, 1,7 Millionen für einen kompletten Körper. Aber null Euro für das Leben. Eine Reise durch die Welt der Schmerzensgelder

In Paragraph 253, Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches heißt es: »Ist wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten, kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.« Die Schmerzensgeldentschädigung hat dabei zwei Funktionen. Einmal geht es um den Ausgleich des immateriellen Schadens beziehungsweise der entgangenen Lebensfreude. Der zweite Aspekt ist die Genugtuung: Der Geschädigte soll Befriedigung erlangen, indem der Täter zumindest einen finanziellen Schaden davonträgt.

Die genaue Höhe eines Schmerzensgeldes ist vom Gesetzgeber nicht von vorneherein festgelegt. Die Entscheidung wird von Fall zu Fall vom jeweiligen Gericht getroffen. Als Orientierung dienen dabei jährlich aktualisierte und veröffentlichte Schmerzensgeldtabellen, in denen alle relevanten Urteile, die in Deutschland gefällt wurden, aufgelistet werden.

Die Spanne reicht von 50 Euro für eine »1 Zentimeter lange, nicht klaffende Wunde am Bein durch Hundebiß« bei einem 9jährigen Jungen bis hin zu 500000 Euro für eine »schwerste Hirnschädigung durch groben Behandlungsfehler bei Geburt« bei einem Säugling oder 500000 Euro plus einer monatlichen Rente von 500 Euro für eine Querschnittslähmung ab dem ersten Halswirbel bei einem dreieinhalbjährigen Kind. Im Dezember 2009 wird einer 54jährigen, die nach einer mißglückten Magenoperation schwerste Behinderungen und extreme Schmerzen hat, ein Schmerzensgeld in Höhe von einer Million Euro zugesprochen – ein neuer trauriger Rekord. Insgesamt fällt jedoch auf, daß die Summen, die bei vergleichbaren Schadensfällen an Kinder gezahlt werden, höher sind als bei Senioren.

Für das Leben als solches beziehungsweise den Tod als solchen muß in Deutschland aber im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern oder auch den USA nichts gezahlt werden. Hinterbliebene können lediglich eine »mittelbare Verletzung« geltend machen. Klagen in diese Richtung verlaufen aber häufig erfolglos. 2003 sprach ein Gericht einer Klägerin außergewöhnlich hohe 55000 Euro für den Schock zu, den sie aufgrund des »Miterlebens des Todes des Sohnes« erlitten hatte. Ebenfalls zu den »Schockurteilen« zählen aber auch die 102 Euro, die eine Klägerin für den Schreck zugesprochen bekam, der »nach mißglückter Dauerwellenbehandlung« durch einen »Blick in den Spiegel« ausgelöst wurde, oder die 2045 Euro, die ein 58jähriger Mann für die über zwei Jahre hinweg andauernden Angstzustände nach einer Krebsfehldiagnose erhielt.

Eine bizarr anmutende Ausnahme, bei der doch »für« den Tod gezahlt werden muß, liegt vor, wenn das Opfer leiden mußte, bevor es starb. Für dieses Leiden steht ihm ein Schmerzensgeldanspruch zu, der an die Hinterbliebenen übertragen werden kann. Tritt der Tod aber »sofort« oder »unmittelbar« ein, besteht kein Anspruch auf Schmerzensgeld. Andererseits erhielten die Angehörigen eines Kindes, das bis zu seinem Tod noch etwa vierzig Minuten an schwersten Verletzungen litt, nachdem es von einem Bus überfahren wurde, 511 Euro. Für das 21 Monate währende Martyrium eines Mannes, der »aufgrund schwerer Gehirnverletzungen, Lungenquetschung, Oberarmfraktur, Ellenbogenverletzung« unter Persönlich-keitsverlust litt, wurden vom Gericht 76 693,78 Euro zugesprochen.

Gezahlt werden muß immer wieder auch für das nicht erwünschte Leben. Die Urteile für eine ungewollte, aber komplikationslose Schwangerschaft aufgrund einer fehlgeschlagenen Sterilisation reichen von 1533 Euro bis 10 225 Euro, die für ein nicht gewolltes schwerbehindertes Kind gezahlt werden mußten.

Doch der Mensch besteht nicht nur aus seinem Körper, er hat auch Persönlichkeit beziehungsweise Ehre, und auch die können verletzt werden. 357 Euro bekam etwa eine Schwarzafrikanerin zugesprochen, die als »schwarzer Affe« und »Negerpack« beleidigt wurde. Ein »blöder Scheißbulle« kann etwa 250 Euro kosten. Die »unberechtigte Verdächtigung/Bezichtigung des Kaufhausdiebstahls« kann je nach Umständen beziehungsweise Richter zwischen 127 und 1022 Euro wert sein. 2556 Euro erhielt eine Frau von ihrem ehemaligen Liebhaber mit der Begründung, der »verheiratete Beklagte« habe »mit der Klägerin, einer ledigen Frau, sechs Jahre ein Liebesverhältnis unter Inaussichtstellung von Scheidung und anschließender Eheschließung« unterhalten.

Richtig ins Geld gehen Schmerzensgeldzahlungen, wenn es sich um das »Recht am eigenen Bild« Prominenter handelt. Spitzenreiter bei Entschädigungen für eine auf solche Weise erlittene Pein ist Boris Becker, dem 2006 für die unfreiwillige Teilnahme an einer Werbeaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in erster Instanz 1,2 Millionen Euro zugesprochen wurden. Die Rapperin Sabrina Setlur bekam vom Magazin Max 256000 Euro für unberechtigt veröffentlichte Nacktaufnahmen, Joschka Fischer 200000 Euro vom Axel Springer Verlag für die Werbung mit einem manipulierten Foto. Es kann sich also auch lohnen, ein Opfer zu sein.

