Was soll denn aus ihr werden? - Johanna Spyri - E-Book

Was soll denn aus ihr werden? E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

Die junge Dori zieht nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter zu deren Familie ins Engadin. Dort beginnt für sie ein ganz neues Leben ... In den dreissig Jahren von 1871 bis zu ihrem Tod veröffentlichte Spyri 31 Bücher, 27 Erzählbände und 4 Broschüren, insgesamt 48 Erzählungen.

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Was soll denn aus ihr werden?

Johanna Spyri

Inhalt:

Johanna Spyri – Biografie und Bibliografie

Was soll denn aus ihr werden?

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Was soll denn aus ihr werden, J. Spyri

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN:9783849625139

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Johanna Spyri – Biografie und Bibliografie

Jugendschriftstellerin, geb. 12. Juni 1829 als die Tochter des Arztes Heusser und einer poetisch begabten Mutter in dem Dorf Hirzel bei Zürich, verheiratete sich 1852 mit dem Rechtsanwalt S. in Zürich und starb hier 7. Juli 1901. Sie veröffentlichte 1871 ihre früheste Erzählung: »Ein Blatt auf Vronys Grab« (4. Aufl., Brem. 1883), trat aber erst mehrere Jahre später, und nachdem eine Reihe ihrer »Geschichten für Kinder und auch solche, welche Kinder liebhaben« (Gotha 1879–89), Beifall in weitern Kreisen gefunden, mit ihrem Namen vor die Öffentlichkeit. Die Erzählungen Johanna Spyris, durch einen Hauch echter Frömmigkeit erwärmt, zeichnen sich durch Lebensfülle, seine Beobachtung und liebenswürdigen Humor vor der Mehrzahl der Erzählungen dieser Richtung aus. Sie führen die Einzeltitel: »Heimatlos«, »Aus Nah und Fern«, »Heidis Lehr- und Wanderjahre«, »Im Rhonetal«, »Aus unserm Lande«, »Ein Landaufenthalt bei Onkel Titus«, »Kurze Geschichten«, »Geschichten für Jung und Alt«, »Gritli«, »Verschollen, nicht vergessen«, »Artur und Squirrel«, »Aus den Schweizer Bergen«, »Die Stauffermühle« etc. und sind in vielen Auflagen erschienen, auch ins Französische, Englische und Italienische übersetzt.

Wichtige Werke:

·  1871: Ein Blatt auf Vrony's Grab

·  1872: Nach dem Vaterhause!

·  1873: Aus früheren Tagen.

·  1872: Ihrer Keines vergessen.

·  1872: Verirrt und gefunden

·  1878: Heimathlos. (

·  1879: Aus Nah und Fern.

·  1879: Verschollen, nicht vergessen.

·  1880: Heidi's Lehr- und Wanderjahre.

·  1880: Im Rhonethal

·  1880: Aus unserem Lande.

·  1881: Am Sonntag

·  1881: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.

·  1881: Ein Landaufenthalt von Onkel Titus.

·  1883: Wo Gritlis Kinder hingekommen sind.

·  1884: Gritlis Kinder kommen weiter.

·  1886: Kurze Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben.

·  1887: Was soll denn aus ihr werden? Eine Erzählung für junge Mädchen

·  1888: Arthur und Squirrel.

·  1888: Aus den Schweizer Bergen.

·  1889: Was aus ihr geworden ist.

·  1890: Einer vom Hause Lesa.

·  1892: Schloss Wildenstein.

·  1901: Die Stauffer-Mühle

Was soll denn aus ihr werden?

Erstes Kapitel

Die Kastanienbäume am Monte rosso, dessen bewaldete Höhe weithin auf die blauen Fluten des Lago Maggiore niederschaut, waren neu belaubt und geheimnisvoll flüsterten alle die Blätter oben in den Wipfeln, die der leichte Morgenwind durchzog. Am Höhenzug drüben über dem Flusse, wo hoch oben die weißen Dörfchen leuchten, jedes von seiner weit ausschauenden Kirche überragt, fingen die Glocken, eine nach der anderen, in melodischer Weise zu läuten an. An die graue Steinmauer gelehnt, aus dessen Ritzen überall rote, blaue, und golden leuchtende Blümchen herausquollen, stand ein kleines Mädchen und lauschte dem lieblichen Glockenspiele, das bald lauter, bald leiser vom Winde herübergetragen wurde. Ein Körbchen voll der schönsten Rosen stand auf der Mauer neben dem Kinde. Lichthell und wieder dunkel glühend schauten die Blumen aus den grünen Blättern heraus und süßer Duft entströmte den vollen Kelchen und erfüllte die Luft. Eine gute Weile hatte das Kind regungslos dagestanden, den immer noch fortklingenden Melodien lauschend. Jetzt schrak es zusammen: Auf dem schmalen Fußpfad, der von Cavandone heraufsteigt, war mit leisem Schritt eine Frauengestalt herangekommen und stand nun plötzlich vor dem überraschten Kinde. Die hochgewachsene junge Dame legte ihre Hand auf des Kindes Schulter und sagte in freundlichster Weise: »Erschrick nicht vor mir, liebes Kind, ich will mich ein wenig hier zu dir setzen. Sind die schönen Rosen aus deinem Garten?«

