Was der Morgen bringt - Eva Ibbotson - E-Book

Was der Morgen bringt E-Book

Eva Ibbotson

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Beschreibung

Ein Koffer und tausend Reichsmark pro Person. Mehr bleibt den Bergers nicht, als sie 1938 aus Wien fliehen. Zurück lassen sie ihre Zwölf-Zimmer-Wohnung in der Beletage eines herrschaftlichen Hauses mit Hof, in dessen Mitte eine Kastanie steht. Ebenso Professor Bergers hart erarbeitete Stelle als Universitätsdekan. Ihre Freunde, Heimat und Kultur. Was sie nicht wissen: Auch ihre Tochter Ruth ist noch in Österreich, die Einreise nach England mit dem Studentenvisum wurde ihr an der Grenze verwehrt. Der britische Professor Quinton Somerville, ein Freund ihres Vaters, findet Ruth mutterseelenallein in den leeren Wohnräumen, wo sie wieder und wieder auf dem Klavier dieselbe Phrase spielt. Er sieht nur eine Möglichkeit, Ruth zu retten: Sie müssen heiraten. Der Plan glückt, doch in London angekommen, verzögert sich die Auflösung der Scheinehe immer  wieder. Während Ruth versucht, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, und sehnsüchtig auf die Ankunft des Pianistenwunderkinds Heini wartet, den sie seit jeher liebt, lernen Quinton und sie sich näher kennen. Und ganz langsam fangen sie an, sich mit anderen Augen zu sehen.  

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Eva Ibbotson

Was der Morgen bringt

Aus dem Englischen von Mechtild Ciletti

Kampa

Prolog

Wien war schon immer eine Stadt der Mythen gewesen. Da gab es vor dem Ersten Weltkrieg den alten Kaiser Franz Joseph, der in einer eisernen Bettstatt schlief, nie ein Buch las und jeden Gründonnerstag, einem kirchlichen Ritual folgend, zwölf alten Männern die Füße wusch.

Es bleibe ihm auch nichts erspart, hatte der Kaiser geseufzt – und so war es wahrhaftig. Seine unstet umherreisende neurotische Gattin wurde auf der Uferpromenade in Genf von einem wahnsinnigen Anarchisten niedergestochen und getötet; sein Sohn, Kronprinz Rudolf, erschoss sich und seine Geliebte im Jagdschloss von Mayerling. Lauter tragische Geschehnisse – aber eben der Stoff, aus dem Legenden entstehen, und dem Fremdenverkehr ungeheuer förderlich.

Dies war das Wien, von dem aus die Geschicke des Vielvölkerstaats gelenkt wurden; eine Stadt der Paraden und festlichen Umzüge, in der man jeden Abend im Parkett des Opernhauses die feschesten blau-weiß-silbernen Uniformen sehen konnte, da jeder Offizier im Dienst das Recht hatte, die Aufführungen kostenlos zu besuchen. Es war das Wien der Lipizzaner, der Lieblinge der Stadt, deren Stallungen sich in einem Palais mit einem herrlichen Arkadenhof befanden und die aus dem Totentanz des Krieges ein Pferdeballett machten, während ihnen Männer mit feierlichen Gesichtern und goldenen Schaufeln folgten, um ihre edlen Exkremente aus dem tadellos gerechten Sand zu entfernen.

Diese Ära versank im Blutvergießen und Elend des Ersten Weltkriegs. Doch die Stadt überlebte irgendwie den Tod Franz Josephs, die Abdankung seines Neffen Karl, Österreichs vernichtende Niederlage, den Untergang des Kaiserreichs. Und für die Fremden wurden neue Mythen geboren. An schönen Tagen konnte man ihnen Professor Freud zeigen, der auf der Terrasse des Café Landtmann sein Bier trank. Arnold Schönberg, der Begründer der atonalen Musik, gab Konzerte, die vielleicht nicht verständlich waren, aber zweifellos von Bedeutung, und wenn auch keiner genau wusste, was logischer Positivismus war, so war doch klar, dass die Philosophen, die ihn vertraten, der Stadt Ruhm und Ansehen brachten.

 

Leonie Bergers Familie lebte seit hundert Jahren in Wien, und sie hatte ihre eigenen Mythen.

»Ich selber bin Professor Freud noch nie im Landtmann begegnet«, sagte sie zu einem interessierten Besucher. »Ich begegne dort immer nur meiner Cousine Fritzi mit ihren verwöhnten Kindern, die zwischen den Tischen herumturnen.«

Leonies Vater, Nachkomme wohlhabender Wollhändler aus dem Mährischen, besaß in der Mariahilfer Straße ein großes Warenhaus, seine Tochter aber hatte einen Akademiker geheiratet. Kurt Berger war schon in den Dreißigern, Dozent an der Universität, als er eines Tages beim Überqueren des Stephansplatzes unter einer Meute gefräßiger Tauben die Verzweiflungsschreie eines jungen Mädchens hörte. Er verscheuchte die gierigen Vögel und stieß auf eine zerkratzte und sehr hübsche Blondine, die sich ihm weinend in die Arme warf.

»Ich wollte es dem heiligen Franz von Assisi nachmachen«, jammerte Leonie, die dem alten Mann, der das Taubenfutter verkaufte, gleich sechs Päckchen Körner abgenommen hatte.

Kurt Berger hatte eigentlich nicht vorgehabt zu heiraten, aber nun heiratete er doch und konnte keinem außer sich selbst einen Vorwurf machen, als er entdeckte, dass Leonie sich sozusagen niemals mit einem Tütchen Körner zufriedengeben würde, wenn es auch sechs sein konnten.

Leonie vergötterte ihren Mann, der erst eine Professur für Wirbeltierkunde erhielt, dann Direktor des Naturhistorischen Museums und schließlich Hofrat wurde. Mit der Präzision eines Toscanini dirigierte sie seinen Tagesablauf, reichte ihm, wenn er morgens um acht aus dem Haus ging, eigenhändig seine Aktentasche und den Schirm mit dem silbernen Griff, ließ ihm innerhalb von fünf Minuten nach seiner Rückkehr das Mittagessen servieren und ermahnte die Angestellten zur Ruhe, während er sein Mittagsschläfchen hielt. Sie wusste über die Menge an Stärke in seinen Hemdkrägen so genau Bescheid wie über seinen täglichen Stuhlgang; sie wimmelte aufdringliche Studenten ab und brachte ihm in einer silbernen Flasche sein bevorzugtes Mineralwasser in ihre Opernloge. Und das alles hinderte sie nicht daran, auch noch an den Krankheiten, Geburtstagen und Liebesgeschichten unzähliger Verwandter Anteil zu nehmen, sie zu bewirten, zu besuchen, ihnen unter die Arme zu greifen.

Die Bergers wohnten in der Innenstadt, in der Beletage eines großen Mietshauses mit einem Hof, in dessen Mitte eine Kastanie stand. Die betagte Mutter des Professors war in zwei der zwölf Zimmer untergebracht; und auch seine unverheiratete Schwester Hilda, eine Anthropologin, deren Spezialgebiet die Verwandtschaftssysteme der Mi-Mi in Betschuanaland waren, hatte ihre eigenen Räume. Leonies Onkel Mishak, ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einer romantischen Vergangenheit, wohnte im Mezzanin. Aber sie wären natürlich keine echten Wiener gewesen, wären sie nicht am letzten Tag des Semesters in die Berge gereist. Die Kronländer des alten Habsburgerreichs hatte man den Österreichern ja gelassen: Tirol, Kärnten, die Steiermark – und das regenreiche Salzkammergut, wo die Bergers an einem tiefen grünen See, dem Grundlsee, ein Holzhaus besaßen.

Die Vorbereitungen für das »einfache Leben«, das man dort führte, kosteten Leonie wochenlange Planung. Schließkörbe wurden aus dem Keller heraufgeschleppt und mit Steingut und Porzellan, mit Federbetten und Wäsche gefüllt. Stadtkleidung wurde eingemottet; Dirndlkleider wurden gewaschen, Lodenmäntel und Tirolerhüte herausgeholt und die Dienstmädchen mit dem Zug vorausgeschickt.

Dort, auf der Veranda am Wasser, schrieb der Professor an seinem Buch Die Evolution des fossilen Gehirns, Hilda verfasste ihre Aufsätze für die Anthropologische Gesellschaft, und Onkel Mishak angelte. An den Nachmittagen jedoch kam das Vergnügen zu seinem Recht. Von Freunden, Verwandten und Studenten begleitet, die zu Besuch kamen, unternahm man Ruderausflüge zu unwirtlichen Inseln oder wanderte unter ekstatischen Ausrufen wie »Oh! Alpenrosen!« und »Ah! Enzian!« durch Blumenwiesen. Da am See auch jede Menge Ärzte, Juristen, Theologen und Streichquartette ihre Häuser hatten, ergaben sich von Blumengruppe zu Blumengruppe oft hochgeistige Gespräche. Man wurde von Mücken gestochen, zog sich an den Badehütten Splitter in die nackten Füße, färbte sich mit Heidelbeeren die Zähne blau, und jeden Abend versammelte man sich, um behaglich zuzusehen, wie die Sonne hinter den schneebedeckten Gipfeln versank.

Am letzten Augusttag wurden dann die Dirndl weggehängt, die Körbe wieder gepackt – und man kehrte pünktlich zur neuen Spielzeit des Burgtheaters und der Oper und zum Beginn des Wintersemesters nach Wien zurück.

