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Meine Schuld Nr. 10 Alle 14 Tage neu! Diese Storys gehen wirklich jedem unter die Haut! Viele packende Erlebnisse und berührende Familiendramen, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Menschen wie du und ich berichten schonungslos offen und direkt aus ihrem Alltag. Kein Thema ist tabu! Geschichte 1: Familiendrama "Als es ums Erbe ging, wurden sie zu Aasgeiern." Meine Nichte Irma und ich hatten uns all die Jahre um meine kranke Schwester gekümmert. Die beiden anderen Kinder hatten ihre Mutter offenbar vergessen. Doch als es ums Erbe ging, waren sie plötzlich zur Stelle. Frau Maria und Irma Schröder?", fragte die Schwester, die eben den Kopf aus der Tür zur Intensivstation gesteckt hatte. Wir nickten wortlos, standen auf und folgten ihr in den Vorraum, um die grünen Kittel anzuziehen. "Es ist gut so", sagte ich und drückte die Hand meiner Nichte. "Sie hat so viel gelitten." Tapfer nickte Irma. Für ihre einunddreißig Jahre hatte sie viel geleistet. In den letzten Jahren hatte die Pflege ihrer Mutter allein auf ihren und meinen Schultern gelastet. "Kommen die anderen Kinder noch?", fragte die Schwester leise. "Ich denke nicht", antwortete ich ebenso leise. "Die sind seit zehn Jahren nicht mehr aufgetaucht." Irmas Stimme klang erschreckend tonlos. "Die werden auch jetzt nicht auftauchen." Ein Pfleger führte uns zum Bett meiner Schwester und zog sich verständnisvoll zurück. Irma und ich wechselten uns ab in dieser Nacht. In den frühen Morgenstunden, als Irma mich gerade ablösen wollte, war es so weit. Keine Leseprobe vorhanden. E-Book 1: Geschichte 1 E-Book 2: Geschichte 2 E-Book 3: Geschichte 3 E-Book 4: Geschichte 4 E-Book 5: Geschichte 5 E-Book 6: Geschichte 6 E-Book 7: Geschichte 7 E-Book 8: Geschichte 8 E-Book 9: Geschichte 9 E-Book 10: Geschichte 10 E-Book 11: Geschichte 11 E-Book 12: Geschichte 12
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Seitenzahl: 173
Geschichte 1
Geschichte 2
Geschichte 3
Geschichte 4
Geschichte 5
Geschichte 6
Geschichte 7
Geschichte 8
Geschichte 9
Geschichte 10
Geschichte 11
Geschichte 12
»Ich musste die Frau, die ich liebe, belügen.«
Meine Familie hatte mir ihren Segen gegeben, als ich zum Studieren unsere Wohnwagensiedlung verließ. Natürlich kehrte ich immer wieder heimlich zu Besuchen zurück. Doch als ich Hanna kennen lernte, wurde das Geheimnis meiner Herkunft zur unerträglichen Last.
Es ist gut, dass du hier warst. Komm wieder, Janosh«, hörte ich meine Mutter sagen, als sie mich zum Abschied umarmte.
Ich war ihr dankbar dafür, dass sie das jedes Mal sagte, wenn ich meine Familie in der Wohnwagensiedlung besuchte. Hier war es nicht selbstverständlich, dass man willkommen war, wenn man den Wohnwagen erst einmal den Rücken gekehrt hatte. Hier war ich mit all den anderen Kindern aufgewachsen. Kaum einer meiner alten Spielkameraden hatte die Familie verlassen. Meist wären die Eltern auch nicht einverstanden gewesen. Auch meine Mutter hatte mit Gegenstimmen zu kämpfen gehabt, als sie mich freigegeben hatte.
»Aniki, der Junge gehört dort nicht hin. Er ist Roma wie wir, er wird sich nicht zurechtfinden! Und du hast nicht das Recht, allein zu entscheiden. Du musst warten, bis Gabor aus der Heimat zurückkommt und seinen Segen gibt«, hallt mir noch heute die Stimme meines Onkels im Ohr nach.
