Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wer sehnt sich nicht danach, einmal wieder den simplen Freuden des Lebens zu frönen? Doch der Genuss der Einfachheit ist eine alte Lebensweisheit, die uns verloren gegangen ist – zu groß ist die Reizüberflutung, die uns im modernen Alltag begegnet. Wie aber finden wir zu mehr Ruhe zurück und was können sie uns heute noch sagen, die Lebensweisheiten der Menschen von anno dazumal? Abseits von Minimalismus-Trends und Wohlfühlsprüchen erzählt uns Inge Friedl von einer Not, die zur Tugend wurde. Von Menschen, die aus wenig viel machten – und trotzdem glücklich waren. Wir können so einiges von ihnen lernen, und vielleicht einmal unseren eigenen Überfluss hinterfragen – denn einfach Leben tut gut!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 223
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„Das Wissen der Menschen
nimmt in hohem Tempo zu,
die Weisheit offenbar in der
gleichen Geschwindigkeit ab!“
Bernd Thye
Vorwort
Gemeinsam sein Vom miteinander Reden und miteinander Leben
Zufriedenheit genießen Ein erster Schritt zur Gelassenheit
Eines nach dem anderen Der Umgang mit der Zeit
Den Feierabend auskosten Die Kraft der Sonntagsruhe
Warten können Die Kunst der Vorfreude
Kindern etwas zutrauen Wie die Sprösslinge ins Leben hineinwachsen
Einfachheit lieben lernen Mehr als Kraut und Rüben
Das Alltägliche schätzen Was ein Laib Brot wirklich wert ist
Das ganze Tier essen Wer Steak sagt, muss auch Leber sagen
Mit wenig viel haben Die befreiende Kraft des Minimalismus
Aus wenig viel machen Die Kultur der Reparatur
Geschichten erzählen Vom Zuhören und Weitergeben
Den Moment erleben Warum uns Singen glücklich macht
Sterben gehört zum Leben dazu Der Umgang mit Trauer und Tod
Die Autorin
Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Seit vielen Jahren führe ich Gespräche mit Menschen am Land und lasse mir von früher erzählen. Ich habe diese Menschen, meine Gesprächspartner, gefragt, was sie von der „alten Zeit“ am meisten vermissen, was früher also tatsächlich besser gewesen ist als heute. Ganz klar wurden zwei Begriffe am häufigsten genannt: Zufriedenheit und Gemeinschaft.
Das ist verblüffend, denn die Arbeit war hart, das Einkommen gering und das Leben war auch damals bestimmt nicht gerechter als heute. Dennoch war die Zufriedenheit groß und, obwohl der Tag randvoll mit Arbeit war, verfügten die Menschen über mehr Zeit als heute. Was hatten die Menschen früher, was wir nicht mehr haben? Woher kamen ihre Gelassenheit, Zufriedenheit und innere Ruhe?
Der Kulturphilosoph Byung-Chul Han hat festgestellt, dass jedes Zeitalter seine eigenen, besonderen Leitkrankheiten hat. Für uns Menschen des 21. Jahrhunderts wären dies nach seiner Meinung Depression, ADHS und Burnout, resultierend aus einer allgemeinen Überforderung und Erschöpfung. Die Diagnose des Philosophen lautet: Wir sind eine „Müdigkeitsgesellschaft“. Faktum ist, dass alles immer mehr, immer schneller, überall und jederzeit sein muss. Das hat Konsequenzen für die psychische Gesundheit unserer Gesellschaft.
Wir hetzen von einem Termin zum anderen, sind gestresst und versuchen, Zeit zu gewinnen, indem wir sie einsparen. Wir haben so viele Möglichkeiten, dass uns die große Auswahl überfordert. Ob im Supermarkt oder bei der Lebensplanung, das Angebot ist riesig und alles scheint möglich. Und unser Dilemma ist: Je mehr Auswahlmöglichkeiten wir haben, desto unzufriedener und unschlüssiger werden wir.
Wir stehen unter Druck, uns im Leben zu verwirklichen und können schwer zur Ruhe kommen. Wir glauben, immer und überall erreichbar sein zu müssen und schalten unser Handy nicht einmal im Urlaub aus. Wir müssen in jeder Hinsicht flexibel sein und haben dabei einen gesunden Lebensrhythmus völlig aus den Augen verloren.
