Was nun, Annabell - Gisela Böhne - E-Book

Was nun, Annabell E-Book

Gisela Böhne

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Beschreibung

Schicksalhafter Liebesroman vor und nach der Wende. Im Mai 1961 besucht Annabell aus Waren/Müritz ihre Großeltern in Bonn. Dort verliebt sie sich in einen Studenten. Nach ihrer Rückkehr stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Ihr Plan, aus der DDR zu fliehen, misslingt. Sie wird wegen versuchter Republikflucht verhaftet. Während der Haft in Bautzen bekommt sie ihr Baby. Sieben Tage danach teilt man ihr mit, dass ihr Kind plötzlich gestorben sei. Sie wird in die Bundesrepublik abgeschoben. Annabell glaubt nicht an den Tod ihrer Tochter. Erst seit der Wende 1989 hat sie die Möglichkeit, nach ihr zu forschen. Das versucht ein Mann durch Drohanrufe zu verhindern. Wer ist dieser Mann? Kann er ihrer Tochter Schaden zufügen, wenn sie weiterrecherchiert? Beruflich ist Annabell eine erfolgreiche Reisekauffrau mit eigenem Reisebüro. Privat sehnt sie sich nach einem Lebensgefährten, dem sie vertrauen kann. Welche Rolle spielen dabei ihr Jugendfreund Georg und der ehemalige Kapitän Jürgen?

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Über die Autorin

Gisela Böhne arbeitete in der Botschaft von Senegal in Bonn als Fremdsprachen-Korrespondentin, studierte Romanistik, Geografie und Pädagogik in Bonn und Grenoble und unterrichtete an Realschulen, zuletzt als Konrektorin. Seit 1974 lebt sie in Bielefeld. Sie ist Mitglied von DELIA. Mit Beginn der Pensionierung begann sie zu schreiben, zunächst Biografische Erzählungen unter dem Titel "Unvergessliche Tage", danach den Roman "Ich fliege nach Singapur, Gruß Jennifer" und den Fortsetzungsroman "Wir sind in Paris, Gruß Jennifer."

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Bonn, Samstag, 13. Mai 1961

1. Alles okay?

Waren/Müritz, Samstag, 24. Juni 1961

Waren, Montag, 26. Juni 1961

2. Die Flucht

Waren – Berlin, Mittwoch, 9. August 1961

3. Redeverbot

Bautzen, Montag, 13. November 1961

4. Weihnachten

Bautzen, Samstag, 24. Dezember 1961

5. Ramona

Bautzen, Sonntag, 26. Februar 1962

Fünfzehneinhalb Jahre später

6. Eine ungewöhnliche Beziehung

Bonn, Samstag, 13. August 1977

Bonn, Freitag, 19. August 1977

Zwölf Jahre später

7. Die Wende

Bonn, Donnerstag, 09. November 1989

Bonn, Donnerstag, 23. November 1989

Bonn, Donnerstag, 30. November 1989

Neunzehneinhalb Jahre später

8. Die Verabschiedung

Bonn, Freitag, 14. August 2009

9. Die Radtour

Königswinter, Freitag, 28. August 2009

10. Die Wolkenkutsche

Bonn, Sonntag, 30. August 2009

11. Die Hebamme

Berlin, Mittwoch, 02. September 2009

12. Neue Bekanntschaften

Berlin, Mittwochnachmittag, 02.September 2009

13. Der Jugendfreund

Berlin - Waren, Donnerstag, 03. September 2009

14. Klassentreffen

Waren/Müritz, Freitag, 04.September 2009

15. Ausflug zur BUGA

Schwerin, Samstag, 05. September 2009

16. Wechselbad der Gefühle

Waren-Bonn, Sonntag, 06. September 2009

17. Die Visitenkarte

Bonn, Montag, 07. September 2009

18. Ohne helles Licht

Königswinter, Montag, 07. September 2009

19. Grillabend bei Liane

Bonn, Samstag, 12. September 2009

20. Ein schöner Name

Bonn, Montag, 14. September 2009

21. Das Ergebnis

Bonn, Dienstag, 15. September 2009

22. Die Stadtführung

Bonn, Samstag, 19. September 2009

23. Das Geheimnis

Bonn, Samstagabend, 19. September 2009

24. Quälende Fragen

Bonn, Montag, 21. September 2009

25. Ratlos

Bonn, Dienstag, 22. September 2009

26. Geständnisse

Bonn/Königswinter, Mittwoch, 23.September 2009

27. Das Missverständnis

Bonn, Dienstag, 29. September 2009

28. Der Brief

Bonn, Mittwoch, 30.September 2009

29. Unerwartete Besucher

Bonn, Samstag, 3. Oktober 2009

30. Gedankenlesen

Bonn, Mittwoch, 7. Oktober 2009

31. Dr. Seefeld

Bonn, Freitag, 09. Oktober 2009

32. Die Beerdigung

Berlin, Mittwoch, 14.Oktober 2009

33. In der Gedenkstätte

Bautzen, Donnerstag, 15. Oktober 2009

34. Unterdrückte Angst

Bautzen, Donnerstagnachmittag, 15.Oktober 2009

35. Pestalozzi

Bautzen, Donnerstag 15.Oktober 2009

36. In Auerbachs Keller

Leipzig, Freitag, 16. Oktober 2009

37. Das Tagebuch

Bonn, Sonntag, 18.Oktober 2009

38. Wohlüberlegte Worte

Königswinter – Bonn, Freitag.23.Oktober 2009

39. Die Mail

Bonn, Dienstag,27.Oktober 2009

40. Das Schulfest

Bonn, Freitag, 30.Oktober 2009

41. Geheimnisvolle Stille

Paderborn/Fuerteventura, Montag, 02. November 2009

42. Das Foto

Fuerteventura, Dienstag, 3.November 2009

6 Tage später

43. Die Sprache der Wolken

Fuerteventura – Königswinter, 09. November 2009

Prolog

Bonn, Samstag, 13. Mai 1961

Wie stolz war Annabell, dass sie die Genehmigung bekommen hatte, allein Oma und Opa in Bonn zu besuchen. Am liebsten wäre sie dort geblieben. Der Aufenthalt war total anders, als sie es von zu Hause in der DDR kannte, freier, weltoffener. Ein Teil dieser aufregenden Welt war Pedro, ein spanischer Student. Seine Haare waren schwarz und seine Haut braun, etwas dunkler als die eines Urlaubers nach einem Sonnenurlaub, denn seine Mutter war Senegalesin.

Er hatte das andere Gästezimmer ihrer Großeltern gemietet. Die Begegnung mit ihm war unbeschreiblich. Sie sah ihn an und vergaß die Welt um sich herum. Er nahm sie mit zu einer Feier mit Freunden. Der Blick seiner leuchtenden Augen streichelte sie. Annabell hatte sich zum ersten Mal verliebt!

Als er am vorletzten Tag ihres Besuchs die Tür zu seinem Zimmer weit öffnete, zögerte sie keinen Augenblick mitzugehen. Ihn traf keine Schuld. Er wusste ja nicht, dass sie erst siebzehn Jahre alt und unerfahren war. Er küsste sie zart und doch intensiv. Es war unwirklich. Seine Küsse verursachten ein Feuerwerk in ihrem Körper, das sie noch nie erlebt hatte. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur der Augenblick zählte. Sie saß mit ihm zusammen auf einer Wolke weit weg von ihrem realen Alltag hoch oben auf dem Weg zu einem fremden, faszinierenden Land. So war es passiert – nur einmal.

1. Alles okay?

Waren/Müritz, Samstag, 24. Juni 1961

Annabell kam von der Toilette und starrte auf ihren Taschenkalender. Immer noch keine Regelblutung. Konnte das bedeuten, dass sie schwanger war? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Wahrscheinlich spielte ihr Körper verrückt – gerade weil sie in zunehmendem Maße an nichts anderes mehr denken konnte.

Statt zu duschen nahm sie ein Bad, möglichst heiß. Ihr Körper reagierte nicht. Sollte sie sich für heute Abend abmelden? Sie hatte sich so auf die Party gefreut. Es war das erste Klassentreffen, zwei Jahre nach dem Abschluss der Mittelschule und vor allen Dingen eine Party mit Tanz.

Sie hatte Georg eingeladen mitzukommen. Er war ihr Freund, seit sie denken konnte. Er ging auf die Wossidlo-Oberschule und war eine Klasse über ihr. Waren sie nur befreundet, weil er der einzige Jugendliche in ihrem Alter war, der in ihrer Nähe wohnte? Würde er mit ihr tanzen? Eine Tanzschule hatten sie beide nicht besucht. Aber die brauchte man auch nicht unbedingt. Was sollte sie anziehen? Als sie das rote Sommerkleid zum ersten Mal anhatte, war sein spontaner Kommentar: „Das Kleid steht dir.“

Eine Stunde später verabschiedete sie sich fröhlich von ihren Eltern. Ihre Vorfreude auf den Abend war gespielt. Sie merkte ja nichts, aber dieses Nichts hätte sie gerne gegen die üblichen Bauchschmerzen eingetauscht. Georg wartete schon an der Kreuzung. Er begrüßte sie strahlend: „Das rote Kleid - extra für mich?“

Annabell dachte: Wenn er wüsste.

