Was das Sonntagskind erlauscht - Else Ury - E-Book

Was das Sonntagskind erlauscht E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Eine wundervolle Kurzgeschichtensammlung für Kinder von Else Ury. Höre zum Beispiel von dem schönen Hund Fifi, der zu sehr mit seiner eigenen Eitelkeit beschäftigt ist, von den Hausgeistern Flick und Flock, die plötzlich verschwinden oder von Lenis erstem Schultag. Das und noch vieles mehr erlebst du in dieser spannenden Sammlung.-

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Else Ury

Was das Sonntagskind erlauscht

Erzählungen und Märchen für Kinder im Alter von 6-9 Jahren

Saga

Was das Sonntagskind erlauscht

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1905, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883794

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Das Sonntagskind

Droben in dem schimmernden Feenreiche, da sitzen in einem lichtfunkelnden Saale all' die guten Feen und schauen mit lächelndem Blick auf die Menschen herab. Und jedesmal, wenn ein Sonntagskind auf die Welt kommt, dann schwebt eine von ihnen zur Erde hinunter und legt dem neugeborenen Kindlein ein Feengeschenk in die Wiege. Das Leben des Kindes aber wird durch die Gabe der guten Fee froh und glücklich, und die anderen Menschen sagen dann: »Es ist eben ein Sonntagskind!«

An einem schönen, klaren Sonntag war's, die Glocken läuteten gar feierlich durch das Land, da schlug wieder einmal ein Kindlein zum ersten Male die strahlenden Augen auf. Und in der Nacht schwebte lautlos aus dem Feenreiche eine lichte Feengestalt, das Märchen genannt, zu der Wiege des neugeborenen Mägdleins herab. Sie neigte sich über das schlummernde Sonntagskind und küßte seine Stirn. Dann nahm die liebliche Fee den Märchenschleier, den sie aus glitzernden, bunten Fäden gesponnen, und warf ihn über das schlafende Mägdlein. Das war die Gabe der Märchenfee; mit goldenen Schwingen flog sie wieder in das Feenreich zurück.

Das Sonntagskind aber wuchs heran, und der Märchenschleier wand sich, unsichtbar den Blicken der Menschen, um sein Blondköpfchen. Mit träumerischen Blauaugen blickte das kleine Mädchen durch das zarte Schleiergewebe in die Welt hinein.

Ach, was sah und hörte das Sonntagskind nicht alles durch seinen Märchenschleier; wenn die anderen Kinder im lauten Spiele durch die Gasse tobten, dann lehnte das Sonntagskind abseits unter der großen Linde, und der durch die Blätter streichende Wind säuselte ihr ins Ohr:

»Was leise flüstert der Abendwind,

Das hörst nur du, du Sonntagskind!«

Und er erzählte der lauschenden Kleinen die herrlichsten Märchen; was hatte der Wind, der durch so viele, viele Länder wehte, nicht alles geschaut und erlebt! –

Mittags, wenn die liebe Sonne in das Stübchen flimmerte und Millionen kleiner, goldener Sonnenstäubchen durch die Luft schwirrten, dann griffen wohl auch die anderen Kinder nach den leuchtenden Goldstäubchen; aber nur das Sonntagskind sah durch seinen Märchenschleier, daß das gar keine Stäubchen waren, sondern winzige, goldene Engelchen, die auf den glitzernden Sonnenstrahlen gar lustig auf die Erde herabritten.

Und der Mann im Monde sandte des Abends, wenn das Sonntagskind in seinem Bettchen lag, die silbernen Mond-Elfchen zu ihm herab, die sangen dem kleinen Mädchen die schönsten Märchen ins Ohr.

Von den funkelnden Sternlein tanzten glitzernde Sternschnuppen vom nächtlichen Himmel hernieder, und es tönte leise ins Ohr des Mägdleins:

»Was die Sonne, der Mond und die Sternlein geschaut,

Nur dir, dem Sonntagskind, sei es vertraut!« –

Am heißen Sommertage lag das Sonntagskind an der kühlen Waldquelle und lauschte dem Märchen, das der geschwätzige Quell murmelte, von den Wassernixen, die unten auf dem Grunde im kristallnen Palaste hausen. –

Wenn im Frühling die Störche und Schwalben aus heißen Ländern heimkehrten, dann erzählten sie dem Sonntagskinde, was sie auf der weiten Reise geschaut. Und der Storch klapperte, und die Schwalbe zwitscherte:

»Gar viel haben wir in der Ferne geseh'n,

Du, Sonntagskind, nur kannst uns versteh'n!« –

Im Winter aber, wenn der Schnee in dichten Flocken zur Erde herabwirbelte, und die Kinder unter Lachen und Jauchzen den grimmigen Schneemann bauten, dann preßte das Sonntagskind sein Blondköpfchen gegen die Fensterscheibe, schaute in das lustige Schneetreiben hinaus, und die herniedertanzenden Flocken erzählten dem kleinen Mädchen von dem bläulich funkelnden Eispalast droben in den Wolken, und durch ihren Märchenschleier erblickte es die schimmernde Eiskönigin in ihrem glitzernden Eiszapfengewande. –

Die allerschönsten Märchen aber wußte das flackernde Kaminfeuer der Kleinen zu berichten, – hei! – wie das knisterte und prasselte, und atemlos lauschte das Sonntagskind den Märchen, die das knatternde Holz aus Wald und Heide erzählte. Aus den Flammen zischte es zu dem Mägdlein empor:

»Was ich schaut' in der Heide auf Waldesmoos,

Du Sonntagskind vernimmst es bloß!« –

So wuchs das Sonntagskind heran, und all' die schönen Märchen, die es durch seinen Märchenschleier geschaut und erlauscht, hat es niedergeschrieben, daß sich auch all' die anderen Kinder auf der Welt daran freuen sollen.

»Und für euch Kleinen erzählt jetzt geschwind

Die schönsten Märchen das Sonntagskind!«

Naschkätzchen

»So – Elschen – du sollst auch bei Papas Geburtstagstorte helfen, geschwind, reibe mir die Mandeln auf dem kleinen Reibeisen,« sagte die Mutter lächelnd, der Kleinen eine große Tüte mit süßen Mandeln zuschiebend.

Mit leuchtenden Blicken machte sich Elschen an die Arbeit. Ei, wie schön das ging – lustig sprangen die weißen und braunen Mandelflöckchen in den Napf.

Ob sie wohl schön süß waren? – Elschen machte begehrliche Augen; ach – wenn Muttchen sich doch nur einmal umdrehen wollte! Muttchen aber drehte sich nicht um, ein Ei nach dem anderen schlug sie in die duftende Kuchenmasse und knetete sie mit dem weißen Mehl zusammen.

Elschens eben noch so fröhliches Gesicht wurde mit einem Male ganz brummig; verdrossen rieb sie die Mandelkerne, die lustige Arbeit machte ihr auch kein bißchen Spaß mehr – wenn sie doch nur heimlich eins der hübschen, braunen Kernchen in den Mund spazieren lassen könnte! Aber die liebe Mutter, die ihr doch sicherlich gern eine Mandel geschenkt hätte, darum zu bitten, das fiel dem kleinen Mädchen nicht ein.

»Anna, ist der Backofen auch gut heiß?« fragte die Mutter und wandte sich prüfend dem Herde zu. Schwapp – hatte Elschen eine große Mandel in den Mund geschoben. Doch da – in der Hast kam das Fingerchen zu dicht an das Reibeisen.

»Au« – schrie Elschen und lief bitterlich weinend zur Mutter. Tröstend verband die gute Mutter das blutende Fingerchen; sie sah nicht Elschens verlegenes Gesicht, als sie ihr als Schmerzensgeld zwei wunderschöne, braune Mandeln schenkte. Die Kleine durfte zusehen, wie die großen und die kleinen Rosinen in den Teig gerührt wurden; das sah hübsch aus, fast wie wenn die dunklen Spatzen im Winter auf dem weißen, beschneiten Gärtchen draußen hockten.

Doch als sich die Mutter umwandte, um die Form auszuschmieren, da konnte es sich das naschhafte, kleine Mädchen nicht versagen, ganz geschwind das gesunde Fingerchen in den Teig zu tauchen und eine Rosine herauszufischen.

Die Torte war fix und fertig; eine große »Vierzig«, aus Teig geformt, prangte in der Mitte, denn morgen wurde der liebe Vater ja vierzig Jahre alt. –

Braun und knusprig, über und über mit Zucker bestreut, stand die prächtige Torte neben all den anderen schönen Gaben am nächsten Morgen auf dem Geburtstagstisch; die Mutter war hinausgegangen, um den Vater zur Bescherung hineinzurufen. Mit sehnsüchtigen Augen stand Elschen vor der Torte. Auf dem Boden neben ihr spielte ihr kleines, weißes Kätzchen Mimi, dem sie zu Ehren des Geburtstages ein blaues Seidenschleifchen umgebunden hatte.

Ach, wie herrlich duftete doch die Torte!