All diese beindruckenden und eben auch irritierenden Zahlen bringen mich auf einen Gedanken: Wenn man nun die – vor allem körperlichen – Einzelteile eines Menschen so konkret bewerten kann, dann müßte es doch möglich sein, diese Einzelteile mit den entsprechenden Einzelsummen zu einem funktionsfähigen Körper und seinem Gesamtwert zusammenzusetzen.

Gute Idee, dachten auch der österreichische Volkswirtschaftler Professor Hannes Winner und seine wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Andrea Leitner und Magdalena Thöni. Sie veröffentlichen 2008 die Studie Menschliche Körperteile und der Wert des menschlichen Lebens – Eine monetäre Bewertung mittels Schmerzensgeldentscheidungen. Sie nahmen die inflationsbereinigten Schmerzensgeldsummen aus Deutschland (aus den letzten 32 Jahren) und Österreich (aus den letzten 24 Jahren) und begannen zu werten und zu rechnen. Heraus kam diese Tabelle:

Werte menschlicher Körperteile und Organe (in Euro) nach Andrea Leitner, Magdalena Thöni und Hannes Winner [1]

Körperteil

Mittelwert

Minimum

Maximum

Beine

511345

289590

1003664

Hüften

49891

24348

70348

Becken

23484

2913

55000

Geschlechtsorgane

30247

1150

105000

Brust/Brustkorb

18451

1713

47500

Innere Organe

107310

16050

452500

Arme

113832

37200

297914

Rücken

226445

105950

513481

Kopf

110846

7250

345123

Gesicht

18540

3125

81197

Sinnesorgane

234149

66400

749038

Nervensystem

145436

40250

340750

Psyche

82373

2450

1170985

Summe

1672349

598389

5232500

Schließlich stellt das Forschertrio fest, daß der Mittelwert »für ein menschliches Leben« etwa 1,7 Millionen Euro beträgt. 1,7 Millionen Euro – die müßten dann ja auch für mich gelten. Nicht schlecht, denke ich. In ihrer Schlußfolgerung heben die Ökonomen zufrieden hervor, daß ihr Bewertungsansatz »objektiv den gesellschaftlichen Wert eines Menschen widerspiegelt«, da er auf richterlichen Urteilen einschließlich Expertenmeinungen basiert.

Das ist sehr interessant, wirft aber auch Fragen auf. Die banalste lautet: Wenn ein ganzer Mensch in Deutschland oder Österreich knapp 1,7 Millionen Euro wert sein soll, weil die Gerichte entsprechende Schadensersatzleistungen zusprechen, was bedeutet es dann, wenn ein Gericht in New York, wie im April 2009 geschehen, allein für ein amputiertes Bein 20 Millionen Dollar veranschlagt? Mein Anwalt zuckt dazu mit den Schultern, murmelt etwas von rechtshistorischen Unterschieden und extrem hohen Anwaltshonoraren, und auch wenn er es nicht zugibt – ich bin sicher, er ist ein wenig neidisch.

8. »Alles ist käuflich.« Besuch bei einem Politiker

Im Kino habe ich den Dokumentarfilm Let’s Make Money von Erwin Wagenhofer über die Hintergründe der globalen Wirtschaftskrise gesehen. Er hat mich beeindruckt. In dem Film taucht ein Politiker auf, der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitiert: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Der Politiker verlangt in diesem Sinne soziale Umverteilung zugunsten der Gesellschaft: »Nur dann kann das humanitäre Prinzip aufrechterhalten werden.« Klingt gut, ist aber noch nicht alles:

»Wenn wir so weitermachen, dann kommen neue Selektionsmechanismen – Selektionsmechanismen zwischen Staaten, zwischen Rassen, zwischen Religionen, zwischen berechtigten und unberechtigten, wertvollen und nicht wertvollen Menschen. Dann wird  [Achtung!] der monetäre Wert des Menschen irgendwann in den Vordergrund geschoben. Und dann beginnt ein neues Zeitalter der Barbarei.«

Der »monetäre Wert des Menschen« – dieser Politiker, denke ich, ist mein Mann. Etwas überrascht bin ich, als ich erfahre, daß es sich um ein Mitglied der SPD handelt. Ich hätte weiter links getippt. Sein Name ist Hermann Scheer, Mitglied des Bundestages und des Bundesvorstands seiner Partei. 1999 bekam er für seinen Einsatz für die Solarenergie den Alternativen Nobelpreis. Wikipedia listet noch eine lange Reihe weiterer Preise und Auszeichnungen auf und zitiert Scheer mit der Aussage: »Ich bin weltweit anerkannt als ein Vorreiter für die Wirtschaftsorientierung der Zukunft. Und wenn das einige scheinbar besonders kluge Köpfe noch nicht verstanden haben, ist das nicht mein Problem.«

Er nimmt also kein Blatt vor den Mund. Und vielleicht, so meine Hoffnung, hat er auch ein paar offene Worte für mich übrig. Der »Vorreiter« ist aber viel unterwegs – ein Vortrag in Asien, ein Symposium in Nordamerika. Doch irgendwann klappt es mit dem gewünschten Termin.