„Du bist süß, wenn du verlegen bist.“

„Fahr los. Ich komme hinterher. Am Berg schieben wir. Ich möchte nicht durchgeschwitzt ankommen.“

„Okay“, sagte Georg und startete.

In dem gemieteten Saal begrüßten sich alle laut und herzlich und stellten ihre Partner oder Freundinnen vor. Später spielte eine Schülerband, es wurde getanzt, manchmal übermütig so etwas wie Rock’n Roll und Blues zum Kuscheln. Auch Georg nahm Annabell in die Arme. Sie bewegten sich im Rhythmus Wange an Wange. Es war ein neues, ungewohntes Gefühl, obwohl er ihr vertraut war wie kein anderer.

Plötzlich wurde ihr übel. Sie konnte nur noch sagen: „Entschuldige, mir ist schlecht“, sich ihre Handtasche schnappen und zur Toilette laufen. Sie musste sich übergeben. Zum Glück waren keine Mädchen dort.

Und jetzt? Zurück zu Georg? Sie hätte ihm nicht in die Augen sehen können. Sie ging hinaus in die Sommernacht. Es war noch hell. Sie nahm ihr Fahrrad und schob es ein Stück, bis es ihr wieder besser ging. Dann fuhr sie nach Hause – langsam, damit die Eltern schon im Bett waren, wenn sie ankam. Sie schlich sich in ihr Zimmer, zog ihr Kleid aus, schminkte sich ab und warf sich auf ihr Bett.

Verzweifelt und ratlos weinte sie sich in den Schlaf.

Waren, Montag, 26. Juni 1961

Annabell stand vor der Tür mit dem Schild Wartezimmer. Bei der Arzthelferin hinter dem Dresen hatte sie sich forsch angemeldet. Sie zögerte. Noch könnte sie einfach wieder verschwinden. Was hätte das für einen Sinn? Das würde an ihren anderen Umständen nichts ändern.

Sie nahm im Wartezimmer Platz und fragte sich, warum sie dort saß. Spannte sich ihr Busen bereits, oder bildete sie sich das nur ein? Ein Baby, jetzt schon? Das war viel zu früh! Nur langsam begann Annabell zu begreifen, dass etwas passiert war, das nicht rückgängig zu machen war und ihr Leben völlig umkrempeln würde. Was würden ihre Eltern sagen? Würden sie ihr Baby betreuen, wenn sie in der Buchhandlung arbeitete?

„Frau Petersen, bitte!“ Petersen? Das galt ihr. Annabell folgte der Arzthelferin. Einmal war sie bisher bei dieser Frauenärztin gewesen, weil ihre Mutter sie hingeschickt hatte. Die Ärztin saß an einem Schreibtisch und zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber, sah sie prüfend an und fragte: „Haben Sie einen bestimmten Grund für diesen Besuch, Frau Petersen?“

„Meine Regelblutung ist zwei Wochen überfällig“, platzte Annabell unwillkürlich heraus.

„Haben Sie Ihre Blutung normalerweise regelmäßig?“

„Ich könnte die Uhr danach stellen.“

„Erinnern Sie sich? Ich hatte es angeboten, Ihnen die Pille zu verschreiben. Wissen es Ihre Eltern schon, oder haben Sie es zuerst dem Vater Ihres Babys gesagt?“

„Das ist das zweite große Problem. Ich war über Himmelfahrt und den Brückentag in der BRD in Bonn bei meinen Großeltern zu Besuch, und dort wohnte ein Student. Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt.“

„Wie lange waren Sie dort?

„Fünf Tage.“

„Oh, so viele Tage hat man Ihnen zugebilligt?“

„Wahrscheinlich wegen des Feiertags.“

„Haben Sie es ihrem Freund schon geschrieben?“

„Ich würde es ihm am liebsten persönlich erzählen.“

„So schnell bekommen Sie keine neue Reiseerlaubnis“, stellte die Ärztin fest und schüttelte bedauernd den Kopf.

„Ich möchte Pedro dabei in die Augen sehen.“

„Das verstehe ich. Sie möchten erkennen, wie er es aufnimmt.“

„Nicht nur er. Ich weiß auch nicht, was ich dabei fühlen würde. Er hat mich für eine Studentin gehalten, und ich habe ihm nicht widersprochen. Ich war nur Gefühl und hatte keinen Verstand.“

„Kann er Sie hier in Waren besuchen?“

„Nein, er stammt aus Fuerteventura und wohnt nur für kurze Zeit bei meinen Großeltern, weil er die Ruhe für die Fertigstellung seiner Examensarbeit braucht.

Im Studentenwohnheim war es ihm zu lebhaft. Er wird Arzt.

„Typisch“, sagte die Ärztin lächelnd. „Haben Sie Ihre Schulzeit schon beendet?“

„Ja, vor zwei Jahren mit dem Mittelschulabschluss, und ich habe gerade nach zwei Jahren Lehre meine Prüfung als Buchhändlerin bestanden.“

„Seien Sie froh, dass Sie hier in der DDR sind. Sie haben es bei uns leichter als in der BRD. Dort dauert eine Lehre drei Jahre. Was sind Ihre Eltern von Beruf?“

„Meine Mutter ist Floristin, mein Vater Landwirt. Wir haben einen Bauernhof.“

„Noch! Bis zur Kollektivierung. – Ich sehe, Sie werden am 13. August 18 Jahre alt. Damit gelten Sie hier als erwachsen. In der Bundesrepublik wird man erst mit 21 Jahren volljährig. So ein Quatsch. Das ist man für mich, wenn man in der Lage ist, ein Baby zu bekommen, und Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind in der Lage.“

Die Ärztin stand auf. „Kommen Sie bitte mit. Ich werde Sie jetzt untersuchen.“ Die Ärztin nahm Annabell Blut ab und erklärte: „Die Blutprobe schicke ich ins Labor. In einer Woche können Sie bei mir das endgültige Ergebnis erfragen.“

Nach der weiteren Untersuchung versicherte die Ärztin: „Es ist alles okay. Ich gebe Ihnen einen Plan mit, auf dem steht, wann sie wiederkommen sollten, wenn alles normal verläuft, bei Unregelmäßigkeiten bitte natürlich sofort. Sie werden sich auf ihr Baby freuen. Als Alleinerziehende erhalten sie hier auf jeden Fall einen Krippenplatz. Das ist in Westdeutschland nicht so. Wir sind in dem Punkt viel fortschrittlicher. Und ich versichere Ihnen: Sie haben bestimmt das süßeste Baby der Welt.“

„Ja“, sagte Annabell unwillkürlich. „Es wird auffallen, denn es hat einen spanischen Vater und eine senegalesische Oma. Pedro hat eine hellbraune Hautfarbe.“

„Oh ha, Sie lassen kein Problem aus.“

„In Bonn wäre das kein Problem. Dort gibt es viele süße Diplomatenkinder in den unterschiedlichsten Hautfarben.“

„Sie haben dort Ihre Großeltern besucht, sagten Sie?“ Den prüfenden Blick der Ärztin bei dieser Frage konnte Annabell nicht deuten. Hatte sie zu viel von sich erzählt?

Als sie am Abend nach Hause kam, lag ein Brief von Don Pedro, zur Zeit bei Familie Petersen, auf ihrem Schreibtisch. In seinem ersten Brief hatte er sie mit einer außergewöhnlichen Blume verglichen. Sie hatte ihm nicht ebenso ideenreich geantwortet. Dieses Mal bezeichnete er sie als seine Glücksfee, weil er eine gute Note für seine Examensarbeit bekommen hatte. Seine Worte schmeichelten ihr. War die Beziehung zwischen Pedro und ihr wirklich Liebe? Müsste er dann nicht so etwas schreiben wie ‚Ich vermisse dich‘ oder ‚Ich sehne mich nach dir‘? Und sie selbst? Würde sie jetzt mit ihm in Spanien eine Familie gründen wollen?

Annabell ging zum Fenster und schaute in den Himmel. Das machte sie gerne, wenn sie eine Frage hatte. Meistens fand sie beim Blick in die Wolken eine Antwort. Die dunklen Wolken bewegten sich nicht von der Stelle, als wollten sie sagen: Heute musst du die Antwort alleine finden. Nachdenklich ging sie zurück in ihr Zimmer und fragte ihr Spiegelbild: „Was nun, ledige Mama Annabell aus Waren an der Müritz oder unfreiwillige Ehefrau eines Arztes in einem fremden Land?“ Annabell setzte sich an ihren Schreibtisch und antwortete Pedro – ohne ihre anderen Umstände zu erwähnen.