»Janosh ist auch mein Sohn. Und mit meinem Mann habe ich am Telefon gesprochen. Hörst du? Telefon! So etwas hat man heutzutage! Die Zeit bleibt nicht stehen, und wir dürfen uns dem nicht verschließen! Gabor hat zugestimmt. Janosh wird in der Stadt studieren, ob du es willst oder nicht.«
Die Familien hatten sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich immer wieder zu Besuch kam. Auch ich hatte mich daran gewöhnt, zwischen den Welten zu leben. Nun ging ich ein Stück zu Fuß durch ein kurzes Waldstück und stieg auf einem Wanderparkplatz in meinen Wagen. So tauchte ich wieder in meine neue Welt.
In dieser neuen Welt hatte ich studiert und Freunde gefunden. Niemand ahnte etwas davon, dass meine Familie tatsächlich nur wenige Kilometer entfernt wohnte.
»Sag niemandem, woher du kommst!«, hatte meine Mutter mir eingeschärft, bevor ich ging. »Für sie wirst du sonst immer nur der Zigeuner sein. Sie werden dich verachten.«
Daran hatte ich mich gehalten. Sie hatte recht behalten. Nur allzu oft hatte ich blöde Witze und sogar Hasstiraden auf die Menschen am Stadtrand hinter dem Wald mitbekommen. Man hatte zwar keine Ahnung davon, wie wir lebten. Trotzdem verachtete man uns. Deshalb durfte niemand wissen, woher ich kam. Selbst meinen Namen gab ich niemals vollständig an. In der neuen Welt war ich nicht Janosh, der Roma. In der neuen Welt war ich einfach nur Jan, der ein Leben wie alle anderen hatte.
Ich fuhr auf den Parkplatz der Versicherungszweigstelle, in der ich vom nächsten Tag an als Controller eingesetzt werden sollte. Als ich meinen Wagen abschloss, stieß mich von hinten die Wagentür des Nachbarfahrzeugs an.
»Oh, das tut mir leid!«, entschuldigte sich eine junge Dame und lächelte das charmanteste Lächeln, das ich je gesehen hatte.
Halblange blonde Haare umrahmten ein zartes Gesicht mit wunderschönen Augen, die mich entschuldigend ansahen.
»Kein Problem, ist ja nichts passiert«, antwortete ich und trat einen Schritt zur Seite, um die junge Frau aussteigen zu lassen.
Sie musste etwa Anfang bis Mitte zwanzig sein, wie ich. In ihrem hellen Kostüm sah sie einfach umwerfend aus.
»Sie müssen neu sein«, stellte sie fest.
»Ja, bin ich. Aber jetzt sagen Sie nicht, Sie kennen hier alle Mitarbeiter, die schon länger hier sind«, staunte ich an dem achtstöckigen Gebäude hinauf.
»Doch, fast alle«, lachte sie, reichte mir die Hand und stellte sich vor. »Hanna Eller.«
»Jan Adonay«, antwortete ich. »Ich fange hier morgen in der Abteilung Controlling an und komme heute zur Vorstellungsrunde.«
»Ach«, sagte sie und lächelte wieder unglaublich charmant. »Dann können Sie mich gleich begleiten, wenn Sie möchten. Ich nehme auch an dieser Runde teil.«
Nur zu gern folgte ich ihr. Herr Mainer, mein neuer Chef, begrüßte mich nur kurz und stellte mich gleich dem Team vor.
»Frau Eller und die anderen Abteilungsleiter werden Ihnen heute ihre Arbeit vorstellen. So sind Sie morgen gleich im Bilde und können mit voller Tatkraft loslegen«, erklärte er und wandte sich an Hanna Eller: »Frau Eller, bitteschön.«
Selbstbewusst schritt sie zu einem Laptop, der vorbereitet auf einem Tisch vor einer Leinwand auf seinen Einsatz wartete. Ihre klare, starke Stimme tönte wohlklingend durch den Raum, während sie in einem gut vorbereiteten Vortrag die Struktur des Hauses beschrieb, die ich für meine Arbeit kennen musste.