 

In diese vom Glück gesegnete Familie wurde – als der Professor bereits auf die vierzig zuging und seine Frau alle Hoffnung auf ein Kind aufgegeben hatte – eine Tochter geboren, die man Ruth taufte.

Das Kind, das von Wiens renommiertestem Gynäkologen zur Welt gebracht wurde, zog Scharen von Doktoren, Professoren, Universitätshonoratioren und Laureaten an, die ihm ihre Aufwartung machten, mit Gelehrtenfingern sein Köpfchen streichelten und nicht selten Goethe deklamierten.

Trotz dieses Aufmarschs an Intelligenz ließ Leonie ihre alte Kinderfrau aus Vorarlberg rufen. Sie kam mit der hölzernen Wiege, die schon seit Generationen in der Familie war, und der Säugling lag nun im Hof unter dem Kastanienbaum, eingelullt vom Klang der süßen und albernen Liedchen von Rosen und Nelken und Schäfern, die die Kinder vom Land mit der Muttermilch einsaugen. Anfangs schien es, als würde sich Ruth zu genau so einer kleinen Gänseliesel entwickeln. Ihr Haar, als es endlich zu wachsen begann, hatte die Farbe des Sonnenlichts; ihre Stupsnase zog Sommersprossen an; ihr Lächeln war strahlend und süß. Aber keine Gänsemagd umklammerte je die Seiten ihres Bettchens mit solch energischer Entschlossenheit; keine Gänseliesel hatte so wissbegierige, lebenshungrige dunkelbraune Augen.

»Ein Milchmädchen mit den Augen der Nofretete«, sagte ein angesehener Ägyptologe, der zum Abendessen kam.

Sie unterhielt sich für ihr Leben gern, sie musste alles wissen; sie war ein kleiner Tausendsassa und überzeugt, sie könnte die ganze Welt in Ordnung bringen.

»Solche Wörter sollte sie aber noch nicht kennen!«, sagten Leonies Freundinnen schockiert.

Doch die Wörter hatten es Ruth angetan. Und das Wissen.

Der Professor, ein großer, patriarchalisch wirkender Mann mit grauem Bart, an die Bewunderung seiner Studenten gewöhnt, führte sie selbst durch das Naturhistorische Museum, wo er seine eigenen Räume hatte. Mit sechs war sie mit den Mühen und Komplikationen, die mit der Paarung einhergehen, bereits bestens vertraut.

»Ein bisschen traurig ist das schon, oder?«, sagte sie, während sie an der Hand ihres Vaters die eingeglasten Spinnen betrachtete, die ihren Männchen die Köpfe abbissen, um die Befruchtung zu beschleunigen.

Von der weltfremden Tante Hilda, die es fertigbrachte, morgens ihren Rock verkehrt herum anzuziehen und so in die Universität zu gehen, lernte Ruth den Wert der Toleranz.

»Man darf fremde Kulturen nicht an den Maßstäben der eigenen Kultur messen«, sagte Tante Hilda, die an einer Monographie über ihre geliebten Mi-Mi schrieb – und Ruth akzeptierte schnell, dass es bei gewissen Stämmen eben zum Ritual gehörte, die Großmutter zu verspeisen.

Die Forschungsassistenten und Hilfskräfte der Universität kannten sie so gut wie die Präparatoren im Museum. Mit acht durfte sie ihrem Vater beim Sortieren der Zähne der fossilen Höhlenbären helfen, die er in der Drachenhöhle gefunden hatte, und es war klar, dass sie später seine Assistentin werden, seine Bücher tippen und ihn auf seinen wissenschaftlichen Exkursionen begleiten würde.

Ihr kleiner kahlköpfiger Onkel Mishak, der noch immer um seine verstorbene Frau trauerte, führte sie in eine ganz andere Welt ein. Mishak hatte zwanzig Jahre lang pflichtbewusst in der Personalabteilung des Warenhauses seines Bruders gearbeitet, aber im Grunde seines Herzens war er ein Landkind geblieben und pflegte durch die Stadt zu streifen, wie er früher durch die böhmischen Wälder gestreift war. Wenn Ruth mit Mishak zusammen war, gab es immer irgendein Tier zu füttern – eine Ente im Stadtpark, ein Eichhörnchen – oder etwas zu streicheln – einen müden Fiakergaul an den Toren zum Prater, die steinernen Zehen des Neptun auf dem Springbrunnen in Schönbrunn.

Und natürlich war da ihre Mutter, Leonie, die sie herzte und küsste, die sie tadelte und schalt; die zutiefst verletzt sein konnte von der bissigen Bemerkung einer Großtante und nichts mehr von dieser Tante wissen wollte, nur um sich bei nächster Gelegenheit mit einem riesigen Blumenstrauß unter Tränen mit ihr zu versöhnen; die Ruth in das Warenhaus ihres Großvaters schleppte, um sie mit Matrosenkleidern und Lackschuhen und seidenen Faltenröckchen auszustaffieren, und die sie anschrie, wenn sie von der Schule nach Hause kam.

»Wieso bist du in Englisch nicht die Beste? Du hast dich von dieser dummen Inge überflügeln lassen«, rief sie dann – und lud Ruth gleich darauf zum Trost zu Schokoladeneclairs bei Demel ein. »Na ja, sie hat ja auch eine Nase wie ein Ameisenbär, die Arme, da kann man es ihr gönnen, dass sie wenigstens in Englisch die Beste ist«, sagte sie abschließend; aber im folgenden Jahr importierte sie eine schottische Gouvernante, um dafür zu sorgen, dass ihre Ruth in Englisch alle übertrumpfte.

Das Kind wuchs heran; kapriziös, leidenschaftlich, klug; empfahl Geburtenkontrolle für die Katze seiner Großmutter und weinte herzzerreißend, als es bei der Weihnachtsaufführung in der Schule nicht die Schneekönigin spielen durfte, sondern nur einen Eiszapfen.

»Hört sie eigentlich nie auf zu reden?«, fragten Leonies Freundinnen – dabei war sie ganz leicht zum Schweigen zu bringen. Eine Zurechtweisung, ein unfreundliches Wort ließen sie augenblicklich verstummen.

Und noch etwas: Musik.

Ruths Liebe zur Musik war so sehr Teil ihres Wiener Erbes, dass zunächst keinem auffiel, wie ausgeprägt sie war. Von frühester Kindheit an war sie wie gebannt und durch nichts abzulenken, wenn irgendwo Musik gemacht wurde, und es gab bestimmte Orte, »Musikplätze« nannte sie sie, zu denen es sie hinzog wie einen durstigen Büffel zum Wasserloch.

Da war zum einen das Erdgeschossfenster der schäbigen alten Hochschule für Musik, in der das Ziller-Quartett probte; dann der Konzertsaal – der Musikverein –, wo man die Philharmoniker spielen hören konnte, wenn der Hausmeister so nett gewesen war, die Tür offen zu lassen. Ein blinder Geiger unter all den Straßenmusikanten fesselte sie so sehr, dass sie ganz blass wurde vor Konzentration. Ihre Eltern zeigten Verständnis; sie bekam Klavierstunden, die ihr Freude machten, sie bestand ihre Prüfungen, aber sie sehnte sich nach einer Brillanz, die ihr fehlte.

Kein Wunder, dass sie lange Zeit mit großen Augen den Geschichten über ihren Cousin Heini in Budapest lauschte.

Heini war knapp ein Jahr älter als Ruth, und er kam ihr vor wie ein Junge aus einem Märchen. Seine Mutter, Leonies Stiefschwester, hatte einen ungarischen Journalisten namens Radek geheiratet, und Heini wohnte an einem Ort, der Rosenhügel hieß, hoch über der Donau in einer gelben, von Apfelbäumen beschatteten Villa. Etwas weiter hangabwärts stand das Grabmal eines türkischen Paschas; vom Balkon der Radeks aus konnte man den mächtigen Fluss sehen, der den ungarischen Ebenen entgegenströmte, die anmutigen Brücken, die ihn überspannten, die Türmchen und Giebel des Parlaments, einem Traumschloss ähnlich. In Budapest nämlich fließt die Donau anders als in Wien mitten durch das Herz der Stadt.

Aber das war nicht alles. Im Alter von drei Jahren kletterte Heini eines Tages auf den Klavierhocker seines Vaters.

»Es war wie ein Nachhausekommen«, erzählte er später den Journalisten. Mit sechs Jahren gab er in dem Saal, wo Franz Liszt gespielt hatte, sein erstes Konzert. Zwei Jahre später durfte er Béla Bartók vorspielen, und der große Mann nickte beifällig.

Aber im Märchen gibt es immer auch traurige Ereignisse. Als Heini elf war, starb seine Mutter, und das strahlende Wunderkind wurde beinahe zur Waise, da sein Vater, Herausgeber einer deutschsprachigen Zeitung, Tag und Nacht arbeitete. Deshalb beschloss dieser, dass Heini sein Studium in Wien fortsetzen und sich dort auf den Eintritt in das Konservatorium vorbereiten sollte. Der Junge sollte bei seinem Lehrer wohnen, einem hoch angesehenen Klavierpädagogen, doch seine Freizeit würde er bei den Bergers verbringen.

Niemals vergaß Ruth die erste Begegnung mit ihm. Sie war gerade von der Schule nach Hause gekommen und hängte ihren Ranzen auf, als sie die Musik hörte. Ein langsames Stück, und traurig, aber in aller Traurigkeit so richtig, so – getröstet.