Sie hatte italienisch gesprochen, in der Sprache des Landes, doch mußte ihr diese nicht sehr geläufig sein. Das Kind hatte augenblicklich die fremdartige Betonung erkannt. Unverzüglich kam die Antwort: »Ja, sie sind aus dem Garten und es sind noch viele Rosen da. Aber ich kann auch ganz gut deutsch reden, wenn Sie wollen.«

»Wirklich?« gab die junge Dame lächelnd zurück, »dann wollen wir deutsch reden. Bist du denn keine Italienerin?«

»Nein, ich gehöre dem deutschen Maler und daheim sprechen wir immer deutsch«, berichtete das Kind.

»So ist deine Mutter auch eine Deutsche? Ein ganzes deutsches Haus mitten im italienischen Land?« meinte verwundert das Fräulein.

»Meine Mutter spricht auch deutsch, aber sie ist aus der Schweiz, das ist viel näher als das Land, wo der Vater her ist«, war die eingehende Antwort.

Die Art des Kindes mußte der jungen Dame wohlgefallen. Sie blickte liebevoll in die lichtbraunen Augen, die zu ihr aufschauten, und streichelte das krause, dunkle Haar, das um des Kindes Stirne spielte. »Komm, setz dich hier neben mich auf die Mauer«, sagte sie, »dann wollen wir noch ein wenig plaudern zusammen. Wohin willst du den Korb voll Rosen tragen? O, wie sie duften und leuchten, wenn der Sonnenstrahl darauf fällt!«

Das Kind nahm die zwei schönsten der Rosen und hielt sie dem Fräulein hin: »Wollen Sie die zwei nehmen?« sagte es zutraulich. »Aber der Korb ist nicht voll Rosen, die liegen nur oben auf und drunter kommt etwas zu essen, das muß ich der alten Maja bringen. Das ist unsere Nachbarin; aber jetzt ist sie dort oben bei ihrer Tochter; sehn Sie, dort weit oben in dem Häuschen unter den Bäumen? Sie ist krank und die alte Maja mußte hinauf, um sie zu pflegen. Nun muß ich der Kranken etwas von unserm Sonntagsessen bringen, und die Mutter sagt, der alten Maja tue es auch gut, etwas Kräftiges zu essen, wenn sie so schwere Pflege hat an der Kranken und noch an den kleinen Kindern. Und die Rosen sind für die Kranke auf das Bett zu legen, die Mutter sagt, Kranke sehen so gern frische Blumen.«

»O ja, das tun sie«, sagte das Fräulein, den Duft der Rosen tief einatmend, »und weil du noch viele von den Blumen hast und ich auch eine Kranke bin, so will ich diese zwei gerne nehmen; vielleicht kann ich dir auch einmal etwas schenken.«

Das Kind schaute voller Teilnahme zu der jungen Dame auf. Es konnte wohl sehen, wie blaß ihre Wangen und Lippen waren und so schmal und schneeweiß war die Hand, welche die Rosen festhielt, als wäre kein Tropfen Blut darin. Auch hatte das Fräulein beim Herankommen so schwer geatmet; erst jetzt fiel es dem Kinde wieder ein, wie es darüber erschrocken war.

»O, das ist so traurig«, sagte es seufzend und mit so herzlicher Teilnahme zu der jungen Dame aufschauend, daß diese des Kindes Hand erfaßte und sie zärtlich festhielt. »Du liebes Kind«, sagte sie, nachdem sie es eine Weile liebevoll betrachtet hatte, »ich möchte so gern dich wiedersehen. Wo wohnst du denn? Sieh, ich bin unten in Pallanza mit meinem Vater, da bleibe ich wohl noch, bis es zu heiß wird. Kommst du nie dort hinunter?«

»O nein, so weit weg habe ich nichts zu tun«, entgegnete das Kind, »und ich bin den ganzen Tag mit dem Vater. Alle Morgen gehe ich mit ihm zur Kapelle hinunter, oder bis zum alten Turm, oder hier herauf unter die Kastanienbäume und noch höher, wo man auf den See und an die Berge hinübersieht. Wo es dann dem Vater am besten gefällt, da sitzen wir nieder und er fängt an zu malen, denn ich habe ihm alles, was er braucht, im großen Sack nachzutragen und er trägt den Schirm und den großen Stock, den man dann in die Erde steckt, damit der Schirm darauf festhält. Nur am Sonntag sitzt der Vater draußen auf der Terrasse, wo die Blätter so schön im Sonnenschein auf dem Boden hin- und herwehen. Dann liest der Vater vor und die Mutter und ich hören zu.«