Diese Frau faszinierte mich, wie es keine andere Frau jemals getan hatte. Ich hatte viele hübsche Mädchen kennen gelernt. Doch immer hatte ich mich wegen meiner Herkunft zurückgehalten. Niemand durfte mein Geheimnis entdecken!
Aber diese Frau war einfach umwerfend. Noch bevor sie ihren Vortrag beendet hatte, hatte ich beschlossen, dass ich sie zum Essen einladen würde. Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, wartete ich einige Tage. Dann wagte ich es.
»Gern«, antwortete sie kurz und schenkte mir wieder dieses unglaubliche Lächeln.
»Dann sehen wir uns heute Abend um halb acht im Blumenhof?«, fragte ich atemlos vor Überraschung, weil sie gleich zugesagt hatte.
»Ich werde pünktlich sein«, versprach sie.
*
Und das war sie. Sie war nicht nur pünktlich. Sie war zuverlässig, klug, schön und unwiderstehlich attraktiv. Es war ein wunderschöner Abend, an dem sie mir fast die Sinne raubte.
Gleich in der folgenden Woche lud ich sie abermals ein. Nach Feierabend gingen wir gemeinsam ein paar Schritte bis zu einem kleinen Bistro in der Nähe. Wir tranken Saftschorlen und amüsierten uns. Es war einfach nur schön. Doch an diesem Tag musste sie früh gehen. Als sie ihre Jacke von der Garderobe nahm, hielt sie kurz inne und sah mich an.
»Vielleicht hätten Sie… vielleicht hättest du ja Lust mitzukommen. Ich bin heute mit meinem Vater in der Wohnung meiner Freundin verabredet. Er ist Elektriker und hilft ihr, ihren neuen Herd anzuschließen. Es wird nicht lange dauern, und wir könnten danach vielleicht noch ins Kino gehen?«
»Das ist eine schöne Idee«, stimmte ich zu.
Wir machten uns auf den Weg.
»Ooooh, sie sind dahaaaa!«, rief Hannas kleine, rundliche Freundin nach hinten in die Wohnung, als sie uns die Tür öffnete. »Hallo, ich bin Vanessa. Hanna und ich haben zusammen die Ausbildung gemacht.«
»Angenehm, ich heiße Jan«, stellte ich mich vor.
»Ich weiß«, grinste sie freundlich und ging voraus in die Wohnung.
In der Küche kam uns Hannas Vater entgegen. »Guten Tag«, hörte ich ihn förmlich schnarren, »Roland Eller.«
Ich stellte mich ebenfalls vor und schüttelte ihm die Hand. Er hatte einen sehr kräftigen Händedruck.
»Hanna hat schon viel von Ihnen erzählt«, berichtete er zu meiner Überraschung. »Natürlich nur Gutes.«
»Da bin ich ja erleichtert«, antwortete ich und war es tatsächlich.
»Sie meint, Sie sind ein Zahlenmensch«, fuhr er fort. »Das ist ja schon mal eine gute Voraussetzung fürs Leben. Solche Leute haben nämlich eine ordentliche Struktur in ihrem Leben.«
»Na ja, ich gebe mir zumindest alle Mühe«, antwortete ich vorsichtig.
Gut, dass dieser Mann nichts von meiner Herkunft weiß, schoss es mir in diesem Moment durch den Kopf.
»Sie sind jetzt der Dritte, der an dieser Stelle in der Versicherung angefangen hat«, wandte sich Vanessa an mich. »Und Hanna sagt, Sie wären der Erste, der Ahnung von seinem Job hat.«
Erstaunt sah ich meine Kollegin an. »Danke für dein Vertrauen.«
Sie lächelte zurück: »Ich glaube, du hast es verdient.«
»So«, hörte ich Roland Eller entschlossen rufen. »Der Herd funktioniert. Jetzt kannst du kochen und backen, was das Zeug hält.«
»Super, danke«, freute sich Vanessa und lud uns in ihrer Freude für den nächsten Freitag ein. »Es gibt Rosmaringulasch auf mediterrane Art.«
»Das werden wir uns nicht entgehen lassen«, freute sich Hanna und wandte sich zu mir. »Du kommst doch, oder?«
»Ähm, ja, gern«, antwortete ich zögerlich.