Ihr Vater und ihre Tante waren noch in der Universität; ihre Mutter war in der Küche und konferierte mit der Köchin. Von der Musik angezogen, eilte Ruth durch die Flucht von Räumen – das Speisezimmer, den Salon, die Bibliothek – und öffnete die Tür des Musikzimmers.

Zuerst sah sie nur den riesigen Deckel des Bechstein-Flügels, der wie ein schwarzes Segel ins Zimmer ragte. Dann spähte sie um ihn herum und erblickte den Jungen.

Er hatte ein schmales Gesicht, schwarze Locken, die ihm wirr in die Stirn fielen, und große graue Augen. Als er sie bemerkte, lächelte er, ohne die Hände von den Tasten zu nehmen, und sagte: »Hallo.«

Sie lächelte ebenfalls, ehrfürchtig vor Entzücken, das ihr diese Musik bereitete, überwältigt von der Autorität, die er ausstrahlte, so jung er auch war.

»Das ist Mozart, nicht wahr?«, sagte sie und seufzte, denn sie wusste schon, dass in Mozart alles war; wenn man sich an ihn hielt, konnte man nicht falschliegen. Zwei Jahre zuvor hatte sie begonnen, sich ihm in ihren Tagträumen zu nähern, und hatte ihn mit ihren Kochkünsten und ihrer Fürsorge weit über sein sechsunddreißigstes Jahr hinaus am Leben erhalten.

»Ja. Das Adagio in b-Moll.«

Er hörte auf zu spielen und sah sie an, und sie gefiel ihm. Ihr blondes Haar, das zu einem altmodischen dicken Zopf geflochten war, gefiel ihm, ihre Stupsnase gefiel ihm, die frische weiße Bluse und der Faltenrock gefielen ihm. Vor allem aber gefiel ihm die Bewunderung in ihren Augen.

»Ich sollte dich nicht stören«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Es stört mich nicht, wenn du bleibst, solange du leise bist«, sagte er.

Und dann erzählte er ihr von Mozarts Star.

»Mozart hatte einen Star«, sagte Heini. »Er hat ihn in einem Käfig in dem Zimmer gehalten, in dem er arbeitete, und es störte ihn nie, wenn der Vogel sang. Im Gegenteil, er hatte es gern, wenn der Star da war, und hat seinen Gesang im Finale des Klavierkonzerts in G-Dur verwendet. Wusstest du das?«

»Nein.«

Ihr dicker Zopf flog, als sie den Kopf schüttelte.

»Du kannst mein Star sein«, sagte Heini.

Sie nickte. Es war eine Ehre und ein Geschenk, das begriff sie sofort.

»Gern«, sagte Ruth.

Und von da an setzte sie sich, wann immer es ging, in das Zimmer, in dem er übte, manchmal mit ihren Hausaufgaben oder einem Buch, meist nur, um seinem Spiel zuzuhören. Sie blätterte ihm um, wenn er mit Noten spielte, und ihre kleinen spitzen Finger berührten die Seiten so leicht wie Schmetterlingsflügel. Sie wartete nach den Stunden auf ihn, sie brachte seine zerschlissenen Beethoven-Sonaten zur Buchbinderei, damit sie neu gebunden wurden.

»Sie macht sich zu seiner Dienstmagd«, sagte Leonie nicht unbedingt erfreut.

Aber Ruth vernachlässigte weder ihre Schularbeiten noch ihre Freundinnen, irgendwie fand sie Zeit für alles.

»Ich möchte so leben, wie Musik klingt«, sagte sie einmal, als sie aus einem Konzert im Musikverein kam.

Indem sie Heini diente und ihn liebte, kam sie dieser Vorstellung näher.

 

Heini blieb also in Wien und verbrachte den Sommer zusammen mit einem gemieteten Klavier bei den Bergers am Grundlsee.

In diesem Sommer, dem Sommer 1930, kam auch ein junger Engländer namens Quinton Somerville nach Wien, um bei Professor Berger zu arbeiten.

Quin war gerade dreiundzwanzig Jahre alt, aber er hatte bereits anderthalb Jahre in Tübingen unter dem berühmten Paläontologen von Huene gearbeitet und brachte, als er in Wien eintraf, nicht nur ausgezeichnete Deutschkenntnisse mit, sondern auch eine für einen so jungen Wissenschaftler beeindruckende Reputation. Noch während seines Studiums in Cambridge war es ihm gelungen, sich einer Expedition nach Tanganjika zu den Lagerstätten der Riesenechsen von Tendaguru anzuschließen. Im folgenden Jahr reiste er zum Kap, wo man in einem Kalkbruch den Schädel des Australopithecus africanus gefunden hatte, was eine hitzige Kontroverse über den Ursprung des Menschen auslöste. Es war nicht leicht, in all den Auseinandersetzungen unter Wissenschaftlern wilde Spekulationen und Effekthascherei zu vermeiden, doch Quins Dissertation über die Funde von Säugetiergebeinen in der Olduvai-Schlucht war sowohl fundiert als auch nüchtern.

Kurt Berger lernte ihn auf einer Konferenz kennen und lud ihn als Gastredner zur Jahresversammlung der Paläontologischen Gesellschaft nach Wien ein. Vielleicht, meinte er, könnte er einige Wochen bleiben und ihm bei der Bearbeitung einer neuen Sammlung von Aufsätzen zur Wirbeltierkunde helfen.

Quin kam. Sein Vortrag wurde ein Erfolg. Er war eben aus Kenia zurückgekehrt und sprach voller Begeisterung über die aufregenden Ausgrabungsarbeiten und die Schönheit des Landes. Er hatte eigentlich vorgehabt, sich in einem Hotel einzumieten, aber davon wollte Kurt Berger nichts wissen.

»Sie wohnen selbstverständlich bei uns«, sagte er und nahm ihn mit in die Rauhensteingasse, wo seine Familie sich höchst verwundert zeigte. Denn es war bekannt, dass Engländer, besonders solche, die auf Forschungsreisen gingen und waghalsige Kletterpartien unternahmen, stets groß und blond waren, stechende blaue Augen, ein wieherndes Organ und einen arroganten Ton hatten, mit dem sie über Eingeborene und Untergebene verfügten. Bestenfalls sahen sie, wenn sie aus sehr guter Familie kamen, ausgebleicht und wie gemeißelt aus wie Kreuzritter auf Grabmälern, mit langen, aristokratischen Nasen und sehnigen Händen, die über ihren Schwertern gefaltet waren.

In all diesen Punkten war Quin eine Enttäuschung. Er hatte ein Gesicht, das aussah, als müsste es gebügelt werden; die hohe Stirn konnte sich von einem Moment auf den anderen in beunruhigend tiefe Falten legen; seine Nase wirkte irgendwie deformiert, wie gebrochen, und die häufig amüsiert, immer forschend blickenden Augen waren von einem tiefen, beinahe südländischen Braun. Nur die wohlgeformten Hände, mit denen er eine alte Pfeife zu stopfen und zu klopfen pflegte (aber nur selten anzündete), hätten auf einem Grabmal bestehen können.

»Aber seine Schuhe sind handgenäht«, behauptete Miss Kenmore, Ruths schottische Gouvernante. »Er ist eindeutig upper class.«

Leonie war geneigt, dies aufgrund der Fiaker zu glauben, die nach dem Theater oder der Oper mitten auf der Ringstraße augenblicklich wendeten, wenn Quin nur mit den Fingern schnippte.

»Sonst könnte er wohl kaum so gut schießen«, sagte Ruth. Der Engländer hatte im Prater an der Schießbude eine Kristallschale, einen Goldfisch und ein riesiges himmelblaues Kaninchen gewonnen und war daraufhin von dem erbosten Schießbudenbesitzer aufgefordert worden, anderswo die Regale abzuräumen. Was konnte dies anderes bedeuten als Jahre fröhlichen Halalis auf windigen Hochmooren, wo man Fasanen, Rebhühnern und Moorhühnern den Garaus machte?

 

Die Realität sah anders aus. Quins Mutter war bei seiner Geburt gestorben; sein Vater, der zum Stab der britischen Botschaft in der Schweiz gehörte, meldete sich 1916 freiwillig an die Front und fiel an der Somme. Quin wurde heimgeschickt auf den Stammsitz der Familie und fand sich in einem Haus mit lauter alten Leuten. Ein cholerischer, herrschsüchtiger Großvater – der gefürchtete »Basher« Somerville – war der Hüter Quins früher Jahre, und die unverheiratete Tante, die nach seinem Tod Quins Erziehung in die Hand nahm, schien kaum jünger. Aber wenn auch keiner da war, der dem verwaisten Jungen Wärme schenkte, so wurde ihm doch etwas gegeben, das er hoch zu schätzen wusste: Freiheit.