Elschens Finger kamen der Vierzig bedenklich nahe – nur ein ganz kleines Stückchen – Vater würde es ja nicht merken! Hei, wie schön das schmeckte! Noch ein ganz klein wenig – wieder näherte sich das Kinderhändchen der Torte – und noch einmal – da war die Vier ganz und gar in Elschens Mund verschwunden; einsam thronte die Null auf der Geburtstagstorte. Entsetzt schaute Elschen auf das zerstörte Backwerk – nein – so ging es nicht, nun mußte die Null auch schon herunter. Da – hörte sie Schritte – o weh, die Eltern kamen – mit zitternden Fingern riß Elschen hastig nun auch noch die Null von dem Kuchen und ließ sie geschwind in die Tasche ihres Kleidchens gleiten.

Sie wagte dem guten Vater, der sein Töchterchen liebevoll in die Arme schloß, kaum in die Augen zu blicken, scheu sah sie zu, wie die Mutter ihn freudestrahlend an den Geburtstagstisch und zu der selbstgebackenen Torte führte.

Aber ach – wie sah dieselbe aus! Die Vierzig fehlte, und ein großes Stück war aus der Mitte herausgerissen. Betrübt schaute die Mutter auf ihr verdorbenes Geschenk. Tränen des Ärgers traten ihr in die Augen, da fiel ihr Blick auf das harmlos auf dem Fußboden herumspielende Kätzchen.

»Das war gewiß wieder Mimi, das naschhafte Kätzchen,« rief sie ärgerlich; denn daß ihr Töchterchen ihr die Freude so gestört haben könnte, das kam der guten Mutter nicht in den Sinn.

Sie griff zu dem Rohrstock – und hui – da sausten die Schläge auf das arme, unschuldige Kätzchen herab. Jämmerlich miaute Mimi – Elschen aber schwieg, sie wagte es nicht, ihre Schuld einzugestehen; doch als das Kätzchen sie gar so vorwurfsvoll anblickte, da begannen Elschens Tränen zu fließen.

»Wie weichherzig das Kind ist,« sagte die Mutter zum Vater, »nun weint sie, daß ich das böse Kätzchen für seine Naschhaftigkeit bestrafe.«

Und Elschen – schwieg weiter, aber die Geburtstagsfreude hatte sie sich gründlich verdorben! – – –

»Komm', mein Kind, du sollst dem kranken Nählieschen ein Gläschen von unseren schönen, eingemachten Kirschen hintragen,« sprach die Mutter eines Tages zu Elschen, »die werden sie ein wenig erquicken. Geschwind, laß dir ein reines, weißes Schürzchen vorbinden und bestelle dem armen Nählieschen einen schönen Gruß.«

Elschen machte sich auf den Weg.

Es war ein prächtiger Sommertag, golden flimmerte die Sonne hernieder; ein linder Wind jagte die weißen Lämmerwölkchen am blauen Himmelszelt lustig vor sich her.

Nählieschen wohnte nicht weit, nur durch den schönen, schattigen Park mußte Elschen gehen, dann kam sie zu den kleinen, armseligen Häusern draußen in der Vorstadt, wo die arme Näherin krank daniederlag.

Elschen ließ sich Zeit, es war herrlich im Park, vorsichtig trug sie ihr Gläschen mit Kirschen vor sich her. Wie die Sonnenstrahlen auf dem Gläschen spielten und glitzerten, wie verlockend die roten Kirschen im Sonnenlicht zu Elschen emporleuchteten!

Das Naschkätzchen konnte nicht widerstehen!

Eine Kirsche nach der anderen wanderte in ihren Mund – wie süß und saftig sie schmeckten – wie erquickend mußte nun erst der schöne Saft von den Kirschen sein!

Kein Mensch ringsherum – nur die Schwäne auf dem Teich machten lange Hälse und schauten dem Naschkätzchen erstaunt zu. Da nahm Elschen das Glas schnell an den Mund – einen großen Schluck – ach – da lief der rote Saft an dem weißen Schürzchen herunter, erschreckt hielt Elschen im Naschen inne.

Was nun?

So durfte sie nicht nach Hause kommen, da merkte die Mutter gleich, daß sie genascht hatte. Elschen wußte sich zu helfen. Flink band sie das Schürzchen ab und warf es in den Teich, lustig schwamm es davon, und argwöhnisch sahen die Schwäne auf das seltsame Ding.

Elschen aber lief weiter zum Nählieschen, und beschämt mußte sie den warmen Dank der armen Kranken für die schönen Kirschen, von denen sie doch die Hälfte fortgenascht hatte, über sich ergehen lassen.

Muttchen merkte nicht, daß Elschen sich heimlich zu Hause ein anderes Schürzchen umband; aber als die alte Waschfrau das nächste Mal die Wäsche brachte, da vermißte die Mutter das weiße Schürzchen.