Nicht erst seit der Wirtschaftskrise 2008 fragen wir uns, worauf man sich überhaupt noch verlassen kann und was Bestand hat. Wir merken, dass es uns in vielen Bereichen gar nicht gut geht und dass auch das Lesen von Ratgeberbüchern oder das Besuchen von (teuren) Lebenshilfe-Seminaren uns nicht wirklich weiterhelfen kann. Was aber so nahe liegt, sehen wir hingegen nicht: noch vor ein, zwei Generationen war das Leben ein völlig anderes.
Da lohnt ein Blick zurück. Früher scheint etwas möglich gewesen zu sein, was wir heute ersehnen: ein Leben in Zufriedenheit und Gemeinschaft, ohne unnötige Hektik, dafür in angemessenem Tempo. Ein Leben, in dem man nicht alles gleichzeitig tun muss, sondern schön eines nach dem anderen, und in dem Multitasking ein Fremdwort ist, dafür Begriffe wie Feierabend, Bescheidenheit und Zufriedenheit existieren.
Das ist für die meisten eine unbekannte Welt. In Zeiten von Burnout, Depression und Stress ist es jedoch sinnvoll, etwas genauer hinzuschauen: Würde uns ein neuer Lebensstil mit altem Wissen helfen, dem Hamsterrad von Überforderung und Zeitdruck zu entkommen?
So wie Byung-Chul Han uns heute als „Müdigkeitsgesellschaft“ bezeichnet, könnte man ganz allgemein die Gesellschaft unserer Vorfahren als „Zufriedenheitsgesellschaft“ charakterisieren. Ganz gewiss waren früher nicht alle zufrieden, genauso wenig wie heute alle müde zu sein scheinen. Dennoch sind viele von uns ausgebrannt und erschöpft, obwohl es kaum je ein solches Freizeitangebot gab. Früher scheinen die Menschen gelassener und zufriedener gewesen zu sein, obwohl sie weniger Freizeit, weniger Selbstverwirklichung und in einigen Dingen gar keine Auswahlmöglichkeit hatten.
Es steht außer Diskussion, dass manche der alten Lebensweisen bestimmt nicht zur Nachahmung geeignet sind. Ich picke mir sozusagen die Rosinen aus dem Kuchen und erinnere an jene Dinge des alten Lebens, die absolut erstrebenswert sind.
Es geht in diesem Buch nicht um Ratschläge, sondern um den Erfahrungsschatz unserer Vorfahren. Es geht um einen Umgang mit Zeit, der uns wohl tut, um den Wert des Innehaltens und die Kraft der Sonntagsruhe, um echtes Miteinander und auch um die Frage, wie viele Dinge man zum Leben wirklich braucht.
Dieses Buch hätte ohne meine Gesprächspartner nicht geschrieben werden können. Ihnen, den Frauen und Männern aus Salzburg, Oberösterreich, Steiermark, Kärnten und dem Burgenland, die ihre Lebenserfahrung und ihre Weisheit mit mir geteilt haben, gilt mein Dank.
INGE FRIEDL
Vom miteinander Reden und miteinander Leben
AM 3. APRIL 1973 wurden die allerersten Worte über ein Handy gesprochen. Der Elektroingenieur Martin Cooper sprach in einer Seitenstraße von Manhattan, ungläubig bestaunt von den Passanten, folgende Worte: „Joel, ich rufe dich von einem mobilen Telefon an. Von einem echten tragbaren Batterietelefon!“ Cooper gilt als der Erfinder des Mobiltelefons und sein erster Anruf galt seinem Konkurrenten Joel Engel in der (gegnerischen) Forschungsabteilung von Bell Laboratories. Das damalige Handy wog übrigens mehr als ein Kilogramm und hatte eine Betriebszeit von nur zwanzig Minuten.
Heute, 49 Jahre später, besitzen 90 Prozent aller Deutschen über 14 Jahren ein Handy und in Österreich wird es nicht viel anders sein. Keiner wundert sich mehr über einen Passanten, der seinem Mobiltelefon begeistert berichtet, wo er sich gerade befindet. Und wir sind es gewohnt, wegzuhören, wenn wir in der Straßenbahn Zeuge eines Telefonats werden, in dem Dinge besprochen werden, die wir gar nicht wissen wollen.