»Lassen Sie den Jungen sich austoben«, riet der Hausarzt vernünftigerweise, als Quin bald nach seiner Ankunft in Bowmont ein langwieriges Fieber bekam, für das es keine rechte Erklärung gab. »Für die Schule ist später noch Zeit. Er ist ja ein aufgeweckter Bursche.«

Quin bekam also eine Gnadenfrist, ehe er sich der Monotonie britischer Internate ergeben musste, und richtete sich in seiner eigenen geheimen und durchaus beglückenden Welt ein. Viele Kinder, insbesondere Einzelkinder, schaffen sich einen unsichtbaren Spielgefährten, der sie durch den Tag begleitet. Bei Quin war das, seit er acht Jahre alt war, kein imaginärer Bruder oder verständnisvoller Junge in seinem Alter, sondern ein Dinosaurier. Das Tier – ein Brontosaurus, den er Harry nannte – war zwanzig Meter lang. Sein Kopf, wenn er ihn durchs Kinderzimmerfenster steckte, füllte den ganzen Raum aus, und sein herzerwärmendes Lächeln hatte nichts Bedrohliches; er fraß ja nur den Bambus im Gebüsch und die Farne und Moose im Wäldchen, das an den Rasen angrenzte.

Ein Artikel in einer Jugendzeitschrift hatte Quin mit Harry bekannt gemacht; Conan Doyles The Lost World führte ihn tiefer in die Fabelwelt der Vorgeschichte. Er wurde der Anführer der Dinosaurier, ein Mowgli der jurassischen Sümpfe, der selbst den schrecklichen Tyrannosaurus rex zähmte, auf dessen Rücken er ritt.

»Ich muss sagen, es ist wirklich nicht schwer, ihn zu unterhalten«, erklärte sein Kindermädchen, das keine Ahnung hatte, dass kein Spiel und keine Geschichte es mit den Dramen aufnehmen konnten, die Quin in seinem Kopf in Szene setzte. Von den Dinosauriern aus marschierte er vorwärts und rückwärts durch die Erdgeschichte. Er las von den geologischen Schichten der Erde, von Leuchtfischen und den Säugetieren des Pleistozäns. Als er elf war, setzte er beinahe täglich sein Leben aufs Spiel, wenn er auf der Suche nach Fossilien in Klippen und Steinbrüchen herumkletterte. In den alten Stallungen hatte er begonnen, eine Sammlung anzulegen, der er den stolzen Namen »Somerville-Museum für Naturgeschichte« gab. Als er älter wurde und Harry allmählich verblasste, wurde das Museum erweitert, nahm nun auch die Meeresproben auf, die er überall fand. Denn Quins Zuhause stand ja an der Nordsee über dem sandgesäumten Halbmond der Bowmont-Bucht, deren Felstümpel sein Kinderzimmer waren; die Geschöpfe in ihnen interessanter als jedes Spielzeug.

Quin wäre überrascht gewesen, hätte jemand ihm gesagt, dass er »Wissenschaft betrieb« oder »sich bildete«, und später, in Cambridge, amüsierte er sich über den feierlichen Ernst, mit dem man dort Kenntnisse vermittelte, die er sich vor seinem elften Lebensjahr angeeignet hatte, und über die umständlichen Vorbereitungen für Exkursionen zu Orten, an denen er in Turnschuhen herumgeklettert war.

Beim Abschlussexamen in Naturgeschichte schnitt er – es war beinahe peinlich, wie leicht es ihm fiel – als Bester ab. Dank seiner zwanglosen Kindheit jedoch verspürte er keine Neigung, eine feste Anstellung an einer Schule oder Universität anzunehmen. Da er seit seinem achtzehnten Geburtstag finanziell unabhängig war, konnte er es sich leisten, seine Zeit vor allem Expeditionen in schwer zugängliche Gebiete der Erde zu widmen; jetzt aber verliebte er sich in die Stadt Wien.

Nicht in das Wien der Operette und der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wusste, sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität mit ihren steinernen Büsten früherer Absolventen. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem »Retter der Mütter«, der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg, der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte Quin den gewaltigen Globus auf seinem goldenem Sockel, vor dem Kaiser Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine winzige, hässliche, dickbäuchige Figur, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit, als noch Mammuts und Säbelzahntiger die Erde durchstreiften.

Als das Semester zu Ende ging, luden die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.

»Es ist so schön dort«, versicherte Ruth. »Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fische sehen, wie eingerahmt.«

Eigentlich wurde er in Cambridge zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter Heidelbeerpflücker und kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen »Wunderbar!« rief. Sie genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend, ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu verfüttern.

Ruth sah er relativ selten. In einer dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Cousin Heini sein Klavierspiel, und sie hatte alle Hände voll zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf. Als er kam, war sie gerade mit gerunzelter Stirn in den Krafft-Ebing vertieft.

»Du meine Güte!«, sagte er. »Darfst du das denn lesen?«

Sie nickte. »Ich darf alles lesen. Leider muss ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.«

Am Abend vor seiner Abfahrt ließ Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, dass Ruth ihm nach dem Essen Keats’ »Ode an eine Nachtigall« aufsagen werde.

»Sie kann das ganze Gedicht auswendig, Dr. Somerville«, erklärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich, einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, die zum See geöffnet waren.

Ruth trug das helle Haar offen, ein Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlass; doch zuerst einmal musste Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Miene zu beherrschen: Sie sprach die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent.

Erst als sie zum vorletzten Vers kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von ihrer Namensvetterin handelte, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam gemacht, den Kopf.

»Vielleicht ist es das alte Lied, das Ruth

Ins Herz drang, als sie ohne Heimat war

Und Tränen ausgoss über fremdem Korn …«

Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.

Aber in keinem der Anwesenden, in keinem der Menschen, die Ruth liebten und sich von der Traurigkeit des Gedichts bewegen ließen, weder in Quin noch in Ruth selber erwachte auch nur der Schimmer einer Vorahnung. Niemand bekam eine Gänsehaut; kein Geist schwebte über das stille Wasser des Sees. Dass dieses behütete, geliebte Kind jemals gezwungen sein sollte, seine Heimat zu verlassen, war unvorstellbar.

Am nächsten Tag reiste Quin nach England ab. Die ganze Familie brachte ihn zur Bahn und lud ihn ein, bald wiederzukommen – aber acht Jahre vergingen, ehe er nach Wien zurückkehrte, und da kam er in eine andere Stadt, in eine andere Welt.

1

An dem Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, befand Professor Somerville sich in Nordindien und führte die Mitglieder seiner Expedition, denen von Dankbarkeit nichts anzumerken war, bergab durch eine Schlucht, die so eng war, dass überhängende Felsen alles bis auf einen schmalen Streifen des klaren blauen Himmels verdeckten.

»Wir bekommen die Tiere da niemals hinunter«, hatte der belgische Geologe, den er hatte mitnehmen müssen, geunkt.

Doch Quin hatte nur vage erwidert, er glaube, es werde schon irgendwie gehen, womit er meinte, wenn alle sich anstrengten und genau taten, was er sagte, bestünde eine Chance – und jetzt weitete sich die Schlucht tatsächlich, sie kamen an den ersten Bäumen vorüber und marschierten wenig später durch Föhren- und Zedernwald, bis sie die Talsohle erreicht hatten.

»Hier schlagen wir unser Lager auf«, sagte Quin und wies auf einen Platz, wo der ruhige Fluss, der gemächlich vorüberströmte, an überhängenden Weiden zerrte und Orchideen und Lilien das Grasland sprenkelten.

Später, als die Maultiere weideten und der Rauch des Feuers in die stille Luft aufstieg, setzte er sich an einen Baumstamm und nahm seine alte Pfeife heraus. Er war dreißig Jahre alt. Furchen krausten seine Stirn und zogen sich von den Winkeln seines Mundes abwärts, die dunklen Augen konnten hart blicken, aber in diesem Moment war er glücklich. Den düsteren Prognosen des Belgiers zum Trotz, dessen Brille von einem Yak zertreten worden war; den Beteuerungen der Träger zum Trotz, dass es im Frühjahr unmöglich sei, die ferneren Täler des Siwalik-Gebirges zu erreichen, hatte er einen so reichen Fund an Miozän-Fossilien gemacht, wie man ihn sich nur wünschen konnte. In Holzwolle und Leinwand sicher verpackt, kostbarer als jeder Goldschatz aus fürstlichen Grabkammern, befanden sich in ihrem Gepäck die unverwechselbaren Überreste des Ramapithecus, eines der frühesten Vorfahren des Menschen.

Drei Wochen Marsch am Fluss entlang lagen noch vor ihnen, ehe sie ihre Funde auf Lastwagen laden und nach Simla hinunterbefördern konnten, aber die Probleme, die sie jetzt erwarteten, würden mehr sozialer Natur sein: Teezeremonien mit den Dorfbewohnern, Wanzen, Gastgeschenke …

Ein Lämmergeier hing reglos am Himmel. Das Glockengeläut des weidenden Viehs schallte von einer fernen Wiese herüber und die klagenden Töne einer Flöte.

Quin schloss die Augen.

Nachricht von der Außenwelt wurde ihnen erst von einem Offizier der indischen Armee in dem Rasthaus oberhalb von Simla überbracht, die Meldungen nach ihrer Wichtigkeit geordnet: Oxford hatte die jährliche Ruderregatta gewonnen; ein Außenseiter namens Battleship hatte beim Derby in Aintree das gesamte Feld geschlagen.

»Ach, und Hitler hat Österreich annektiert. Er ist in Wien einmarschiert, und es wurde kein einziger Schuss abgegeben.«

»Wollen Sie trotzdem noch hin?«, fragte Milner, sein Forschungsassistent und vertrauter Freund.