Hoch und heilig versicherte die Frau, es sei nicht bei der Wäsche gewesen; aber die Mutter, die das Schürzchen nirgends sah, mußte doch glauben, daß die Waschfrau es entwendet habe. Die arme Frau bekam keine Arbeit mehr – und Elschen schwieg wieder dazu. – –

»Ich weiß gar nicht, wo das Schokoladenpulver immer bleibt,« sagte Köchin Anna unwirsch, als sie das Morgengetränk für den Vater kochte.

Elschen wußte es, wo es geblieben war; jeden Morgen, wenn Anna auf den Markt einkaufen ging, stattete Elschen der Schokoladentüte einen längeren Besuch ab.

Auch heute war sie noch vor der Schule heimlich in die Küche hinausgehuscht; vorsichtig, daß die Tür nicht knarrte, öffnete sie den Vorratsschrank.

Heut' lagen gar zwei Schokoladentüten nebeneinander; flink griff Elschen in die eine und stopfte, so viel nur hineingehen wollte, von dem bräunlichen Pulver in den Mund.

Pfui – wie schmeckte das! Elschen würgte und würgte, aber sie hatte den größten Teil schon hinuntergeschluckt. Da fing sie jämmerlich an zu weinen; das war ja gar kein Schokoladenpulver, das war sicherlich Gift!

»Ach – Mutter – liebstes Muttchen – ich muß sterben!« laut schreiend lief sie zu der erschreckten Mutter.

Jammernd und sich vor Angst windend, beichtete sie, daß sie genascht, und die entsetzten Eltern stellten aufatmend fest, daß Elschen an die Tüte mit – Putzpulver geraten war. Trotzdem das Pulver nicht giftig war, sandte man sofort zum Arzt. Wimmernd lag Elschen im Bett.

»Lieber Gott,« betete sie, »laß mich doch nur nicht sterben, ich will ja in meinem ganzen Leben nicht wieder naschen!«

Der Doktor gab Elschen ein Brechpulver, und dann mußte sie im Bett liegen und konnte am nächsten Tage nicht mit auf das schöne Gut zu Großpapa, worauf sie sich doch so gefreut hatte.

Das war ihre gerechte Strafe!

Aber der lieben Mutter beichtete Elschen ganz leise, wer die Vierzig von Vaters Geburtstagstorte fortgenascht hatte, und wohin das weiße Schürzchen verschwunden war.

Da weinte die Mutter bittere Tränen über ihre mißratene, kleine Tochter, und das tat Elschen viel, viel weher als die ärgsten Schläge.

Elschen hat ihr Wort gehalten; in ihrem ganzen Leben hat sie nicht wieder genascht – das Naschkätzchen war gründlich kuriert.

Das Regenbogenprinzesschen

Wo das Meer in wilden Wogen an den sandigen Strand brandet, weit, weit fort, stand eine einsame Fischerhütte.

Dort wohnte ein armer Fischer mit seinem Weibe und seiner kleinen Pflegetochter Edda. Jede Nacht fuhr er mit seinem Kahne ins brausende Meer hinaus und kehrte gegen Morgen mit vollen Netzen wieder heim, darin krabbelten große und kleine Seefische, die trug dann seine liebe Frau zum Verkauf in die Stadt. So lebten sie schlecht und recht.

Die kleine Edda mußte mit ihren zarten Fingerchen die groben Netze ausbessern, barfuß mußte sie an dem nassen Strand dahinlaufen und große Muscheln und bunte Steinchen suchen, die das Meer herangeschwemmt hatte. In den langen Winterabenden klebte sie dieselben auf rote Kästchen und trug sie dann im Sommer, wenn die Badegäste in das nahgelegene Seebad eingekehrt, zum Verkauf.

Ein jeder schaute wohl dem seltsam schönen Kinde mit dem durchsichtigen, weißen Gesichtchen, in dem die veilchenblauen Augen sternengleich strahlten, und dem wehenden, schimmernden Goldhaar verwundert nach; wie kamen die einfachen Fischersleute zu solch einem Töchterchen?

Vor acht Jahren war's, bei der großen Sturmflut, das Meer raste und toste, schaurig brauste und heulte der Wind in den Lüften.

Da legte sich mit einem Male der Sturm, trotz des noch strömenden Regens brach die Sonne golden durch – ein wunderbarer, farbensatter Regenbogen spannte sich über das Meer.

An dem Ufer aber in dem weißen Sande fand die Fischersfrau ein kleines, rosiges Mägdlein von etwa zwei Jahren, das weinte; ein feines, goldenes Kettchen trug es um den Hals – keiner wußte, woher das Kind gekommen. Das war die kleine Edda!