Wir betreten ein Lokal, steigen in die U-Bahn, warten auf den Bus und um uns herum sind alle in ihr Handy vertieft, das mittlerweile ein kleiner Computer geworden ist. Die einen starren auf ihr Display und lesen die Zeitung, die anderen schreiben eine Nachricht auf WhatsApp oder kontrollieren ihren Facebook-Account, eine sieht ein lustiges YouTube-Video an, eine andere hat die Kopfhörer im Ohr und hört Musik. Kaum einer redet miteinander, man schaut einander nicht einmal mehr an.
Eine Szene wie die folgende spielt sich vermutlich täglich unzählige Male ab: Abendessen in einer Raststation an der Autobahn, irgendwo in Österreich. Am Nebentisch sitzt eine Familie mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Buben. Alle vier sind mit ihren iPhones beschäftigt, essen nebenbei und wechseln die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Irgendwann, nach 15, 20 Minuten fällt endlich doch noch ein Satz. Der Vater fragt den etwa 8-jährigen Sohn: „Musst du auf die Toilette?1“
Wenn wir jetzt vom „Miteinander“ der alten Zeiten reden, ist es, als blickten wir in ein fremdes Zeitalter zurück. Es ist nicht nur die „Zeit, bevor das Handy kam“, es ist auch die „Zeit, bevor das Fernsehen kam“. Das Leben damals war in vielen Dingen so grundlegend anders als unser Leben heute, dass es uns unendlich weit weg erscheint – dabei liegen nur wenige Jahrzehnte dazwischen.
Das, was die Menschen damals erlebten, war schlicht und einfach „Gemeinschaft“. Damit ist nicht gemeint, dass alle fantastisch miteinander auskamen und sich fortwährend gegenseitig ihr Herz ausschütteten. Nein, die Gemeinschaft war das Ergebnis der Verhältnisse der damaligen Zeit. Viel mehr Menschen als heute lebten miteinander unter einem Dach. Man redete miteinander, man erzählte sich vieles, man fragte nach und hörte zu. Und all das nicht am Telefon, auch nicht übers Internet, sondern in echten Gesprächen mit real anwesenden Menschen.
ES WAR IM MÜHLVIERTEL in den frühen 1940er Jahren, als eine Volksschullehrerin in ihrer Klasse eine kleine, visionäre Rede hielt. Sie sagte ungefähr Folgendes: „Ich selbst werde es nicht mehr erleben, aber ihr werdet es noch erleben! Ihr alle kennt ja ein Radio. Ein paar von euch haben sogar eines in der Stube stehn. Ich sag euch: Eines Tages werdet ihr ein Radio mit Bildern haben. Ich weiß auch nicht genau, wie das funktionieren kann, aber es wird so etwas wie ein Radio sein und daneben werdet ihr ein Bild sehen.“ Die Schüler hatten damals keine Ahnung, wovon die Frau Lehrerin sprach. Keiner konnte sich nur entfernt vorstellen, was sie meinte.
Als diese Menschen dann das erste Mal in ihrem Leben Fernsehbilder sahen, machte das ungeheuren Eindruck. Jeder von ihnen weiß noch ganz genau, wann und wo er die erste Fernsehsendung gesehen hatte. Man erinnert sich an diesen Moment als etwas Großes, Umwälzendes, Unglaubliches.
Folgende Episode ist typisch für diese Zeit: Ein Familie aus Wien besaß in einem kleinen Dorf im Burgenland ein Ferienhaus. Außerdem gehörte ihnen das einzige Fernsehgerät weit und breit. Fernsehen war neu, eine Sensation, und es übte eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wie in anderen Orten war auch in diesem Dorf Fernsehen anfangs ein gesellschaftliches Ereignis. Man verabredete sich, um eine bestimmte Sendung gemeinsam anzuschauen. Hier im Burgenland war es die „Löwingerbühne“ mit ihren volkstümlichen Stücken, die den halben Ort im Wohnzimmer der Familie versammelte. Jeder verfügbare Sessel wurde in den kleinen Raum getragen, und dicht gedrängt verfolgte man gemeinsam die Sendung.
Dasselbe um 1960 in einem kleinen Ort bei Hermagor in Kärnten: Auch hier besaß nur eine einzige Familie ein Fernsehgerät. Diesmal war es der „Kasperl“, der einmal wöchentlich, am Mittwoch, alle Kinder des Ortes anlockte. Allerdings durfte nur schauen, wer die „Eintrittsgebühr“ bezahlte: einen Schilling pro Kind.