»Ich weiß nicht.«

»Es ist ja doch eine große Ehre, denke ich. Umsonst bekommt man die Ehrendoktorwürde an so einer Universität sicher nicht.«

Quin zuckte mit den Schultern. Ihm war schon eine Reihe ähnlicher Auszeichnungen verliehen worden. Obwohl er sich drei Jahre zuvor hatte überreden lassen, einen Lehrstuhl in London anzunehmen, war es ihm bisher gelungen, weiterhin seiner Forschungsarbeit in entlegenen Winkeln der Erde nachzugehen, und er hatte mit seinen Funden Glück gehabt.

»Berger hat es arrangiert. Er ist jetzt Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wenn ich fahre, dann nur seinetwegen; mit den Nazis will ich nichts zu tun haben. Aber ich verdanke Berger eine Menge, und seine Familie hat mich vor einigen Jahren sehr gastfreundlich aufgenommen. Ich habe einen Sommer bei ihnen verbracht.«

Er lächelte bei der Erinnerung an die lebhafte, liebenswürdige Familie Berger, an die opulenten Mahlzeiten in der Wiener Wohnung, das hübsche Holzhaus am Grundlsee. Er erinnerte sich an eine zu Missgeschicken neigenden Anthropologin, deren Monographie über die Mi-Mi aus dem Ruderboot in den See gefallen war, und an ein kleines Mädchen mit Zöpfen und einem biblischen Namen, den er nicht mehr wusste. Rahel? Hanna?

»Ich fahre«, entschied er. »Wenn ich in Izmir von Bord gehe, habe ich Anschluss an den Orientexpress. Der Umweg wird mich höchstens zwei Tage kosten. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, dass Sie beim Zoll alles gut erledigen. Sollte es doch Schwierigkeiten geben, so kläre ich sie, wenn ich komme.«

 

Die Tauben gab es noch, die wie von Musik getragen in den Lüften dieser musikbegeisterten Stadt kreisten; es gab noch das alte Kopfsteinpflaster, die engen Straßen, an deren Ende man immer die Türme des Stephansdoms sah; und auch den Geruch nach Vanille, der ihm in die Nase wehte, als er das Fenster des Taxis öffnete, und den Flieder und den Goldregen im Park.

Aber vor den Fenstern wehten jetzt Hakenkreuzfahnen, Überbleibsel des großen Empfangs, den die Stadt dem Führer bereitet hatte, und an den Straßenecken standen Trupps von SA- und SS-Männern. Als das Taxi in eine schmale Gasse einbog, sah er die hässlichen Schmierereien an den Türen jüdischer Geschäfte und die eingeschlagenen Fenster.

Im Hotel Sacher wartete das Zimmer, das er gebucht hatte. Man empfing ihn freundlich; im Foyer hing das vertraute Porträt des Kaisers, noch nicht verdrängt vom banalen Konterfei des Führers. Doch in der Bar unterhielten sich drei deutsche Offiziere in lautem Berlinerisch mit ihren wasserstoffblonden Freundinnen. Selbst wenn er Zeit für einen Drink gehabt hätte, würde sich Quin nicht zu ihnen gesellt haben. Tatsächlich jedoch blieb ihm überhaupt keine, denn der legendäre Orientexpress war wegen eines Maschinenschadens mit großer Verspätung angekommen. Nachdem er sich in aller Eile umgezogen hatte, fuhr er direkt zur Universität. Bergers Sekretärin hatte ihm vor seiner Abreise aus England geschrieben, dass man einen Talar für ihn mieten würde, und der Ablauf war bei solchen Verleihungszeremonien immer so ziemlich der Gleiche. Man brauchte nur nach Art eines Pinguins seinem Vorgänger hinterherzutippeln.

Dennoch – es war später, als er gedacht hatte. Männer in Scharlachrot und Gold, in Schwarz und Purpurrot, in hermelinbesetzten Umhängen und mit Quasten geschmückten Kopfbedeckungen standen in Gruppen auf der Treppe; Heerscharen stolzer Verwandter im Sonntagsstaat schoben sich durch das gewaltige Portal.

»Ah, Professor Somerville, Sie werden schon erwartet. Es ist alles vorbereitet.« Die Dekanatssekretärin begrüßte ihn mit Erleichterung. »Ich zeige Ihnen gleich den Umkleideraum. Der Dekan hatte eigentlich gehofft, Sie vor der Feier zu begrüßen, aber er ist bereits im Saal. Er erwartet Sie dann beim Empfang.«

»Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.«

Quins Talar aus scharlachroter Seide lag auf einem Tisch neben einer Karte mit seinem Namen bereit. Das Samtbarett war zu groß, er schob es einfach etwas nach hinten und trat dann hinaus zu den übrigen Kandidaten, die im Vorzimmer auf den Beginn der Feier warteten.

Der Organist stimmte eine Passacaglia von Bach an, und zwischen einer dicken Professorin aus Argentinien und dem, wie ihm schien, ältesten Entomologen der Welt schritt Quin feierlich durch den Gang der großen Aula zum Podium.

Ganz wie er es in dieser Stadt erwartet hatte, in der man selbst die Fiakerpferde herausputzte, verlief die Feier mit einem Höchstmaß an Pomp. Männer standen von ihren Plätzen auf, verneigten sich voreinander und setzten sich wieder. Die Orgel brauste. Von den Wänden blickten längst verstorbene Geistesgrößen aus goldenen Rahmen herab.

Quin, der rechts vom Podium saß, versuchte in der gegenüberliegenden Reihe der Professoren Kurt Berger auszumachen, doch der Hut der Professorin aus Argentinien versperrte ihm die Sicht.

Einer nach dem anderen wurden die Ehrenkandidaten aufgerufen. Auf Lateinisch verlas man die Liste ihrer Verdienste um die Wissenschaft, dann erhielten sie mit einer silbernen Wurst, die die Gründungsurkunde der Universität enthielt, einen Schlag auf die Schulter, und schließlich wurde ihnen eine Pergamentrolle überreicht. Als Quin dem Entomologen von seinem Stuhl aufhalf, fragte er sich, ob der alte Herr den Ritterschlag mit der silbernen Wurst überhaupt überleben würde. Er überlebte ihn. Dann wurde die dicke Wissenschaftlerin aus Argentinien aufgerufen, und nun hatte Quin freie Sicht. Er suchte unter den prunkvoll gekleideten Professoren nach Kurt Berger, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Acht Jahre waren vergangen, seit sie einander das letzte Mal gesehen hatten, aber er würde das kluge, dunkle Gesicht doch sicher auf Anhieb erkennen?!

Jetzt war er an der Reihe.

»Hiermit wird Quinton Alexander St. John Somerville die Ehrendoktorwürde dieser Universität verliehen. Der Sprecher wird Ihnen jetzt Professor Somerville vorstellen.«

Quin stand auf und richtete den Blick auf den Rektor, dessen eines wässrig blaues Auge teilweise von der goldenen Troddel verdeckt war, die von seinem Barett herabhing. Während die vollmundigen Plattitüden über seine Verdienste durch den Saal dröhnten, wurde Quin immer unbehaglicher zumute – das, was ihm als archaisches, aber nicht würdeloses Bemühen erschienen war, die Traditionen der Vergangenheit hochzuhalten, wurde plötzlich zur Travestie, zu einer absurden, von Marionetten vorgeführten Scharade.

Die Lobrede auf den »jüngsten Professor der Universität Thameside, Preisträger der Geographischen Gesellschaft und Sherlock Holmes der Urgeschichte«, dessen inspirierte Forschungsarbeit dazu beigetragen habe, die Rätsel der Vergangenheit zu entschlüsseln, kam zu ihrem Ende. Stirnrunzelnd stieg Quin auf das Podium hinauf. Der Rektor hob die Wurst – und schreckte zurück. »Der Mann machte ein Gesicht, als wollte er mich umbringen«, beschwerte er sich hinterher. Quin beherrschte sich, nahm die Urkunde entgegen, kehrte an seinen Platz zurück.

Nun war es endlich vorbei, und er konnte die Frage stellen, die ihn während der ganzen langweiligen Zeremonie beschäftigt hatte.

»Wo ist Professor Berger?«

Der Prodekan, den er angesprochen hatte, wich seinem Blick aus. »Professor Berger ist nicht mehr bei uns. Aber der neue Dekan, Professor Schäfer, wartet schon darauf, Sie zu begrüßen.«

»Das ist sehr freundlich von ihm, aber mich interessiert im Augenblick nur, wo Professor Berger ist. Bitte beantworten Sie meine Frage.«

Der Mann trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Er ist seines Postens enthoben worden.«

»Warum?«

»Unmittelbar nach dem Anschluss wurden auch hier die Nürnberger Gesetze rechtskräftig. Nichtarier sind von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich kann nichts dafür, das ist …«

»Wo ist Professor Berger? Ist er noch in Wien?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Viele Juden versuchen auszuwandern.«

»Beschaffen Sie mir seine letzte Adresse.«

»Natürlich, Professor Somerville. Gleich nach dem Empfang.«

»Nein, nicht nach dem Empfang«, entgegnete Quin. »Jetzt!«

 

An die Straße erinnerte er sich, an das Haus zunächst nicht. Dann wiesen ihm zwei ausgesprochen wohlgenährte Karyatiden den Torbogen zum Hof. Die Hausmeisterin war nicht in ihrer Loge; niemand hielt ihn auf, als er die breite Marmortreppe in die erste Etage hinaufstieg.