Die gute Frau nahm das hilflose Mägdlein mit heim, gab ihm warme Milch zu trinken und zog es an Kindesstatt auf. Aber das kleine Mädchen war und blieb anders als all die übrigen seegebräunten, rotbäckigen Kinder des Fischerdorfes. Ihr Gesicht und ihre Händchen blieben trotz der brennenden Sonne weiß und zart, niemals sah man sie an den wilden, lauten Spielen der anderen Fischerkinder teilnehmen, stundenlang lag sie in dem weichen, warmen Sande, horchte dem Rauschen des Meeres zu und starrte träumerisch in die blaue, durchsichtige Luft.

»Das Prinzesschen« nannten sie die Kinder in der Schule höhnend; darüber weinte die kleine Edda bittere Tränen. Aber wenn sie später allein am Meeresstrande lag, dann dachte sie doch manchesmal: »Bin ich vielleicht wirklich ein kleines Prinzesschen?« Und sie betrachtete das feine, goldene Kettchen, das sie noch immer um den Hals trug.

Eines Tages ging sie wieder Muscheln suchend am Strande entlang, da flimmerte es in dem weißen Sande. Edda beugte sich herab und hob ein merkwürdig geformtes, dreikantiges Stück Glas auf, das funkelte bunt in Sonnenlicht. Sie hielt das Glas ans Auge und blickte hindurch: »Ein Regenbogen!« jauchzte sie; rot, orange, gelb, grün, blau und violett schimmerte ein leuchtender Regenbogen über dem Meer. Edda war selig über den herrlichen Fund, sorgsam verbarg sie das kostbare Glas in ihrem grauen Leinenkittel.

So oft sie konnte lief sie jetzt an das Meer hinaus und zauberte sich den farbenprächtigen Regenbogen herauf. Viele Stunden schon schaute Edda eines Tages bei strahlendem Sonnenschein wieder durch ihr Zauberglas; immer deutlicher und deutlicher sah sie die herrlichen Farben, sie kamen näher – immer näher – jetzt hüllten sie die kleine Edda mit ihrem bunten Schimmer ganz und gar ein! Der weiße, sonnendurchglühte Strand mit dem Fischerhäuschen, das wogende Meer verschwand plötzlich – Edda war mittendrin in der glänzenden, roten Farbe des Regenbogens! Aber das war keine rote Farbe mehr – ein prächtiger, riesengroßer Garten war's, da blühte und leuchtete der schönste, rote Mohn.

Glückselig lief Edda durch die schimmernden Mohnfelder, die so wunderbar waren, wie sie die kleine Edda nimmer geschaut hatte. Die Mohnblüten waren fast wie ein kleiner Wald so hoch, sie waren größer als Edda selbst, stolz wiegten sie ihr brennend rotes Köpfchen auf dem schlanken, grün behaarten Stengel. Die dichten Mohnbüsche taten sich vor Edda von selbst auseinander, und die Blüten neigten ehrfurchtsvoll ihr Haupt wie vor einem kleinen Prinzesschen. Ein leises Rauschen ging durch das wogende Mohnfeld, es flüsterte in den Halmen; deutlich vernahm Edda die Worte:

»Rot – rot – wie Blut so rot.

Bringen Schlaf und frühen Tod,

Pflück' mich doch, ich bitt',

Edda nimm mich mit.«

sang die größte Mohnblüte. Schon streckte Edda die Hand nach der leuchtenden Blume aus, um sie zu pflücken, da flog plötzlich ein purpurrotes Marienkäferchen ihr auf die Schulter und summte ihr ins Ohr:

»Prinzesschen, folg' nicht dem lockenden Ton,

Verwandelst sonst selbst dich in roten Mohn.«

Da zog Edda erschreckt die Hand zurück und ging weiter. Die purpurnen Büsche schlossen sich hinter ihr, und sie kam in den zweiten Garten des Regenbogens.

Hier glühte alles im orangefarbenen Schein, rötlich gelb leuchtete es, schattige Orangenhaine wölbten sich über Edda, saftige Orangenfrüchte hingen von den Bäumen herab. Ganz erschöpft war Edda von dem weiten Weg, sie legte sich unter einen Orangenbaum und schloß die müden Augen. Da hörte sie im Traum ein leises Rauschen in den Zweigen:

»Saftig und süß wir Orangen sind.

Komm' und pflück' uns, du Königskind.«

Ach, sie war ja so durstig und so verschmachtet! Schon hob sie die Hand nach der lockenden Frucht, da flog ein orangefarbener Falter ihr auf die Schulter und summte:

»Prinzesschen, folg' nicht dem lockenden Traum,

Sonst wirst du selbst zum Orangenbaum!«

Da stand Edda geschwind von dem weichen Lager auf und lief erschreckt aus dem Orangenhain hinaus.

