Was das Meer dir gibt - Andreas Krauße - E-Book

Was das Meer dir gibt E-Book

Andreas Krauße

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Beschreibung

1942. Indonesien. Bandasee. Mitten im Pazifischen Krieg. Alles hat Anne verloren. Das ganze Leben bis hierher. Denn durch das Loch im Kopf sind die Erinnerungen fortgeflogen. Nur, dass sie auf dem Meer umhergetrieben ist, weiß sie. Und dass sie an diese winzige Insel geworfen wurde, die sie nicht kennt. Mit Palmen. Schwarzem Sand. Und einer außergewöhnlichen Seebrücke. Aber die Bewohner des Dorfes vertreiben sie. Das Letzte, was sie brauchen nach dem Tsunami, ist ein Meergeist, der sie heimsucht. Kein Mädchen überlebt das wütende Meer! Hungrig verfolgt Anne, was auf der Seebrücke vor sich geht. Bestaunt die hellen Ausflugsdampfer und ihre Gäste. Sieht zu, wie die Händler ihre Vorräte verstauen. Stiehlt nachts davon, was sie braucht. Und ahnt, dass sie das alles längst gesehen hat. Die Garküche, die so ganz anders ist, zieht sie magisch an. In ihrem Innern entdeckt sie ein altes Geheimnis. Der Besitzer ist der Einzige, der ihr hilft. Und als sie ein Tagebuch findet, in dem steht, wie der Baumeister der Seebrücke das Glück verlor, muss sie unbedingt an den Platz, wo alles geschehen ist. Aber sie wird entdeckt und muss in den Urwald fliehen. Und auch wenn ein Jaguar ihr Gefährte sein will, und sie unter Wasser das uralte Geheimnis des Dschungels entdeckt: Sie bleibt ganz allein. Als der allerletzte Dampfer Flüchtlinge an Bord hat, ändert sich alles. Die Bestie hat Pearl Harbor zerstört. Jetzt erobert sie die Bandasee. Insel für Insel. Und immer, wenn sie landet, hisst sie die Flagge mit der roten Sonne. Jeder, der dann noch lebt, muss entscheiden, welche Seite er wählt. Der Preis für ein Herz, das sich nicht versteckt, ist besonders hoch! Vor allem, wenn das Grauen erwacht. Wenn ein Handel nicht mehr gilt. Und es das Leben kostet, wenn man sich wehrt. Bekommt Anne überhaupt die Chance, zu entdecken, wer sie wirklich ist? Darf Lin endlich zeigen, wen sie über alles liebt? Kann Tong seinem Herzen folgen? Denn viele sind auf der Suche nach dem Glück, als der Kampf der Bestien vorüber ist. Und jeder, der es fangen will, muss etwas dafür tun!

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Andreas Krauße

Was das Meer dir gibt

Roman

Andreas Krauße, Jahrgang 1968, wuchs in einem Märchenland auf, das heute verschwunden ist. Seine feste Burg war umringt von sieben blauen Seen und nicht wenig flachem Land. Schon als Junge flog er hoch hinauf zu den Wolken. Er wollte sehen, was dahinter ist. Später studierte er zwischen hellen Bergen über den Ursprung der Energie. Dort, wo ein König einst sein Gewicht in Gold aufwog. Er wollte wissen, wie alles funktioniert. Zu jeder Zeit aber träumte er! Denn verwoben mit der Fantasie, glitzert die Welt so festlich, wie sie immer sein wollte! Heute lebt Andreas im Norden; er schreibt Geschichten, Novellen und Romane. Es sind seine Träume, in Worte gefasst. Lies sie – genau dafür hat er sie aufgeschrieben!

Erklärungen zu verwendeten Begriffen und Maßeinheiten am Ende des Buches.

Impressum

© 2023 Andreas Krauße

ISBN Softcover: 978-3-347-96227-9

ISBN Hardcover: 978-3-347-96228-6

ISBN E-Book: 978-3-347-96229-3

Druck und Vertrieb: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Autors ist unzulässig. Die Herausgabe und der Vertrieb erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für Anne, Lin und Tong

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

1. Was das Meer dir nimmt

In der Mitte von allem

Alles ist besser als das

Nur ein Tanz!

Lauf weg! Lauf!

Überflüssig

Bis auf Haut und Haar

Willkommen im Orkan!

Satrias Reise

Tsunami! Tsunami!

Der Altar

2. Was das Meer dir gibt

Ein Geist kommt

Der alte Wächter

Der alte Kutter

Der fleckige Schatten

Die schiefe Garküche

Selbst die Möwen kicherten

Der Geruch von Kindheit, der vergeht

Das Tagebuch von William Blake

Der erste Beutezug

Der Geist ist hier!

Der tote Wächter

Ein trügerisches Gefühl

Sie wird nicht kommen

Die Seebrücke

Mehr als alles fühlen

Kokosnussmilch

Die Überraschung

Die andere Seite

Der Samurai

Die Bestie kommt

Der Handel

Feuerrohre, die in den Himmel starren

Das Grauen erwacht

Kein Erbarmen

Ein ungleicher Kampf

Habe Zwiebeln geschnitten

Der Preis für ein aufrechtes Herz

Neue Freundschaft

Sterne gegen Sonne

Alles verloren

Verräterisches Glitzern

Das Mädchen in Flandern

Das leuchtende Pulver

Bratkartoffeln mit Speck

Dunkle Augenringe

Der neue Bund

Verwendete Namen und Begriffe

Verwendete Maße

Was das Meer dir gibt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

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In der Mitte von allem

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Was das Meer dir gibt

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1. Was das Meer dir nimmt

»Jeder Mensch ist verdammt, bis in ihm die Menschlichkeit erwacht!«, William Blake

In der Mitte von allem

Kräftig bäumte sich die Brandungswelle auf, ehe sie sich lebhaft auf den Strand warf. Es schien, als sei sie wild entschlossen, jedes schwarze Sandkorn gründlich zu waschen. Jedes, das nicht fliehen konnte vor ihr.

Doch die Welle hatte sich verausgabt. Wie immer. Und als sie sich gebrochen zurückzog vor dem nächsten Versuch, glänzte auch jedes Sandkorn, das sie erreicht hatte. Und niemand sah, dass es runder war als zuvor.

Aber die Brandung nahm all das Glänzen wieder mit sich fort. Wie immer. Und niemals bisher hatte sie etwas Wertvolles dagelassen als Wiedergutmachung.

Doch heute hatte sie ein Mädchen ausgespuckt. Sie im stumpfen Sand einfach zurückgelassen. Nackt. Zerkratzt. Halbtot. Und einen wuchtigen Baumstamm mit dazu. Fast so, als biete sie dem Ufer diesmal einen Tausch an. Für das herrliche Glänzen der Sandkörner, die sie unablässig wusch.

Jedenfalls zog die Brandung sich weit zurück. Und lauerte in den Tälern des Meeres. Um aus sicherer Entfernung den Ausgang des Handels abzuwarten.

Nur dort, wo sie sich zu neugierig zeigte, tanzte der helle Schaum auf den Kronen der türkisfarbenen Wellen. Mal hier. Mal da. Immer woanders. Mit allen Farben Bilder malend. Flüchtig und mit der Sonne.

Und wie um die Spannung in diesem Spiel zu steigern, zuckten bald darauf die Glieder des Mädchens durch den nassen schwarzen Sand. Sie wirbelten ihn umher. Als wollten sie das Geschäft bestätigen. Und, dass das Mädchen genug lebe, um Teil der Geschichte zu werden. Das ist ihre Legende.

Alles ist besser als das

Sie schlich die Treppe zur Diele hinab. Auf Zehenspitzen. Mit flachem Atem. Ihr Herz, das dumme Ding, pochte viel zu laut! Das Mädchen schwitzte, so stickig war es im Haus. Der Sommer 1942 war verdammt heiß!

Welche Stufe knarrte, wusste sie ja. Und dass das Geländer ächzte, wenn sie sich festhielt. Dort, wo Großmutters Bild hing. Auf dem die auf einem ziemlich alten Stuhl thronte, in einem viel zu noblen Kleid. Mit der ernsten Miene einer Königin. Und mit grünen Augen. Das alles war kein Problem.

Bloß Vater durfte nicht herausfinden, was sie vorhatte. Dann blühte ihr was! Denn sie durfte nicht nach draußen. Um diese Zeit nicht. Trotzdem wagte sie es.

Gerade weil er sie schlagen würde, falls er sie erwischte. Sie hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben! Schließlich war sie schon siebzehn!