Das Messingschild mit dem Namen Berger war noch an der Tür; die Tür selbst war überraschenderweise nur angelehnt. Er stieß sie auf. Hier war man früher von einem Mädchen im weißen Schürzchen in Empfang genommen worden, aber jetzt war niemand da. Der Regenschirm und die Spazierstöcke Kurt Bergers steckten noch in ihrem Ständer, sein Hut hing am Haken. Quin ging auf dem dicken türkischen Teppich durch den Flur, klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer und öffnete sie. Wie oft hatte er hier gesessen und an der Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze gearbeitet, voll Hochachtung vor Bergers Wissen und der Großzügigkeit, mit der er seine Ideen teilte! Bergers Bücher standen unberührt in den Wandregalen, die Remington war unter ihrer schwarzen Haube auf dem Schreibtisch.

Doch die Stille hatte etwas Unheimliches. Er musste an die Mary Celeste denken, das Schiff, das man verlassen dahintreibend auf dem Ozean gefunden hatte, die Tassen noch auf dem Tisch, die Speisen unberührt. Eine Flügeltür führte vom Arbeitszimmer ins Esszimmer mit dem großen schweren Tisch und den hochlehnigen, mit Leder bezogenen Stühlen. Das Meissener Porzellan leuchtete noch in der Glasvitrine; ein Pokal, den Kurt Berger in einem Fechtturnier gewonnen hatte, stand auf der Anrichte. Mit wachsender Verwunderung ging Quin weiter in den Salon. Die Gemälde, die hauptsächlich Berglandschaften zeigten, hingen unversehrt an den Wänden; die Kriegsorden Kurt Bergers lagen in ihren Kästchen unter Glas. Eine Palme in einem Messingtopf war offensichtlich frisch gegossen – und doch hatte er noch nie eine solche Leere, eine solche Trostlosigkeit verspürt.

Nein, doch keine Leere. In einem fernen Raum spielte jemand Klavier. Aber Spiel konnte man das kaum nennen, es war die unablässige Wiederholung ein und derselben Phrase, einer vollkommen unpassenden, trällernden Figur, die wie das Zwitschern eines Vogels klang.

Er befand sich jetzt in den Räumen mit Blick zum Hof, ging weiter von Tür zu Tür. Und nun endlich eine letzte Tür, dahinter die Quelle der Musik: ein junges Mädchen, das den Kopf in die Ellenbogenbeuge des auf dem Klavier ruhenden Arms geschmiegt hielt, während die Finger ihrer freien Hand über die Tasten glitten. In dem Moment, ehe sie auf ihn aufmerksam wurde, sah er, wie müde sie war, und wie hoffnungslos. Dann hob sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, fiel ihm plötzlich ihr Name wieder ein.

»Sie müssen Ruth sein, Professor Bergers Tochter.«

 

Es war ein gewisser Triumph, dieses Wiedererkennen, denn das niedliche kleine Plappermaul mit den blonden Zöpfen hatte sich sehr verändert. Jetzt fiel ihr das schöne lange Haar offen bis zur Mitte des Rückens herab und war von Farben durchschossen, die schwer zu bestimmen waren – eine Art grünschimmerndes Gold, beinahe kakifarben. Eingerahmt von dieser Fülle war ein blasses, dreieckiges Gesicht mit dunkel umschatteten Augen. Sie wirkte wie die gefangene Rapunzel, die auf den Prinzen wartete, der sie aus dem Turm befreien würde.

»Was haben Sie da gerade gespielt?«, fragte er.

Sie sah zu den Tasten hinunter. »Das ist das Rondo aus dem letzten Satz des Klavierkonzerts in G-Dur von Mozart. Es wurde angeblich vom Gezwitscher eines Stars inspiriert, der …« Ihre Stimme brach, und sie senkte den Kopf. Aber nun erinnerte auch sie sich. »Natürlich! Sie sind Professor Somerville! Ich weiß noch, als Sie damals zu uns kamen und wir so enttäuscht waren. Wir dachten, Sie hätten sonnenverbrannte Knie und eine Stimme wie Richard Löwenherz.«

»Was für eine Stimme hatte der denn?«

»Oh, laut vor allem. Bei seinem Ruf sind die Pferde in die Knie gegangen, wussten Sie das nicht?«

Quin schüttelte den Kopf. Er war verblüfft. Sie hatte sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen und lächelte ihn an – und im Nu war die Gefangene im Turm verschwunden, und es war Sommer auf einer Kuhalm in den Bergen. Jetzt waren es nicht mehr die Augen, die einem auffielen, sondern die Stupsnase, der große Mund, die Sommersprossen. »Natürlich, heute war ja die Verleihungsfeier, nicht wahr? Mein Vater hat versucht, Sie zu erreichen, solange er noch telefonieren durfte. Ist alles gut gegangen?«

Quin zuckte mit den Schultern. »Wo ist Ihr Vater?«

»In England. In London. Meine Mutter auch, und meine Tante – und Onkel Mishak. Sie sind vor einer Woche abgereist. Und Heini auch – er ist nach Budapest gefahren, um sein Visum abzuholen und sich von seinem Vater zu verabschieden. Dann geht er auch zu ihnen nach England.«

»Und Sie hat man hier zurückgelassen?«

Er konnte es nicht glauben. Er hatte sie als überbehütetes, verwöhntes Kind in Erinnerung.

Sie schüttelte den Kopf. »Mich haben sie vorausgeschickt. Aber es ist alles schiefgegangen.« Der idyllische Moment auf der sonnenbeschienenen Alm war jetzt vorbei. Tränen traten ihr in die Augen, und sie ballte die eine Hand zur Faust und presste sie an die Wange, als könnte sie so ihren Schmerz unterdrücken. »Alles ist schiefgegangen«, wiederholte sie. »Und jetzt sitze ich hier in der Falle. Es ist niemand mehr da.«

»Erzählen Sie«, sagte Quin. »Ich habe viel Zeit. Erzählen Sie mir genau, was passiert ist. Und kommen Sie vom Klavier weg. Machen wir es uns ein wenig bequem.« Er hatte begriffen, dass das Klavier für sie die Quelle eines besonderen Schmerzes war.

»Nein.« Sie war immer noch die brave Akademikertochter, die wusste, was sich gehörte. »Jetzt ist doch das Festbankett. Nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde findet immer ein großes Essen statt. Da werden Sie bestimmt erwartet.«

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich mit diesen Leuten an einen Tisch setzen würde«, entgegnete er ruhig. »Also, fangen Sie an.«

 

Ihr Vater hatte schon vor dem Anschluss versucht, ein Studentenvisum für sie zu bekommen.

»Da haben wir noch gehofft, die Österreicher würden sich Hitler entgegenstellen, aber er hatte mich immer schon zum Studium nach England schicken wollen. Deshalb hat er mich auch hier auf die englische Schule gegeben, nachdem meine Gouvernante gegangen war. Ich bin jetzt im vierten Semester meines Studiums. Ich wollte als Assistentin bei meinem Vater arbeiten, bis Heini und ich …«

»Wer ist Heini?«

»Mein Cousin. Na ja, so ungefähr jedenfalls … Er und ich …«

Sätze über Heini waren offenbar schwer zu vollenden. Aber Quin sah jetzt auch das Wunderkind in der Holzhütte wieder vor sich. Er konnte Heini kein Gesicht zuordnen, nur die schier endlosen Klavierübungen, aber jetzt kam das Bild des kleinen Mädchens mit den Zöpfen, das dem jungen Künstler frisch gepflückte Walderdbeeren brachte. Ihre Liebe zu dem begabten Jungen hatte also überdauert.

»Erzählen Sie weiter.«

»Es war nicht allzu schwierig. Wenn man nicht gerade bei ihnen einwandern will, sind die Engländer gar nicht so. Ich brauchte nicht einmal ein J auf meinem Pass, weil ich keine reine Jüdin bin. Die Quäker waren großartig. Sie haben mich bei einem Studententransport untergebracht, der von Graz aus reisen sollte.«

Sobald der Tag der Abreise feststand, schickten ihre Eltern sie nach Graz. Dort sollte sie warten, bis es losging.