Ich freute mich über die Einladung. Doch ich war es nicht gewohnt, mich so schnell auf fremde Familien einzulassen. Unwillkürlich stieg die Angst in mir auf. Immer, wenn man Menschen so nahe kam, tauchten irgendwann Fragen auf. Und dann würde ich Hanna, an die ich rettungslos mein Herz verloren hatte, belügen müssen. Der Gedanke war mir unerträglich. Aber ich konnte ihr nicht widerstehen.
Der Abend im Kino war wunderbar. Ich fuhr sie nachher zu ihrem Wagen, den sie auf dem Firmenparkplatz stehen gelassen hatte.
»Ich fände es schön, wenn wir öfter etwas gemeinsam unternehmen könnten«, sagte sie geradeheraus.
»Das fände ich auch schön«, hörte ich mich unwillkürlich sagen.
Doch gleichzeitig spürte ich wieder die Angst in mir aufsteigen, sie könnte entdecken, woher ich kam. Ich schob den Gedanken weit weg, fuhr nach Hause und schlief glücklich ein.
Noch nie in meinem Leben war ich so verliebt gewesen. Und noch nie in meinem Leben hatte mir eine Frau so direkt zu verstehen gegeben, dass sie sich auch für mich interessierte. Es war einfach wunderbar.
*
Doch am nächsten Morgen war die Wirklichkeit wieder in meinem Bewusstsein: Sie mag Jan, den Controller. Von Janosh, dem Zigeuner, würde so eine Frau niemals etwas wissen wollen! Mit widerstreitenden Gefühlen ging ich zur Arbeit. Hanna war bis zum Nachmittag in einer Schulung, sodass ich sie nicht sehen würde. In der Mittagspause besorgte ich in der Apotheke ein Medikament für meine Mutter.
Danach vertiefte ich mich über drei Stunden in die Zahlen der Werbeabteilung. So saß ich hochkonzentriert vor meinem Computer, als Hannas wundervolle Stimme mich aus meinen Gedanken riss.
»Hallo, Jan. Wie geht’s?«, fragte sie.
»Gut, und selbst?«, antwortete ich überrascht. »Wie war die Schulung?«
»Interessant, es ging um neue Strategien in den Medien«, antwortete sie. »Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?«
Ich zögerte einen Augenblick. Meine Mutter brauchte das Medikament heute. Aber das konnte ich Hanna ja nicht sagen. »Ich muss heute Nachmittag zu einem ehemaligen Studienkollegen. Er hatte gefragt, ob ich ihm bei einem mathematischen Problem helfen kann«, log ich.
»Schade.« Ein wenig Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit. »Aber übermorgen kommst du doch, oder?«
»Zu Vanessa? Aber klar.«
Schon breitete sich wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Trotzdem fühlte ich mich den Rest des Tages schlecht. Oft schon hatte ich Studienkollegen oder anderen Bekannten etwas vorgeflunkert, wenn ich zu meiner Familie gefahren war. Auch, wenn jemand nach meiner Familie fragte, hatte ich nie die Wahrheit sagen dürfen. Aber bei Hanna war das etwas anderes. Ich fühlte mich durch und durch schlecht.
»Schönen Feierabend und viel Erfolg bei Mathe«, wünschte sie mir, als wir zusammen das Gebäude verließen.
»Ja, danke«, erwiderte ich.
*
Oh, Mist, vor lauter schlechtem Gewissen hatte ich vergessen, ihr auch einen schönen Feierabend zu wünschen. Als es mir auffiel, saß sie schon in ihrem Wagen und fuhr zur Ausfahrt hinaus. Niedergeschlagen fuhr ich zum Wanderparkplatz und eilte durch den Wald.
