Das Geheimnis von Bahnsteig 13 - Eva Ibbotson - E-Book

Das Geheimnis von Bahnsteig 13 E-Book

Eva Ibbotson

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Beschreibung

Der Ursprung von Harry Potter Am längst geschlossenenen Bahnsteig 13 von King's Cross herrscht alle neun Jahre Hochbetrieb. Nur dann öffnet sich die geheime Tür des Gügel und gibt für genau neun Tage einen Tunnel frei, der in eine völlig andere Welt führt – auf eine Insel, die so zauberhaft ist, dass man nie mehr weg möchte. Doch eines Tages passiert etwas Schreckliches: Der kleine Königssohn des Inselreichs wird während einer Gügel-Öffnung in London entführt. Erst neun Jahre später können vier auserwählte Retter aufbrechen, um den Prinzen zurückzuholen. Doch den vier Abgesandten bleiben nur neun Tage für ihre schwierige Aufgabe. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt … Die Geschichte, die J.K. Rowling zu ›Harry Potter‹ inspirierte, erscheint jetzt erstmals als eBook.

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Eva Ibbotson

Aus dem Englischen von Sabine Ludwig

Für Laurie und David

1. Kapitel

Ginge man heutzutage in eine Schule und fragte die Kinder: »Was ist ein Gügel?«, so bekäme man sicher ein paar ziemlich dumme Antworten.

»Na, so ’n Mittelding zwischen Kugel und Kügelchen«, könnte ein Kind sagen. Und ein anderes: »Ein Küken, das gackert.« Oder sogar: »Das ist ein anderes Wort für Gugelhupf.«

Aber es gab eine Zeit, da war das nicht so. Da konnte dir jedes Kind im Land sagen, dass ein Gügel eine besondere Erhebung ist, ein grasbedeckter Hügel mit einer verborgenen Tür darin, die sich von Zeit zu Zeit öffnet, um einen Tunnel freizugeben, der in eine völlig andere Welt führt.

Damals wussten die Kinder auch, dass jedes Land seinen eigenen Gügel hat und dass sich der Gügel in Großbritannien an einem Ort unweit der Themse befindet, den man den Hügel von King’s Cross nennt.

Und kluge Kinder, die die alten Geschichten lasen und sich die alten Märchen erzählen ließen, hätten noch mehr gewusst. So zum Beispiel, dass sich dieser spezielle Gügel alle neun Jahre für genau neun Tage öffnet, nicht eine Sekunde länger, und dass es nicht ratsam ist, es sich in letzter Sekunde anders zu überlegen, wenn man zum Beispiel drin ist und wieder rauswill oder umgekehrt, weil nichts auf der Welt die Tür wieder öffnen kann, wenn sie erst einmal geschlossen ist.

Aber die Kinder haben das alles vergessen, und nicht nur die Kinder, man kann ihnen also keinen Vorwurf daraus machen.

Doch der Gügel in Großbritannien existiert noch immer, unter dem Bahnsteig 13 des Bahnhofs King’s Cross. Die geheime Tür befindet sich hinter der Wand der alten Herrentoilette, da, wo noch die Plakate rumhängen, auf denen steht: »Bequem und sicher mit der Bahn!« Da, wo die zerkratzten alten Holzbänke stehen und die schmutzigen Aschenbecher, in denen ältere Herren ihre stinkenden Zigarren ausgedrückt haben.

Der Bahnsteig wird längst nicht mehr benutzt. Es wurden neue, saubere Bahnsteige gebaut mit langen Reihen von silbern schimmernden Kofferkulis, mit Spielautomaten, die wirklich funktionieren, und riesigen Anzeigetafeln, auf denen die Ankunfts‑ und Abfahrtszeiten der Züge erscheinen.

Bahnsteig 13 ist damit nicht zu vergleichen. Die große Uhr ist stehen geblieben, Spinnen haben ihre Netze um die Tür zur Herrentoilette gewebt und es gibt eine verlassene Gepäckaufbewahrung, an der ein Zettel hängt, auf den jemand »Geschlossen!« geschrieben hat. Drinnen liegt ein verschimmelter Regenschirm, den eine Dame im 5‑Uhr‑25-Zug aus Doncaster vergaß, in dem Jahr, in dem die Queen ihre Silberhochzeit feierte. Der Süßigkeitenautomat ist verrostet und hängt schief, und wäre man so töricht und steckte eine Münze hinein, würde der Automat sie mit einem schmatzenden Geräusch verschlingen und man könnte den Rest seines Lebens darauf warten, dass ein Stück Schokolade herauskäme.