In der Anfangszeit war Fernsehen noch ein Gemeinschaftserlebnis. Das änderte sich aber schnell. Unversehens saß jeder bei sich zu Hause abends allein vor seinem Fernsehgerät. Innerhalb weniger Jahre veränderte sich das Leben nicht nur am Land dadurch so nachhaltig, dass man von einer „Zeit davor“ und einer „Zeit danach“ sprechen kann.
In der „Zeit davor“ saß man nach der Arbeit gesellig beieinander, unterhielt sich, sang auch manchmal, spielte Karten und erzählte sich Geschichten. Besonders der Winter mit seiner arbeitsfreien Zeit bot dazu Gelegenheit. Niemand saß allein in der dunklen Stube, häufig kamen die Nachbarn dazu und man besuchte sich gegenseitig.
In der „Zeit danach“ scheint dies alles wie ausgelöscht zu sein. Die Nachbarn nehmen auch am Land kaum mehr Anteil am Leben des anderen (zumindest im Vergleich zu früher) und besuchen sich infolgedessen nur mehr selten. In den Häusern ist es stiller geworden, auch, weil viel weniger Menschen als früher darin leben. Die Gemeinschaft, die die alten Zeiten so sehr prägte, scheint unwiederbringlich vorbei zu sein.
BEIM REDEN KOMMEN DIE LEUT Z’SAMM, sagte man früher und meinte damit, dass allein durchs Reden Gemeinschaft entsteht. Die Gespräche ergaben sich wie von selbst. Nach Feierabend traf man sich irgendwo, im Sommer im Freien, im Winter in der beheizten Stube. Im kleinen Kärntner Dorf Kamaritsch war in den 1940er Jahren der tägliche Treffpunkt für die Dorfgemeinschaft die Küche der Großmutter meines Gesprächspartners. Es war eine winzige „Rauchkuchl“ mit offenem Feuer. Die Wände waren schwarz vom Ruß, weswegen eine solche Küche auch „schwarze Kuchl“ genannt wurde. Die Großmutter hielt immer Kaffee am Herd warm, für den Fall, dass sie Besuch bekommen sollte. Und das war oft der Fall, denn sie war eine gesellige Person. Die Nachbarn drängten sich geradezu in dem kleinen Raum. Sie saßen um den Tisch und auf der schmalen Sitzbank, die entlang der Wand verlief. Die Männer trugen Hosen aus selbst gewebter, ungefärbter Leinwand, und wenn sie aufstanden, hatten sie alle am Hinterteil einen Rußabdruck. So sah man schon von Weitem, wer bei der fröhlichen Runde dabei gewesen war.
Im Sommer war die Hausbank im Freien der Ort für Gespräche. Alle, die im Haus lebten, trafen sich dort nach Feierabend, manchmal setzte sich ein zufällig Vorbeikommender dazu, und selbstverständlich waren auch hier die Nachbarn willkommen. Geredet wurde nicht über Weltbewegendes. Meistens ließ man den Tag noch einmal Revue passieren und besprach die Arbeiten des nächsten Tages. Wie wird das Wetter? Wie weit ist der Nachbar schon mit seiner Arbeit? Wer braucht Hilfe beim Heuen? Man nannte das „Abschlussdischkurieren“, und das war durchaus eine wichtige Sache.
Häufig wurden auch die neuesten Informationen bei dieser Gelegenheit an die anderen weitergegeben. Was hatte sich in den letzten Stunden, in den vergangenen Tagen ereignet? Über wen gibt es Neues zu berichten? Das war natürlich auch Thema, wenn sich die Verwandten trafen oder wenn an den Winternachmittagen Freunde aus dem Dorf zu Besuch kamen. Oft saßen die Kinder dabei, die dann gespannt zuhörten – „zulosen“ nannte man das früher. Atemlos hörten sie, worüber die Großen redeten, welche Geschichten sie erzählten und was sie alles wussten. Immer mussten sie damit rechnen, hinausgeschickt zu werden, wenn das Gespräch auf Dinge kam, die nicht für Kinderohren bestimmt waren. Das machte die Sache nur noch spannender und ließ die Kinder mucksmäuschenstill dasitzen, damit sie nur ja nichts verpassten.