Ihre Mutter schaute zur Tür herein und sagte: „Abendessen ist fertig. Wenn Liane schläft, wollen wir mit dir noch etwas besprechen.“

„Ich komme“, bestätigte Annabell. Was wollten ihre Eltern mit ihr besprechen? Es musste sich um ein Thema handeln, für das ihre elfjährige Schwester zu jung war.

Nach dem Essen eröffnete ihr Vater das Gespräch: „Cousine Nelly, bei der ich übernachten kann, wenn ich zur Grünen Woche nach Westberlin fahre, befürchtet, dass es bald nicht mehr möglich sein wird, sie zu besuchen. Ihre Freundin aus Frankfurt am Main hat in der Frankfurter Rundschau gelesen, dass unser Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht während einer Pressekonferenz auf die entsprechende Frage einer Journalistin geantwortet hat: ,Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.‘ Nelly und ihre Freundin glauben, dass er gelogen hat und genau das schon bald passieren wird. Deshalb haben wir für Mitte August für deine Mutter, mich und Liane einen Besuch bei deinen Großeltern in Bonn beantragt. Als Anlass haben wir ihre Silberhochzeitsfeier am Freitag, den 11. August, angegeben.“

Ihr Vater hatte ohne Pause gesprochen. Das war für ihn, den zurückhaltenden Norddeutschen, ungewöhnlich.

Da meldete sich ihre Mutter zu Wort: „Wir wollen drüben bleiben. Unser Hof hier soll in eine Produktionsgenossenschaft eingegliedert werden. Das käme einer Enteignung gleich. Meine Eltern haben uns wissen lassen, dass sie sowohl für deinen Vater als auch für mich in der Gärtnerei genug zu tun hätten. Später sollen wir sie dann übernehmen. Wir haben bei unserem Besuchsantrag angegeben, dass wir zu deinem Geburtstag am 13. August unbedingt zu Hause sein wollen. Daraufhin hat man uns die Reise vom 9. bis zum 12. August genehmigt.“

„Und was ist mit mir?“

Die Tür zum Zimmer wurde geöffnet. Liane stand da und sagte: „Ich kann nicht schlafen.“

Zu Annabells Erstaunen forderte ihr Vater ihre kleine Schwester auf: „Komm Liane. Ich lese dir noch was vor.“

Ihre Mutter wartete, bis ihr Vater mit Liane verschwunden war. Dann erklärte sie: „Mit deinem Geburtstag hängt auch unser Fluchtplan für dich zusammen. Wir haben für dich als Geburtstagsgeschenk eine Theaterkarte besorgt und zwar für die Nachmittagsvorstellung eines Musicals am Mittwoch, den 9. August, im Sommertheater in Ostberlin.

Du nimmst den Zug nach Oranienburg. Von dort fährt die S-Bahn zum Theater über Westberlin. Wenn der Zug in Westberlin für die Ostberliner, die in Westberlin arbeiten, an der Haltestelle Tiergarten anhält, steigst du auch aus. Tante Nelly wohnt in der Fasanenstraße. Das ist nicht weit von der Haltestelle Tiergarten. Die Hausnummer und die Telefonnummer geben wir dir noch. Beides musst du dir einprägen und auf keinen Fall schriftlich dabeihaben. Wenn du kontrolliert wirst, zeigst du deinen Ausweis und die Theaterkarte vor. Niemand wird dir nachweisen können, dass du nicht die Absicht hast, ins Theater zu gehen. Unser Fluchtplan für dich ist auf diese Art und Weise schon vielen Ausreisewilligen geglückt. Cousine Nelly weiß Bescheid.“

„Ich weiß gar nicht, ob ich Tante Nelly noch erkenne. Ich habe sie lange nicht gesehen“, sagte Annabell nachdenklich.

Ihre Mutter holte einen Karton mit Fotos und gab Annabell ein Foto, das Nelly und Annabell zusammen zeigte. „Zugegeben, du hast dich in den letzten vier Jahren verändert, aber Nelly sieht sich bestimmt noch ähnlich.“

„Kann ich das Foto behalten?“, fragte Annabell.

„Ja, du kannst es Nelly geben“, sagte ihre Mutter und steckte das Foto in einen Briefumschlag. Annabell nahm den Umschlag entgegen. Würde diese Flucht die Lösung ihres Problems bringen? Annabell beschloss, die Schwangerschaft weiter vor ihren Eltern geheim zu halten, denn jetzt sah sie eine Chance, es Pedro zuerst zu erzählen, bevor er in seine Heimat zurückflog.

2. Die Flucht

Waren – Berlin, Mittwoch, 9. August 1961

Annabell wünschte ihren Eltern und Liane eine gute Reise ohne weitere Worte. Es war alles besprochen. Sie dachten sicherlich das Gleiche wie sie: Wird die geplante Flucht glattgehen? Die Eltern ließen alles zurück, was sie sich seit ihrer Hochzeit aufgebaut hatten. Annabell merkte, wie schwer es ihnen fiel, ihr Zuhause zu verlassen.

Punkt sieben Uhr fuhr ihr Nachbar vor, um die drei wie bei früheren Reisen zum Bahnhof nach Waren zu bringen. Ahnte er, dass sie nicht wieder-kommen wollten, oder glaubte er daran, dass sie in drei Tagen wieder da sein würden? Es kam in letzter Zeit oft vor, dass Reisende mit Besuchsgenehmigung in den Westen nicht zurückkehrten.

Annabell wollte später den Weg zum Bahnhof mit dem Rad fahren. Ihre Radtouren mit Georg hatten immer viel Spaß gemacht. Jetzt war ihre Beziehung getrübt. Sie hatte sich entschuldigt, dass sie ihn auf ihrem Klassenfest ohne Worte zurückgelassen hatte. Eine gute Begründung war ihr nicht eingefallen. Er zog sich zurück. Das tat weh.

Da hatte sie ihm von der geplanten Flucht erzählt und das als Grund für ihr seltsames Verhalten angegeben. Hatte er es ihr geglaubt? Sie hatten sich zum Abschied kurz umarmt, dann hatte sie sich umgedreht und war gegangen. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen bemerkte. War er auch traurig oder ahnte er gar etwas von ihrer Schwangerschaft?

Bei ihren Eltern hatte sie es gut vertuschen können. Ein paarmal hatte sie sich heimlich übergeben. Das war in den letzten Tagen besser geworden. Ihre Eltern waren wegen des geplanten Abschieds von ihrem bisherigen Leben mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Würde alles wie geplant klappen? Für ihre Reise hatte sie sich eine dunkle Hose gekauft mit Gummizug in der Taille und einem Gürtel, der die Hose zusammenhielt. Dazu eine weit geschnittene Bluse, die mitwachsen konnte. Zum Drüberziehen hatte sie eine alte Jacke mit Innentaschen hervorgeholt. Dort konnte sie den Briefumschlag mit dem Foto für Tante Nelly gut hineinstecken.

Sie aß schnell eine Scheibe Brot und füllte sich eine kleine Flasche mit Wasser, die neben Kamm und Spiegel und ein wenig Ostgeld in ihre Handtasche passte. Kurz nach neun Uhr fuhr sie los.

Als sie ihr geliebtes Fahrrad vor dem Bahnhof in Waren abschloss, streichelte sie traurig den Sattel, ging zum Schalter und kaufte eine Rückfahrkarte nach Oranienburg, um bei der Kontrolle im Zug glaubhaft zu sein. Im Geschäft hatte sie von Mittwoch bis Samstag Urlaub genommen. Ihr Zug war pünktlich. Annabell suchte sich einen Fensterplatz und schaute in den Sommerhimmel.

Sie träumte schon immer davon, verreisen zu können. So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sie wünschte, sie wäre schon bei Tante Nelly und würde dort ihre Eltern und Liane antreffen. Sie wollten ihre Flucht ebenfalls in Westberlin unterbrechen, damit sie sich am nächsten Tag alle vier im Notaufnahmelager Marienfeld als Flüchtling registrieren lassen konnten. Dort würde dafür gesorgt werden, dass sie mit dem Flugzeug in den Westen fliegen könnten. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Da sie sowohl in Berlin als auch in Bonn eine Privatadresse für ihren Aufenthalt angeben konnten, würde die Bearbeitung in den Lagern nur wenige Tage dauern.

Als Annabell in Oranienburg ankam, war es Viertel vor zwölf. Bei ihrer Suche nach der richtigen S-Bahn-Haltestelle hielt Annabell ihre Handtasche fest in der Hand. Sie enthielt schließlich alles, was sie noch besaß: Ihren Ausweis, die Theaterkarte, die Fahrkarte für die S-Bahn und ein wenig Ostgeld. Annabell stieg ein. Ein Zurück gab es nicht.