»Erzähl mir noch ein wenig weiter«, sagte die junge Dame, die mit Wohlgefallen den Worten des Kindes gefolgt war. »Wenn nun der Vater draußen unter seinem Schirm sitzt, siehst du dann zu, wie er malt, oder malst du auch?«

»O nein, das kann ich gar nicht«, wehrte das Kind. »Dann muß ich ihm vorlesen, und dann sing ich ihm auch wieder und manchmal singt er mit; er hat mich viele Lieder gelehrt.«

»Was kannst du denn für Lieder?« wollte das Fräulein wissen. »Willst du mir eines singen?«

Bereitwillig stimmte das Kind sogleich an:

»Rote Wolken am Himmel, In den Tannen der Föhn, Und ich freu' mich, ja ich freu' mich. Ist der Morgen so schön.

Rote Beeren am Hügel, Wilde Rosen im Hag, Und ich freu'mich, ja ich freu' mich Am sonnigen Tag.

Sie sagen, der Herbst kommt –«

»Nein, das sing ich nicht gern, ich will den letzten Vers singen«, unterbrach sich das Kind.

»Sing doch den auch, mir zuliebe, daß ich das ganze Lied kenne«, bat das Fräulein.

Das Kind sang weiter:

»Sie sagen, der Herbst kommt Und das Blatt fällt vom Baum, Und die Freude, ja die Freude Verweht wie ein Traum.

Kommt der Herbst und kommt der Winter, Weiß ich doch noch ein Glück, Ein jeder neue Frühling Bringt die Rosen zurück.«

»Ich höre dich gerne singen, dein Vater hat dir gewiß gut vorgesungen«, sagte das Fräulein. »Hat er dich dieses Lied gelehrt?«

»Nein, das hat mich die Mutter gelehrt, da wo sie daheim war, sind die vielen Tannen und die wilden Rosen. Aber jetzt hat sie es ziemlich lang nicht mehr mit mir singen wollen, weil der Vater nicht recht wohl ist. Aber sonst singt immer der Vater mit und sagt mir, wie ich alles singen muß«, setzte das Kind hinzu.

»Nun weiß ich, was ich dir schenken kann, weil du so gut singst«, sagte plötzlich erfreut das Fräulein und zog ein kleines Buch aus der Tasche. »Sag mir aber auch, wie du heißest, noch weiß ich deinen Namen gar nicht.«

»Ich heiße Dori Maurizius«, war die Antwort.

Die junge Dame hatte ihr Büchlein aufgeschlagen und hielt es Dori hin: »Komm, lies mir eines der Lieder vor, du kannst ja wohl deutsch lesen?«

»O,ja wohl«, bestätigte das Kind und las rasch ohne Aufenthalt:

»Nimm meine Hand! Wird mich die deine leiten, Geht's auch durch Nacht Und tiefe Dunkelheiten, An deiner Hand Geht's in ein selig Land.«

»Du liest schnell«, sagte das Fräulein. »Du verstehst doch gut, was du liest? Du weißt gewiß auch, wem wir so gern die Hand geben möchten, daß er uns führe, weil er den besten Weg weiß?«

»Ja, meinem Vater«, entgegnete Dori unverzüglich.

Das Fräulein lächelte. »Wie denkst du denn, daß du nachher in ein seliges Land kommst? Lies noch einmal, du mußt nicht nur an die ersten Worte denken, auch an die andern, die folgen«, und sie wies mit dem Finger auf die Schlußworte.

»Was ist selig?« fragte Dori dagegen.

»Selig ist so vollkommen glücklich sein, daß uns nichts mehr mangelt und nichts mehr weh tut, nie mehr in alle Ewigkeit.«

»Ja, das will mein Vater mit mir, er will mich schon so führen«, versicherte das Kind.

»Das glaube ich dir wohl, daß er so tun wollte«, stimmte das Fräulein bei. »Sieh, Dori, ich habe auch einen Vater, den ich so lieb habe, wie du den deinen, und der alles für mich tun wollte, daß ich wohl und glücklich sein könnte mit ihm. Aber nun bin ich krank, das tut meinem Vater so weh, daß ich es ihm nicht einmal so zeigen darf, wie ich es fühle. Mit aller Liebe, die er zu mir hat, und allem Verlangen, daß ich wieder gesund werde, kann er mich doch nicht gesund machen. Du kannst wohl denken, wie gern er das tun würde, wenn er könnte. Da ist es ein großer Trost für uns, daß wir wissen, wir haben noch einen Vater im Himmel, der uns gerade so lieb hat wie der auf Erden, und der alle Macht hat, uns so glücklich zu machen, wie unser lieber Vater auf Erden es gerne tun wollte.« »Dann macht er Sie schon gesund«, warf Dori schnell ein. »Ich glaube auch, er will das tun, aber vielleicht will er mich dazu in ein anderes Leben einführen. Weißt du, Dori, dieser Vater hat auch die Macht, uns in einem neuen Lande ein ganz neues Leben zu geben ohne alles Leiden, ein glückliches Leben, das nie endet, wo keiner mehr sterben muß. Das ist doch noch viel schöner als dieses Leben, wenn es schon hier auch schön ist bei einem so lieben Vater. Aber wenn ich gehen muß, so weiß mein Vater im Himmel schon, warum es der beste Weg für mich ist. Ich sage gern und so voll Vertrauen zu Ihm:

›Nimm meine Hand! Wird mich die deine leiten, Geht's in ein selig Land.‹

Eben jetzt kam ein alter Herr den Waldweg herauf gestiegen. Die dichten, weißen Haare umrahmten ein noch jugendlich frisches Gesicht, aus dem die freundlichen, blauen Augen so gewinnend umherschauten, daß Dori ihm augenblicklich entgegenlief, ihm die Hand bot und berichtete: »Dort auf der Mauer sitzt das Fräulein!«

Eine sprechende Ähnlichkeit in den beiden Gesichtern mochte dem Kinde gleich begreiflich gemacht haben, daß der Herannahende der gute Vater sein mußte, von dem das Fräulein eben gesprochen hatte. »Ich suche wirklich meine Tochter«, sagte der Herr, Doris Hand freundlich in der seinen haltend, »es ist recht lieb von dir, daß du mich gleich auf den rechten Weg führst. Wer bist denn du, mein liebes, deutsches Kind hier im italienischen Lande?«

»Das ist meine kleine neue Freundin, lieber Vater, um deretwillen ich ganz vergessen habe, daß ich bald zurückkehren wollte«, berichtete erklärend das Fräulein, das herzugetreten war, und mit Zärtlichkeit den Vater umfing. »Du hast dir doch keine Sorgen um mich gemacht, Väterchen?«

»Ein wenig doch«, meinte der Vater, die blassen Wangen der Tochter streichelnd, »nun ist's schon gut, daß ich dich wiedergefunden habe.«

Das Fräulein wandte sich noch einmal zu dem Kinde, ergriff seine Hand und fragte mit Herzlichkeit: »Nun müssen wir Abschied nehmen, aber sag mir auch noch, wo du wohnst. In deinem Büchlein steht auch mein Name, so weißt du, wie ich heiße und vergissest mich weniger.«

Dori wies mit dem Finger den Pfad hinunter: »Dort ist unser Haus, bei Cavandone geht man links gegen die Bäume hin, wo bie Weinreben so dicht hangen. Dort, wo der Felsenboden ist, aus dem die roten und weißen Blümchen hervorwachsen, dort ist unser Haus. Vom Felsen geht es nur einen Tritt hinunter und gleich in die Tür hinein. Und wenn man durchgeht, kommt man gleich auf der andern Seite auf die offene Terrasse heraus, wo die Weinranken ringsherum hängen, und dann sieht man hinunter auf den See und weit hin bis zu den Inseln.«

»Das ist ja schön, das müßten wir einmal sehen«, meinte der Herr; »aber jetzt wartet unsere Barke in Suna. Denn auf Wiedersehen, meine Kleine!«

Er hatte ganz väterlich Doris Hand in seinen beiden Händen fest gehalten, nun ließ er sie los. Rasch ergriff das Kind eine seiner Rosen im Körbchen und legte sie schweigend in die Hände des freundlichen Herrn; dann zog es fröhlich seines Weges.

»Danke! Danke!« rief ihm der Herr lachend nach, steckte seine Rose ins Knopfloch, und den Arm seines Töchterchens in den seinen legend, schlug er den Weg gegen Suna zurück ein.

Zweites Kapitel

Von Cavandone, dem kleinen Dorfe, das sich an den waldbewachsenen Monte rosso schmiegt, führt an alten Kastanienbäumen hin über rauhe Felsstücke und rauschende Bergwasser der Fußpfad nach Suna hinunter. Auf halber Höhe steht die weiße Kapelle und bietet den Heraufsteigenden eine willkommene Rast auf der steinernen Bank im Schatten des Kirchleins. Aber nur die Schwerbeladenen bleiben auf der Bank sitzen, um sich auszuruhen. Jeden andern lockt es, die Terrasse auf dem Vorsprung des Kapellenhügels zu erreichen und über die Mauer zu schauen. Da leuchtet weithin der blaue See mit den grünen Inseln darin, die wie Smaragde über den Fluten schwimmen. Gegen Süden hin wird aus See und Himmel eine dunkelblaue, endlose Meerflut. Dort an der Mauer stand in der goldenen Morgenfrühe der deutsche Maler und schaute hinaus. Sein Kind hatte die große Tasche mit den nötigen Gerätschaften samt dem Farbenkasten auf den Boden gelegt, sich selbst auf die Mauer geschwungen und schaute schweigend, wie der Vater, in das sonnige Land hinaus.