Nur. Mit den steifen Lackschuhen war es verdammt schwierig, heimlich zu gehen. Jedes Mal kam die dicke Sohle gegen die Treppe, bevor der Fuß es tat! Es war wie verhext!

Sie hatte einfach keine Übung darin, in Schuhen zu gehen. Sie trug sie ja nur, wenn Vater sie sah! Und die Füße taten jedes Mal verdammt weh, wenn es sein musste! Den ganzen Tag über, draußen, lief sie ja barfuß. Bloß gut, dass Vater das Haus selten verließ in letzter Zeit.

Das Mädchen legte die Stirn in Falten. Nur eine Sekunde lang. Sie hätte üben sollen. Lernen, sich in den Schuhen zu bewegen. Aber jetzt war es zu spät dafür.

Das Klopfen der Sohle auf der Treppe war jedenfalls zu laut. Genau wie der Herzschlag. Und immer wieder schob sich der steife Rock zwischen sie und ihren Blick auf die Stufen. Und wäre er ein Stück länger, sie würde auch noch drauf treten! Sie war heilfroh, dass sie bald draußen war! Gereizt blies das Mädchen eine feurig rote Haarlocke aus dem nassen Gesicht.

Sie hasste nicht nur das harte Leder an den Füßen. Das war nicht alles! Da war noch die gestärkte Bluse. Die mit dem engen Kragen, der so kratzte. Und den langen, spitzenbesetzten Ärmeln. Wenn sie die anhatte, konnte sie kaum atmen in der Sommerhitze! Und der schwere dunkle Rock erst! Jedes Mal, wenn sie sich in ihm setzen wollte, musste sie zuerst die Falten ordnen! Er zerrte so schwer an ihrem Becken! Und trotzdem. Sie musste das alles tragen. Den ganzen Tag lang. Weil Vater es wollte. Erst zur Nacht konnte sie der Kleidung entfliehen.

Sie ging deshalb sehr früh ins Bett. Und Vater glaubte wohl wirklich, sie sei ein gesittetes englisches Mädchen. Wenn er wüsste, dass sie dann nackt in ihrem Zimmer lag! Einfach atmete. An die Decke sah. Und sie selbst war, für ein paar Stunden.

Das Mädchen zog an dem verhassten Rock. Alles war besser, als in solcher Kluft umherzulaufen!

Das Einzige, was sie an ihrer Kleidung mochte, war das seidene Unterkleid. Weil es noch von Mutter stammte. Obwohl es abgewetzt war vom vielen Tragen. Und fettige Flecken hatte, die nicht mehr weggingen. Und sie es längst hätte ersetzen müssen.

Es schmiegte sich wenigstens an ihre Haut! Es hielt das Kratzen ab, wo Bluse und Rock sie quälten. Etwas jedenfalls. Doch selbst das bisschen Seide war jetzt, in der Trockenzeit, zu viel.

Deshalb versteckte sie sich gern am Strand. Hinter den Büschen mit den gelben Blüten. Am liebsten mittags. Wenn die Hitze die Einheimischen hinter die Hütten trieb. In den Schatten. Dann sah niemand, wie sie sich auszog. Und wie sie nackt über den schwarzen Sand rannte, bis sie außer Atem war. Und ihre Haut sich rötete. Alles war möglich, danach. Versteckt vor der Welt.

Sie konnte dem Singen der Wellen lauschen. Bis ihr der Schweiß von der Haut tropfte. Oder Arme und Beine mit Sand bestreuen. Solange, bis die feinen Härchen an ihnen sich gierig aufrichteten. Und sie konnte von Tong träumen! Dem Sohn des Kutterkapitäns. Und mit ihm jedes Abenteuer bestehen. Hinter dem Horizont.

Wenn dann noch ein Vogel schrie, damit sie wieder zu sich kam, sprang sie auf. Dann rannte sie in die Bandasee. Und wusch alle Träume wieder ab, ehe sie sich anzog. Kragen schließen, Zöpfe flechten, Schuhe binden.

Aber heute Nacht war es endlich soweit! Sie würde sich ein Kleid kaufen, das besser zu ihr passte.

Dunkelgrün sollte es sein. Aus feinem Stoff. Und mit gelben Blüten. Den gleichen, wie an den Büschen am Strand. Weil sie es waren, die sie vor den neugierigen Blicken schützten.

Es würde knistern, wenn es ihren Bewegungen folgte. Rascheln, wenn sie darin unter der Tropensonne rannte. Und im Dunkeln würde es funken, wenn sie es überwarf und flink genug hinsah.

Das Mädchen lächelte. Sie liebte das Kleid jetzt schon. Nur, wie sie es Vater beibringen sollte, wusste sie noch nicht.

Sie dachte an Tong, den Sohn des Kutterkapitäns. Er hatte es für sie besorgt. Und noch ein Zweites, für ihre Freundin Lin. Sie waren bereits hier, die beiden Kleider! Auf der Insel! Tong hatte es ihr gesagt. Sobald der Kutter wieder an der Seebrücke anlegte, könnte sie sie holen kommen!

Und jetzt lag er da, der Kutter. Gut vertäut. Und Tong wartete auf sie. Mit zwei Kleidern. Deshalb musste sie noch einmal los. Auch wenn sie nicht durfte um diese Zeit. Diesmal musste es sein. Das Mädchen lächelte wieder. Und diesmal zuckten auch die Augenbrauen etwas.

Dafür, dass Tong die Kleider beschaffte, wollte er einen Tanz. Mit ihr. Und ohne zu zögern, hatte sie ›Ja!‹ gesagt. Hatte sie die Blumenkleider bei ihm bestellt. Für Lin würde sie alles tun!

Sie hörte leises Knarren hinter sich.

Ihr Bruder, George, stand in der halb geöffneten Tür seines Zimmers. So zerbrechlich, wie er wirkte mit seinen vier Jahren, sah es aus, als halte der Türgriff ihn an der Hand. Und nicht umgekehrt. Mit seinen blonden Haaren sah er aus wie ein Engel!

Sie legte den Zeigefinger auf die gespitzten Lippen. Nickte ihm zu. Die stumme Frage, ob er das Gesehene für sich behalten wolle, hing für sie deutlich genug in der Luft.

Doch sie sah das Glitzern in den Augen des Bruders. Verräterisch. Es folgte jeder Bewegung! Blitzschnell. Und die Mundwinkel zuckten. Verdammt!

George wusste nicht, was er tun sollte. Er stand einfach unbeweglich in der Tür. Er hatte Angst. Immer hatte er Angst.

Das Mädchen schlich zurück. Und kniete sich vor ihren Bruder. George umschlang mit den Armen ihren Hals. Sofort. Presste das Gesicht in ihre Bluse. Das Mädchen spürte den heißen Atem an der Schulter. Streichelte ihm den Kopf. Trug ihn zu seinem Bett. Und setzte ihn dort wieder ab.

In Augenblicken wie diesen bedauerte sie ihren Bruder. Er hatte nicht das gleiche Glück wie sie. Das helle Lachen der Mutter durfte er niemals hören. Auch ihre Hände hatte er nie gespürt. Die zärtlichen Finger, die den Schmerz fortwischten, wenn er sich gestoßen hatte. Das alles hatte er nicht. Weil Mutter gestorben war, als er zur Welt kam.

Das Einzige, was er von ihr gehört hatte, war ihr Todesschrei. Wenn er dazu schon in der Lage war. Damals. Wenn ja, war das Erste, was die Welt ihm gesagt hatte, dass jemand krepieren musste, damit er lebte.

Das Mädchen küsste ihren Bruder auf die Stirn und fuhr ihm über die Wange. Dann verließ sie das Zimmer. Sie würde ihm niemals geben können, wonach er sich sehnte. Und sie wollte auch gar nicht seine Mutter sein! Nur. Für ihn musste sie hierbleiben. Er war es, wegen dem sie alles ertrug. Alles, was sie so sehr hasste. Dabei wollte sie es doch längst hinter sich lassen! Sie schluckte den Kloß hinab, der in der Kehle auftauchte.

Wenn sie so dachte, fühlte sie sich erbärmlich. George konnte nichts dafür! Und ganz sicher spürte er ihre hässlichen Gedanken. Bestimmt war er deshalb so still. So versonnen. George war anders als sie.

Stundenlang konnte er auf dem Boden des Zimmers sitzen. Mit dem Schatten eines Falters spielen, der vor dem Fenster tanzte.

Während sie die Füße nicht stillhalten konnte. Und lieber von der Brücke ins Meer sprang. Jauchzte. Zusammen mit den Freunden.

Das Mädchen hatte die Diele erreicht. Sie hielt an und lauschte. Denn es hatte gepoltert. Gedämpft zwar. Aber deutlich zu hören. Im Wohnzimmer.