Aber jedes Mal, wenn dieser Teil des Bahnhofs abgerissen und neu gebaut werden soll, läuft alles schief.

Ein Architekt, der dort eine Ladenzeile errichten wollte, bekam plötzlich einen fürchterlichen Ausschlag und wanderte nach Spanien aus. Und als für die Elektrifizierung die Gleise erneuert werden sollten, sagte der Gutachter, dass der Untergrund ungeeignet sei, und murmelte was von Senken und Rissen im Boden. Es scheint fast so, als ob die Leute irgendetwas wüssten über Bahnsteig 13, sich aber nicht erinnern, was es ist.

Aber in jeder Stadt gibt es die, die weder die Vergangenheit noch die alten Geschichten vergessen haben. Geister, zum Beispiel …

Da ist Ernie Hobbs, der ehemalige Gepäckträger, der sein ganzes Leben auf dem Bahnhof King’s Cross gearbeitet hat und immer noch gern zwischen den Zügen herumgeistert; Ernie erinnert sich sehr wohl. Genauso wie seine Freundin, der Geist der Reinemachefrau Mrs Partridge, die früher – auf allen vieren rutschend – den Paketschalter schrubbte.

Und die Plodger erinnern sich natürlich, das Volk derer, die in den Abwässerkanälen unter der Stadt leben und die hin und wieder durch die Gullys vor dem Bahnhof auftauchen.

Und auf ihre Art wissen es auch die vielen Tauben. Sie wissen, dass der Gügel immer noch da ist, und sie wissen auch, wohin er führt: durch einen langen, nebligen, düsteren Tunnel in eine geheime Bucht, in der ein Schiff darauf wartet, alle, die es wünschen, auf eine Insel zu bringen, die so schön ist, dass es jedem den Atem verschlägt.

Ihre Bewohner nennen sie nur »Die Insel«, aber sie hat viele Namen: Avalon, Land des Heiligen Martin oder Eiland der fallenden Nebel.

 

Vor Hunderten von Jahren gehörte die Insel zum Festland, aber dann brach sie ab und trieb allmählich westwärts, so wie Madagaskar sich einst vom afrikanischen Kontinent löste. Inseln pflegen das alle paar Millionen Jahre zu tun, kein Grund zur Aufregung.

Mit der treibenden Insel kamen auch die, die auf ihr lebten. Im Großen und Ganzen ziemlich vernünftige Leute, die wussten, dass nicht jeder zwei Arme und Beine haben muss, sondern in Aussehen und Denken unterschiedlich sein kann. So lebten die Insulaner friedlich mit einäugigen Riesen zusammen oder mit Drachen, von denen es eine ganze Menge gab. Und wenn sie einer Meerjungfrau begegneten, die auf einem Felsen ihr Haar kämmte, stürzten sie sich nicht etwa vor Schreck ins Meer, sondern sagten einfach Guten Morgen. Die Insulaner wussten, dass Ellerfrauen einen hohlen Buckel hatten und es gar nicht schätzten, wenn man ihn an einem Samstag anschaute. Und wenn die Trolle nun mal Wert darauf legten, ihren Bart so lang zu tragen, dass sie bei jedem Schritt drauftraten, dann war das ganz allein ihre Angelegenheit.

Auch mit den Tieren lebten die Inselbewohner in Frieden. Auf der Insel gab es ganz gewöhnliche Schafe, Kühe und Gänse, aber auch jede Menge höchst seltsamer Tiere: riesige Vögel, die das Fliegen verlernt hatten und Eier in der Größe von Kesselpauken legten; dann die Brollachans, die aussahen wie ein Klacks Gelee mit dunkelroten Augen; und nicht zu vergessen die Seepferde mit ihren seidigen Mähnen, die schnaubend durch die Wellen galoppierten.

Doch die Tiere, die die Insulaner am meisten liebten, waren die Neblinge. Diese liebenswerten Tierchen gab es nirgendwo sonst auf der Welt. Sie waren klein und mit weichem weißem Fell bedeckt, fast wie Seehundbabys, nur dass sie keine Flossen hatten. Die Neblinge hatten kurze Beine mit großen Pfoten, wie die von jungen Hunden. Ihre dunklen Augen waren groß und feucht, die Nase behaart und kühl und sie schnauften ein wenig beim Gehen, denn sie waren plustrig rund wie knuffige Kissen und mochten es nicht, schnell zu laufen.