»Hast du diese Heimat lieb, Dori?« fragte der Vater nach einer Weile.

»O ja, so schön ist es gewiß sonst nirgends auf der Welt!« rief das Kind schnell aus.

»Ja, es ist wohl schön hier, so schön« – wiederholte der Vater und blickte wieder still sinnend über die Inseln nach der fern verschwimmenden blauen Flut hin.

»Willst du denn gar nicht malen heute, Vater?« fragte Dori endlich verwundert, nachdem eine lange Zeit hingegangen war, ohne daß der Vater gesprochen, noch sich gerührt hatte. Daran war das Kind nicht gewöhnt.

»Jawohl, wir wollten ja malen«, sagte der Vater, so als käme er von weit her zu diesem Gedanken und in die Gegenwart zurück. »Dort unten auf den bemoosten Steinen wollen wir uns niederlassen; da müssen die Schneeberge auch noch mehr zum Vorschein kommen.«

Dori folgte dem Vater gegen die Kapelle zurück, wo man um die Mauer herum zu den Steinen niedersteigen konnte. Hier wurde die beste Stelle ausgewählt. Auf dem breiten, bemoosten Felsstück konnte man sich bequem niederlassen und keine Schranke trat hier der vollen Aussicht über das Tal in den Weg. Der Vater hatte recht gehabt. Im Westen stiegen völlig klar die weißen Gipfel der hohen Simplonberge empor und schlossen den Talgrund ab, während im Osten die dunkle Felsenmasse des Monte serro hoch in den blauen Himmel ragte und den See umschloß. Drüben glänzten die Türme und Zinnen von Baveno in der Morgensonne und drüber hin erhob sich schützend und umrahmend der grüne Motterone mit seinen sonnigen Weiden, auf denen ringsum das Morgenlicht schimmerte. Der Maler hatte seinen Pinsel zur Hand genommen, aber es war, als ob ihm heute die Bilder von innen so lebendig vor die Augen träten, daß diejenigen von außen gar nicht bei ihm eindringen konnten. Nach wenigen Strichen legte er seinen Pinsel wieder hin und blickte in Gedanken versunken auf den Moosgrund zu seinen Füßen.

»Vater, warum sagst du gar nichts? Soll ich dir etwas erzählen?« fragte Dori, die eine so lange Pause noch nicht erlebt hatte.

»Ja, tu du so«, entgegnete der Vater und nahm den Pinsel wieder auf. Nun fiel dem Kinde ein, daß es seine Begegnung von gestern mit der jungen Dame dem Vater noch gar nicht erzählt hatte, und eifrig begann es, das Zusammentreffen zu schildern. Alle Worte wußte es noch genau, die gesprochen worden waren. Dann zog es das kleine Buch aus der Tasche, das es da hineingesteckt hatte, und zeigte dem Vater das Lied, dessen Anfang es dem Fräulein hatte vorlesen müssen. »Wollen wir es einmal singen, Vater?« fragte Dori. Er nahm das kleine Buch in die Hand und las den Namen, der in zierlicher Schrift auf dem ersten Blatte geschrieben stand: Helene von Aschen. Dann ließ er seine Augen über die Noten gleiten und begann leise zu singen. Mit heller Stimme fiel Dori ein. Als der erste Vers gesungen war, legte der Vater das kleine Buch in Doris Hand zurück. »Sing du weiter, ich kann nicht singen heute«, sagte er.

»So will ich dir etwas singen, das du gerne hörst, das freut dich besser«, meinte Dori. Sie setzte sich neben dem Vater auf dem Stein zurecht und begann in hellen, weichen Tönen ihr Lied:

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit Klingt ein Lied mir immerdar, O wie liegt so weit, o wie liegt so weit, Was mein einst war. Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang, Die den Frühling wieder bringt, Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang Es jetzt noch klingt? O du Heimatflur, o du Heimatflur, Laß zu deinem heil'gen Raum Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur Entfliehn im Traum!«

Das Kind hielt plötzlich inne; es hatte den Vater an- geblickt. Er hielt die Hand über die Augen gebreitet, große Tränen quollen darunter hervor. »Vater, du weinst«, rief das Kind bestürzt aus. »Warum weinst du? Du hast noch nie geweint.«