Aber selbst wenn über Alltägliches geredet wurde – und das geschah oft und ausführlich –, waren die Kinder dabei und lernten so von klein auf diese Art der Gesprächskultur. Um sie zu beschreiben, hilft vielleicht am ehesten der Vergleich mit dem traditionellen orientalischen Palaver. Es kam nicht darauf an, sich möglichst kurz und präzise in wenigen Worten auszudrücken, sondern man durfte sich Zeit nehmen. Ohne Hektik floss ein Gespräch dahin, oft ohne beabsichtigtes Ergebnis. Dafür sparte man nicht mit Humor und mit Schlagfertigkeit und holte immer wieder aus, um zwischendurch so manche wahre, aber auch erfundene Geschichte zu erzählen.
„MAILBOX VOLL, AKKU LEER. MÜSSEN WIR JETZT REDEN?“, lautet der Titel eines Buches. Der Autor machte auf einem österreichischen Bezirksamt eine denkwürdige Erfahrung, die ihn unter anderem zu diesem Buch inspiriert hat. Die Mitarbeiterin der Behörde saß kaum zwei Meter von ihm entfernt und bot ihm an, einen Termin mit ihr auszumachen. Aber, das wäre leider nur über E-Mail möglich, eine persönliche Vereinbarung sei nicht vorgesehen. Er sollte also sein Smartphone nehmen und ihr, die direkt vor ihm saß, eine Anfrage schicken. Dann bekäme er für eine Woche später einen Termin.
Das hört sich absurd an, ist aber längst Realität. Auch im Privatleben läuft bei vielen die Kommunikation zum großen Teil nur mehr über soziale Netzwerke im Internet. Gibt es einen traurigeren Satz als diesen: „Was bringt es, 500 Freunde auf Facebook, aber niemanden zum Reden zu haben?“
Wenn sich heute Jugendliche treffen, wissen sie oft schon durch Facebook, Instagram oder WhatsApp, wo sich der andere in den vergangenen Stunden aufgehalten und womit er sich beschäftigt hat. Auch wenn man sich längere Zeit nicht sieht, scheinen die Freunde irgendwie am Leben teilzuhaben. Sie lesen einfach, was gepostet wird und schon haben sie sich ein Bild gemacht. Worüber also noch reden?
Es ist kein leichtes Leben für junge Menschen. Früher mussten sich Teenager nur im realen Leben zurechtfinden und sich ihren Platz dort suchen. Heute aber sollen sie zusätzlich einen Platz in der virtuellen Welt finden. Die Fragen „Wer bin ich?“, „Wer will ich sein?“, „Wo will ich hin?“ sind bekanntlich schwer genug zu beantworten. Nun gilt es auch noch, die Spielregeln des Netzes zu berücksichtigen: Wer wollen sie da sein? Wie sollen die anderen sie da wahrnehmen? Wollen sie womöglich jemand ganz anderer sein als in der realen Welt?
„Im Grunde sind es doch
die Verbindungen mit Menschen,
die dem Leben seinen Wert geben.“
Wilhelm von Humboldt
Die „gute alte Zeit“ liegt in diesem Fall nur wenige Jahre zurück. Selbst junge Menschen Mitte zwanzig stellen fest, dass es diese Dinge in ihrer Jugend so nicht gab. Es ist heute für Jugendliche viel schwieriger geworden, ihre wahre Identität zu finden als noch vor wenigen Jahren.
Dazu kommt der Druck, immer online sein zu müssen. Kaum legt man sein Handy eine halbe Stunde weg, hat man zwanzig Nachrichten auf WhatsApp, neue Postings auf Facebook und vielleicht ein paar SMS. Nun ist man mindestens zehn Minuten damit beschäftigt, auf alle Nachrichten sofort zu reagieren.
Müssen wir da überhaupt noch reden? Das haben sich wahrscheinlich auch die Enkel jener Bäuerin im oberösterreichischen Almtal gedacht, als sie ihre Oma besuchten. Die Großmutter versuchte, so wie sie es gewohnt war, einfach zu plaudern. Die Jungen waren sehr lieb und willig, aber nach ein paar Sätzen wussten sie nichts mehr zu sagen. Nicht nur Generationen prallten hier aufeinander, auch zwei völlig verschiedene Arten von Gesprächskultur.
Viele von uns haben die Kunst, Gespräche dieser Art zu führen, nie gelernt. Wir fragen kurz, was wir wissen wollen und erwarten keine weitschweifige Antwort. Wir erzählen in knappen Worten, was es zu berichten gibt und werden ungeduldig, wenn sich das Gegenüber zu viel Redezeit nimmt. Wir hören halb hin und werfen nebenbei immer wieder einen Blick auf unser iPhone.