Vater war noch wach! Wenn man seinen Zustand so nennen mochte.

Sie hörte plötzlich sein Schnaufen. Sah, wie die Schultern sich hoben und senkten. Er saß in seinem Sessel, dem Flur den Rücken zugewandt. Wie dem ganzen Leben auf der Insel, seit Mutter tot war. Er durfte nicht merken, wie sie davonschlich. Also gab sie sich alle Mühe, schnell und leise zu sein.

»Wo willst du hin?«, knurrte er trotzdem, als ihre Finger die Klinke der Haustür berührten. »Du hast Hausarrest!«

Sie stoppte sofort. Bekam einen heißen Kopf. Alles, was sie vorhatte heute Nacht, schoß ihr rot ins Gesicht! Sie wusste noch immer nicht, wie sie Vater den Kauf des Kleides beibringen sollte!

Seine Stimme klang rau. Belegt. Als wäre sie ganz umhüllt vom Rum. Er schüttete ihn ja auch ausgiebig in sich hinein! Schon seit zwei Jahren!

Eigentlich hatte es schon begonnen, ehe die Seebrücke fertig war. Genau an dem Tag, an dem Mutter starb. Aber die Arbeit hatte ihn wenigstens vom Schlimmsten abgehalten. Denn er wollte die Seebrücke fertigstellen, ihr zu Ehren. Das wollte er. Wirklich! Und er schaffte es auch!

Aber seit die Dampfer anlegten und Gäste kamen, betrank er sich nur noch. Ab da war er nicht mehr er selbst. Denn er hatte nichts mehr zu tun.

Das Mädchen schüttelte sich angewidert.

»Ich brauche frische Luft!«, sagte sie so verächtlich, wie sie konnte. »Hier drin stinkt es!«

Sie fixierte Vaters Gesicht.

Eigentlich, gestand sie sich ein, sah sie nur den schwarzen Schatten seines Kopfes. Und das Glas in der Hand. Aber der Schatten drehte sich herüber zu ihr. Starrte sie an. Der glasige Blick funkelte so sehr in der Luft, dass das Mädchen den Blick senkte. Der Rest Rum in der Flasche auf dem Tisch glitzerte im Kaminlicht dazu. Noch immer stand sie reglos.

»Dann mach das Fenster auf! Auf der Seebrücke hast du um diese Zeit nichts zu suchen!«, er warf es ihr über die Lehne des Sessels hin.

Wie die Brocken vor einen Hund, den man eingesperrt hat.

»Gehst du raus,«, er schnaufte plötzlich laut, »gibt es Ärger!«

Er machte eine Bewegung. Eine, die sie ganz genau kannte. Auch wenn sie sie meist nicht sah. Von der sie nur das Singen in der Luft hörte. Und sie dann fühlte. Wenn der Arm herab sauste. Auf ihren Po. Wenn Vater sie mit dem Ledergürtel schlug!

Sie wunderte sich, weshalb die Angst vor den Schmerzen ihr nicht die Kehle zuschnürte. Heute tat sie das nicht. Sogar Wut fühlte sie in sich aufsteigen. Auf einmal. Bis es aus ihr herausplatzte.

»Mein Gott, wir schreiben 1942! Wach auf! Ist kein Mittelalter mehr!«, sie roch auf einmal deutlich den Alkohol, der die Luft verpestete. »Lass mich einfach in Ruhe!«

Vater war betrunken. Mehr als sonst. Sie sah die leere Flasche unter dem Tisch. Die war also eben auf den Teppich gepoltert.

Er hatte fast zwei Flaschen Rum ausgetrunken! Dabei war es noch nicht einmal Mitternacht! Zum Glück drehte er den Kopf wieder weg, als er ihren Blick auf den Teppich sah. Und starrte sie nicht mehr an.

Das Mädchen ekelte sich vor Vater, wenn er in diesem Zustand war. Und genau das machte sie traurig.

Er betrank sich ja, weil Mutter ihm fehlte! Und wenn die Flasche leer war, vermisste er sie noch viel mehr. Kurz nachdem er mit ihr für zwei, drei tiefe Atemzüge vereint war. Ein winziger Augenblick also, ehe der Schnaps sein Blut verbrannte.

Die auf dem Tisch verstreuten Fotos bewiesen es. Die von ihr. Sicher hatte er sie wieder stundenlang betrachtet. Da lag auch das rote Tagebuch, in das er manchmal noch schrieb.

Meist aber las er nur darin. Träumte. Und reiste in die Vergangenheit. Zu Mutter. Um zu vergessen, was nach ihrem Tod kam.

Dabei wusste das Mädchen, dass er sich alle Mühe gab. Er versuchte ja, für sie zu sorgen! Und für George. Aber er schaffte es nicht.

Was nutzte es, dass er sogar ein Vermögen aufbewahrte für sie beide! In einer unscheinbaren Kiste. Es nicht antastete. Selbst jetzt nicht, da es ihnen zum Leben fehlte. Auch nicht für den Schnaps.

»Es ist für euch beide!«, hatte er ihr einmal gesagt. »Wenn ich nicht mehr bin!«

Und sie glaubte ihm das.

Aber sie sah, dass es ihm immer schwerer fiel mit dem Leben. Sie hatte gesehen, dass er weinte, wenn er sich allein wähnte. Auch Vater tat ihr leid.

Nicht umsonst half das Mädchen in der Garküche von Satria, dem alten Koch, aus. Heimlich. Auf der Seebrücke. Der letzten vor dem Meer. Immer in Gefahr, dass Vater sie entdeckte. Doch nur, damit George etwas Ordentliches zu Essen bekam!

Vielleicht konnte sie es ihm einmal sagen. Wenn Vater wieder Vater war. Dann würde sie ihm verraten, dass sie immer zuerst nach hinten schlich, wenn sie Satria helfen durfte. Dass sie Rock und Bluse an einen Haken hing. Damit nichts davon schmutzig wurde. Und im Unterkleid Teller abwusch und Gemüse schnitt. Das das Unterkleid deshalb so viele Flecken hatte. Weil sie doch nicht nackt in der Küche stehen konnte!

Sie würde grinsen, wenn Vater die Luft wegblieb deswegen. Und sie hoffte, dass er es dann verstand. Und sie mit glitzernden Augen umarmte, weil sie doch seine Tochter war.

Aber Vater war nicht er selbst. Noch nicht. Also musste sie das Geheimnis hüten. Bis es so weit war. Falls das geschah. Irgendwann.

Das Mädchen stand noch einen Moment lang still im Flur. Aber es passierte nichts mehr. Die Zeit hielt den Atem an. Wenn sie sich nicht bewegte, würde alles stillstehen. Für immer. Sie musste es selbst tun. Sich rühren.

Deshalb sog sie die miefige alkoholgetränkte Luft ein. Ein letztes Mal. So tief, dass ihr schwindelig wurde. Die war es schließlich, die ihr Zuhause tötete! Und sie wollte sich sicher sein, dass sie sie genug hasste.

Als es sich in ihrem Kopf endlich drehte von all dem Rum, der in der Luft hing, ging sie. Ohne ein Wort. Mit trotzig festen Schritten. Bis zur Haustür. Und dann riss sie sie auf.

»Bleib hier, verdammt!«, lallte es aus dem kippelnden Sessel.

Vater hatte versucht, aufzustehen. Aber der Rum warf ihn wieder zurück. Alles blieb, wie es war. Wie zuvor. Wie immer seit zwei Jahren. Ein Sessel. Der Schatten seines Kopfes. Und ein Glas in der Hand. Nur, dass es jetzt leer war. Und der Teppich getränkt mit Rum.

»Nein!«, rief sie eisig. »Es wird Zeit, dass ich erwachsen werde!«

Sie spürte, wie ihre Seele flatterte.

»Und das Elend hinter mir lasse!«, fügte sie verächtlich hinzu.

Es klang so endgültig, was sie eben gesagt hatte! Es würde sehr wehtun, wenn sie wiederkam. Vater wusste ja, dass sie heimkehrte! Sie trat über die Schwelle.

Kräftig zog sie die Haustür hinter sich zu, als sie draußen stand. Als würde das helfen.

Sie fühlte sich plötzlich nackt. Und es war das erste Mal, dass es sie störte. Ihr war, als könnten die anderen jetzt schon die roten Striemen sehen, wo er sie treffen würde. Als wäre sie es, die sich schämen müsste. Aber sie sah niemanden. Zum Glück.