Der Maler war aufgestanden; einen Augenblick hatte er sich noch abgewandt, dann kehrte er sich zu dem Kinde: »Komm, wir gehen zur Mutter«, sagte er, Dori bei der Hand nehmend, »wir wollen mit ihr sprechen. Ich möchte mit euch heimreisen, dorthin, wo ich daheim war. Ich habe dir ja viel erzählt von dem kleinen Fischerdorf und wie ich dort am Strande zuschaute, wie die hohen Meereswellen heranstiegen mit dumpfem Brausen von ferne und näher und näher mit lautem Donnerrollen. Komm, Kind, komm!« Der Maler eilte mit seinem Kinde den Berg hinan, so als drängte die Zeit, als müßte er schnell ausführen, was er vor hatte. Auf der Terrasse des kleinen Hauses, das am sonnigen Bergrücken wie zu hängen schien, das aber auf dem sichtbaren Felsengrund sehr fest stand, sah die Frau des Malers bei ihrer Arbeit. Von Zeit zu Zeit legte sie das Tuch samt Nadel und Schere auf den Schoß nieder, schaute durch das grüne Weinlaub in den leuchtenden Morgen hinaus und seufzte tief auf; es mußte ihr etwas Schweres auf dem Herzen liegen. Jetzt nahte ein eiliger Kinderschritt der Terrasse. Dori kam hereingestürzt. »Mutter! Mutter! Wir machen eine große Reise!« rief das Kind schon unter der Tür ihr entgegen; »der Vater geht mit uns ans Meer, dorthin, wo er daheim war.«

Eben trat der Vater langsam hinter Dori ein. »Erwin«, rief seine Frau im höchsten Schrecken aus, »wie siehst du aus! Du bist krank! O, du bist so krank!«

»Ich bin nicht recht wohl«, entgegnete der Maler, sich niedersetzend, »du mußt dich aber nicht so aufregen, liebe Dorothea, ich werde mich ein wenig hinlegen, dann wird's besser werden.«

Kurze Zeit darauf saß Dorothea am Lager ihres Mannes, der gleich in einen tiefen Schlaf gesunken war, nachdem er sich hingelegt hatte. Was sie befürchtet, war gekommen, und daß der Mann viel kränker war, als er selbst zugeben wollte, konnte sie sich nicht mehr verbergen. Er war nie sehr kräftig gewesen, aber er stand ja in seinen besten Jahren. Dorothea hatte schon seit einiger Zeit eine Veränderung an ihrem Manne bemerkt, die heimliche Sorge darüber hatte sie seither immer verfolgt.

Nun war er doch so plötzlich wie zusammengebrochen, so hatte sie ihn nie gesehen. Aber sie konnte sich ja täuschen und ihr Mann konnte seine ganze Frische wiedergewinnen. So gingen ihre Gedanken unruhig auf und nieder, während sie die ungleichen Atemzüge des Schlafenden belauschte. Dabei glitt einmal ein lichter Hoffnungsstrahl über ihr Gesicht, dann mußte sie wieder die aufsteigenden Tränen wegwischen.

Jetzt schlug der Kranke seine Augen auf. Er schaute wie träumend auf Dorothea hin. Ein glückliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht; er streckte die Hand aus und sagte: »O, Mutter, bist du da!«

Dorothea beugte sich über ihn und fragte, ob er etwas bedürfe.

»So bist du es, Dorothea«, sagte er, wie erwachend und sich besinnend! Ja, nun weiß ich's, ich hatte einen so schönen Traum. Ich war daheim und hörte draußen das Meer rauschen und die Mutter saß bei mir, so wie ehemals und blickte mich so liebevoll an. O, Dorothea, ich habe ein großes Verlangen, die Heimat wiederzusehen. Willst du alles bereit machen, daß wir gleich reisen können, wenn ich wieder ganz wohl bin, es wird ja nicht lange dauern. Das tust du mir, nicht wahr, du tust es?«

Dorothea schaute erschrocken in die fieberhaft erregten Augen des Kranken. »Jetzt können wir nicht reisen, Erwin, du bist zu krank, du mußt Ruhe haben. Denk nicht an ein Fortgehen jetzt«, bat sie.

»Daran denken muß ich, nur daran kann ich eben jetzt denken, o, laß mich die Heimat wiedersehen!« Der Kranke schaute flehentlich zu seiner Frau auf. »Tu mir das, liebe Dorothea, mach alles bereit! Ich werde bald gesund sein. Laß den großen Reisekoffer herunterholen, tu mir's zuliebe. Dorothea!«

Die Frau stand auf, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Fhr Mann war wohl fieberhaft aufgeregt, aber er hatte doch nicht im Fieber geredet, er hatte den brennenden Wunsch mit ganzem Bewußtsein ausgesprochen.

Jetzt schien ihr ein beruhigender Gedanke gekommen zu sein. Sie kehrte zu dem Lager zurück: »Ich will gehen, Erwin, und tun, was du wünschest: aber du mußt mir auch etwas zuliebe tun, du mußt erlauben, daß ich den Arzt von Pallanza heraufkommen lasse.« Sie wußte wohl, daß ihr Mann ihr widerstehen würde.