»Gut, dass du da bist, Janosh«, sagte meine Mutter lächelnd.
»Das Medikament wird es bald nicht mehr geben. Der Apotheker sagt, du musst mit dem Arzt besprechen, welches du stattdessen nehmen musst«, erklärte ich ihr.
Meine Mutter hatte sich zur Kaffeemaschine umgedreht und hielt jetzt einen Sekundenbruchteil in ihrer Bewegung inne. Hatte sie an meiner Stimme gehört, dass etwas anders war? Sie drehte sich wieder zu mir um, und ich spürte ihren Blick. Es war, als könnte sie ohne Widerstand in meine Seele hineinschauen. Langsam nickte sie.
»Wann kannst du mich hinbringen?«, fragte sie.
»Gleich am Montag in der nächsten Woche«, bot ich an.
»Gut. Dann kannst du sie mir vorstellen. Ist sie eine Roma?«
»Woher weißt du…?«, stotterte ich.
»Mütter haben für so etwas einen siebten Sinn«, antwortete sie. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Ist sie eine Roma?«
»Nein. Sie ist eine Kollegin. Sie ist hier in der Stadt geboren und aufgewachsen. Studiert hat sie in München und ist dann hierher zurückgekehrt.«
»Dann brauchst du sie mir nicht vorzustellen. Dann ist es nichts für die Dauer.«
Ich war erschrocken über dieses harte Urteil und hielt es für besser, das Thema zu wechseln. »Wie viele Tabletten hast du noch?«, fragte ich sie.
»Bis ich am Montag beim Arzt bin, reicht es«, antwortete sie und sah mir fest in die Augen. »Du kommst doch am Montag?«
Ich nahm sie in den Arm. »Natürlich komme ich am Montag.«
Ich blieb noch eine Weile bei ihr. Wir sprachen über dies und das. Meine Mutter fragte nicht einmal nach Hannas Namen. Für sie war nur eines wichtig: Die Frau, die ich liebte, war keine Roma. Und damit hatten wir in ihren Augen keine gemeinsame Zukunft.
Wir umarmten uns zum Abschied, und ich ging langsam zurück zum Wanderparkplatz. Als ich mit meinem Wagen in der breiten Zufahrt stand, fuhr ich kurz an die Seite und legte meine Stirn auf das Lenkrad. Ich atmete langsam und tief. Nie, aber auch niemals hatte ich mein Geheimnis als so quälende Last empfunden wie in diesem Moment.
Meine Stimmung war so gedrückt, dass ich meine Umwelt gar nicht mehr genau wahrnahm. So erkannte ich Vanessa auch nicht, die in ihrem Auto vorbeigefahren war. Und dass Hanna auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, hatte ich natürlich ebenfalls nicht gesehen. Doch die beiden hatten mich gesehen.
Ich fuhr nach Hause. Den ganzen Abend zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ich das Problem lösen könnte. Mir war klar: Hanna war die Frau meines Lebens. Die Frau, die ich liebte und lieben würde bis ans Ende meiner Tage. Aber wie sollte ich ihr erklären, was ich ihr bisher verborgen hatte? Und wie sollte ich es jemals schaffen, meine Mutter davon zu überzeugen, dass eine Verbindung zwischen mir und einer Nicht-Roma-Frau funktionieren kann?
Trübsinnig saß ich mit hängendem Kopf in meinem kleinen Wohnzimmer. Ich bemerkte nicht einmal, dass es draußen dunkel wurde. Irgendwann saß ich im Stockfinsteren in meinem alten Sessel und begriff, dass es Nacht geworden war. Mutlos ging ich schlafen.
*
Von Hanna sah ich am folgenden Tag nicht viel. Sie hatte offenbar viel in anderen Abteilungen zu tun. Als wir uns kurz sahen, grüßte sich mich kurz und distanziert. Getroffen wich ich zurück. Sie war so ganz anders als sonst, fast schon kalt. Hatte ich etwas falsch gemacht? Hatte ich sie womöglich sogar verletzt? Ich beschloss, was immer es gewesen sein sollte: Ich würde es bei der Einladung bei Vanessa wiedergutmachen.