Aber die Neblinge waren nicht nur reizend anzusehen, sie waren für die Insulaner auch außerordentlich wichtig.

Nach all dem, was sie aus angeschwemmten Zeitungen erfuhren oder von denen, die sich aus der Anderen Welt zu ihnen geflüchtet hatten, waren die Inselbewohner mit den Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass es besser sei, für sich zu bleiben. Natürlich fanden sie, dass einige moderne Erfindungen wirklich nützlich waren, zum Beispiel elektrische Heizdecken zum Füßewärmen oder Zahnpasta mit Fluor für Zähne ohne Löcher, aber es gab eben auch andere Dinge, die sie überhaupt nicht schätzten: Atombomben zum Beispiel oder Hochhäuser, auf deren Dächern zitternd und bebend alte Damen standen, wenn der Fahrstuhl kaputt war. Oder Legebatterien, wo man die Hühner zu zweit in einen Käfig stopfte. Und so befürchteten die Insulaner nichts so sehr, wie von vorbeifahrenden Schiffen oder tief fliegenden Flugzeugen entdeckt zu werden.

Und genau hier kamen die Neblinge ins Spiel. Diese äußerst empfindsamen Lebewesen liebten nichts so sehr wie Musik. Wenn man einem Nebling Musik vorspielte, dann wurden seine Augen noch größer. Und beim Ausatmen musste er seufzen. »Aahh«, machte er dann. »Aahh … Aahh …« Und bei jedem Seufzer kam Nebel aus seinem Maul: reiner, dicker weißer Nebel, der nach feuchtem Gras im Morgengrauen roch. Und da Hunderte und Aberhunderte von Neblingen über die Wiesen und Ufer der Insel watschelten, bedeutete das jede Menge Nebel.

Sobald ein Schiff auftauchte oder ein Punkt am Himmel, der ein Flugzeug sein konnte, liefen alle Kinder aus der Schule, ihre Flöten und Trompeten oder Rekorder unter dem Arm, und machten Musik für die Neblinge. Und diejenigen, die möglicherweise auf der Insel gelandet wären, um dort neugierig herumzuschnüffeln, sahen nur weiße Wolken und zogen ihres Weges.

 

Obwohl es auf der Insel so viele ungewöhnliche Lebewesen gab, waren König und Königin von jeher ganz normale Menschen. Die königliche Familie war königlich im wahrsten Sinne des Wortes, nicht habgierig, nicht mit Juwelen behängt, sondern tapfer und gerecht. König und Königin betrachteten sich selbst als Diener ihres Volkes, so wie es alle guten Herrscher tun sollten, es aber leider nicht immer tun.

Das Königspaar lebte auch nicht in einem prunkvollen Palast, vollgestopft mit unbequemen goldenen Thronsesseln, die einen nur in den Hintern piken, wenn man sich draufsetzt, noch umgab es sich mit Dienern, die über Fußschemel stolpern, wenn sie sich im Rückwärtsgang von Ihren Majestäten entfernen.

König und Königin lebten in einem einfachen weißen Haus in einer Bucht aus goldenem Sand, der mit Kaurimuscheln übersät war. Bei Tag und Nacht konnten sie das Murmeln und Schlagen der Wellen hören und das zarte Säuseln des Windes.

Die Zimmer in diesem »Palast« waren einfach und luftig frisch, denn die Fenster standen weit auf, sodass die Vögel herein‑ und hinausfliegen konnten. Gutmütige Hunde lagen schlafend am Kamin, Schalen mit frischen Früchten und duftenden Blumen standen auf den Tischen, und jeder, der kein Zuhause hatte – verwaiste kleine Hexen, Seehunde mit verletzten Flossen oder Zauberer, die alt und schwermütig geworden waren –, fand hier Aufnahme.

Im Jahre 1983, in dem gleichen Jahr, in dem die Amerikaner eine Frau in den Weltraum schickten, bekam die junge, schöne, freundliche Königin ein Baby. Und damit fängt die Geschichte erst richtig an.

 

Das Baby war ein Junge und genau so, wie ein Baby sein sollte. Es hatte strahlende Augen, einen niedlichen kleinen Haarschopf, eine Knopfnase und aufmerksame Ohren. Aber nicht nur das, der kleine Prinz konnte mit nicht ganz einem Monat bereits pfeifen, keine richtigen Melodien zwar, aber er machte reizende kleine Pfeifgeräusche wie ein junger Vogel.