Nirgendwo brannte Licht in den Hütten. Aber sie wusste ja, wo die Bewohner des Dorfes waren. Auf der Seebrücke! Sie genossen das neue Leben. Verdienten gutes Geld damit. An den Ausflugsgästen, die von den Dampfern kamen. Allen auf der Insel ging es gut. Bloß der Familie nicht, der sie das verdankten. Auf der lag ein Fluch.

Der Mann, der die Seebrücke erbaut hatte, betrank sich aus Kummer. Der Bruder hatte vor allem Angst. Und sie hing zwischen zwei Welten fest. Der ihrer Eltern, bevor sie hierher kamen, und mit der sie sie angesteckt hatten, weil sie ihr davon erzählten. Und dem einfachen Leben. Hier.

Das Mädchen schluckte. In diesem einen Augenblick glaubte sie fest, dass sie ganz allein war! Sogar eine Träne lief ihr über die Wange. Es wurde wirklich Zeit, etwas zu ändern. Heute Nacht würde sie nicht nur ein Kleid kaufen. Heute musste sie sich entscheiden, wer sie war.

Sie musste den festgetretenen Pfad, der zum Strand führte, betreten. Jetzt! Und am Ende würde sie ihn verlassen müssen. Einen neuen Weg suchen. Für sich. Wenn sie das nicht tat, blieb alles, wie es war. Für immer!

Unsicher setzte sie den Schuh auf den Weg. Sie tat das langsam. Mit Bedacht. Als wolle sie sich vergewissern, dass ihr Entschluss auch wirklich standhielt. Der Untergrund, auf dem sie sich bewegen wollte ab hier.

Doch als sie mitten auf dem Weg stand, überkam sie der Drang, loszulaufen. Sie wurde immer schneller.

Dass Vater ihr durch ein Fenster nachschaute, als sie sich einmal umwandte, hätte ihr eine Warnung sein sollen. Und, dass die Flasche Rum in seiner Hand jetzt gänzlich leer war. Aber sie beachtete es nicht. Das Leben war zu gierig in diesem Augenblick.

Sie drehte sich einfach weg und lief los. Sie rannte. So schnell sie konnte in den unbequemen Kleidern und mit den quälenden Schuhen.

Nur ein Tanz!

Atemlos kam sie an der Seebrücke an. Die Bluse klebte längst an der verschwitzten Haut. Ihr Herz klopfte unruhig und heftig. Sie war aufgeregt.

Weil sie einmal, beinahe, im Zwielicht gefallen wäre. Ihr war, als hätte sich plötzlich ein schwarzes Loch aufgetan. Mitten auf dem Weg. Direkt vor ihr. Und im nächsten Augenblick war es wieder fort. Da war nur der Weg, den sie schon so oft entlang gelaufen war, dass sie gar nicht fehltreten konnte.

Verstört war sie einen Moment stehengeblieben. Als hätte sie den Teufel gesehen, und wäre zu Stein erstarrt. Aber da war nichts. Nicht einmal ein Loch. Und sie war froh am Ende, dass niemand sie so gesehen hatte. So unsicher. Verängstigt.

Aber jetzt war sie am Ziel. Der alte Kutter lag an seinem Liegeplatz. Wie immer, wenn er an der Seebrücke vertäut lag.

An Deck war niemand zu sehen. Trotzdem. Tong würde sicher bald auftauchen. Er hatte versprochen, dass er da sei. Das Mädchen kletterte über die Reling. Sie würde einfach warten.

Sie hatte das kaum überlegt, da tauchte Tong wie aus dem Nichts auf, und half ihr an Bord. Von der Strickleiter herab. Auf die rauen Planken des Decks. Und er wartete geduldig, bis sie sich umgesehen hatte. Sagte kein Wort.

Noch nie zuvor war sie bei ihm zu Gast gewesen. Sie drehte sich tatsächlich zweimal im Kreis um ihn, um alles in Augenschein zu nehmen. Nein. Eher, um das Pochen in ihrer Brust zu zähmen, gestand sie sich ein. Aber es gelang ihr nicht. Alles auf dem Kutter roch zu sehr nach den Abenteuern, die sie sich am Strand zurecht geträumt hatte. Und das, was gerade passiert war, zu Hause, wühlte ebenfalls in ihr.

Am Ende blieb sie vor ihm stehen. Wusste nicht recht, wohin mit ihrem Blick. Deshalb senkte sie den Kopf. Starrte auf die Planken. Und sah zu, wie an Tongs nackten Beinen das Wasser hinab lief. Wie es einen schimmernden Fleck bildete auf Deck. Sie wunderte sich.

Er war schwimmen gewesen! Das war ihr nicht einmal aufgefallen, als sie ankam! Sie hatte nichts gehört davon. Und nicht einmal mitbekommen, wie er an Deck gelangt war! Was für ein Glück sie hatte, dass er überhaupt da war! Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Bis sie seine Berührung im Haar fühlte. Da sah sie ihm offen in die Augen.

»Nur ein Tanz!«, flüsterte sie.

Er nickte ihr zu, während er ein Stück Gras aus ihrem Haar holte und es über Bord warf. Dann nahm er ihre Hand. Führte sie in die Mitte des Decks.

Dort gab es einen Platz, etwas erhöht. Gerade so im Licht der Seebrücke. Und doch gleich hinter dem Mast versteckt. Da setzten sie sich. Dicht bei einander.

Der Tee, den Tong für sie gekocht hatte, roch schwer und süß. Und er war längst kalt geworden, als sie wieder aufstanden. Das Mädchen wusste auf einmal gar nicht mehr, was sie ihm alles erzählt hatte. Sie musste ganz schön geplappert haben. Denn Tong legte ihr auf einmal den Finger an die Lippen.

»Ein Tanz!«, sagte er.

Und zog sie hinab in den dunklen Bauch des Kutters. Da fegte »Moonlight Cocktail« von Glen Miller über die Seebrücke.

Dort unten zeigte er ihr, wie gut sich ein enger Laderaum zum Tanzen eignete. Dass die Welt sie hier nicht sah. Dass sie sein durfte, wie sie wollte. Dass sie sich überall festhalten konnte, wenn ihr schwindlig wurde. Und sie sich bei niemandem dafür entschuldigen musste. Auch bei ihm nicht. Irgendwann begriff sie es. Und es war wunderschön!

Tong führte. Nicht mehr. Aber sie kamen sich sehr nahe, Tong und sie. Sie in der Bluse und dem schweren Rock. Er in kurzen Hosen und weißem Hemd. Sie spürte, wie ihre Nasenflügel sich weiteten, um seinen Geruch einzusaugen. Muskat. Und das weite Meer.

Die Musik wummerte durch ihren Bauch, während sie sich drehte. Immer stärker. Und sie ließ sich ganz darauf ein. Die Schuhe hatte sie da längst abgestreift.

Und dann, plötzlich, füllte die Stille den Laderaum mit sich. Dooley Wilson hatte aufgehört, »As Time Goes Bye« zu singen. Und sie hörte nur ihren Atem. Und ihr Herz.

Auch wenn sie sich nicht mehr in Tongs Armen drehte. Dem Mädchen war, als bewege sich alles um sie herum. Als sei sie der Mittelpunkt des Universums. Zumindest von Tongs Welt. Das wünschte sie sich. Wirklich! In diesem Moment war sie völlig außer Atem.

Sie sah ihn an, als sie wieder sicher stand. Lehnte sich trotzdem an den dicken Balken hinter ihr. Schaute ihm in die Augen. Endlos lange, wie ihr schien. Dann schob sie ihn fort, ganz sanft. Bis wieder Luft an ihre Brust kam.

»Nur ein Tanz!«, flüsterte sie.

Und wieder nickte Tong. Danach zeigte er ihr das Kleid. Das, für das sie sich gedreht hatte mit ihm.

Reglos beobachtete er sie. Wie sie es auf einer Kiste ausbreitete. Als sei es ein Schatz. Sah zu, wie sie es vor sich hielt. Betrachtete sie. Während sie ihn stumm fragte, ob es passe.

»Probiere es!«, sagte er einfach. »Ich warte oben auf dich.«

Mehr sagte er nicht. Er stellte nur einen Eimer mit klarem Wasser bereit. Und legte ein Tuch auf den Rand. Und ein Stück Seife. Danach stieg er hinauf.

Das Mädchen jauchzte glücklich. Sie wusste nun, dass Tong es ehrlich mit ihr meinte. Trotzdem.

Zunächst stand sie verwirrt im Laderaum. Verloren in dem ganzen Glück. Als gehöre sie nicht hierher. Als wäre es nicht für sie. Aber dann entschloss sie sich. Sie dachte an ihren ersten Schritt auf den Pfad zum Strand, vorhin.