»Es ist ja so weit«, sagte er, »und auch gar nicht nötig, ich ruhe mich aus, dann ist's wieder gut. Wenn du's aber durchaus haben willst, nun ja, so tue, wie du denkst. Aber Dorothea, bis wir gehen können, gib mir das Bild, das ich dir einmal geschenkt, du weißt, die Ansicht vom Meeresstrand. Laß mich die Heimat anschauen!«

Dorothea verließ das Zimmer. Draußen auf der Terrasse hinter dem wehenden Weinlaub saß Dori mit einem Buch in der Hand, sie hatte für die Unterrichtsstunden, beim Vater zu lernen. Oft aber entwischten die luftigen Augen dem Buch und schauten nach dem Schatten der Blätter, die im Sonnenschein am Boden sich zierlich hin- und herbewegten.

»Dori«, sagte eilig die Mutter, »weißt du, wo das Bild ist vom Meeresstrand aus des Vaters Heimat? Wo ist es wohl hingekommen?«

»Das habe ich gar nie gesehen«, entgegnete Dori. »Ist es schön? Wie sieht es aus?«

»Ach, es ist ja wahr, du warst noch nicht einmal am Leben, als er mir's gab. Wo muß ich es nun suchen? Geh du schnell zur alten Maja hinüber und bitte sie, daß sie mir zum Doktor nach Pallanza hinuntergehe. Sie soll doch bald herüberkommen, daß ich noch mit ihr reden kann!«

Dori lief hinaus. Die alte Maja wohnte noch etwas höher am Bergabhang im uralten Häuschen, das recht schwarz ausgesehen hätte, wäre es nicht um und um von Weinreben und anderem grünen Laubwerk ganz überdeckt gewesen. So sah es hübsch und lustig aus, und die hölzerne Galerie, um die sich die grünen und die braunen Blätterranken wanden, war besonders zierlich anzusehen und Doris ganze Freude. Wie oft schon hatte sie dort bei der alten Maja gesessen und ihren wunderbaren Geschichten zugehört, während die dichten Blätterranken sie vor der Sonne schützten und immerfort ein geheimnisvolles Flüstern hören ließen, das wie zu den Geschichten gehörte. Die alte Maja war Doris ganz besondere Freundin. Sie hatte auch das Kind wie eine Großmutter besorgt als es zur Welt kam, und wie eine Mutter die junge, fremde Frau gepflegt, die unten im Felsenhause lag und keinen Menschen kannte als nur sie, die alte Nachbarin.

Auch bei Maja ging es zu ebener Erde ins Häuschen hinein; die Tür stand weit offen. Don rannte hinein. Schon im Vorraum stand die alte Maja und hackte ihre Holzstöckchen kurz, die auf dem kleinen Herd nebenan den täglichen Mais zu kochen verwendet werden sollten. Dori richtete schnell ihren Auftrag aus.

»Das ist nichts Gutes!« sagte die Alte, den Kopf schüttelnd. »Das tun sie nicht leicht. Gleich komm' ich mit dir.«

Don schaute gerne dem Getreibe der Alten zu, wie sie ihr graues Tuch um den Kopf band und eine saubere Schürze aus dem Schrank herausholte und dann noch die breiten Schuhe anzog. Jetzt holte sie den großen Korb vom Gestell herunter; er sah ziemlich zerfetzt aus. Die Alte schaute ihn bedauerlich an: »Man sollte einmal einen neuen haben«, sagte sie seufzend.

»Das hast du schon vor einem Jahre gesagt, Maja, als du die Trauben in dem Korb holtest unten beim alten Turm«, bemerkte Dori.

»Das hab' ich gewiß getan«, bestätigte die Alte, »vor einem Jahr und vor zweien schon hab' ich's gesagt. Aber siehst du, erst kommt's ans Notwendigste bei mir und dann ans andere, und an den Korb ist es bis jetzt noch nicht gekommen.«

Dorothea ging in voller Unruhe von einem Raum in den anderen, als die beiden bei ihr eintraten.

Sie erklärte nun der teilnehmenden Maja, wie der Zustand ihres Mannes sei und was sie den Arzt fragen sollte, wenn er heute den Kranken nicht mehr besuchen könnte. Dann teilte sie jammernd der alten Bekannten mit, daß der Kranke so sehr nach einem Bilde verlange, das seine Heimat darstelle und das sie nicht mehr finden könne, und fragte, ob Maja nicht irgendeinen Laden in Pallanza wisse, wo man ein solches Bild vielleicht finden könnte. Die Alte meinte, das werde wohl möglich sein, sie wollte nachfragen, nur wüßte sie nicht recht, was es sein müßte. »Lauf mit, Dori, daß die Maja keine Zeit verliert, und frag recht nach, du weißt ja schon, Bilder vom Nordseestrand mußt du begehren. Ach, vielleicht ist doch etwas zu finden.«