Die Haltestelle Tiergarten in Westberlin durfte sie nicht verpassen. Einige Stationen bevor der Zug im Westsektor hielt, stieg eine Frau in Uniform in den Zug. Sie ließ sich die Fahrkarten und die Ausweise zeigen. Annabell holte beides hervor. Den Ausweis sah sich die Kontrolleurin nur kurz an. Hatte die Frau bei ihrem Namen gestutzt, ehe sie gezielt fragte: „Wo wollen Sie hin?“

„Ins Theater“, sagte Annabell und zeigte ihre Theaterkarte vor. „Sie ist ein Geschenk zu meinem Geburtstag.“

In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, befahl die Kontrolleurin Annabell, an der nächsten Station, die noch in Ostberlin lag, mit ihr zusammen auszusteigen.

„Ich muss überprüfen, ob das Theaterstück heute überhaupt stattfindet“, erklärte sie dabei. Schließlich betraten sie einen kahlen Raum ohne Bestuhlung. Annabell wartete im Stehen, bis ihr schwindelig wurde. Sie wollte sich gerade auf den schmutzigen Fußboden setzen, da kam die Frau mit einem Kollegen zurück. Die beiden nahmen sie in die Mitte, als wäre sie eine Schwerverbrecherin, und führten sie in einen Raum, dessen einziges Möbelstück eine harte Pritsche war. Auf Annabells Bitte hin, gab man ihr ein Glas für Wasser, zeigte auf eine Tür und sagte: „Dort gibt es eine Toilette und ein Waschbecken.“

Die Theaterkarte und den Ausweis hatte die Uniformierte behalten. Sie erklärte: „Wir haben den Verdacht, dass Sie Ihre Flucht geplant haben. Wir werden das überprüfen. Legen Sie den Inhalt Ihrer Tasche und der Jackentaschen auf den Tisch – einschließlich der Innentaschen.“

Annabell musste ihr den Briefumschlag geben. Die Kontrolleurin zog das Foto heraus und fragte: „Wer ist die Frau?“

„Eine Cousine meines Vaters.“

Die Uniformierte drehte das Foto um und las: „Fasanenstraße. Das ist in Westberlin. So ein Zufall. Wie lautet die genaue Adresse dieser Tante?“

Annabell erschrak. Ihre Mutter und sie hatten das Foto nicht umgedreht. Dann behauptete sie: „Das weiß ich nicht.“

„Bei der Polizeibehörde in Waren wird überprüft, ob Ihre Eltern – zufällig – eine Reisegenehmigung für drüben haben. Wenn das stimmt, werden Sie in ein anderes Gebäude zur weiteren Vernehmung gebracht.“

Annabell überlegte: Waren ihre Eltern und Liane schon in Westberlin bei Tante Nelly? Nach ihrer Planung müssten sie es geschafft haben. Die Frau verließ den Raum mit dem Foto. Das Abschließen der Tür verursachte ein Geräusch, das Annabell einen Schauer über den Rücken jagte.

Annabell wurde verhört. Zunächst blieb sie bei der Aussage, dass sie ins Theater wollte, dass dieses uralte Foto zufällig in ihrer Jackentasche steckte, und dass sie die genaue Adresse ihrer Tante nicht wüsste. Aber man hatte inzwischen festgestellt, dass ihre Eltern eine Besuchsgenehmigung für Bonn hatten und zu Hause nicht anzutreffen waren. Annabell hoffte, dass die Eltern drüben geblieben waren, denn man hätte sie nach einer Rückkehr als Mitwisser oder Anstifter zur Republikflucht verhaftet, besonders weil Annabell zu dem Zeitpunkt noch minderjährig war. Nach endlosen, qualvollen Verhören gab Annabell verzweifelt alles zu.

In einem fensterlosen Auto wurde sie zu einem anderen Gebäude gefahren. Sie kam zu einer Frau in eine Zelle. Es gab ein Fenster aus Glasbausteinen. Annabell konnte den Himmel nicht sehen. Man hatte sie in das Gefängnis in der Normannenstraße gebracht, das man „U-Boot“ nannte, weil die Stasi dort ihren Hauptsitz hatte. Mit ihrer Zellengenossin kam sie aus. Sie sprachen nicht über den Grund ihrer Verhaftung, sondern erzählten sich Geschichten aus ihrer Kindheit.

In der Zelle gab es weder Bleistift noch Papier, so dass sie kein Tagebuch schreiben konnte. Die einzige Beschäftigungsmöglichkeit war Lesen, denn einmal pro Woche kam ein Bücherwagen.

Die Gerichtsverhandlung fand erst nach drei schrecklichen Monaten Untersuchungshaft statt. Sie wurde als Staatsfeindin zu 4 ½ Jahren Haft wegen versuchter Republikflucht und Anstiftung zur Flucht verurteilt. Sie würde in die Justizvollzugsanstalt Bautzen überstellt werden.

Von ihrer Schwangerschaft hatte sie aus Angst, man würde ihr das Baby wegnehmen, niemandem erzählt. Auch Ihrer Zellengenossin hatte sie ihre anderen Umstände verheimlichen können, denn die Übelkeitsphasen waren nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft vorbei gewesen. Da ihre normale Figur nicht dick oder mollig, aber schon fraulich mit sichtbarem Busen war, akzeptierte man ihren Bauch, zumal sie die zu weite Hose durch den Gürtel anpassen konnte.

Das Schlimmste in der Haft war, dass sie nichts tun konnte, was sie selbst entschieden hatte. Nur ihr Baby bestimmte selbst, wann es strampeln wollte und wann nicht. Es half ihr, die schreckliche Zeit in Berlin zu überstehen.

3. Redeverbot

Bautzen, Montag, 13. November 1961

Die Überstellung ins Stasi-Gefängnis Bautzen II fand in einem fensterlosen Transporter statt, in dem es sechs hellhörige Einzelkabinen gab. Sie waren nur zu dritt, durften sich aber nicht unterhalten.

Die Nachrichten, die aus der Fahrerkabine kamen, konnten sie verstehen: „Nun besteht die Mauer, deren Bau am 13. August begonnen wurde, schon drei Monate und hat illegale Grenzübertritte verhindern können. Der Staat dankt den Grenz- und Volkspolizisten, den Mitgliedern der Kampfgruppen der Arbeiterklasse und den Soldaten der Nationalen Volksarmee für diese enorme Leistung.“

Der Motor des Transportfahrzeugs wurde leiser. Annabell hörte ein Geräusch, ein Tor, das geöffnet wurde? Endlich konnten sie aussteigen! Vor ihnen befand sich ein mehrstöckiges, graues Gebäude mit vergitterten Fenstern, hinter ihnen ein großes, geschlossenes Tor. Annabell schaute hinauf in den grauen Novemberhimmel, atmete tief durch und dachte: Der Himmel ist mein Freund, er wird mir helfen. Es nieselte leicht. Annabell genoss jeden Regentropfen. Sie waren Natur, nicht angeordnet.

Eine Treppe führte von diesem Innenhof hinauf in das Gebäude. Es dauerte eine Weile, bis der Fahrer Papiere und Pakete übergeben hatte, sich noch einige Zeit im Haus aufhielt und sich dann verabschiedete. Als er den Motor anließ, wurden sie aufgefordert, die Treppe hinaufzugehen. Im Haus mussten sie noch ein paar Minuten warten, bis sie hereingerufen wurden, um die Anstaltskleidung zu bekommen. Dann wurde die Tür für sie geöffnet. Zwei Frauen in Uniform schauten sie entsetzt an, als wären sie Gespenster.

Die ältere Frau fragte: „Wie heißen Sie?“ Annabell antwortete brav: „Annabell Petersen.“ Die beiden anderen verhafteten Frauen hießen Marion Walter und Ulrike Rolfsen.

Die jüngere Uniformierte erklärte: „Wir sind ein Männergefängnis. Die Frauen müssen nach Hoheneck.“

Die Ältere ergänzte: „Um Gottes Willen, diese jungen Frauen. Sie werden auch bei uns keinen Hotelaufenthalt haben, aber Hoheneck! Von dort hört man Schlimmes. Besonders politisch verurteilte Frauen werden von den kriminellen Mitgefangenen drangsaliert.“

„Seit die Mauer gebaut wurde, sollen sie in Hoheneck vollkommen überbelegt sein, bestätigte die jüngere Frau.

„Wir haben im Moment kein Auto und auch keinen Fahrer mehr hier.“ Mit diesen Worten zog die ältere Angestellte ihre Kollegin zur Seite und besprach etwas leise mit ihr. Dann kam sie zurück und sagte: „Wir können Sie heute nirgendwo mehr hin transportieren lassen. Wir sollen 1962, also nächstes Jahr, auch einen Frauentrakt bekommen. Er ist noch in Arbeit, aber zwei Muster-Zellen sind schon fertig, eine für Isolationshaft, die andere für zwei Insassen. Der zukünftige Frauentrakt befindet sich in der ersten Etage des Gefängnisses. In Berlin hat man vermutlich geglaubt, dass der Trakt schon freigegeben wurde, weil man uns Frauen beauftragt hat, alles vorzubereiten.