Sie zog sich aus. Tunkte das Tuch ins Wasser. Und rieb sich gründlich den Schweiß von der Haut. Wie herrlich die Seife duftete! Nach Neem und Kokosnuss. Der Duft gefiel ihr sehr!

Erst nach einer Weile streifte sie das knisternde Kleid über. Und schloss die drei großen Knöpfe an der Taille. Es fühlte sich gut an, das Pfand für ihren Tanz! Ob es Tong gefallen würde?

Aufgeregt stieg sie die Stiege hinauf. Die Stufen waren steil. Und glatt. Sie musste die Knie weit anheben. Aber das Kleid streichelte die Haut, als wäre es ein Freund. Alles stimmte in diesem Moment. Sie schob die Sorge fort, dass der Abend schlimm enden könnte!

Das Mädchen betrat das Deck. Frische Luft! Sie wusste nicht, wie stickig es im Bauch des Kutters gewesen war! Tief atmete sie durch. Dann ging sie zu Tong.

Der saß im Schneidersitz. Auf einem Kissen. Und sah auf das Meer hinaus. Drehte sich erst zu ihr um, als sie ihn berührte.

Sein Mienenspiel würde das Mädchen niemals vergessen. Glaubte es. Er schnappte nach Luft. Einmal. Zweimal. So, als wolle er ihr etwas sagen. Doch er sah sie nur verwundert an.

Und sie? Sie machte etwas Unvorstellbares.

Sie drehte sich vor ihm im Kreis. Tanzte. Nur für ihn! Damit er sie betrachten konnte, von allen Seiten. Schließlich war sie der Preis für dieses Kleid! Und es machte ihr gar nichts aus! Selbst die Musik spielte wieder, oben auf der Seebrücke! »Green Eyes« von Jimmy Dorsey.

Mit jeder neuen Runde flog sein Gesicht an ihr vorüber. Ganz dicht. Oft. Als gäbe es viele Tongs auf einmal. Und alle waren sie sprachlos. Das Mädchen drehte sich immer schneller.

Als sein Gesicht wieder einmal an ihr vorbeiflog, überwand Tong sein Staunen. Endlich.

»Du bist wunderschön!«, hörte das Mädchen, und stoppte auf der Stelle.

Noch viel dichter trat sie an Tong heran. Sehr viel enger als beim Tanzen. Ein wenig schwindelig war ihr, so nahe.

»Warum verlangst du dann nicht mehr für das Kleid?«, sie leckte sich über die Lippen und schloss die Augen. »Ich habe kein Geld!«

Sie wunderte sich über ihre raue Stimme.

»Ich habe nur mich!«, sie hoffte, dass er ihre jähe Gier stillen würde.

Sie spürte bereits den heißen Atem vor ihrem Mund. Der sich mit ihrem mischte. Seine Lippen waren ganz nah! Gleich musste er sie berühren!

»Hallo, ihr Beiden! Was macht ihr da?!«, Lins Stimme zerriss die Magie.

Und für einen Moment lang hasste das Mädchen die Freundin, die oben auf der Seebrücke stand. Und zu ihnen herunter sah. Aber nur kurz.

Prustend lachten sie sich an, nachdem Lin an Deck gesprungen kam. Tong, Lin und sie. Was für eine Clique! Wie konnte sie nur denken, vorhin, dass sie allein wäre?!

»Wo hast du das schicke Kleid her?«, fragte Lin das Mädchen. »So eines hätte ich auch gern einmal!«

Die Freundin lachte dabei. Arglos.

Das Mädchen wusste, dass Lin sich so etwas nicht leisten konnte. Sie kannte sie nicht anders als in einem Stück Baumwolle, um das sie einen Baststrick knotete. Um es zusammenzuhalten. Ausgeblichen.

Es mochte sein, dass sie den Stoff in den Jahren durch ein neues Stück ersetzte. Und sie sich einen frischen Strick flocht, weil der alte nicht mehr taugte. Aber mehr nicht.

»Mehr brauche ich doch nicht!«, sagte sie immer.

Nur das Mädchen wusste, dass Lin sich manchmal schämte. Weil sie so arm war. Aber sie konnte sich ehrlich freuen für andere. So nahm sie sich ihren bescheidenen Anteil vom Glück der Welt. Mehr gab es nicht für sie, glaubte sie. Dabei war sie der herzlichste Mensch, den das Mädchen kannte. Sie hatte viel mehr verdient!

Das war der richtige Moment! Das Mädchen nickte Tong zu.

Und der griff hinter sich. Reichte ihr ein kleines Bündel.

Und das Mädchen legte es in Lins Hände. Im gleichen Augenblick, in dem sie ihr einen Kuss auf den Mund drückte.

»Da hast du!«, sie lachte Lin an, die ganz überrumpelt dastand.

Es glitzerte in den Augen der Freundin. Auf einmal tat es das. Obwohl keine einzige Laterne auf der Seebrücke frisch entzündet worden war. Und die Sterne genauso ruhelos blinkten wie zuvor. Es war einfach pures Glück, das in ihnen funkelte.

»Oh!«, Lin plapperte einfach drauflos. »Weshalb willst du es mir schenken? Es ist bestimmt sehr teuer! Das kann ich nicht nehmen! Ist zu gut für mich!«

Lin umarmte das Mädchen. Drückte sie ganz fest. Küsste ihren Hals. Sie wollte das Kleid zurückgeben. Hielt es dem Mädchen hin.

Die nahm sie deshalb an den Händen. Hielt sie fest. Und sah ihr in die Augen.

»Sei meine beste Freundin. Egal, was passiert!«, sie schob das Kleid erneut zu Lin hinüber.

Und die nahm das Geschenk diesmal an. Die gelben Blüten hatten ihren Blick endlich eingefangen. Es glitzerte noch viel mehr in ihren Augen. Mehr als vorhin.

»Trage es. Es ist längst bezahlt!«, das Mädchen sah Tong an.

Verstohlen. Sie hätte für diesen Moment durchaus einen viel höheren Preis bezahlt! Ihr Blick flog hoch empor. Bis hinauf zu den blinkenden Sternen. Und wieder hinab in Lins Gesicht. Damit Lins Augen funkelten. Und ihre.

»Ach herrje, was musstest du dafür weggeben?«, Lin schluchzte. »Hat Tong es besorgt?«

Das Mädchen nickte Lin zu. Und sah Tong in die Augen.

›Danke!‹, sagte ihr Blick.

Sie wusste, dass er verstand.

Dann half sie Lin, das alte Stück Stoff gegen das herrlich bunte Kleid zu tauschen. Gleich hier an Deck. Wozu in den stickigen Laderaum klettern? Heute Nacht war es dunkel genug!

Gemeinsam schnürten sie den Bambusstrick auf. Und kaum lag er auf dem Deck, beugte Lin sich nach vorn. Als mache sie Uttanasana. Sie zog sich den Stoff von den Schultern. Als häute sie sich. Und der Stoff rutschte immer weiter hinab. Das Mädchen sah erstaunt zu.

Lin verwandelte sich. Direkt vor ihren Augen! Unter dem Mond!

Etwas Neues kam zum Vorschein. Mit jedem Stück, das der alte Stoff freigab von ihr. Etwas, das sich noch nie gezeigt hatte. Geduldig gewartet hatte. Bis jetzt. Alles drehte sich vor den Augen des Mädchens. Auf einmal. Sie musste sich festhalten. Sonst wäre sie womöglich gefallen.

Lin stand vor ihr im Mondlicht. Aufrecht. Voller Erwartung. Und nackt.

Und obwohl das Mädchen Lin von jeher kannte. Heute Nacht nahm sie zum ersten Mal wahr, dass die Freundin längst eine Frau geworden war. Wunderschön. Sanft. Und mit einem betörenden Duft, der dem Mädchen die Luft nahm.

Mit einem Ruck riss sie sich von diesen Gedanken los. Nahm das Kleid in die Hände. Entfaltete es feierlich. Und hob es empor.

Und Lin ging in die Hocke und schlüpfte von unten hinein. In ihre neue Haut. Sie grinste vor Freude, als ihr Kopf wieder zum Vorschein kam. Und sie küsste das Mädchen auf den Mund. Innig und heiß.

Das Mädchen vermochte sich nicht zu regen. In diesem Moment musste sie sich an Lin festhalten. Also tat sie das.

»Danke!«, sagte Lin glücklich und löste sich von ihr. »Komm!«

Sie nahm das Mädchen an der Hand. Führte sie übers Deck.