»Sie wollten mich nämlich aus Wien weghaben, weil ich einem SA-Mann einen Tritt gegeben hatte …«

»Guter Gott!«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jedenfalls, nachdem ich abgefahren war, wurde mein Vater plötzlich verhaftet. Die Gestapo hat ihn abgeholt und drei Tage festgehalten. Mich benachrichtigte keiner. Als er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde, hieß es, er und die Familie müssten das Land innerhalb einer Woche verlassen, sonst kämen alle in ein Lager. Jeder durfte nur einen Koffer und zehn Reichsmark mitnehmen – davon kann man nicht mal einen Tag lang leben. Aber das spielte natürlich alles keine Rolle. Sie wollten nur weg. Ich war zwei Tage vorher mit dem Studententransport abgereist.«

»Und wieso hat es dann nicht geklappt?«

»An der Grenze ist ein Haufen SS-Leute zugestiegen. Sie wollten unsere Unbedenklichkeitserklärungen sehen.«

»Ihre was?«

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, und er meinte, niemals einen jungen Menschen gesehen zu haben, der so müde wirkte. »Das ist irgendein neuer Ausweis – sie erfinden dauernd welche – zum Nachweis, dass man politisch unauffällig ist. Sie wollen keine Leute ins Ausland lassen, die dem Regime Ärger machen.«

»Und Sie hatten keine solche Erklärung?«

»Nein. An der Uni hatte ich einen Freund, der war mal in Russland und ist Kommunist geworden. Ich hatte natürlich Dostojewski gelesen, und ich fand, man müsste auf der Seite des Proletariats kämpfen und mit den Verbannten nach Sibirien gehen und so. Ich hab mich immer gefragt, warum wir so viel und andere so wenig hatten. Ich meine, es kann doch nicht richtig sein, dass manche Menschen alles haben und andere gar nichts.«

»Das stimmt. Aber etwas dagegen zu tun, ist nicht so einfach.«

»Jedenfalls bin ich nicht in die Kommunistische Partei eingetreten wie dieser Freund von mir. Die haben sich ja dauernd gestritten, obwohl sie sich gegenseitig ›Genossen‹ nannten. Aber ich bin zu den Sozialdemokraten gegangen, und wir haben Protestmärsche veranstaltet und uns mit den Nazis angelegt. Bei den Behörden war ich natürlich als gefährliche Radikale verschrien.«

»Und als man Sie dann aus dem Studentenzug herausholte, waren Ihre Eltern schon abgereist?«

»Nein, sie waren noch hier. Ich habe bei Freunden von ihnen angerufen, weil unser Telefon gesperrt war, und die sagten mir, dass sie am nächsten Tag abreisen wollten. Ich wusste, dass sie nicht reisen würden, wenn sie hörten, dass ich noch in Österreich war, darum habe ich nichts gesagt und bin zu unserer alten Köchin in Grinzing gezogen, bis sie weg waren.«

»Das war tapfer«, sagte Quin leise.

Sie zuckte mit den Schultern. »Es war sehr schwer für mich, das muss ich zugeben. Vielleicht das Schwerste, was bisher von mir verlangt worden ist.«

»Wenn Sie Glück haben, wird es auch das Schwerste bleiben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Die Worte waren fast nicht zu hören. »Ich glaube, für mein Volk ist es Nacht geworden.«

»Unsinn.« Er sprach betont munter. »Wir werden schon Mittel und Wege finden, Sie hier herauszubekommen. Ich gehe gleich morgen früh zum britischen Konsulat.«

Wieder dieses Kopfschütteln, bei dem das blonde Haar ihr um die Schultern tanzte. »Ich habe alles versucht. Hier sitzt ein Mann im Amt, der den Leuten bei der Ausreise helfen soll, aber in Wirklichkeit sorgt er nur dafür, dass ihnen alles abgenommen wird, was sie besitzen. Sie haben keine Ahnung, was hier los ist – die Leute weinen und schreien …«

Er war aufgestanden und ging langsam durch das Zimmer, während er überlegte. »Die Wohnung ist wirklich sehr groß.«

»Ja.« Sie nickte. »Zwölf Zimmer. Zwei davon gehörten meiner Großmutter, aber sie ist letztes Jahr gestorben. Als ich klein war, bin ich mit meinem Dreirad durch die Flure gefahren.« Sie folgte ihm. »Das ist mein Vater in der Uniform des 14. Ulanen-Regiments. Er wurde zweimal für seine Tapferkeit ausgezeichnet. Er konnte nicht glauben, dass das alles nicht zählt.«

»Ist er Jude?«

»Ja, der Geburt nach. Ich glaube aber nicht, dass er sich darüber je Gedanken gemacht hat. Seine Religion ist die Menschlichkeit … Er glaubt, dass jeder sich bemühen sollte, das Beste aus sich herauszuholen. Er glaubt an einen Gott, der allen gehört – dass man den göttlichen Funken, der in einem ist, hüten und zur Flamme anfachen muss. Und meine Mutter ist katholisch erzogen worden, für sie ist es doppelt schlimm. Sie ist nur Halbjüdin, vielleicht auch Vierteljüdin, wir wissen es nicht genau. Sie hatte eine sehr arische Mutter, so eine Art Ziegenhirtin.«

»Dann sind Sie also – was? Drei viertel? Fünf achtel? Es ist schwer zu glauben.«

Sie lächelte. »Meine Stupsnase, meinen Sie – und mein helles Haar? Meine Großmutter kam vom Land – die Ziegenhirtin, meine ich. Mein Großvater entdeckte sie wirklich beim Ziegenhüten – beinahe jedenfalls. Sie stammte von einem Bauernhof. Wir haben sie manchmal ausgelacht und sie Heidi genannt; sie hat in ihrem ganzen Leben kein Buch gelesen, aber heute bin ich ihr dankbar, weil ich ihr ähnlichsehe und mich nie jemand belästigt.«

Sie hatten die Glasveranda mit Blick in den Hof erreicht. In der Ecke neben einem Oleander stand eine mit Rosen und Lilien bemalte Wiege. Auf dem Kopfbrett stand in verschnörkelter Schrift Ruthchens Wiege.

Quin stieß sie mit der Fußspitze an. Ruth schwieg. Unten im Hof breitete die blühende Kastanie ihre ausladenden Äste aus. An einem von ihnen hing eine Schaukel; an einer Wäscheleine, die zwischen zwei Pfosten gespannt war, flatterten eine Reihe rot-weiß karierter Geschirrtücher und ein Babyhemdchen, das nicht größer war als ein Taschentuch.

»Da unten habe ich immer gespielt«, sagte sie. »Als ich noch klein war. Ich fühlte mich dort so geborgen. Der Hof war für mich der sicherste Platz der Welt.«

Er hatte nichts gesagt, doch irgendetwas veranlasste sie, sich umzudrehen. Sie hatte von ihm das Bild eines gütigen, kultivierten Menschen; aber jetzt wirkte das zerfurchte Gesicht wie eine Teufelsmaske: der Mund verzerrt, die Haut über den Knochen straff gespannt. Die Verwandlung hielt nur einen Moment an. Dann legte er leicht die Hand auf ihren Arm.

»Es gibt sicher etwas, was wir tun können. Sie werden schon sehen.«

 

Ruth hatte nicht übertrieben. Das Chaos und die Verzweiflung, die der Anschluss verursacht hatte, waren unbeschreiblich. Er war früh ins britische Konsulat gekommen, aber in den Gängen hatten sich bereits Warteschlangen gebildet. Die Menschen bettelten um Papiere – Visa, Pässe, Genehmigungen – wie Verhungernde um Brot.

»Tut mir wirklich leid, Sir, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte der Beamte, nachdem er sich Ruths Unterlagen angesehen hatte. »Wir würden die Dame ja ins Land lassen, aber die Österreicher lassen sie hier nicht heraus. Sie müsste einen neuen Auswanderungsantrag stellen, und die Bearbeitung kann Monate oder Jahre dauern. Die Quote ist voll, wissen Sie.«

»Und wenn ich für sie bürgen würde – garantieren, dass sie dem Staat nicht zur Last fallen wird? Oder wenn ich ihr eine Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe besorgen würde? Meine Familie könnte ihr eine Anstellung geben.«

»Das müssten Sie von England aus arrangieren, Sir. Hier geht alles drunter und drüber, seit Österreich kein unabhängiger Staat mehr ist. Die Botschaft soll geschlossen werden, und unser Personal wird schon laufend heimgeschickt.«

»Lieber Gott, das Mädchen ist zwanzig Jahre alt. Ihre ganze Familie ist in England – sie steht völlig allein da.«

»Es tut mir leid, Sir«, wiederholte der junge Mann müde. »Glauben Sie mir, was ich hier in den letzten Wochen erlebt habe … aber von hier aus lässt sich nichts tun. Jedenfalls nichts, was für Sie infrage käme.«

»Und was ist das, was für mich nicht infrage käme?«

Der junge Mann sagte es ihm.

 

Ach, zum Teufel mit dem Mädchen, dachte Quin. Er hatte im Nachtzug ein Schlafwagenabteil reserviert; die Examen begannen in weniger als einer Woche. Bei Antritt seines Forschungsurlaubs hatte er versprochen, zum Ende des Semesters zurück zu sein. Er hatte nicht vor, die Benotung der Arbeiten seinem Stellvertreter zu überlassen.

Er trat in das Haus in der Rauhensteingasse und ging in den ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand weit offen. Im Flur war der Spiegel zerschlagen, der Schirmständer war umgekippt. Das Wort Jude war mit gelber Farbe quer über das Foto geschmiert, das Kurt Berger mit dem Kaiser zeigte. Im Salon hatte man die Bilder von den Wänden gerissen; die Palme lag entwurzelt auf dem Teppich. Im Esszimmer waren die Türen der Vitrine gesprengt, das Meissener Porzellan war verschwunden.

Ruths Wiege auf der Veranda war in Stücke geschlagen.

Er hatte vergessen, was für eine heftige körperliche Auswirkungen Wut haben konnte. Er musste mehrmals tief durchatmen, ehe das Schwindelgefühl sich legte und er die Treppe hinuntersteigen konnte.

Diesmal war die Concierge in ihrer Loge.

»Was ist in Professor Bergers Wohnung passiert?«

Sie warf einen nervösen Blick zur offenen Tür, hinter der er einen alten Mann sehen konnte, der mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel saß und Zeitung las.