Ständig ist in unserer Hochgeschwindigkeitszeit alles in Bewegung und in Veränderung. Was uns immer schwerer fällt, ist die alte, gesetzte, ruhige, langsame und nachdenkliche Kommunikation. Sich einfach „z’sammsetzen“ und mit Abstand und Muße ohne Zeitdruck miteinander zu reden, das wäre zwar theoretisch schön, aber uns fehlt meistens die innere Ruhe dazu.
GEMEINSCHAFT ENTSTEHT, WENN MAN AUFEINANDER ANGEWIESEN IST. Miteinander reden und miteinander leben war früher eins. Das galt für die Dorfgemeinschaft als Ganzes, für die Nachbarschaft im Besonderen und für jedes einzelne Haus. Keiner war davor gefeit, in Notsituationen den anderen zu brauchen. Schon in der nächsten Minute konnte man womöglich Hilfe benötigen. Nehmen wir an, der Ochse schafft es nicht, die Fuhre zu ziehen. Was tut man? Man geht zum Nachbarn, borgt sich seinen Ochsen aus und schon kann man zweispännig ziehen.
Die Nachbarschaftshilfe war ein Grundpfeiler der alten Gemeinschaften. Das Wort Nachbar entwickelte sich nicht zufällig aus den alten Wörtern für nah und Bauer. Nachbarschaft ist in diesem Sinn Gemeinschaft in ihrer ursprünglichsten Form.
Dazu gehörte nicht nur die Mithilfe bei Arbeiten, die nur mit Hilfe der Nachbarn erledigt werden konnten, wie das Dreschen, Brecheln2 oder der Getreideschnitt. Dazu gehörte auch, dass man aufeinander achtgab. Man wusste etwa, dass die (einzige) Kuh eines Nachbarn „trocken“ war, also keine Milch gab. Dann stellte bestimmt irgendjemand eine Kanne Milch vor dessen Haustüre.
Jener Mann, der die Geschichte mit der Rauchkuchl erzählte, verglich sein Dorf damals und jetzt. Heute, sagte er wehmütig, erfahre man oft erst nach ein paar Tagen, wenn jemandem etwas passiert war. Obwohl das Dorf nur eine Handvoll Häuser hat, lebe jeder für sich. Jeder hat ein Auto, fährt da hin und dort hin und selbst am Sonntag gebe es keine Gemeinschaft mehr so wie früher.
Heute lebt man „individuell“, und das ist aus unserer Sicht wohl gut so, denn die alten Dorfgemeinschaften hatten durchaus ihren Preis. Es waren Zweckgemeinschaften. Die Mitglieder hatten sich einander nicht „ausgesucht“, man war einfach aufeinander angewiesen. Dass man in einer so engen Gemeinschaft praktisch nie unbeobachtet bleiben konnte, ist heute, rückwirkend betrachtet, die Kehrseite der Medaille.
Aber es gab auch Geschichten wie diese, die sich in den 1950er Jahren in Oberösterreich zutrug: Es ist ein heißer, drückend schwüler Sommertag. Man spürt, dass ein Gewitter kommt, aber es hat noch nicht zu regnen begonnen. Man hört den Donner immer näher kommen und sieht bereits die ersten Blitze am Himmel. Das getrocknete Heu muss jetzt so schnell wie möglich heimgeführt werden. Jede Minute zählt. Der Regen würde das Heu durchnässen, sodass es von Neuem getrocknet werden müsste, und dadurch würde es enorm an Wert verlieren. Es ist jene Zeit, als das Heu noch nicht in weiße Plastik-Siloballen eingeschweißt wurde, sondern als Heuschober oder auf Heureitern auf den Wiesen trocknete.
Die Bauernfamilie lädt hastig den Heuwagen voll, aber der Bauer schickt seine Leute allein nach Hause. Er weiß, dass die Nachbarn noch nicht fertig sind, darum geht er zu ihnen, um zu helfen.
Kaum daheim angekommen, beten seine Kinder und seine Frau für ihn um Schutz. Denn was der Bauer tut, ist äußerst gefährlich. Die Gefahr ist groß, dass ein Blitz in die Heugabeln einschlägt. Bei jedem lauten Kracher zuckt die Familie zusammen, denn die Nachbarn und somit auch der Vater halten sich in der Nähe von Stromleitungen auf. Es blitzt, kracht, blitzt, kracht und noch immer ist kein Tropfen Regen gefallen. Endlich kommt der Vater. Ihm ist nichts passiert. Die Kinder sind erleichtert – und werden diese Geschichte 50 Jahre später so erzählen, als wäre sie gestern passiert.