Tong stand schweigend da, als die Mädchen sich vor ihm aufstellten. Eine neben der anderen. Damit er jede von ihnen bestaunen konnte. Und sein Blick flog hin und her zwischen ihnen beiden. Als könne er sich nicht entscheiden.

Es schien dem Mädchen, als genieße er dieses Geschäft. Ein wenig lächelte er. Nur ein wenig. So, als wäre er mit achtzehn bereits erfahren genug, um zu wissen, dass sie nicht das letzte Mal bei ihm gekauft hatte. Als wären sie bereits alte Freunde. Oder mehr. Er nickte jedenfalls zufrieden.

Oh je! Was sie alles hineinlegte in seinen Blick! Vielleicht sah er sie beide einfach nur an. Kundinnen, die bei ihm gekauft hatten. Sie fühlte sich noch immer benommen wegen Lin. Aber es kam ihr vor, als sehe er nur sie und ihre feuerroten Haare. Und es kribbelte in ihrem Bauch.

Wie auch immer. Sie konnte nicht anders. Sie musste Lin ansehen!

Die gelben Blüten auf dem grünen Stoff passten gut zu ihr! Das Mädchen stellte sich vor, wie Lin sich in der heißen Sommersonne mit ihnen bewegte. Wie sie alles bewegte. So wie eben. Die ganze Welt.

Das Kleid passte. Wie angegossen. Tong hatte einen sicheren Blick, was die Kleidergröße anging! Das Mädchen hatte immer gedacht, dass er bloß mit Proviant handelte. Auch Tong hatte viel mehr zu bieten, als sie bisher wusste!

Trotzdem. Sie fühlte sich traurig. Auf einmal. Es war, als fülle Schwermut sie ganz aus. Sie spürte, dass sie still sein wollte. Gerade jetzt! Dass ihre Seele einen Preis bezahlte, der sie teuer zu stehen kommen konnte. Sie hatte sich verliebt.

Das musste es sein! Jetzt wusste sie es. Ihre Kindheit war zu Ende! Das trieb ihr die Tränen in die Augen. Denn ein Teil von ihr wollte, dass alles so blieb wie vorher. Ihre Seele stand weit offen.

Lauf weg! Lauf!

»Du Hure! Zieh dich sofort wieder um!«, plötzlich stand Vater an der Reling. »Gib das zurück!«

Er brüllte regelrecht. Zeigte mit dem Finger auf sie. Und auf das Kleid. Achtete nicht auf die Zuschauer, die sich um ihn sammelten.

»Und dann kommst du mit!«, er fuchtelte mit dem Arm, direkt über ihnen.

Das Mädchen erschrak.

Vater taumelte! Mit der Flasche Rum in der Hand. Hielt sich unbeholfen daran fest. Irgendwie verkrampft. Als wolle er fort von ihr, und konnte es nicht. Und immer wieder zwischendurch schlug er sie gegen die Reling. Als wolle er sie zerschlagen. So wütend war er! Wie er schwankte! Wäre da nicht die Reling, würde er einfach ins Meer fallen und ertrinken.

Die Hilflosigkeit des Vaters machte dem Mädchen Angst. Was sollte sie tun, wenn ihm etwas geschah?

Wie er die Augen aufriss! Er stierte regelrecht.

Noch war die Flasche nicht geleert. Es fehlte aber nicht viel. Das Mädchen wusste, dass es die Dritte war heute Nacht!

Natürlich hatte er bemerkt, dass sie selbst spät in der Nacht nicht heimgekehrt war! Da war er auf die Suche gegangen!

Das Mädchen sah die Schlagader an seinem Hals. Ein schwarzer Schatten unter dem Mond. Ein heller Strich, der zuckte.

Vater kämpfte mit dem Zorn. Mit dem Rum. Und er verlor gerade. Gegen beide. Das machte ihr noch mehr Angst.

Eine Hure. So hatte er sie genannt.

Das Mädchen hatte von Frauen gehört, die sich für Geld weggaben. Irgendwo auf dieser Welt. Und sie hatte sich längst vorgestellt, wie es sich wohl anfühlte, wenn sie es so tat. Denn es wäre eine Fahrkarte fort von hier. Nur eine Möglichkeit. Eine Gelegenheit, vor der sie Angst hatte. Weil sie sie ergreifen könnte. Aber sie hätte nie gedacht, dass ihr eigener Vater sie so sah! Es klirrte in ihren Ohren, als sie sich den Klang des Wortes ausmalte. Aber er sagte die Wahrheit! Sie erschrak, als sie es zu begreifen schien.

Für ein Kleid hatte sie sich hingegeben. Was war das anderes als für Geld?

Sie war also eine Hure. Und Vater hatte Recht. Aber gerade versuchte er, über die Reling zu klettern, um sie sich zu holen! Sie musste sich beeilen!

Ohne etwas zu sagen, hastete das Mädchen vom Deck fort. Hinab in den Bauch des Kutters.

Dort lagen ja die Sachen, die zu ihr gehörten. Die Englischen.

In diesem Moment empfand sie die Musik, die oben spielte, als bedrohlich. »Lover Man« von Billie Holiday. Sie kannte das Stück noch gar nicht. Aber am liebsten wäre sie weggelaufen. Bloß das ging nicht. Nicht heute!

Sie musste sich umziehen. Mit nach Hause gehen. Für George. Sie konnte ihn doch nicht allein lassen!

Vor Aufregung zerriss sie sich an einem Haken auch noch den Ärmel. Als sie die Bluse überwarf. Nun würde Vater erst recht außer sich vor Zorn sein!

An Deck traute sie sich nicht, Tong ins Gesicht zu sehen. Mit gesenktem Kopf drückte sie ihm das Kleid in die Hände. Sie sah, wie heftig er atmete. Dass er Vater anstarrte. Sich nur mühsam beherrschte. Er durfte sich auf keinen Fall auf ihren Vater stürzen!

»Nicht!«, sie legte die Finger auf seinen Arm. »Er wird sich wieder beruhigen!«

»Beeil dich!«, Vater schrie im selben Moment.

Er hing schon halb über der Leiter, die zum Deck hinab führte. Wollte tatsächlich an Deck kommen!

Das Mädchen nickte Tong hastig zu. Lächelte Lin krampfhaft zu.

Die hatte sich hinter Tong versteckt. Wollte am liebsten unsichtbar sein. Stand wie ein regloser Geist da, dem das nicht gelang.

Auch Tong bewegte sich nicht. Weil er es nicht durfte. Sonst hätte er sich mit Vater geprügelt. Das Mädchen sah es in seinen Augen.

Keiner von ihnen wusste, wie mit der Situation umgehen. Das Mädchen sah die Panik in Lins Augen. Und die Fäuste, die aus Tongs warmen Händen geworden waren. Wieder nickte sie. Aber diesmal mehr, um sich selbst Mut zu machen. Den brauchte sie gerade.

»Keine Angst!«, geräuschvoll atmete sie aus.

Und auch wenn die beiden Freunde dankbar die Köpfe hoben bei diesen Worten. Das Mädchen hatte sie zu sich selbst gesprochen.

Danach kletterte sie die Leiter zur Seebrücke empor. Sie war noch nicht ganz auf den Bohlen angekommen, da ergriff Vater sie am Oberarm. Er zerrte sie daran so brachial auf die Plattform, dass sie sich das Knie an der letzten Stufe blutig schlug. Das Mädchen fiel der Länge nach auf die Bohlen. Sie krümmte sich, benommen vom Schmerz. Umfasste mit den Händen das Knie.

Tong musste losgerannt sein. Sie hörte, wie er die Sprossen erklomm. Spürte das Zittern der Leiter. Tapp, tapp! Gleich würde er bei ihr sein. Das Mädchen atmete. Sie war nicht allein! Voller Hoffnung hob sie den Kopf.

Aber Vater hatte plötzlich einen Revolver in der Hand.

»Bleib, wo du bist, Bursche!«, knarrte er und legte auf Tong an.

Dem Mädchen drehte sich alles im Kopf. Sie überlegte nicht mehr, was sie tun sollte. Dazu war keine Zeit. Sie zitterte, weil alles zu schnell ablief.

Sie sprang auf, obwohl ihr alles wehtat. Stellte sich direkt vor den Revolver. Ergriff mit beiden Händen den Lauf der Waffe. Presste ihn auf die Brust. Ließ nicht mehr locker. Auch, wenn Vater daran zerrte.

»Los! Erschieß mich!«, sie sah ihm direkt in die Augen. »Du Monster!«

Da war kein Glanz mehr in ihnen. Alles weg. Nur Dunkelheit. Und stinkender Rum.

Sie wollte eine Entscheidung. Selbst, wenn dann alles zu Ende war. Fühlte man sich so stark, bevor man starb? Sie sah auf ihre blutigen Finger.