Jetzt kam sie in den dritten Garten, da strahlte alles in funkelndem Gold. Goldgelbe Sonnenblumen standen majestätisch nebeneinander, die waren so groß, daß sie sich mit ihren glänzenden Strahlenblättern wie ein schützendes Dach über Edda schlossen. Hellauf jauchzte Edda beim Anblick der gelben Blumenpracht, das schimmerte und gleißte wie eitel Gold. Die Sonnenblumen streuten goldene Funken auf Eddas wehendes Blondhaar; die schönste aber neigte sich vor ihr und sang:

»Wind' uns zum Krönchen, so funkelnd wie Gold,

Setz' uns aufs Köpfchen, du Königskind hold!«

Da faßte Edda die leuchtende Sonnenblume, schon wollte sie die goldenen Blumenblätter zur Krone flechten, da schwirrte eine goldene Fliege ihr auf die Schulter und summte ihr ins Ohr:

»Laß ab – laß ab – in einem Nu

Wirst sonst zur Sonnenblume du!«

Sie ließ die glänzenden Blätter entsetzt los und lief hinaus aus dem goldenen Garten.

Weiter ging sie und kam an ein großes, grünschimmerndes Wasser. Daraus wuchs manneshoch grünes Schilf empor; das schwankte und neigte sich im leisen Winde. Am Ufer lag ein kleiner, grüner Nachen zum Einsteigen für Edda bereit, ein grünschillerndes Glühwürmchen saß am Steuer. Edda stieg in den Nachen, und dahin glitt er auf den sanft schaukelnden Wellen. Das Glühwürmchen steuerte mit seinen Fühlhörnern sicher durch das dichte Schilf, das bog sich und rauschte:

»Es wehet das Schilf, es flüstert im Rohr,

Zieh' Edda uns aus den Wassern empor!«

Schon berührte das nickende Schilfrohr das weiche Händchen Eddas, da wisperte das Glühwürmchen am Steuer ihr zu:

»Laß steh'n, Prinzesschen, ohne Hilf'

Wirst sonst du selbst zu grünem Schilf!«

Und schnell führte das Glühwürmchen den Nachen ans andere Ufer. Edda stieg aus und wanderte weiter.

Da sprang ein munteres, silberhelles Bächlein durch einen himmelblauen Garten übermütig dahin; leuchtend blaue Vergißmeinnicht umkränzten es und schauten Edda mit frommen Sternenaugen an. Edda lief an dem Bächlein entlang über die blauen Vergißmeinnicht, aber sie zertrat die Blümchen nicht; die zarten Blüten beugten sich unter ihrem Füßchen und richteten sich hinter ihr wieder auf. Leise und fromm klang es zu Edda empor:

»Sind wie der Himmel so blau und licht,

Komm' Edda, pflück' das Vergißmeinnicht!«

Und Edda neigte sich herab zu den holden Blümelein und strich ihnen liebkosend über das Köpfchen. Da flog eine kleine Blaumeise ihr auf die Schulter und zwitscherte ihr ins Ohr:

»Prinzesschen, laß stehn, sonst wirst du – ach –

Selbst ein Vergißmeinnicht am Bach!«

Da flossen Edda die Tränlein aus den Augen, gar zu gern hätte sie die Blümlein gepflückt, aber sie hörte auf das warnende Gezwitscher der kleinen Blaumeise, ließ die blauen Blümchen stehen und lief weiter.

Gar süß duftete es jetzt um Edda; sie kam in einen großen Garten, da gab es nichts als Veilchen. Wohin sie auch blickte, schimmerte es violett, herrlich groß standen die samtweichen Veilchen umher, wie ein leuchtend violetter Teppich breiteten sie sich vor Edda. Mit müden Augen blinzelte Edda in das blaue Gewoge um sich herum. Da sah sie plötzlich ein funkelndes, buntschimmerndes Schloß aus dem Garten herüberleuchten; sie wollte hinlaufen, aber der Kopf und die Glieder waren ihr von der betäubenden Veilchenluft so schwer, daß sie sich nicht fortbewegen konnte. Leise klang es ihr ins Ohr:

»Es flimmern wir Veilchen zart violett,

Wirf dich ins duftige Veilchenbett,

Prinzesschen pflück' ab uns zur Decke,

Die müden Gliederlein strecke!«

Verlockend dufteten die Veilchen zu ihr auf. Da warf sich Edda in die schwellende Veilchenpracht; sie hörte nicht auf das mahnende Zirpen der kleinen Grille:

»Prinzesschen, schlaf nicht, nur ein Weilchen

Und du wirst selbst zum Veilchen!«

Mit vollen Händen riß sie die duftenden Blüten heraus, die hüllten sie weich und warm wie eine Samtdecke ein, Edda fiel in einen tiefen Schlaf.