So kaufte ich Blumen für beide Frauen. Für Vanessa gab es gelbe Rosen. Hanna hingegen sollte wunderschöne rote Rosen bekommen. Ich wollte aus meinen Gefühlen keinen Hehl mehr machen. Sie sollte wissen, wie es um mein Herz stand. Zuversichtlich klingelte ich mit den Sträußen in der Hand an der Tür.
Vanessa öffnete. »Das ist ja wohl…«, hörte ich ihre empörte Stimme.
Doch sie redete nicht weiter. Hinter ihr war Hanna ebenfalls zur Tür gekommen. Ich sah sofort, dass sie geweint hatte. Vanessa sah so wütend aus, wie ich es nur von Romafrauen kannte, wenn sie eifersüchtig waren. Doch Hanna war mir jetzt wichtiger.
»Was ist los?«, fragte ich erschrocken.
Hannas Augen röteten sich noch mehr.
»Da hast du noch die Nerven zu fragen?«, fuhr ihre Freundin mich an. »Du belügst sie, fährst dann zu irgendwelchen öffentlichen Damen auf einsame Parkplätze und hast ernsthaft die Nerven, hier noch einmal aufzutauchen?«
Schlagartig wurde mir klar, dass meine Lüge aufgeflogen war. Aus Hannas Augen liefen Tränen. Sie wandte sich ab und trat einen Schritt zurück in die Diele.
»Aber das kann ich…«, wollte ich einwenden, doch Vanessa ließ mich nicht ausreden.
»… erklären? Das denk ich mir. Ihr Männer habt für sowas ja immer eine Erklärung bereit«, spie sie verächtlich aus. »Und ich hatte genauso wie Hanna gedacht, du wärest anders.«
Damit knallte sie mir die Tür vor der Nase zu. Es dauerte einen Moment, bis ich begriffen hatte, was geschehen war. Wie ein Kartenhaus brach mein Traum in sich zusammen. Ich sank auf die Stufen neben der Wohnungstür und ließ die Blumen hängen. Wie in Trance legte ich den Kopf gegen die Hausflurwand und stierte auf das triste Weiß der Wand gegenüber.
Was sollte ich nur tun? Wenn ich jetzt ginge, würde ich Hanna für immer verlieren. Wenn ich ihr die Wahrheit sagte, hätte das wahrscheinlich das gleiche Ergebnis zur Folge. Fast eine geschlagene Stunde saß ich da und zerbrach mir den Kopf. Es war egal, was ich jetzt tat, ich würde sie verlieren. Dessen war ich mir sicher. Aber auf eine Weise würde ich wenigstens meine Last loswerden.
*
Ich stand auf, rückte meine Kleidung wieder zurecht und klingelte noch einmal. Noch während sich die Tür öffnete, schloss ich angespannt die Augen und begann zu reden. Ich wollte in jedem Fall loswerden, was ich zu sagen hatte, bevor mich jemand unterbrach.
»Der Parkplatz, auf dem ich war, ist nicht der Parkplatz der Prostituierten. Der ist einen halben Kilometer weiter. Und ich bin nicht Jan. Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Das einzige Echte an mir ist mein Nachname.«
Erst jetzt öffnete ich die Augen wieder. Vanessa stand vor mir und sah mich an wie vom Donner gerührt. Sie kniff die Augen zusammen.
»Kannst du das noch mal sagen, bitte?« Sie sah mich an, als zweifelte sie an meinem Verstand.
»Ich bin nicht…«, begann ich.
»Schon gut, ich habe es gehört«, klang Hannas Stimme hinter Vanessa aus der Diele.
Die Tür schwang ein Stück weiter auf. Nun standen beide Frauen vor mir. Ich war wild entschlossen, Hanna wenigstens zu erklären, dass ich kein Halunke war. Was sie dann von mir denken mochte, konnte ich ohnehin nicht ändern.