ES BRAUCHT EIN GANZES DORF, UM EIN KIND ZU ERZIEHEN, sagt ein schönes afrikanisches Sprichwort. Dabei geht es um weit mehr als nur um Kinderbetreuung. Es geht darum, dass das Kind nicht nur in seine Kernfamilie eingebunden ist, sondern dass es Teil eines großen Ganzen, nämlich der Gemeinschaft ist.
Umgewandelt auf unsere (früheren) Verhältnisse könnte man sagen: Es braucht ein ganzes Haus, um Kinder zu erziehen, Alte zu pflegen und sich mit allem zu versorgen, was man im Leben braucht. Hier ist die Rede von der alten Hausgemeinschaft, in der nicht nur Eltern und Kinder zusammen unter einem Dach lebten, sondern da waren auch die Großeltern, die Mägde und Knechte und eventuell noch unverheiratete Onkel und Tanten – alles in allem oft bis zu 15, 20 Personen.
All diese Menschen lebten in einem Haus mit nur einer Küche und mit lediglich einem Aufenthaltsraum, der Stube. Damit so ein Zusammenleben überhaupt funktionieren konnte, gab es eine klare Hierarchie und klare Regeln. Vom Bauern, der Bäuerin über den Moarknecht (dem ersten Knecht) bis hinunter zum Stallbua und zur Saudirn hatte jeder im Haus seine exakt festgelegte Aufgabe, und man wusste immer ganz genau, wer wem was „anschaffen“ durfte.
Diese Lebensordnung hatte sich über viele Jahrhunderte entwickelt. Von Generation zu Generation wurden die Verhaltensregeln weitergegeben, die notwendig waren, um als Großfamilie mit Dienstboten unter einem Dach leben zu können. Die Bäuerin wurden übrigens von allen als „Mutter“, der Bauer als „Vater“ angeredet. Das galt nicht nur für die Familienmitglieder, sondern für jeden, der auf den Hof kam. Das bedeutete sicher nicht, dass sich nun alle wie eine große Familie fühlten, sondern es war die korrekte Anrede für die Besitzer, unter deren Dach alle anderen lebten.
Wir fragen uns heute, wie das nur gutgehen konnte. Gerieten nicht ständig alle aneinander? Dazu eine Innviertlerin: „Das Wichtigste war, Rücksicht zu nehmen. Das Geheimnis, dass es am Bauernhof klappt, ist, dass du nachgeben kannst und dass du auch einmal zurückstehst.“ Gleichzeitig pflegte man die Dinge sehr direkt, manchmal fast grob anzusprechen. Man sagte dem anderen die Meinung, trug die Sache kurz aus, und damit war sie erledigt. Mehrere Gesprächspartner versicherten mir, dass es „Beleidigtsein“ nicht gab und dass tagelanges „Nicht-miteinander-Reden“ nicht toleriert wurde. Im Normalfall war nach fünf Minuten alles wieder gut, sonst hätte eine Lebensform wie diese niemals funktioniert.
Miteinander auszukommen war allerdings eine Sache, die man lernen musste. Die Kleinen lernten es von den Großen, die Jungen von den Alten, wobei auch hier die Hierarchie klar war. Die Jüngeren respektierten die Alten und waren selbstverständlich „stad“ (ruhig), wenn der Bauer und die Bäuerin miteinander redeten. So zusammenzuleben war kein Paradies, aber es war auch nicht die Hölle – bis auf wenige Ausnahmen vielleicht. Glaubt man jenen, die es noch erlebt haben, dann war das Schönste daran, dass man nie allein und einsam war. Man war eingebettet in die Sicherheit der Hausgemeinschaft und hatte oft „eine Gaudi“. Das Wort „Spaß“ wäre hier falsch, es ging eher um eine Art Unterhaltung, die leicht und schnell zustande kam, wenn zwei oder mehrere beieinander waren. Es war eine Kultur des Humors, der klug und manchmal derb war und vielleicht am ehesten mit dem Wort „Schmäh“ zu beschreiben ist.