Sie kriegen jetzt Anstaltskleidung für Männer. Frau Rolfsen, Sie bekommen die Zelle mit nur einer Pritsche, weil Sie die Älteste sind. Frau Petersen und Frau Walter, Sie kommen in eine Zelle mit Stockbetten.“ Die Stimme der Frau war streng und bestimmt geworden. Sie mussten sich umziehen und wurden in ihre Zellen gebracht. Daran, dass sie seit dem kargen Frühstück nichts gegessen hatten, dachte niemand. Wenigstens zu trinken hatten sie, denn in jeder Zelle gab es eine Toilette und einen Wasserhahn.

Als sie alleine waren, fragte Annabell: „Kann ich unten schlafen? Du siehst aus, als wärst du sportlicher als ich.“ Marion antwortete: „Meinetwegen.“ Dann stieg sie auf ihr Bett hinauf.

Annabell sagte: „Danke“ und legte sich ebenfalls auf ihr Bett. Nun hatte sie so lange ihre Schwangerschaft verheimlicht, damit niemand auf die Idee kam, ihr Baby einem regimetreuen Ehepaar zur Adoption anzubieten. Was würde ihr passieren, wenn sie doch nach Hoheneck verlegt würden? Annabell zitterte. Sie hatte Angst und Hunger. Ihr Baby strampelte. Annabell legte eine Hand auf den Bauch unter dem gestreiften Anzug. Ich liebe dich, mein Baby. Ich werde für dich kämpfen. Ich kann nicht mit dir nach Hoheneck. Die kriminellen Häftlinge würden mich in den Bauch treten. Sie würden dich umbringen. Das muss die Frau einsehen. Aber kann sie das überhaupt entscheiden?

Am nächsten Morgen wurde nach dem schrillen Wecken eine Klappe in der Zellentür geöffnet. Eine Frau reichte das Frühstück hindurch: Zwei Scheiben Brot, kein Getränk. Marion und Annabell schlangen die Brote hinunter. Sie waren in Berlin auch nicht verwöhnt worden. Aber dies war zu wenig für Annabell und ihr Baby. Sie musste der älteren Frau von ihrer Schwangerschaft berichten.

Eine Angestellte kam und forderte sie beide auf mitzukommen. Sollten sie jetzt nach Hoheneck gebracht werden? Auch Ulrike wurde aus ihrer Einzelzelle abgeholt. Die ältere Frau von gestern nahm sie mit in ihr Büro und setzte sich an ihren Schreibtisch, während Annabell, Marion und Ulrike auf der anderen Seite stehen bleiben mussten.

Die Frau sagte: „Ich bin verantwortlich für die Einrichtung des Frauentrakts. Trotz der Mauer, die zum Schutze vor Republikflüchtlingen in der DDR gebaut wurde und noch weiter gebaut wird, werden noch Unvernünftige, auch Frauen, bei der illegalen Grenzüberschreitung gefasst werden und genau wie Sie als politische Gefangene bei uns landen. Deswegen denke ich, dass wir baldmöglichst ganz offiziell aufnehmen können.

Aktuell ist man dabei, die Arbeitsräume für die Frauen einzurichten: Eine Küche und einen Raum für Nähmaschinen, in dem Insassen Produkte nähen, mit deren Verkauf wir Geld verdienen können. Zwei Nähmaschinen wurden schon geliefert. Kann eine von Ihnen nähen?“

Annabell meldete sich wie ein Schulkind und sagte: „Ja, ich hatte eine Marotte: Ich habe mir selbst Hüte genäht, denn gekaufte Kopfbedeckungen waren mir zu teuer. Ich habe auch passende Beutel angefertigt. Das Handwerk habe ich von meiner Mutter gelernt.“

„Wären Sie in der Lage, den beiden anderen weiblichen Häftlingen das Nähen beizubringen?“

„Ja, das wäre ich.“

„Gut, dann kommen Sie einmal mit.“ Alle drei folgten der Frau. Sie betraten einen Raum, in dem sich zwei elektrische Nähmaschinen, zwei Stühle, ein Tisch und ein Regal befanden. Die Frau nahm aus dem Regal Stoff, Schere, und Garn, gab alles Annabell und fragte: „Können Sie ohne große Anleitung mit diesen Maschinen etwas anfangen?“ Es waren genau die einfachen Modelle, an denen Annabell in der Schule das Nähen gelernt hatte. Gespielt selbstsicher fädelte sie das Garn ein und legte sich die Stoffrolle zurecht.

Sie spreizte statt eines Bandmaßes ihre Hand zweimal hintereinander, steckte an den vorgesehenen Eckpunkten vorsichtig Nadeln in den Stoff und fragte: „Darf ich den Stoff zuschneiden?“

Die Frau nickte, und Annabell nähte aus dem Stoff einen einfachen Beutel.

Da sagte die Frau: „Ich werde mich darum bemühen, dass Sie hier in Bautzen II bleiben können.“

„Danke“, sagte Annabell. „Frau, ehm wie soll ich Sie ansprechen?“

„Sagen Sie Frau Waldmeister zu mir. Unsere richtigen Namen sind den Insassen nicht bekannt.“

„Frau Waldmeister, kann ich Sie kurz sprechen?“

„Nein, das können sie nicht. Das würde zu weit führen. Alle Insassen haben Probleme. Stellen Sie sich darauf ein. Sie werden jeden Tag acht Stunden hier arbeiten müssen wie alle anderen Häftlinge auch. Solange wir als Frauengefängnis noch nicht bekannt sind, müssen Sie männliche Anstaltskleidung tragen für den unwahrscheinlichen Fall, dass Ihnen, wenn Sie in diesen Raum gebracht werden, männliche Personen oder Fremde begegnen. Dann dürfen Sie kein Wort sprechen, damit man Ihre weibliche Stimme nicht hört. Pro Monat dürfen Sie in meiner Gegenwart an drei Personen einen Brief schreiben, und Sie dürfen Pakete mit Nahrungsmitteln, die kontrolliert werden, bekommen – also keinen Alkohol!“

Diese Frau sah mit einem ermahnenden Blick in die Runde, bevor sie ergänzte: „Alle zwei Wochen werden Sie zu einem Freigang abgeholt. Die Innenhöfe sind von keiner Zelle aus einzusehen. Sie müssen auf den Boden schauen. Es gilt: Absolutes Redeverbot. Während der Arbeit dürfen Sie sich nur bei Bedarf über Ihre Aufgabe unterhalten.“

Annabell nickte und gab es für heute auf, diese Frau alleine sprechen zu wollen. Außer der Frauenärztin in Waren wusste bisher noch niemand etwas von ihrer Schwangerschaft. Dieses war ein Versuch, der Waldmeister ihr Geheimnis anzuvertrauen. Wie würde diese Frau reagieren, wenn sie es merken sollte, ohne dass Annabell es ihr vorher sagen konnte? Beleidigt und aggressiv oder verständnisvoll?

4. Weihnachten

Bautzen, Samstag, 24. Dezember 1961

Im Arbeitsraum der Frauen waren zur Weihnachtszeit unter Annabells Leitung viele Puppenkleider genäht worden. Angeblich verkauften sie sich gut, ohne dass die Öffentlichkeit über ihre Herkunft informiert war.

Annabell arbeitete trotz ihrer Schwangerschaft genauso intensiv wie alle anderen. Die Tatsache, dass sie bei den Puppenkleidern eigene Ideen entwickeln durfte und gerade diese Kleider besonders gefragt waren, war ihr eine Genugtuung, obwohl sie selbst nichts davon hatte. Sie durfte auch ein paar Puppen nur aus Stoffresten kreieren. Eine davon hatte einen Babybauch.

Als die Waldmeister sie entdeckte, fragte sie: „Wie kommen Sie darauf, eine solche Puppe zu basteln?“

„Das ist Maria vor der Geburt des Christkinds. Ich möchte sie gerne behalten. Sie ist eigentlich nicht für Kinder zum Spielen gedacht.“

„Sie haben recht. In unserem Frauentrakt gibt es keine schwangeren Frauen. Das ist hier verboten.“

Annabell bemühte sich, nicht erschrocken auszusehen. Ob es ihr gelang, wusste sie nicht.

„Sie dürfen die Puppe nicht in ihre Zelle mitnehmen, aber ich kann sie zu ihrer Kleidung legen, die Sie bei Ihrer Einlieferung abgeben mussten. Sie dürfen nicht darüber sprechen, denn offiziell erlaubt ist es nicht. Ich mache diese Ausnahme nur, weil ich gesehen habe, wie Sie diese Puppe aus unseren Resten hergestellt haben.“

Annabell holte das Weihnachtspaket ihrer Eltern und bot der Waldmeister ihre Plätzchen an. Die Frau wählte zögernd eines und aß es schnell auf. Diese Nähe zu Insassen war offensichtlich undenkbar.

Sie erhob sich und sah mit ihrem bewusst strengen Blick in die Runde: „Ich habe noch eine Überraschung für Sie alle. Die Anstaltskleidung für Frauen wird jetzt angeboten. Schreiben Sie mir Ihre Größe auf. Ich besorge Ihnen ein ungefähr passendes Exemplar. Eine Liste ging herum. Marion, Annabell und Ulrike trugen sich ein, ohne Worte. Sie waren es mittlerweile gewohnt, nicht zu sprechen, vor allen Dingen nicht in Gegenwart der Waldmeister.