Die Königin war völlig vernarrt in ihren Sohn und der König platzte fast vor lauter Glück. Und alle auf der Insel freuten sich mit ihnen, denn man kann bei einem Baby schon sehr früh sehen, wie es sich später entwickeln wird, und die Insulaner sahen, dass der Prinz genau zu dem Herrscher heranwachsen würde, den sie sich wünschten.

Kaum dass das Kind geboren war, bildeten sich Schlangen von selbst ernannten Kindermädchen vor dem Palast: weise Frauen, die ihn unterrichten wollten, Sirenen, die ihm vorsingen, und Hexen, die ihm Zaubertricks beibringen wollten. Sogar eine Nixe war darunter, die meinte, sich um das Baby kümmern zu können, auch wenn sie dafür in einem Badezuber auf Rädern im Palast hätte herumrollen müssen.

Die Königin bedankte sich sehr freundlich bei allen, aber sie entschied sich für ein ganz normales menschliches Wesen als Kinderfrau. Das heißt, eigentlich waren es drei menschliche Wesen: Drillinge mit den Namen Violet, Lily und Rose. Sie waren als junge Mädchen auf die Insel gekommen und gut ausgebildete Kinderschwestern, die wussten, wie man Windeln wechselt, dem Baby ein Bäuerchen entlockt und Gemüse püriert. Der Umstand, dass die drei rein gar nichts von Zauberei verstanden, beruhigte die Königin, die fand, dass es bereits genug Übernatürliches in ihrem Leben und ihrem Land gab. Und dass es Drillinge waren, hielt die Königin für eine gute Idee, denn um ein Baby muss man sich bei Tag und Nacht kümmern und auf diese Weise würde immer jemand mit krausem rotem Haar, einer langen Nase und Sommersprossen den Prinzen beruhigen, schaukeln und ihm etwas vorsingen. Nie würde er durch ein fremdes Gesicht erschreckt werden, denn so aufmerksam das Baby auch war, es würde Violet nicht von Lily oder Lily von Rose unterscheiden können.

Die drei Kinderschwestern kamen also und kümmerten sich hingebungsvoll um den Prinzen; alles verlief bestens, eine Zeit lang jedenfalls. Aber als das Baby drei Monate alt war, rückte der Zeitpunkt heran, an dem der Gügel sich wieder öffnen sollte – und danach war nichts mehr wie zuvor.

 

Vor jeder Öffnung des Gügels herrschte große Aufregung. Die Seeleute machten im Hafen den Dreimaster klar, um mit ihm in die Geheime Bucht zu segeln. Diejenigen, die die Insel verlassen wollten, begannen zu packen und sich zu verabschieden. Und für die, die auf die Insel kommen würden, mussten Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden.

Genau um diese Zeit bekamen Lily, Rose und Violet Heimweh. Heimweh ist etwas Schreckliches. Schüler im Internat glauben manchmal, dass sie daran sterben müssen. Ganz egal, wie das Heim ist, nach dem man sich sehnt, es ist das eigene und nur das zählt.

Lily und Violet liebten die Insel und beteten den Prinzen an, aber sie dachten immer öfter an das Leben, das sie als kleine Mädchen in den schmutzigen Straßen von Nordlondon geführt hatten.

»Erinnert ihr euch noch an die Bingohallen?«, fragte Lily. »Wie dadrinnen immer geschrien wurde, wenn jemand gewonnen hatte?«

»Und an die Samstagabende im Odeon‑Kino mit einer Tüte Kartoffelchips?«, sagte Violet.

»Und an das Rasseln der Spielautomaten in Paddys Spielsalon?«, sagte Rose.

Und so ging das tagelang. Sie hatten völlig vergessen, wie unglücklich sie als Kinder gewesen waren: in der Schule gehänselt, vom Vater geschlagen und weit und breit kein frisches Grün. Als sie damals zum Spielen auf dem Bahnhof King’s Cross gewesen waren, gerade zu der Zeit, als sich die Tür im Gügel öffnete, hatten sie gar nicht schnell genug hindurchschlüpfen können, um diesem Unglück zu entfliehen.