Als sie daraus erwachte, rieb sie sich die Äuglein und schaute verwundert um sich. Was war mit ihr geschehen? Sie stand nicht viel über dem Erdboden zwischen all den anderen Veilchen; ihre Beine steckten fest in der dunklen Erde, sie waren zu zarten Würzelchen geworden, ihr weißer Körper war zu einem winzigen, grünen Stiel zusammengeschrumpft, statt des blonden Köpfchens trug sie eine leuchtende, violette Blüte; die kleine Edda hatte sich in ein süßduftendes Veilchen verwandelt. Da weinte sie bitterlich, und die Tränen hingen als große Tautropfen an ihren Blumenblättern.

So stand die kleine Edda als Blauveilchen in dem Garten, der das funkelnde, bunte Schloß umkränzte. In dem Schloß aber lebte der König und die Königin vom Regenbogenland. Die schöne, bleiche Königin saß traurig sinnend auf der Terrasse, die in den Veilchengarten hinabführte.

Heute war wieder der Jahrestag, an dem ihr einziges Töchterchen plötzlich verschwunden; acht Jahre war es nun schon her! Lange schon hatte sie die Hoffnung, ihr Kind jemals wiederzusehen, aufgegeben; aber sie konnte ihren verlorenen Liebling noch immer nicht vergessen. Das kleine, zweijährige Mädchen spielte vor ihren Augen auf der Regenbogenbrücke, da kam es dem Rande der Brücke zu nahe, ein Schrei – die kleine Edda versank in der Tiefe!

Ein wirbelnder Windstoß hatte das kleine Prinzesschen erfaßt, er wehte es durch all' die farbenprächtigen Regenbogengärten – tiefer – immer tiefer herab – bis auf die Erde. Niemals hatten die Eltern ihre kleine Edda wiedergesehen; sie war und blieb verschwunden, alle Nachforschungen des Königs und all' die heißen Tränen, welche die Königin um ihr verlorenes Töchterlein weinte, blieben erfolglos. – – –

Tränenden Auges trat die Königin in den Veilchengarten hinaus und schritt durch die duftigen Blüten. Da sah sie plötzlich im Grase ein Veilchen blühen, das war so zart, samtweich und leuchtend violett und duftete süßer als all' die anderen. Die Königin neigte sich zu dem holden Blümchen herab, grub es vorsichtig aus und strich liebkosend mit ihren weißen, zarten Fingern über sein blaues Blütenköpfchen. Es wurde dem Blauveilchen, der verwandelten, kleinen Edda, so warm ums Herz unter der liebevollen Berührung der weichen Hand der Königin.

»So blau wie das süße Veilchen waren die Augen meines Kindes,« dachte die Königin betrübt, neigte sich auf das Veilchen herab und küßte leise und innig die blauen Blütenblättchen.

Da gab es einen lauten Knall – der Boden rings umher dröhnte – ein Wirbelwind machte sich auf – er riß das Blauveilchen aus der Hand der Königin, statt dessen stand – ein liebliches, zehnjähriges Mägdelein mit leuchtendem Blondhaar vor der Regenbogenkönigin und schaute sie mit schimmernden Veilchenaugen an.

»Mein Kind – meine Edda!« rief die Königin, denn schon hatte sie ihr Töchterchen an dem goldenen Kettchen, das es um den Hals trug, erkannt. Selig schloß sie den wiedergefundenen Liebling in die Arme, und vertrauensvoll schmiegte Edda das Köpfchen an die Brust der Mutter. Im ganzen Regenbogenlande herrschte großer Jubel über die Wiederkehr der kleinen Regenbogenprinzessin, und der König ließ in seiner Herzensfreude seine farbenprächtigen Gärten in den leuchtendsten Farben erglühen; das sahen all' die Kinder unten auf der Erde und jauchzten:

»Ach – der wunderschöne Regenbogen!«

Onkel Doktor

»Onkel Doktor kommt – Onkel Doktor kommt!« riefen die Kinder und stürzten dem lieben Onkel Doktor mit der goldenen Brille und dem gütigen Lächeln jubelnd entgegen.

Klärchen hing sich an seinen linken Arm, Friedchen an den rechten, und der Erich hielt sich an seinen beiden langen Rockschößen fest. So brachten sie ihn im Triumpf herein; alle hatten sie ihn lieb, den guten Onkel Doktor, der mit jedem Kinde sein Späßchen machte.