Annabell gab Größe 44 an, normalerweise viel zu groß für sie. In der Männerkleidung hatte sie ihren Bauch noch so verstecken können, dass sie für eine rundliche Frau gehalten wurde. Wenn die Frauenkleidung mit Taille sein würde, hätte sie ein Problem. Sie stützte sich auf einem Tisch ab, denn mit ihrem Baby im Bauch war sie schwerfällig geworden.

Da sah sie den verstörten, ja entsetzten Blick der Waldmeister. Die Frau hatte sie offensichtlich beobachtet und endlich geschaltet. Hatte sie verstanden, dass der Puppenbauch ein versteckter Hinweis für sie sein sollte? Annabell war unsicher: Was wird sie tun, mich jetzt noch nach Hoheneck schicken? Wird sie sich daran erinnern, dass ich ihr schon vor Wochen ein Problem von mir schildern wollte?

Die Waldmeister rief eine Aufpasserin zu sich, sagte etwas zu ihr und verschwand. Die Angestellte kam direkt auf Annabell zu und sagte: „Ich soll Sie in einer Viertelstunde zur Waldmeister bringen.“

Annabell legte die verräterische Puppe unauffällig in ihr Weihnachtspaket. Auf ein Zeichen der Aufseherin folgte sie ihr zum Büro.

Die Waldmeister sagte zu der Angestellten: „Gehen Sie zurück zu den anderen. Ich bringe Frau Petersen in ihre Zelle.“ Annabell bekam Angst. Was hatte diese uniformierte Frau mit ihr vor? Sie bot ihr einen Sitzplatz an, völlig ungewöhnlich. Vorsichtig nahm Annabell Platz. Sie konnte diese Frau nicht einschätzen.

Da fragte die Waldmeister: „Wann ist es soweit?“

Annabell antwortete. „Mitte Februar. Ich habe mehrfach den Versuch gemacht, es Ihnen zu sagen.“

„Ich kann Sie nicht hier behalten, wenn es soweit ist, und wenn es Komplikationen geben sollte, schon gar nicht. Ich habe gerade eben einen Termin im Klinikum bei einer Frauenärztin für Sie gemacht, gleich am ersten Tag nach Weihnachten. Man wird Sie hinbringen, warten, bis der Termin vorbei ist, und Sie wieder zurückbringen. Ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist. An dem Tag, an dem Sie Wehen bekommen, werden Sie aus meiner Verantwortung entlassen.

Ihren Klinikaufenthalt bezahlt unser Staat. Ich werde Ihnen ein gutes Führungszeugnis ausstellen. Wo waren Sie, als das Kind entstanden ist?“

„In Bonn bei meinen Großeltern. Pedro wohnte bei ihnen. Ich wollte zu ihm, als ich bei der Republikflucht gefasst wurde. Er weiß bis heute nichts von meiner Schwangerschaft. Niemand weiß es außer meiner Ärztin in Waren.“

„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mit Ihnen und Ihrem Kind passieren wird. Ich habe strenge Vorschriften, an die ich mich halten muss. Weiß es sonst noch jemand?

„Nein.“

„Und was ist mit Ihrer Zellengenossin?“

„Sie hat mich nie gefragt. Ich glaube, sie wollte nichts davon wissen.“

„Dann sollte das so bleiben. Es wäre das Vernünftigste. Man könnte Sie sonst tatsächlich noch woanders hinschicken, und das will hier niemand. Sie haben mich verstanden?“

Annabell nickte dankbar.

„Ihr Pedro ist Westdeutscher?“

„Nein, Spanier.“

„Das ist gut. Mit einem Ausländer möchte sich das Ministerium für Staatssicherheit bestimmt nicht anlegen. Kommen Sie. Ich bringe Sie jetzt in Ihre Zelle.“

Annabell nahm ihr Weihnachtspaket mit in die Zelle. Dort ließ sich die Waldmeister die Puppe geben und verschwand ohne weitere Worte.

Annabell lauschte und hörte wie immer zuerst das laute Einschließen und dann, dass sich die Schritte der Waldmeister entfernten.

Ihr Gehör war hier geschult worden. Marion und sie konnten nicht nur hören, wenn jemand kam, sondern bereits an den Schritten erkennen, wer es war.

Annabell stieg auf den einzigen Hocker, der im Boden fest verankert war und unterhalb des vergitterten Fensters stand. Das machte sie meistens, wenn sie alleine in der Zelle war, was selten genug vorkam. Wenn sie sich auf dem Hocker auf ihre Zehenspitze stellte, konnte sie über dem gegenüber liegenden Gebäudetrakt ein Stück Himmel sehen und abends manchmal sogar Sterne erkennen. Dieser Blick war ein winziges Stück Freiheit.

Annabell hörte Schritte. Schnell setzte sie sich auf den Hocker. Der Türschlüssel schrammte, dann wurde die Tür geöffnet. Marion wurde hineingeschoben. Sie stolperte und knallte mit den Knien auf den harten Boden. Annabell konnte gerade noch verhindern, dass sie mit dem Gesicht aufschlug. Ihr Gesicht war nass von geweinten Tränen.

„War es wieder die Hexe?“, fragte Annabell im Flüsterton. Marion nickte. „Sie macht mich dafür verantwortlich, dass sie heute arbeiten muss. Da hat sie mir mein kleines Weihnachtspaket weggenommen.“

Annabell zeigte auf ihr Bett. Marion setzte sich. Ein Knie blutete. Sie versuchte mit bloßen Händen das Blut am Heruntertropfen zu hindern. Annabell nahm aus ihrem Paket eine Krippe aus Lebkuchen, in der auf einem Stofftaschentuch ein Schokoladenengel lag, zog das Taschentuch hervor und band es um Marions Knie. Da begann Marion mit einer hellen Stimme zu singen: „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht nur das traute hochheilige Paar …“

Während Marion das Lied zu Ende sang, teilte Annabell gleichmäßig ihre Schokoladenkugeln auf. „Du kannst wunderbar singen“, sagte sie und schob Marion die ihr zugedachten Schokokugeln hin.

„Ich war im Kinderchor“, bestätigte Marion, und dann aßen sie unter Tränen die süßen Kugeln, bis keine mehr übrig war – aus Angst, dass die Aufpasserin käme, ihnen das Singen verbieten würde und als Strafe diesen kleinen Genuss wegnehmen würde. Sie lauschten, hörten aber keine weiteren Schritte. Marion stieg hinauf in das obere Bett und summte ganz leise: „Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all!“ Dann beugte sie sich über ihr Bett und flüsterte: „Wann?“

Annabell stand auf, formte mit ihrem Mund die Worte „im Februar“ und zeigte dabei zwei Finger. Dann öffnete sie dreimal eine Hand mit fünf Fingern für „fünfzehn“, zuckte gleichzeitig mit den Schultern und legte schnell ihren Zeigefinger auf die Lippen. Keine in die Wand eingelassene Wanze durfte ihre Unterhaltung verstehen. Marion nickte und legte sich aufs Bett. Sie schien begriffen zu haben, dass ihr Termin ungefähr der 15. Februar sein würde und auch, dass sie nicht darüber reden durften.

Es tat Annabell gut, dass es nun zwei Menschen aus ihrer Umgebung wussten: Die Waldmeister und Marion. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Ihr Baby machte sich bemerkbar. Eines Tages würde sie mit ihm zusammen mit den Eltern und Liane ein schönes Weihnachtsfest feiern. Davon wollte sie träumen.

5. Ramona

Bautzen, Sonntag, 26. Februar 1962

Nun war ihr Baby schon sieben Tage alt. Annabell lag allein in diesem besonderen Zimmer eines Krankenhauses in Bautzen. Vor ihrem Fenster waren Gitterstäbe. Wenn die Tür geöffnet wurde, sah sie an der gegenüberliegenden Wand einen Stuhl, auf dem normalerweise niemand saß. Wenn die Schwester ihr Kind brachte, hatte eine Polizistin dort Platz genommen.

Wurde nur ihr Baby bewacht? Warum war sie noch hier im Krankenhaus? Hatten sich die Verantwortlichen klar gemacht, dass man sie nicht mit ihrer Ramona in einer Gefängniszelle unterbringen konnte? Ramona, so hatte sie ihre Tochter genannt, weil dieser Name auch in Spanien beliebt war und an Pedro erinnerte.

Warum bekam sie ihr Baby nur einmal am Tag zum Stillen? Sie hatte doch genug Milch. Stattdessen musste sie Milch abpumpen. War diese Muttermilch für ein anderes Baby gedacht und ihr Kind bekam bereits teilweise angerührte Babymilch? Es wäre doch für die Schwestern weniger Arbeit, wenn sie selbst stillen und wickeln würde!