»Ich weiß, dass wir nicht zurückkönnen«, sagte Lily. »Wir müssen uns um den Prinzen kümmern. Aber vielleicht erlauben uns Ihre Majestäten, dass wir vom Schiff aus wenigstens einen Blick auf unser altes Vaterland werfen.«

Sie fragten die Königin, ob sie den kleinen Prinzen mit auf das Schiff nehmen dürften, um mit ihm in der Geheimen Bucht zu warten – und die Königin sagte Nein. Es war ihr unmöglich, sich von ihrem Baby zu trennen, schon bei dem Gedanken daran bekam sie Magenkrämpfe.

Doch gerade weil sie so empfand, geriet ihr Entschluss ins Wanken. War sie nicht auf dem besten Wege, eine von diesen grässlichen Gluckenmüttern zu werden, die ihre Kinder mit ihrer Liebe ersticken, anstatt sie frei und angstlos aufwachsen zu lassen? Sie sprach mit dem König und hoffte insgeheim, er würde seinem Sohn den Ausflug verbieten. Aber er sagte: »Nun, meine Liebe, es stimmt schon, dass Abenteuer selbst für die ganz Kleinen nützlich sind. Abenteuer können einem Menschen ins Blut gehen, auch wenn er sich später gar nicht daran erinnert, sie gehabt zu haben. Und du vertraust natürlich den Kinderschwestern?«

Natürlich vertraute die Königin ihnen. Und sie vertraute der Mannschaft auf dem Schiff – und außerdem ist Seeluft, wie jeder weiß, so schrecklich gesund. Also erlaubte sie die Reise, nicht ohne heimlich ein paar Tränen zu vergießen.

Die Kinderschwestern nahmen das Baby in seinem handgeflochtenen Binsenkorb mit dem spitzengesäumten Verdeck an Bord und setzten ihn dort ab.

Kurz bevor das Schiff ablegen sollte, stürzte die Königin mit kreideweißem Gesicht aus dem Palast und schrie: »Nein, nein! Bringt ihn zurück! Ich will nicht, dass er fährt!«

Aber als sie zum Hafen kam, war es zu spät. Das Schiff war nur noch ein Fleck am Horizont.

2. Kapitel

Mrs Trottle war reich, so reich, dass sie elf Wintermäntel, fünf Diamantketten und goldene Wasserhähne im Bad besaß.

Mr Trottle war Bankdirektor und verbrachte den Tag damit, Leuten Geld zu leihen, die schon mehr als genug davon hatten, und es denen abzuschlagen, die es gebraucht hätten.

Das Haus der Trottles befand sich im vornehmsten Teil Londons, nicht weit vom Buckingham‑Palast, in der Nähe eines schönen Parks. Es hatte eine ganz normale Adresse, aber wegen seines hohen, mit Metallspitzen gespickten Zaunes, der Statuen und des Fahnenmastes im Garten nannten Lieferanten das Haus nur »Trottles Trutzburg«.

Obwohl Larina Trottle eine durch und durch kräftige und gesunde Frau war und ihr Gatte sich durch Boxen fit hielt – er bezahlte einen Mann dafür, dass er in seinem Fitnessraum auf ihn einschlagen durfte –, hatten die Trottles nicht weniger als fünf Bedienstete, die für sie die Arbeit machten: einen Butler, eine Köchin, einen Chauffeur, ein Hausmädchen und einen Gärtner.

Die Trottles besaßen drei Autos und sieben Handys, auf die sich Mr Trottle manchmal aus Versehen setzte.

Sie hatten eine Jagdhütte in Schottland, wo Mr Trottle hinfuhr, um Rehe totzuschießen, und ein Ferienhaus in Südfrankreich, auf dessen Dachterrasse sich Mrs Trottle splitterfasernackt in die Sonne legte, um braun zu werden, was übrigens kein sehr hübscher Anblick war.

Aber etwas gab es, das die Trottles nicht hatten. Sie hatten kein Kind.

Als die Jahre vergingen und sich noch immer kein Baby einstellte, wurde Mrs Trottle immer zorniger. Leute mit Kinderwagen starrte sie böse an, und wenn im Fernsehen Babys glucksend Werbung für Wegwerfwindeln machten, schnaubte sie vor Wut. Sie ärgerte sich sogar über kleine Katzen und Hunde.

Schließlich, nach fast zehn Jahren Ehe, beschloss sie, ein Kind zu adoptieren.

Als Erstes machte sie einen Besuch bei ihrer alten Kinderfrau.