Die Hausgemeinschaft war ein kleiner Kosmos, in dem sich der ganze Kreislauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod abspielte. Es war auch ein Ort, an dem Wissen ganz selbstverständlich weitergegeben wurde. Säuglingspflege, Kinderbetreuung, handwerkliche Fähigkeiten, Kochen, Gärtnern und alle Arbeiten in Haus und Hof wurden allmählich, einfach durch Zuschauen und Mithelfen erlernt. Auch das „G’hörtsi“, das gute Benehmen, worunter man früher vor allem Grüßen und Danken verstand, bekam man von zu Hause mit. Es war, wenn man so will, der Kitt, der die alten Gemeinschaften zusammengehalten hat.
HEINI STAUDINGER, DER UNKONVENTIONELLE WALDVIERTLER SCHUHPRODUZENT, erzählte bei einem Vortrag in Berlin zum Thema Gemeinschaft eine Geschichte. Es ging dabei um Wirtschaftsethik: Der Chef einer großen Steuerberatungskanzlei war sich anlässlich einer Tagung in Wien ausgiebig im Jammern über die Absolventen der Wirtschaftsuniversität ergangen, die als Mitarbeiter in seine Kanzlei kommen. Sie seien immer schlechter qualifiziert und er müsse sie noch extra ausbilden, bevor er sie zu Kunden schicken könne. Schließlich platzte einem Wirtschaftsprofessor der Kragen, und er schrie beinah: „Sagen Sie uns endlich, was können sie denn nicht, unsere Absolventen?“ Die Antwort des Steuerberaters: „Zum Beispiel grüßen!“
Pfiat di! Griaß di! So wurde früher jeder auf der Straße gegrüßt. Das Grüßen war einer der Pfeiler des „G’hörtsi“, des richtigen Benehmens. Sah man auf den Feldern Leute stehen, wurden sie schon von Weitem gegrüßt. Ging man an einem Haus vorbei, grüßte man selbstverständlich jeden, den man sah. Kinder wurden angehalten: „Dass ihr mir ja alle grüßt’s! Macht’s mir keine Schande!“
Diese Grußpflicht wird heute oft missverstanden und belächelt. Man grüßte nämlich nicht, um irgendwie vor den Leuten gut dazustehen. Der Grund liegt viel tiefer. Solche Formen wurden gewahrt, um die Gemeinschaft zu erhalten! Hätte man sich verfeindet oder es sich mit den anderen verscherzt, hätte man im Notfall nicht mehr mit Hilfe der Nachbarn rechnen können.
Heini Staudinger sagt, dass seine „University of Economics“ das kleine Kaufmannsgeschäft seiner Eltern gewesen ist. Denn dort hätte er schon mit zwei Jahren grüßen gelernt. Die kleinen Krämerläden waren übrigens auch Treffpunkte der Dorfgemeinschaft. Einkaufen und miteinander reden waren eins – eine Sitte, die heute kaum noch gepflegt wird. Die Verkäuferin an der Supermarktkassa hat weder Zeit noch Lust auf ein längeres Gespräch.
Ein Zeichen des guten Benehmens war auch die stets unversperrte Tür in den alten Bauernhäusern. Sie war ein Willkommenszeichen an die Nachbarn. Jeder, der wollte, konnte eintreten, auch ohne vorher anzuklopfen. Oft war es ein Kind aus der Nachbarschaft, das einen Botengang verrichtete oder ein Nachbar, eine Nachbarin, die sich etwas ausborgte. Keiner verließ das Haus ohne ein kurzes Gespräch und jeder bekam etwas „aufgewartet“. Die Kinder einen Saft oder eine kleine Nascherei, die Männer ein Schnapserl und jeder, der wollte, eine Jause.
Wie fern ist uns ein solches Leben? Die Autorin Greta Taubert lebte ein Jahr lang so, als wäre die Wirtschaft schon zusammengebrochen. Sie baute Gemüse an, tauschte Kleidung und machte dabei eine völlig neue Erfahrung: „Ich musste anfangen, andere Leute um Hilfe zu bitten. Der Mangel brachte ein neues Gemeinschaftsgefühl.“ Ihr Experiment war ein Ausflug in eine andere, ihr bis dahin unbekannte Welt, in der Teilen, Tauschen und Schenken zählen. Taubert war angewiesen auf andere und sagt dennoch: „Ich habe mich noch nie in meinem Leben so reich gefühlt.“
Ein erster Schritt zur Gelassenheit
ZUFRIEDENHEIT IST EINE ENTSCHEIDUNG.