Ihr ging es gut, und Ramona war gesund. Das hatte die Hebamme ihr unauffällig zugeflüstert. Wie sollte es nur weitergehen mit ihr und ihrem Baby? Das Einfachste wäre, man würde sie entlassen, schon allein, um diesen Problemen aus dem Weg zu gehen. Sie war keine Verbrecherin, vor der jemand Angst haben musste. Mit ihrer versuchten Flucht aus der DDR hatte sie niemanden verletzt. Die Sehnsucht nach Ramona und der Krankenschwester, die ihr täglich ihr Baby brachte, war kaum auszuhalten. Annabell fixierte die Tür, als könnte sie das Aufgehen dadurch beeinflussen.

Die Tür bewegte sich. Der Stuhl gegenüber war leer – keine Polizistin. Stattdessen kam eine fremde Frau in Uniform herein. Sie stand da – einen Moment, sprachlos – so, als würde sie nach Worten suchen. Dann sagte sie ohne Begrüßung: „Packen Sie Ihre Sachen zusammen. Sie werden ausgewiesen und nach Westberlin gebracht. Beeilen Sie sich. Sie wollten ja in den Westen.“

Annabell konnte nur sagen: „Bringen Sie mir bitte mein Baby. Ich möchte es vorher noch wickeln und stillen, bevor ich es auf so eine weite Reise mitnehme.“ Die Funktionärin schüttelte den Kopf und entgegnete in einem sachlichen Ton: „Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Ihre Tochter ist verstorben – plötzlicher Kindstod.“

Annabell erstarrte. Sie wollte schreien. Sie konnte keinen Ton herausbringen. Sie sprang auf. Ihr fehlte die Luft zum Atmen.

Mit monotoner Stimme fügte die Frau hinzu: „Für Sie ist es vielleicht besser so, mit achtzehn und ohne Mann!“

Da schrie Annabell sie an: „Lassen Sie mich zu meinem Baby.“ Sie stand dicht vor dieser Uniformierten. Sie hätte diese Frau am liebsten geschüttelt, aber sie war wie versteinert. Die Funktionärin schaute auf ihre geöffneten Hände, als wollte sie Annabell ihr Baby überreichen. Leise fragte sie: „Wollten Sie nicht fliehen, um in der BRD Ihre Tochter zur Welt zu bringen, damit hier niemand etwas von Ihrer Schwangerschaft erfährt?“

Nur mit äußerster Anstrengung konnte Annabell sich am Fußende ihres Bettes festhalten und einigermaßen ruhig sagen: „Ich möchte mich - von meinem Baby - verabschieden.“

Da sagte die Funktionärin mit einer angespannten Miene, als würde sie einen Arztbericht vorlesen: „Sie können Ihr Kind nicht sehen. Es wurde bereits bestattet – anonym.“

„Was? Das kann nicht sein. Das glaube ich nicht. Das ist unmenschlich!“ Annabells Stimme überschlug sich. Ihr war schwindelig. „Das ist nicht wahr. Sie lügen!“ Alles um sie drehte sich …

Sie lag neben ihrem Bett. Wie durch einen Nebel nahm sie die Aufforderung der Frau wahr: „Packen Sie bitte Ihre Sachen ein. Sie werden gleich abgeholt.“ Annabell nahm all ihre Kraft zusammen, um aufzustehen. Es war nicht mehr viel davon übrig, weder körperliche Kraft noch Willenskraft. Sie packte ihre Sachen in den großen Beutel, den sie sich in Bautzen zum Schluss selber hatte nähen dürfen. Es passte alles hinein, auch ihre schwangere Puppe.

Ein Mann kam und fragte: „Frau Petersen?“ Sie nickte und folgte ihm. Er fuhr mit ihr in einem normalen Auto nach Berlin. Sie schaute aus dem Fenster. Die Welt war ihr fremd geworden. Nur der Himmel war ihr noch ein wenig vertraut. Die Adresse und die Telefonnummer von Tante Nelly kannte sie noch. Sie hatte sich Eselsbrücken gebaut und die Nummer täglich in Gedanken wiederholt. Würde sie ihren Ausweis und das Foto mit Nelly wiederbekommen?

Ihr Baby tot, sie konnte es nicht glauben. Man hatte es ihr weggenommen. Würde sie Ramona jemals wiedersehen?

Die Landschaft, die Häuser, Berlin, alles war so weit weg von ihr – nach nur sechs Monaten und 25 Tagen. Der Mann am Steuer sprach nicht mit ihr. Wozu auch? Sie war ohnehin auf ihn angewiesen. Ein Grenzübergang. Uniformierte, Autos, Panzer. Alles machte ihr Angst. Würde sie sich in der normalen Welt wieder zurechtfinden? Das Auto, in dem sie saßen, wurde zur Seite gewunken.

Der Mann gab Ausweise und Formulare durch das heruntergelassene Autofenster an einen Uniformierten, der damit verschwand. Ihr Fahrer wartete und wartete. Sollte sie in ein anderes Gefängnis, nach Hoheneck? Der Uniformierte kam wieder, befahl ihr und ihrem Fahrer auszusteigen und mit ihm mitzukommen.

In einer Baracke musste sie zeigen, was sie in dem Beutel hatte: Ihre Handtasche, die Puppe und eine Scheibe Brot. Der Uniformierte erlaubte ihr, alles wieder einzupacken und gab ihr ihren Ausweis zurück. Das Foto mit Tante Nelly bekam sie nicht wieder. Es musste als Beweis für ihren Fluchtplan bei den Akten bleiben. Der Uniformierte forderte nun ihren Fahrer auf: „Bringen Sie die Frau über die Grenze. In Westberlin wird man ihr weiterhelfen und Sie können zurückfahren.“

Noch einmal musste sie ihren Ausweis zeigen. Dann war sie drüben. Eine Frau in Zivil kam auf sie zu und sagte: „Herzlich willkommen in der Bundesrepublik. Haben Sie eine Adresse, wo Sie aufgenommen werden?“

Annabell nickte und ergänzte erleichtert „und eine Telefonnummer. Heute weiß meine Tante nicht, dass ich komme. Kann ich hier irgendwo telefonieren? Ich habe aber kein Westgeld.“

„Kommen Sie mit. Ich möchte sicher sein, dass Sie erwartet werden?“

Annabell wählte die Telefonnummer. Dann hörte sie eine Stimme: „Ja bitte. Hallo.“

„Tante Nelly?“

„Annabell, bist du in Westberlin? Ich hole dich ab.“

Annabell fragte die nette Frau: „Entschuldigen Sie. Ich werde abgeholt. Wo bin ich hier?“

„Sagen Sie am Checkpoint Charlie.“

„Tante Nelly. Wie lange dauert es, bis du am Checkpoint Charly sein kannst?“

„Ich brauche vielleicht eine halbe Stunde. Ich habe einen blauen VW.“

„Danke, Tante Nelly.“

„Bis gleich, Annabell.“ Sie legte auf.

„Na, Mädchen, bist du froh, hier zu sein?“, fragte die Frau in Zivil.

„Es kam sehr plötzlich. Man hat mir mein Baby weggenommen und mich abgeschoben, ohne Ramona. Ich konnte nichts dagegen tun. Aber sagen Sie es nicht meiner Tante. Sie weiß nichts von dem Baby.“

„Oh, junge Frau, das ist schlimm. Möchten Sie ein Glas Wasser?“

„Gern.“

Ein blauer VW kam in Sicht. Die Frau am Steuer winkte, fuhr bis zu ihr vor, stieg aus und umarmte sie herzlich. Annabell drückte sie auch. Es tat gut – und doch so weh – ohne ihre Tochter!

Fünfzehneinhalb Jahre später

6. Eine ungewöhnliche Beziehung

Bonn, Samstag, 13. August 1977

Annabell stand noch keine Minute mit ihrem Frankfurter Kranz vor dem Reisebüro, in dem sie 1962 die Lehre begonnen hatte und im Anschluss daran nun schon 12 Jahre als Reisekauffrau angestellt war, da öffnete Ihre Chefin die Tür, und die Kolleginnen sangen „Happy Birthday to you“. Alle gratulierten ihr mit einer herzlichen Umarmung zum Geburtstag. Die Chefin behauptete charmant: „Du bist schon 34? Der Reisepass ist gefälscht.“

Annabell bedankte sich und versorgte jede mit Torte. Bis die Kunden kamen, hatten alle ihr erstes Stück mit Genuss vertilgt.

Nach einem Arbeitsvormittag mit reiselustigen Kunden begann der Wochenend-Feierabend um dreizehn Uhr mit einem weiteren Stück Torte. Es war wie jedes Jahr ein vergnüglicher Anfang ihres Geburtstages. Versehen mit vielen guten Wünschen ging Annabell danach mit dem Rest der Buttercremetorte zum Auto.