Die Jahre waren an Nanny Brown nicht spurlos vorbeigegangen. Sie war eine kleine mürrische Person, die abends ihre falschen Zähne in Brandy einlegte und niemals zu Bett ging, ohne nachzusehen, ob sich nicht ein Einbrecher darunter versteckt hielt. Aber sie wusste einfach alles, was man über Babys wissen musste.

»Es ist besser, wenn du dabei bist«, sagte Mrs Trottle zu ihr. »Und meine alte Puppe kommt auch mit.«

Nanny Brown suchte die Puppe heraus – es war eine von diesen großen, altmodischen mit Schlafaugen, einem Spitzenkleid und kalten Porzellanarmen und ‑beinen – und eines schönen Tages Ende Juni fuhr der Chauffeur Mrs Trottle zu einem Waisenhaus im Norden Englands. Neben ihr im Rolls-Royce hockte wie eine übel gelaunte alte Krähe Nanny Brown, die Porzellanpuppe im Schoß.

Sie erreichten das Waisenhaus und Mrs Trottle rauschte hinein. »Ich will mir ein Baby aussuchen«, sagte sie. »Ich bin bereit, einen Jungen oder ein Mädchen zu nehmen, Hauptsache, gesund und nicht älter als drei Monate. Am liebsten blond.«

Die Vorsteherin des Waisenhauses sah Mrs Trottle prüfend an. »Es tut mir leid, aber Sie können hier nicht einfach ein Baby adoptieren«, sagte sie. »Wir haben eine Warteliste.«

»Eine Warteliste!« Mrs Trottles Busen schwoll so stark an, dass es aussah, als wollte er sich jeden Moment in die Luft erheben. »Gute Frau, wissen Sie, wer ich bin? Ich bin Larina Trottle! Mein Mann ist der Chef von Trottle und Blatherspoon, der größten Handelsbank Londons, und sein Einkommen beträgt fünfhunderttausend Pfund im Jahr!«

Die Vorsteherin sagte, sie sei erfreut, das zu hören.

»Jeder, der das Glück hätte, ein Trottle zu werden, würde aufwachsen wie ein Prinz«, fuhr Mrs Trottle fort. »Und diese Puppe, die ich für das Baby mitgebracht habe, ist eine echte Antiquität. Man hat mir eine hohe Summe dafür geboten. Diese Puppe ist unbezahlbar!«

Die Vorsteherin nickte und sagte, sie sei sicher, dass Mrs Trottle recht habe, aber es gebe nun mal keine Babys zu adoptieren und das sei ihr letztes Wort.

Die Fahrt zurück nach London war nicht sehr angenehm. Mrs Trottle schimpfte und tobte. Nanny Brown, die Puppe im Schoß, saß zusammengekauert neben ihr, während der Chauffeur stur Richtung Süden fuhr.

Plötzlich, gerade als sie London erreicht hatten, gab der Motor ein hässliches schepperndes Geräusch von sich.

»Oh nein, das ist zu viel!«, schrie Mrs Trottle. »Ich werde es nicht zulassen, dass der Wagen hier in diesen ekelhaften, schmutzigen Straßen liegen bleibt.«

Sie waren in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross und es war elf Uhr nachts. Aber das Scheppern wurde schlimmer. »Ich fürchte, ich muss an dieser Tankstelle anhalten, Madam«, sagte der Chauffeur.

Sie stoppten an einer der Zapfsäulen und der Chauffeur stieg aus, um einen Mechaniker zu suchen. Auf dem Rücksitz schrie und tobte Mrs Trottle weiter.

Plötzlich wurde sie still. Auf einer Bank zwischen der Tankstelle und einer Fish-and-Chips-Bude sah sie eine Frau sitzen. Das Licht der Laterne fiel auf ihr krauses rotes Haar und die lange Nase. Die Frau trug die Tracht einer Kinderschwester und neben ihr stand ein Babykorb … ein kunstvoll aus Binsen geflochtenes Körbchen, und wer auch immer darin lag, war durch ein tief herabgezogenes Verdeck vor neugierigen Blicken geschützt.

Der Chauffeur kam mit einem Mechaniker zurück und startete den Motor. Auspuffabgase strömten in Richtung Bank, auf der die rothaarige Frau saß und den Henkel des Körbchens umklammert hielt. Ihr Kopf sank auf die Brust, aber sie riss sich gewaltsam hoch.

Der Chauffeur ließ den Motor stärker aufheulen und eine neue Wolke giftiger Abgase schwappte auf die Bank zu.