»Ich habe es so satt! Das Jammern! Dein Gesaufe!«, sie stieß die Luft laut zwischen den schmalen Lippen hervor. »Hast du dir überlegt, wie es George dabei geht?!«

Dicke Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Und mir?«, sie fiel auf die Knie.

Immer noch hielt sie den Lauf des Revolvers fest. Drückte jetzt den Lauf an ihre Stirn. Von Weitem musste es aussehen, als würde sie hingerichtet. Ein Ende, bei dem die Heldin siegte. Und starb. Das Mädchen wollte aber nicht sterben! Sie wollte leben!

»Uns fehlt Mutter auch!«, schluchzte sie deshalb.

Ließ die Waffe los. Reckte den Kopf empor. Ließ die Arme sinken.

»Ich komme ja! Lass Tong in Ruhe! Ich bin Schuld, dass ich ihn liebe!«, mehr sagte sie nicht.

Konnte sie nicht.

Wenigstens blieb Tong hinter ihr stehen. Sie hörte, wie er den Atem anhielt. Er hatte alles gehört!

Vater stand ganz still auf einmal. Er sah sie an wie ein Wunder. Eines, das man nur einmal im Leben sieht.

»Liebe?! Hör auf zu träumen!«, verächtlich klang das aus seinem Mund. »Liebe ist Betrug! Sieh, was sie aus mir gemacht hat!«

Er zerrte sie empor und hielt sie fest. Drückte ihr den Oberarm mit den Fingern zusammen. Wie mit einem Schraubstock. Einer aus Fleisch und Knochen. Er hob sie so hoch, bis sie schief stand. Und das Blut sich in den Wangen sammelte. Weil er sie vorführte. Als Hure. Allen, die es sehen wollten. Jedem auf der Seebrücke.

Sie konnte nicht anders in seinem Griff. Sie musste neben ihm hertaumeln. Ihm folgen. Egal, wohin er ging. Die Seebrücke entlang. An den Gästen vorbei. Bis ins Haus.

Alle starrten das Mädchen an. Niemand sagte etwas. Doch wenn sie den Gaffern in die Augen sah, schauten die weg. Nichts schien dann wichtiger, als das Besteck auf dem Teller neu zu ordnen.

In ihrer Welt gehörte es sich wohl so. Jeder hatte seinen Platz, den er nicht verlassen durfte. Ein Mädchen wurde eben bestraft, wenn es nicht spurte. Wenn es sein musste, in aller Öffentlichkeit! Und Frank Sinatra plärrte »I’ll Never Smile Again« aus den Lautsprechern dazu. Toll! Das Mädchen spürte die Wut, die durch ihre Adern raste.

Nur Satria, der Koch, stellte sich ihnen in den Weg. Das Mädchen wusste, warum.

Während der Bauarbeiten hatte Vater am liebsten bei ihm gegessen. Zuerst am Strand. Dann, als es so weit war, in der Garküche auf der Seebrücke. Er hatte das Essen stets gelobt. Und viel Zeit dort zugebracht. Die beiden verband etwas. So etwas wie Freundschaft. Trotz des Gezanks ihrer Heimatländer. Denn Satria war Japaner. Aber das Wichtigste war, dass er sein Herz niemals versteckte. Genau deshalb hatte sie bei ihm ausgeholfen. Weil er wahrhaftig war. Und er sich freute, dass sie rote Haare hatte.

Nun stand Satria mit einer Kiste Gemüse vor dem Bauch mitten auf der Seebrücke. Und verstellte Vater den Weg. Und sie bekam eine kurze Pause vor dem Finale.

»Lass sie, William!«, er lächelte Vater milde an. »Sie ist jung. Auch wir waren ungestüm mit siebzehn!«

Vater besann sich einen Moment. Einen zu trägen Augenblick. Der Alkohol machte sein Denken langsam. Aber schließlich holte er Luft. Ganz tief. Das Mädchen hörte förmlich, wie es knackte in ihm drin.

»Nein, das waren wir nicht!«, Vater schob Satria grob beiseite. »Wir haben gelernt! Und gearbeitet! Von Früh bis Spät! Geh aus dem Weg, Koch! Das ist meine Angelegenheit!«

Er stieß das Gemüse aus der Kiste. Rempelte Satria noch einmal an. Damit er stolperte.

Das Mädchen erfasste mehr, als sie es sah, wie Satria zu Boden ging. Wie das Gemüse über die Bohlen kullerte. Trotzdem. Satria sah sie mitfühlend an, ehe er sich erhob und alles wieder auflas. Und nach einem Blick in Vaters Gesicht schüttelte er den Kopf.

»Es geht mich wohl nichts an, Herr Ingenieur!«, sagte er zu laut, am Ende.

Verächtlich fixierte er dabei Vaters Augen. Und noch immer schüttelte er den Kopf. Alle auf der Seebrücke sahen ihn an.

In dem Mädchen hallten seine Worte nach. Denn sie sah, wie Satria sich anschickte, weiter zu gehen.

Er war ein Mann, der den Tadel ertrug. Der wusste, dass er im Recht ist. Und dass es nur eine Frage der Zeit war, dass der andere es erkennen musste. Satria war ein Ritter. Ein weiser Krieger. Einer, der nicht mehr das Schwert zog, um etwas zu lösen. Sondern der den Kopf benutzte. Und Worte. Manchmal nur eines. Das hatte sie schon oft bei ihm beobachtet. Und auch diesmal hatte er getroffen. Nicht weniger, als hätte er das Schwert benutzt.

Denn Vater zitterte bei dem letzten Wort. ›Ingenieur‹.

Als wäre mit ihm die alte Freundschaft zerbrochen. Als wäre er selbst das nicht mehr.

Abrupt ging er weiter. Weg von dem Ort, an dem das passiert war. An dem er doch verloren hatte, am Ende.

Ab hier fasste er noch schmerzhafter zu. Besonders, als sie die Stufen zum Strand hinunter stolperten.

Weil das Mädchen versuchte, sich umzudrehen.

Er presste mit aller Kraft ihren Oberarm zusammen. Bis sie wieder nach vorn schaute.

»Du riechst tatsächlich wie eine Hure!«, Vater rümpfte die Nase. »Schäm dich!«

Nicht einmal nach Tong sehen durfte sie. Nicht einmal das. Erst, als sie sich in ihr Los ergab, lockerte er den Griff. Etwas wenigstens. Nicht einmal angesehen hatte er sie dabei! Als sei sie gar nicht da!

Das Mädchen hatte das Gefühl, als ersticke sie. Als wanke alles. In unförmigem Schwarz. Das Einzige, was sie schmerzhaft spürte, war Vaters Hand an ihrem Arm. Und er lief immer schneller.

Dreimal stolperte sie auf dem Weg nach Hause. Und jedes Mal, wenn ihr Herz dabei zu Boden ging, tat es verdammt weh! Der Weg hatte also doch Löcher im Zwielicht. Und vorhin, auf dem Hinweg, war es ein Zeichen, was noch kam. Nach dem Tanz mit Tong.

Sie hätte gern erklärt, was sie getan hatte. Und warum. Wünschte sich so sehr, dass sie es Vater erzählen könnte. Dass er mit ihr sprach. So wie früher einmal.

Doch Vater sagte kein Wort mehr zu ihr. Bis nach Hause nicht. Er schnaufte nur und ging mit ausladenden Schritten neben ihr her. Und jedes Mal, wenn sie anfangen wollte, etwas zu sagen, wurde er schneller. Es war ihm egal, ob sie mithielt oder nicht. Ganz gleich, wie er auch schwankte.

Als sie endlich ankamen bei dem Landhaus, wusste sie nicht einmal mehr, wie oft er sie deswegen angerempelt hatte auf dem Weg. Aber es war eklig. Jedes Mal. Aber nun waren sie zuhause. Da kam die Wut in ihr hoch.

»Das vergebe ich dir nie!«, knurrte sie, als Vater sie gleich hinter der Haustür auf den Boden der Diele stieß. »Niemals!«

Noch mächtiger stieg der Zorn in ihr auf, als sie sich wieder erhob. Überrumpelte sie.

Denn sie sah, wie er abschloss. Ihr so den Fluchtweg versperrte. Sie konnte nicht mehr fliehen. Oh, er würde ihr schrecklich wehtun diesmal! Aber auf einmal war ihr das egal. Auch, dass wieder Blut vom Knie tropfte, von seinem Stoß eben. Dass die weißen Strümpfe verdarben. Die Schuhe verschmutzten. Und der Teppich. Sie spürte keinen Schmerz. Jetzt nicht. Ihre Brust hob und senkte sich. Gleich würde sie sich vergessen. Sie musste ein Ventil finden. Angreifen.