»Ich bin nicht Jan Adonay, sondern Janosh Adonay. Janosh ist ein Roma-Name. Und ich bin Roma. Ich war auf diesem Parkplatz, weil einer der kleinen Wege zur Siedlung meiner Familie führt. Ich habe meiner Mutter ein Medikament gebracht«, erleichterte ich endlich mein Herz und gestand: »Ich hatte Angst, dass du mich verachtest, wenn du weißt, dass ich ein Zigeuner bin.«
Plötzlich herrschte nur noch Stille. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Die beiden Frauen sahen mich fassungslos an.
»In Ordnung«, unterbrach Vanessa die Stille zuerst. Sie zog mich in die Wohnung, ging ins Wohnzimmer und begann, den Kuchen reisefertig in einzupacken. »Gibt es irgendwelche Essensvorschriften bei den Roma?«
»Äh, nein«, antwortete ich verwirrt.
Im Gegensatz zu mir hatte Hanna sofort geschaltet. Sie wusste, was ihre Freundin vorhatte. Ein unwiderstehliches, schelmisches Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Genau, so machen wir’s«, stimmte sie ihrer Freundin zu und half beim Verpacken der Sahne.
»So machen wir was?« Ich schüttelte begriffsstutzig den Kopf.
»Na, wir werden den Kuchen doch nicht ohne deine Mutter essen«, erklärte Hanna ganz selbstverständlich.
»Aber wir können doch nicht einfach… Ihr versteht das nicht… Das geht nicht…«, stammelte ich erschrocken.
»Wieso? Haben Roma kein Handy?«, fragte Vanessa.
»Äh, doch. Also, jedenfalls hat meine Mutter eins«, erklärte ich, immer noch völlig überrumpelt.
»Na, dann ruf sie an. Es wäre unhöflich, unangemeldet vor der Tür zu stehen.«
Ich starrte von einer zur anderen. Als ich Hannas Blick traf, wurde mir klar: Diese Frau liebte mich. Sie verachtete mich nicht wegen meiner Herkunft. Sie wollte das Problem lösen. Und wenn das bedeutete, dass sie mit Kuchen in einer Zigeunersiedlung auftauchen müsste, dann würde sie das genau jetzt und hier für mich tun.
Deshalb drückte ich ihr die Rosen in die Hand, zog mein Handy aus der Jacketttasche und wählte die Nummer meiner Mutter. Sie war überrascht, doch sie stimmte zu.
*
Meine Mutter war sehr zurückhaltend gewesen bei diesem Überraschungsbesuch. Auch Hanna und Vanessa schienen unsicher. Doch das konnte ich verstehen. Sie waren es nicht gewohnt, zwischen zwei so unterschiedlichen Welten hin und her zu gehen.
Mittlerweile besuchen Hanna und ich meine Mutter oft. Auch mein Vater ist zwischenzeitlich zurückgekehrt und hat unserer Verbindung seinen Segen gegeben. Und, was ich nach dem Desaster mit der Lüge niemals mehr zu hoffen gewagt hätte: Hanna liebte mich immer noch, und das ist so geblieben. Für uns werden in zwei Monaten die Hochzeitsglocken läuten.
– ENDE –
»Erst die Operationen haben mich wirklich krank gemacht.«
Die jahrelange Schreibtischarbeit hatte meinen Rücken einseitig belastet. Als die Schmerzen kamen, riet man mir zur Operation. Wenn ich gewusst hätte, dass damit ein schier endloser Leidensweg beginnen würde, hätte ich mich anders entschieden.
Hallo, Carmen«, begrüßte mich meine alte Schulfreundin und zeigte auf den Sportplatz vor uns. »Unsere Männer übertreffen sich heute mal wieder selbst. Sie nennen es Fußballspielen und sehen nachher aus, als hätten sie sich in einer Schlammgrube gesuhlt.«
»Allerdings«, bestätigte ich. »Die Waschmaschine wird wieder mal im Dauereinsatz sein. Aber das ist bei dem Regen in den letzten Wochen ja auch kein Wunder.«