Der Kopf der Kinderschwester sank tiefer.

»Gib mir die Puppe!«, befahl Larina Trottle und stieg aus dem Auto.

 

Acht Tage hatten die drei Schwestern auf dem Schiff verbracht, während es in der Geheimen Bucht vor Anker lag. Sie hatten dem Prinzen Lieder vorgesungen, ihn auf den Knien geschaukelt und hochgehalten, damit er die Seevögel und die Klippen ihrer Heimat sehen sollte. Sie hatten ihn mit ans Ufer genommen, wo sie herumplanschten und Muscheln suchten, und sie hatten die Leute, wenn sie durch den Gügel kamen und im Eingang der Höhle erschienen, freundlich begrüßt.

Die Reise durch den Gügel dauerte nicht länger als einen Lidschlag. Im Laufe von neun langen Jahren hatten sich die Winde und Luftströmungen im Tunnel zu einem starken Sog angestaut, der seinen eigenen Gesetzen folgte und sich in Windkörbe verwandelte, in die die Leute einstiegen und im Nu hoch‑ und runtersausen konnten. Es war eine sehr angenehme Art zu reisen, aber ein wenig verwirrend für die, die es nicht gewohnt waren. Und auch hier machten sich die drei Schwestern nützlich und halfen den Neuankömmlingen aufs Schiff.

Und dann, am neunten Tag, kam etwas Ungewöhnliches durch den Tunnel, und dieses Etwas war – ein Geruch.

Als er auftauchte, befanden sich die drei Schwestern gerade am Eingang der Felsenhöhle, und sowie er ihnen in die Nase stieg, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Oh, Lily!«, sagte die arme Violet und ihre Nase zitterte.

»Oh, Rose!«, sagte die arme Lily und klammerte sich an ihre Schwester.

Es war der Geruch ihrer Kindheit: der Geruch nach gebratenem Fisch und Pommes. Jeden Samstagabend hatten ihre Eltern sie losgeschickt, um fünf Portionen zu kaufen, und sie hatten die babywarmen Päckchen im Schein der Laternen heimgetragen.

»Erinnert ihr euch an die goldgelbe, krachende Kruste?«, fragte Lily.

»Und an das weiche, weiße Fischfleisch darunter?«, sagte Violet.

»Und wie die Pommes pappig wurden, wenn man sie in Essig tauchte?«, sagte Rose.

Und wie sie da standen, dachten alle drei, dass sie sterben müssten, wenn sie nicht auf der Stelle noch ein Mal den herrlichen Geschmack von Fisch und Pommes kosten würden.

»Wir können nicht gehen«, sagte Lily, die die Besonnene war. »Ihr wisst, dass das nicht geht.«

»Warum denn nicht?«, fragte Rose. »Wir wären in einer Minute da. Es sind noch gut zwei Stunden, bis der Gügel sich wieder schließt.«

»Und was ist mit dem Prinzen?«, fragte Lily. »Wir können ihn doch nicht allein lassen.«

»Natürlich nicht«, sagte Violet. »Wir nehmen ihn mit. Er wird es toll finden, durch die Luft zu sausen, nicht wahr, mein Püppchen?«

Und wirklich, der Prinz jauchzte und lachte und sah aus, als ob er nichts lieber täte, als durch die Luft zu sausen.

Nun, um es kurz zu machen, die drei Schwestern gingen durch die Öffnung in der Höhle, bestiegen einen der Windkörbe – und fanden sich augenblicklich im Bahnhof King’s Cross wieder.

Mit Gerüchen ist das so eine Sache. Sie verfolgen einen, wenn man überhaupt nicht an sie denkt, aber wenn man die Nase in die Richtung hält, aus der sie zu kommen scheinen, sind sie nicht mehr da. Die drei Schwestern liefen die schäbigen Straßen auf und ab, und offen gestanden: Sie bereuten sehr, gekommen zu sein. Die Bürgersteige waren schmutzig, vorbeifahrende Autos bespritzten sie mit Matsch und das Odeon‑Kino, in dem sie früher so reizende Filme gesehen hatten, war nun eine Kegelbahn.

Aber dann war er plötzlich wieder da – der Geruch. Stärker als zuvor. Und nun, neben einer Tag‑und-Nacht-Tankstelle, sahen sie den grell erleuchteten Imbiss, in dessen Fenster ein Schild hing: Fisch – ganz frisch!

Die Kinderschwestern liefen darauf zu. Dann blieben sie stehen.