Nur der Günther, der dumme, kleine Günther, hatte Angst vor ihm; der verkroch sich in die dunkelste Ecke der Kinderstube, wenn er seinen Wagen vorfahren hörte und schrie wie am Spieß, wenn er hervorgeholt wurde, um artig guten Tag zu sagen und seine Zunge zu zeigen. Und dabei tat doch der Onkel Doktor keinem Kinde weh; er zeigte ihnen seine schöne Uhr, die ganz von selbst schlagen konnte und seine feine, goldene Schnupftabaksdose mit den hübschen Bildern. Klärchen, die schon in die Schule ging, bekam für jede gute Zensur eine süße Tüte, Friedchen mußte all' ihre Puppen vorführen, und Onkel Doktor fühlte einer jeden den Puls, und Erich ließ er auf seinen Knien reiten, daß es eine Lust war. Und Märchen konnte er erzählen; kein anderer wußte so herrliche Geschichten wie Onkel Doktor; war ein Kind krank und hatte artig die bittere Medizin eingenommen, dann erzählte er zur Belohnung ein schönes Märchen.

Auch heute drängten sich die Kinder wieder um sein Knie, sie hatten alle drei schon artig ihre Zunge gezeigt und ganz still gehalten, als Onkel Doktor den Puls gefühlt hatte; nur der Günther stand wieder in seiner Angstecke und war nicht herauszukriegen.

»Nun, Günther,« fragte Onkel Doktor, »willst du mir nicht auch guten Tag sagen?«

Günther aber bohrte unartig das Gesicht in seine kleinen Händchen und rührte sich gar nicht. Da kümmerte sich Onkel Doktor nicht mehr um den ungezogenen Jungen.

»Wißt ihr, Kinder,« sagte er zu den anderen drei, »ich habe heute gerade einen freien Nachmittag, ich lade euch ein, mit mir eine Spazierfahrt in meinem Wagen zu machen.«

»Ach, Onkel Doktor – liebes Onkelchen!« jauchzten die Kinder.

»Na, erdrückt mich nur nicht mit euren Zärtlichkeiten, sonst kann aus der Spazierfahrt nichts werden,« sagte der Onkel Doktor lachend, »geschwind, laßt euch fertig machen.«

Die Kinder stürmten davon, und auch Günther kam aus seiner Ecke heraus, aber er sah den Onkel Doktor nicht an.

»Ich möchte auch mit,« klang es nach einem Weilchen von den Lippen des Kleinen.

»Du,« – sagte Onkel Doktor erstaunt, »du hast ja Angst vor mir!«

»Ich könnte mich ja auf den Bock zum Kutscher setzen, dann brauchte ich dich nicht zu sehen,« meinte Günther etwas kleinlaut.

Aber Onkel Doktor schüttelte ernst den Kopf.

»Nein, mein Junge – Kinder, die nicht guten Tag sagen und Angst vor mir haben, die nehme ich nicht mit!«

Und Günther mußte zu Hause bleiben!

Ach, wie drückte er das Näschen sehnsüchtig gegen die Fensterscheibe, als die anderen Kinder lachend in dem prächtigen Wagen davonsausten; ein Tränchen nach dem anderen rollte über seine dicken Bäckchen, denn süße Milch mit Erdbeeren hatte der gute Onkel den Kindern in der Meierei, wohin die Fahrt gehen sollte, ja auch noch versprochen.

Und als abends nun alle fröhlich heimkehrten und nicht genug von dem herrlichen Ausflug erzählen konnten, wie der Onkel Doktor mit ihnen im Walde so schön »Verwechsel' das Bäumchen« und »Dritten abschlagen« gespielt habe, da tat es dem Günther doch sehr leid, daß er so unartig gewesen, aber – er sagte das nächste Mal wieder nicht guten Tag.

Diesmal brachte der Onkel Doktor den Kindern eine Einladung in seinen großen Garten zum Ostereier-Suchen, und wieder stand der Günther in seiner Ecke; er wäre so gern auch eingeladen worden, aber er war zu eigensinnig, um artig »Guten Tag, lieber Onkel Doktor!« zu sagen.

So mußte er also auch diesmal zu Hause bleiben, und der Osterhase legte ihm kein einziges Ei!

Eines Tages hatte sich Günther den Magen gründlich verdorben, es war ein Tag nach seinem Geburtstag; er hatte zu viel von der großen Torte gegessen. Er fieberte stark, und die Mama steckte ihn ins Bett und schickte zum Onkel Doktor.