»Sie sind plötzlich hier erschienen … So ein paar Braune – eine richtige Schlägerbande, anders kann man’s nicht nennen. Das tun sie immer, wenn Wohnungen leer stehen. Offiziell ist es nicht erlaubt, aber keiner unternimmt was gegen sie.« Sie zog die Nase hoch. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Professor hat mich gebeten, mich um die Wohnung zu kümmern, aber wie soll ich das machen? Nächste Woche zieht da ein deutscher Diplomat ein.«

»Und Fräulein Berger? Was ist mit ihr?«

»Keine Ahnung.« Wieder ein ängstlicher Blick zur offenen Tür. »Ich kann Ihnen nichts sagen.«

Er war schon auf der Straße, als er ihre heisere alte Stimme hörte. Sie rief ihn, und als er sich umdrehte, rannte sie ihm nach, immer noch in ihrer Kittelschürze.

»Ich soll Ihnen das von ihr geben. Von Fräulein Berger. Aber Sie sagen bitt’schön nichts, Herr Doktor? Mein Mann ist schon seit Jahren bei den Nazis, er würde es mir nie verzeihen. Ich könnte die größten Scherereien kriegen.«

Sie reichte ihm einen weißen Umschlag, aus dem, als er ihn öffnete, zwei Schlüssel herausfielen.

2

Ruth hatte das Standbild der Kaiserin Maria Theresia auf ihrem Marmorsockel immer besonders gerngehabt. Von ihren Feldherren, mehreren Pferden und Buchsbaumhecken umgeben, sah sie mit dem selbstzufriedenen Blick der guten Hausfrau, die eine volle Speisekammer und ordentliche Schränke hinterlassen hat, auf die flanierenden Wiener hinunter. Jedes Schulkind wusste, dass sie Österreich groß gemacht hatte, dass der sechsjährige Mozart auf ihrem Schoss gesessen, dass ihre Tochter Marie-Antoinette den König von Frankreich geheiratet und unter der Guillotine geendet hatte.

Für Ruth besaß die rundliche, hausbackene Kaiserin noch eine zusätzliche Bedeutung: Sie war die Hüterin der zwei großen Museen zu beiden Seiten des Platzes, der ihren Namen trug. Auf der Südseite stand das Kunsthistorische Museum, ein majestätischer Pseudo-Renaissancepalast, in dem die berühmten Gemälde Tizians und Holbeins hingen und die schönsten Brueghels der Welt. Und im Norden – sein Pendant bis auf die letzte kannelierte Säule und gezierte Kuppel – war das Naturhistorische Museum. Als Kind hatte sie beide Museen geliebt. Das Kunsthistorische Museum gehörte zu ihrer Mutter, angefüllt mit Erbauung, Leiden und Liebe – etwas sehr viel Liebe. Die Madonnen liebten ihre Kindlein, Jesus liebte die armen Sünder, und der heilige Franz liebte die Vögel.

Im Naturhistorischen Museum gab es keine Liebe, nur Fortpflanzung. Dafür aber gab es dort Geschichten und Phantasiereisen – und Arbeit. Dies war die Welt ihres Vaters, und wenn Ruth ihn dort besuchte, dann war sie kein Kind wie alle anderen. Wenn sie sich nämlich an dem Helmkasuar in seinem Nest, dem See-Elefanten mit seinem gewaltigen Brustkasten und an den schimmernden Bändern der Schlangen in ihren mit farbiger Flüssigkeit gefüllten Behältern sattgesehen hatte, konnte sie durch eine Zaubertür gehen und wie Alice im Wunderland in eine geheime Welt eintreten.

Hier, hinter den vergoldeten, stillen Galerien mit ihren grau uniformierten Wächtern, befand sich ein Labyrinth von Präparierräumen und Labors, von Werkstätten und Büros. Hier wurde die wahre Arbeit des Museums geleistet. Hier war das Zentrum wissenschaftlicher Arbeit und fachlichen Wissens, die bis in die fernsten Länder wirkten. Seit ihrer frühen Kindheit hatte Ruth bei dieser Arbeit zusehen und helfen dürfen. Manchmal galt es das Skelett eines Dinosauriers zusammenzusetzen; manchmal durfte sie Konservierungsmittel auf eine ausgespannte Tierhaut sprühen. Das Zimmer ihres Vaters war ihr so vertraut wie sein Arbeitszimmer in der Rauhensteingasse. Jetzt flüchtete sie sich, heimatlos und verzweifelt, an diesen Ort.

Es war Dienstag, der Tag, an dem das Museum für die Öffentlichkeit geschlossen war. Leise öffnete Ruth die Seitentür und huschte die Treppe hinauf.

Im Zimmer ihres Vaters war alles so wie immer. Sein Labormantel hing hinter der Tür; seine Aufzeichnungen lagen neben einem Stapel Zeitschriften auf dem Schreibtisch. Auf dem Arbeitstisch am Fenster stand das Brett mit den fossilen Skelettteilen, die er zu sortieren begonnen hatte, als er das letzte Mal hier gewesen war. Noch hatte man das Schild mit seinem Namen nicht von der Tür genommen; noch hatte man die beiden Schlüsselringe, von denen sie einen bei der Concierge zurückgelassen hatte, nicht beschlagnahmt.

Sie stellte ihren Koffer neben den Aktenschrank und ging hinüber in den kleinen Garderobenraum, in dem es auch einen Gasring und einen Wasserkessel gab. Nebenan war ein Präparierzimmer mit Borden voller Flaschen und einem Feldbett, auf dem manchmal Wissenschaftler oder Laboranten ein Nickerchen machten, wenn sie sehr lange arbeiten mussten.

»Lieber Gott, mach, dass er kommt«, betete Ruth laut.

Aber weshalb sollte er kommen, dieser Engländer, der ihr nichts schuldete? Wer wusste, ob er überhaupt die Schlüssel bekommen hatte, die sie bei der Concierge für ihn hinterlassen hatte? Ohne zu überlegen, was sie tat, zog sie einen Hocker an den Arbeitstisch, auf dem das Brett mit den Skelettteilen stand, und begann mit geübten Händen, die Wirbelknochen herauszusuchen und sie von Erde und kleinen Steinchen zu reinigen. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich vorbeugte; sie fasste es, drehte es im Nacken zusammen und stieß den Stiel eines Pinsels durch die Nackenrolle. Das hatte sie von einer japanischen Kommilitonin gelernt.

Die Stille war greifbar. Es war früher Abend geworden; die Museumsangestellten waren alle nach Hause gegangen. Nicht einmal die Wasserleitungen und der Aufzug machten die üblichen Geräusche. Gewissenhaft und völlig sinnlos fuhr Ruth fort, die Knochen des urzeitlichen Höhlenbären zu ordnen, und wartete ohne Hoffnung auf die Ankunft des Engländers.

 

Als sie das Geräusch des Schlüssels im Türschloss hörte, wagte sie nicht, den Kopf zu drehen. Sie hörte die Schritte, deren Klang schon erstaunlich vertraut war, dann schob sich ein Arm über ihre Schulter, und einen Moment lang fühlte sie den Stoff seines Jacketts an ihrer Wange.

»Nein, der ist es nicht«, sagte er ruhig. »Der passt nicht, Sie sehen es gleich. Sie brauchen sich nur die Größe des Wirbellochs anzuschauen.«

Sie lehnte sich auf ihrem Hocker zurück und fühlte sich mit einem Mal so sicher wie früher, wenn ihr Klavierlehrer seine Hand auf ihre gelegt und ihr bei einer schwierigen Passage die Finger geführt hatte.

»Wie schnell das bei Ihnen geht«, sagte sie, während sie zusah, wie seine Finger sich zwischen den Knochenfragmenten bewegten. Dann fragte sie: »Und beim Konsulat haben Sie wohl kein Glück gehabt?«

»Nein. Aber wir bringen Sie schon weg hier. Was ist eigentlich in der Wohnung Ihrer Eltern passiert? Konnten Sie noch etwas retten?«

Sie wies auf ihren Koffer. »Ja, Frau Hautermann hat mich vorgewarnt.«

»Die Concierge?«

»Ja. Ich habe schnell ein paar Sachen gepackt und bin verschwunden. Sie hatten es nicht auf mich abgesehen. Diesmal noch nicht.«

Er schwieg, sortierte immer noch automatisch die Skelettteile. Dann schob er das Arbeitsbrett weg.

»Haben Sie heute schon etwas gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gut. Ich habe ein Picknick mitgebracht. Etwas ganz Besonderes. Wo wollen wir essen?«

»Wohl am besten hier. Ich kann den Tisch abräumen und von nebenan einen zweiten Stuhl holen.«

»Ich habe Picknick gesagt«, erklärte Quin streng. »In England heißt das, dass man sich irgendwo auf die Erde setzt, vorzugsweise möglichst unbequem und im Regen. Also, wo machen wir unser Picknick? In Afrika? Es gibt hier, wie ich gesehen habe, eine prachtvolle Löwenkollektion; sie sind vielleicht ein wenig von den Motten angenagt, aber sehr gut präpariert. Es käme auch das Amazonasgebiet infrage. Für Anakondas hatte ich schon immer eine Schwäche, Sie nicht? Nein, Moment mal, wie wär’s mit der Arktis? Ich habe einen vorzüglichen Chablis mitgebracht, und den trinkt man am besten gut gekühlt.«

Ruth schüttelte den Kopf. »Der Eisbär war eins meiner Lieblingstiere, als ich noch klein war, aber ich möchte mir keine Frostbeulen holen – sonst fallen mir noch die Brote aus der Hand. Hätten Sie nicht Lust, ein Stück rückwärts in der Zeit zu reisen? Zu den Dinosauriern vielleicht?«