»Wir können den Prinzen nicht in eine gewöhnliche Fish-and-Chips-Bude mitnehmen«, sagte Lily. »Das ziemt sich nicht.«

Die anderen stimmten ihr zu. Einige der Leute, die dadrinnen anstanden, sahen ziemlich ungehobelt aus.

»Pass auf, du wartest mit dem Baby da drüben auf der Bank«, sagte Rose zu Lily. Sie war eine halbe Stunde älter als die anderen beiden und bestimmte gern. »Violet und ich gehen rein und holen drei Portionen. Wir sind nur ein paar Straßen vom Bahnhof entfernt, es ist noch massenhaft Zeit.«

Also setzte sich Lily auf die Bank und Rose und Violet gingen in die Fish-and-Chips-Bude und stellten sich in die Schlange. Als sie endlich an der Reihe waren, war der Kabeljau ausgegangen – immer ist irgendwas gerade ausgegangen, wenn man dran ist. Aber der Verkäufer ging neuen holen und es gab überhaupt keinen Grund zur Panik. Sie hatten noch eine Dreiviertelstunde bis zur Schließung des Gügels und zum Bahnhof waren es gerade mal zehn Minuten zu laufen.

Lily, die auf der Bank wartete, sah den großen Rolls-Royce an der Tankstelle vorfahren … sie sah, wie der Chauffeur ausstieg und wie eine Frau mit hoch aufgetürmtem Haar das Wagenfenster öffnete und eine Flut von Verwünschungen ausstieß.

Dann kam der Chauffeur zurück und startete den Motor …

Himmel, mir wird so komisch, dachte Lily und hielt den Griff des Babykörbchens fester. Ihr Kopf sank auf die Brust und sie schnellte wieder hoch. Eine neue Auspuffwolke hüllte sie ein … und noch einmal verlor sie für einen Moment das Bewusstsein. Aber nur für einen ganz kurzen Moment. Fast sofort kam sie wieder zu sich und alles war in Ordnung. Der große Wagen war abgefahren, das Babykörbchen stand neben ihr, und da erschienen auch schon ihre Schwestern mit drei in Zeitungspapier gewickelten Päckchen. Der Geruch war herrlich und ein großer Fettfleck erschien auf dem Gesicht des Premierministers, geradeso wie früher.

Äußerst zufrieden mit sich selbst eilten die Kinderschwestern durch die dunklen Straßen, erreichten Bahnsteig 13 und betraten die Herrentoilette.

Erst als sie sicher im Tunnel waren, packten sie den dampfenden Fisch und die Pommes aus.

»Wollen wir ihm einen von den Pommes geben, zum Lutschen?«, schlug Violet vor.

Aber Lily, die in allem etwas heikel war, sagte, nein, der Prinz bekomme nur gesunde Nahrung und niemals etwas Salziges oder Gebratenes. »Und er schläft so fest«, sagte sie zärtlich. Sie beugte sich über das Bettchen, schielte unter die Haube … entwirrte die bestickte Decke, das Spitzentüchlein um den Kopf …

Dann schrie sie los.

Anstelle eines warmen, lebendigen, atmenden Babys lag da eine kalte, leblose Puppe.

Und die Wand hinter ihnen bewegte sich … bewegte sich … war schon fast wieder geschlossen.

Weinend und schreiend versuchten die Kinderschwestern sie mit ihren Händen aufzuhalten. Zu spät. Der Gügel war geschlossen und keine Macht der Welt würde ihn öffnen können, bevor die Zeit um war.

 

In Nanny Browns Wohnung stand indes Mrs Trottle und sah triumphierend auf das gestohlene Baby hinab. »Weißt du, was ich tun werde?«, fragte sie.

Nanny Brown schüttelte den Kopf.

»Ich werde mit dem Baby von hier fortgehen. In die Schweiz. Für ein Jahr. Und wenn ich zurückkomme, tue ich, als ob ich es dort bekommen hätte. Es ist mein eigenes Kind, nicht adoptiert, sondern meins. Niemand wird etwas ahnen, es ist ja noch so klein. Und mein Mann wird auch nichts ahnen, er hat so viel in der Bank zu tun, er wird es nicht mal merken, wenn ich weg bin.«

Nanny Brown sah sie an wie vom Donner gerührt. »Damit werden Sie niemals durchkommen, Miss Larina, niemals!«

»Oh doch! Ich werde ihn als mein eigenes kleines