Zu Hause wollte sie sich bei Radiomusik entspannen. Kurz darauf begannen die 14 Uhr Nachrichten mit der Erinnerung daran, dass vor 15 Jahren diese grausame Mauer zwischen Ost und West gebaut wurde. Bis zu diesem Tag hatte Annabell von Februar bis August ein halbes Jahr lang an das Wunder geglaubt, Ramona wiederzubekommen. Der Bau der Mauer, ausgerechnet an ihrem Geburtstag, hatte ihr jegliche Zuversicht genommen. Diese Steine wirkten so endgültig. Annabell kochte Kaffee, denn Liane würde gleich kommen. Da klingelte es Sturm. Annabell drückte auf den Summer für die Tür. Sekunden später überreichte Liane ihr einen Blumenstrauß aus Kornblumen und Margeriten und eine Schachtel feinster Pralinen. „Herzlichen Glückwunsch, große Schwester. Die frischen Strähnchen in deinen dunkelblonden Haaren stehen dir super. Die kostbareren Blumen bringen dir Mama und Papa morgen aus ihrem Geschäft mit.“

„Deine Blumen sind unbezahlbar, weil selbst gepflückt. Wo ist Sonja?“

„Sie hilft Mama in der Gärtnerei. In Gegenwart einer Vierjährigen kann man sich nicht unterhalten.“

Annabell gab ihrer Schwester ein Stück Frankfurter Kranz und fragte Liane: „Wann hast du den Termin mit der Autorin, für die du zurzeit übersetzt?“

„Um 17 Uhr. Wann kommt Holger?“

„Gegen 18 Uhr.“

„Aha. Später darf er – wie immer – auch im verflixten siebten Jahr Eurer Beziehung bei dir übernachten. Und heute kommt die Entscheidung, wie’s mit euch weitergeht?“

Liane konnte es nicht lassen, ihr Lieblingsthema auf den Tisch zu bringen. „Du bohrst genau wie Mama.“

„Dabei weiß sie noch nicht einmal etwas von deinem Kind. Du musst es wenigstens Holger erzählen. Heutzutage ist es ungewöhnlich, dass ihr nicht zusammenzieht. Schlägt Holger dir nie eine gemeinsame Wohnung vor?“

„Möchtest du noch Kaffee?“

„Ihr hättet gut schon in seiner Referendarzeit zusammenziehen können, und als er vor zwei Jahren fertiger Rechtsanwalt wurde, hättet ihr an Nachwuchs denken können.“

„Ich freue mich, wenn ich Sonja betreuen kann.“

„Ich weiß, Annabell. Du bist die liebevollste Babysitterin, die ich mir vorstellen kann. Ich werde nie vergessen, wie du geweint hast, als Sonja geboren wurde. Ich konnte es nicht verstehen. Es war gut, dass du mir damals von deinem Kind erzählt hast. Leider bin ich bis heute die einzige aus unserem Umfeld, die es weiß. Du musst es ihm sagen. Sonst wird das nie was mit euch beiden.“

Mit den Worten „Ich habe noch Eistorte im Tiefkühlschrank“ ging Annabell in die Küche.

Liane kam hinter ihr her. „Das Eis essen wir ein andermal. Ich wollte dich nicht verletzen. Du weinst ja. Entschuldige, das wollte ich nicht.“

„Du hast recht. Ich kann nicht darüber reden.“

„Überwinde dich, ehe es zu spät ist.“

„Ich weiß. Ich bin schließlich schon ganz schön alt.“

„Furchtbar alt. Kann ich dich jetzt alleine lassen?“

„Sieh zu, dass du deinen Termin pünktlich wahrnimmst. Danke für die Blumen und für deine ehrlichen Worte.“

„Du wirst sehen, alles wird gut. Ich freue mich auf deine Party nächsten Samstag. Tschüss, bis dann.“

Liane zog die Tür hinter sich zu. Obwohl ihre Schwester sechs Jahre jünger war als sie, war sie in der Liebe sicher erfahrener. Das gab ihr das Recht, so offen darüber zu sprechen und ihr diesen gut gemeinten Rat zu geben.

Annabell setzte sich auf den Balkon, schaute in den blauen Himmel und erinnerte sich: Als Holger und sie sich kennenlernten, war er Student, 23 Jahre jung, und sie schon 27 und erfolgreiche Reisebürokauffrau. Ihr Modell passte: Er wohnte in einer Studentenbude und besuchte sie gerne in ihrer Wohnung. Sie fühlte sich nicht verpflichtet, ihm von Ramona zu erzählen. Dieses Leben klappte lange, aber auf die Dauer war es keine ehrliche Beziehung.

Schon einmal hatte sie sich vorgenommen, ihm alles zu erklären, als er eine Stelle als Rechtsanwalt bekam. Aber er suchte sich eine eigene kleine Wohnung, ohne auf den Gedanken zu kommen, mit ihr zusammen zu ziehen. Sie war enttäuscht, sie hätte mit ihm reden müssen. Sie konnte sich nicht entschließen, diese funktionierende Freundschaft zu beenden, denn er zeigte sich gerne mit ihr, seiner „attraktiven Freundin“, die, wie er immer betonte, ihr eigenes Leben lebte und trotzdem seine Geliebte war.

Wenn er das sagte, hatte sie eine Ausrede dafür, ihr angeblich gestorbenes Baby nicht zu erwähnen. Wozu auch? Als abgeschobene DDR-Inhaftierte war es ihr unmöglich, ihr Kind vor Ort zu suchen. Jede schriftliche Anfrage an ein Heim oder eine Institution wurde an die Klinik in Bautzen weitergeleitet, und die behaupteten dann, dass ihre Tochter gestorben wäre. Deshalb redete sie sich ein, dass es für sie gerade richtig war, mit Holger als ungebundenes Paar in getrennten Wohnungen zu leben.

Zwei weiße Wolken zeigten sich am blauen Himmel. Unter der hohen Wolke war ein Wölkchen wie ein Punkt. Sie bildeten ein Ausrufungszeichen. „Stimmt“, sagte Annabell. „Ich muss Holger von meinem Kind berichten, wenn nicht heute, wann dann?“ Plötzlich hörte sie den Schlüssel in ihrer Wohnungstür. Holger gratulierte ihr mit einem in Papier eingewickelten Blumenstrauß. Das hatten sie sich so angewöhnt, weil das Auspacken schon ein kleines Ritual war. Für die Tochter einer Floristin suchte Holger bei einem Blumenstrauß ungewöhnliche Arrangements aus, und sie musste raten, was er ihr mit diesen Blumen sagen wollte.

Dieses Mal waren es zwei weiße und eine rote Rose mit weißem Schleierkraut. Gespannt sah er sie an, aber sie konnte diese Kombination nicht deuten. Sie war viel zu sehr mit ihrer Absicht beschäftigt, ihm von Ramona zu erzählen.

Da sagte er: „Du hast deine Geburtstagsparty sicher wieder perfekt vorbereitet. Ich bin doch nun auch dreißig Jahre alt und du sogar schon vierunddreißig.“ Er stockte. Warum erwähnte er jetzt ihr Alter?

„Ich weiß“, reagierte sie unwillkürlich.

„Heute wollte ich dir einen ganz anderen Vorschlag machen, hängt mit unserem Alter zusammen.“

„Du machst mich neugierig.“

„Was hältst du davon, wenn wir eine Familie gründen?“

Annabell wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Vorschlag kam in diesem Augenblick völlig unerwartet. Sie dachte nur: Ich muss ihm von Ramona erzählen. Ich habe keine Ausrede mehr. Wenn er mich wirklich liebt, wird er versuchen, mich zu verstehen.

„Warum antwortest du nicht? Ich dachte, du freust dich.“

„In diesem Falle solltest du etwas von mir wissen, womit ich dich bisher nicht belasten wollte.“

Jetzt schwieg Holger, stellte keine weitere Frage, sondern wirkte irritiert.

Annabell fuhr fort: „Ich habe im Februar 1962 in Bautzen ein Baby bekommen. Es war gesund und einmalig, denn es hatte eine angeborene hellbraune Hautfarbe. Ein paar Tage nach der Geburt hat man mir gesagt, mein Kind wäre gestorben und bereits begraben. Dann hat man mich in den Westen abgeschoben. Ich bin sicher, dass mein Kind noch lebt.“

„Wer ist der Vater des Kindes?“

„Ich war drei Monate vor unserer Flucht bei meinen Großeltern in Bonn zu Besuch. Da …“

„Deswegen hast du immer so von Bonn als Bundeshauptstadt geschwärmt – wegen der vielen Diplomaten, und jetzt suchst du nach dem farbigen …“

„Ich bin ein abgeschobener DDR-Häftling. Ich habe keine Chance zu beweisen, dass meine Tochter noch lebt. Als die Ständige Vertretung der DDR in Bonn eröffnet wurde, habe ich vergeblich um Hilfe bei der Suche nach meinem Kind gebeten. Ich werde die Suche nach ihm niemals aufgeben.“

„Damit kann ich nicht leben“, sagte Holger, drehte ihr den Rücken zu und verließ ihre Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.