»Warum verstehst du nicht, dass ich Teil der Insel bin?«, schrie sie ihn an. »Ich bin kein Engländer, so wie du! Keine Fremde! Ich bin mitten hineingeboren in diese Welt! Ich gehöre hierher!«

Sie stand in der Mitte der Diele. Aufrecht. Sie wollte, dass er ihr zuhört. Und da er ihr immer noch den Rücken zuwandte, redete sie weiter.

»Ich will mich mit Lin treffen. Mit Tong. Mit ihnen lachen. Und in die Sonne blinzeln, wenn es Zeit dafür ist am Strand. Oder zu den Sternen. Wie heute Nacht«, sie stemmte die Fäuste in die Hüfte. »Für dich aber zählt nur das altmodische Gehabe aus England! Mehr als mein Leben! Nutzloser Anstand. Wie in dem Adelspalast aus einem deiner Bücher!«

Sie lachte spöttisch. Fühlte, wie sie überdrehte.

»Du sagst, ich bin eine Hure!«, platzte alle Wut aus ihr hinaus. »Dabei benimmst du dich am meisten daneben!«

Ihr war, als sei alles gesagt. Auf einmal war es das. Tatsächlich. Alles, was sie in den letzten zwei Jahren geschluckt hatte, so wie er den Rum, hatte sie ausgesprochen.

Sein Schlag traf sie völlig unvorbereitet. Als sie die Faust sah, tat es schon weh.

Mit Wucht schlug sie gegen den Pfeiler der Treppe. Prallte schmerzhaft mit dem Kopf dagegen. Aber das Schlimmste war, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie spürte, wie das Blut von der geplatzten Wange lief. Jetzt war die Bluse restlos hin! Der Schädel dröhnte, als ob er platzen wolle. Aber sie konnte sich nicht rühren. Entsetzt sah sie zu, wie Vater den Ledergürtel aus dem Hosenbund zog.

»Ich werde dich lehren, so mit mir zu reden!«, er holte bereits aus.

Instinktiv riss das Mädchen die Arme vor das Gesicht. Doch der Treffer landete auf dem Körper. Die schwere Schnalle schlug hart auf ihrer Rippe auf. Sie hörte förmlich, wie die Haut unter der Bluse zerplatzte. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Verdammt, sie bekam keine Luft auf einmal! Da riss Vater sie bereits am Haarschopf von den Beinen. Warf sie zurück auf den Boden.

Sie landete auf dem Bauch. Presste die Hände schützend auf den Kopf. Der Rotz lief ihr aus der Nase. Und das Blut von ihrer Wange malte einen dunklen Fleck auf die Bohlen des Flurs. Ihr Gesicht musste tiefrot sein, so heiß, wie es sich anfühlte. Glühend vor Schmerz. Brennend aus Scham. Und wegen ihrer Wut.

Gerade, als sie aufspringen wollte, schlug er erneut zu. Der Schmerz auf dem Po drückte sie zurück auf die Dielen. Und er hörte nicht auf! Immer wieder schlug Vater zu. Unbeherrscht und grausam. Schnell. Er traf den Rücken. Die Schenkel. Selbst auf die Hände überm Kopf hieb er ein!

Das Mädchen wimmerte nur noch. Schlug mit zuckenden Beinen blind gegen die Wand und die Treppe. Sie wusste nicht mehr, wohin mit all dem Schmerz. Sie konnte sich einfach nicht vor ihm verstecken. So sehr sie sich auch wand. Er löste sich einfach nicht auf, bevor der nächste Schub kam!

Und dann rief George nach ihr. Er musste oben an der Treppe stehen.

›Er hat alles mit angesehen!‹, dachte das Mädchen.

Mehr nicht. Sie war nicht einmal erschrocken. Sie stellte es nur nüchtern fest. Weil der Schmerz sich in ihr austobte. Und alles andere in weite Ferne schob. Aber er wurde nicht mehr neu entfacht. Vater hatte aufgehört, sie zu verprügeln. Als sie das verstanden hatte, wagte sie es. Sie öffnete die Augen.

George stand tatsächlich an der Treppe. Mit aufgerissenen Augen hielt er sich am Pfosten fest. Als wäre er geschlagen worden. Und nicht sie. Sein Blick wechselte unstet hin und her. Zwischen ihr und Vater. George verstand die Welt nicht mehr! Das Mädchen sah es mit einem Blick. Sie sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Wollte sie jedenfalls.

Schon nach dem ersten mutigen Sprung knickte sie einfach ein. Knallte schmerzhaft auf die Stufen. Der Länge nach. Die Zähne knirschten, als der Unterkiefer gegen den Schädel presste und sie sich das Kinn aufrieb. Sie stieß sich die Rippen. Den Rest spürte sie gar nicht. Sie wusste auch nicht, wie sie sich empor stemmte. Nur, dass sie George in den Armen hielt, war wichtig! Und das schaffte sie. Sie verschloss sogar die Augen. Vor dem Unglück, das die Familie heimsuchte, immer mehr. Vor der Zukunft, die ihr Angst machte. Ausruhen. Nur einen Moment.

Sie streichelte seine blonden Haare. Versuchte, Halt zu sein für George. Trotzdem. Sie glaubte zu spüren, dass diesmal alles anders herum geschah. George tröstete sie! Der kleine Bruder hielt die Schwester fest. Und es grenzte an ein Wunder!

»Lauf weg!«, flüsterte George ihr zu. »Lauf!«

Es war mehr ein Raunen. Leise. Und wispernd. Als habe es Angst davor, entdeckt zu werden. Aber klar und deutlich.

»Lauf!«

Das Mädchen entspannte sich. Atmete aus. Wie leicht auf einmal alles schien! George gab sie frei! Sie hätte nie gedacht, dass er so klar entscheiden konnte. Wie falsch sie ihn eingeschätzt hatte! Er war mutiger als sie selbst! Und seine Werte standen längst fest! Sie war es, die seine Hand brauchte, um in die richtige Richtung zu laufen! Das Mädchen küsste ihn. Spürte, dass seine ganze Stirn nass wurde von ihren Tränen.

Da hörte sie, dass Vater sich bewegte. Unten. In der Diele. Sie wollte ihm auf keinen Fall den Rücken zukehren! Rasend schnell drehte sie sich um. Schob George hinter sich. Aber Vater kam nicht hinauf zu ihnen. Er blieb am Treppenansatz stehen. Starrte herauf zu ihnen. Nein. Zu ihr! Er glotzte sie an. Und danach legte er die Hand auf das Gesicht.

»Was habe ich getan?!«, stammelte er, fiel auf die Knie. »Oh Gott! Bitte, Mädchen! Vergib mir!«

Er wimmerte. Genau wie sie, als er sie geschlagen hatte. Als der Schmerz sie zerriss. Bloß, dass seiner in der Seele hauste. Aber das war ihr egal. Ihm war es ja auch gleich gewesen!

Obwohl das Mädchen ihm trotzig ins Gesicht starrte, fühlte sie sich hilflos. Und einsam. Wie noch nie. Aber sie spürte keine Angst. Obwohl ihr Gefühl sie hin und her riss.

Gewiss sorgte Vater sich um sie. Das hatte er bisher getan. Wirklich. Besonders, seit Mutter tot war. Aber es fiel ihm immer schwerer. Und sie machte es ihm gewiss nicht leicht. Ganz bestimmt nicht. Auch der Rum tat seinen Teil. Heute Nacht aber hatte er eine Grenze übertreten. Das war endgültig. Und das Mädchen wusste, dass sie ihm das nie verzieh.

Sie drehte sich um. Küsste George auf die Stirn. Behutsam. Innig. Zum ersten Mal empfand sie die Liebe für den Bruder, die sie sich immer gewünscht hatte. Warum erst jetzt, wo es zu spät dafür war? Es war doch zu spät?! Langsam drehte sie sich weg von ihm. Ging die Treppe hinab. Kämpfte mit den Tränen. Alles war kaputt.

Als sie an Vater vorbeiging, war sie auf alles gefasst. Er versuchte, ihre Hand festzuhalten. Sie hatte sogar den Eindruck, in diesem Moment, dass er alles tun würde, um die Sache ungeschehen zu machen. Dass er sich schämte für das, was er getan hatte. Und sich ändern würde, von Grund auf. Aber sie schlug die Hand fort. Sah, wie er stöhnend umfiel. Gleich an der Treppe. Wie er liegenblieb. Zusammengekauert. Dass er die Augen schloss.