Dori zog gern aus mit der alten Maja. Die Sonne stand schon im Westen über dem Motterone. Der Felspfad nach Suna hinunter lag weithin wie vergoldet von ihren Strahlen; der alte Turm am Wege war nicht grau wie sonst, er stand in einem rosigen Licht und Scharen von zwitschernden Vögeln schwirrten oben darüber hin. Hier stand Dori einen Augenblick still. »Dort vorn am Turm haft du mit der Maria gearbeitet, und ich habe euch zugeschaut, und die großen, blauen Trauben hingen überall herunter, so viele, viele. Arbeitest du nicht mehr dort, Maja?« fragte das Kind.

»Ja du gutes Kind, wenn du wüßtest, wie gern ich es täte«, entgegnete die Alte mit einem tiefen Seufzers »Ja, das war noch andere Zeit, da die Maria so frisch und gesund war und wir dort miteinander im Weinberg so schöne Arbeit hatten. Nun liegt sie so krank, und die kleinen Kinder müssen gepflegt sein, und ihr Mann, der Steinhauer, ist auch halbkrank vor Kummer und Sorge. Manchmal mein' ich, es geht nicht mehr weiter, ich weiß mir nicht mehr zu helfen.«

»Sag du es nur meinem Vater, er hilft dir schon«, sagte Dori zuversichtlich.

»Ach, und dein guter Vater ist nun auch krank«, jammerte die alte Maja, »wer wird uns allen helfen! Ach, wer wird uns helfen?« stöhnte die Alte noch einmal.

Nun waren die beiden unten in Suna angelangt und auf der trockenen, glatten Landstraße ging es schnell gegen Pallanza zu. Einmal mußte aber Maja noch stille stehn. Unten am See klopften die Steinhauer auf den Felsplatten herum, daß es weithin hallte. »Dort ist der Platz, wo sonst der Beppo mitmacht«, sagte die Alte, auf eine Stelle hindeutend, wo eine Menge von Steinhauern die harten Steinmassen bearbeiteten. »Er ist so brav und arbeitsam, aber das Leid erdrückt ihn fast. Jetzt ist er oben und pflegt seine kranke Frau, die Maria und die armen kleinen Kinder. Ach, alle die armen kleinen Kinder überall herum! Wer soll allen helfen!«

»Sind viele überall herum?« fragte Don aufmerksam.

»Die ganze Welt voll«, sagte sie aufseufzend. Das machte einen tiefen Eindruck auf Dori. Bei der offenen Halle in Pallanza angelangt, wo die Frauen mit den Fruchtkörben saßen, sagte Maja: »Sieh, hier gehst du die Straße hinauf, links ist der Laden mit den Bildern. Ich muß noch ein wenig weiter. Kommst du zurück, so wart mir hier bei den Frauen.«

Dori lief die Gasse hinauf. Aber noch war Maja nicht weit über den Kirchenplatz hinausgekommen, so hörte sie hinter sich rufen: »Wart, Maja, wart mir ein wenig!« Es war Dori. Keuchend berichtete das Kind, der Herr im Laden habe gesagt, das sei nichts, was es wolle, und kein Mensch habe so etwas in ganz Pallanza, und dann habe er ihm durchaus Karten verkaufen wollen mit Rosen und Veilchen darauf. Dann sei es gleich fortgelaufen. »Was kann ich nun tun, Maja? Die Mutter hat gesagt, der Vater hätte so gern das Bild!«

Die Alte wußte immer einen guten Rat. »Ich weiß etwas«, sagte sie, »lauf zum großen Hotel hinaus, du weißt, dort am See. Da hängen alle Wände voll von solchen Sachen, es wird wohl etwas da sein, das der Mutter recht ist. Dort kannst du mir warten, ich will dich an der Tür abholen.«

Dori lief eilig davon. In den weiten Korridor im großen Hotel eingetreten, schaute das Kind suchend um sich; da waren überall der Türen so viele, daß es gar nicht wußte, nach welcher Seite es sich wenden sollte. Nun kam ein Kellner dahergeschritten und fragte nach des Kindes Begehr. Es tat seine Frage an ihn, ob nicht ein Bild im Hause hänge, wo man den Nordseestrand sehen könne. Der Kellner lief laut lachend einer Tür zu und verschwand. Jetzt trat aus derselben Tür ein kleiner, dürrer Mann, der sah aber gar nicht aus, als ob er lachen wollte. »Was ist das für dummes Zeug!« fuhr er Dori mit lauter Stimme an. »Wer schickt dich in ein Haus wie dieses hier ist, um lächerliche Fragen zu stellen? Was soll das heißen?« Das Kind war so überrascht und erschrocken über die zornige Anrede, daß es am liebsten gleich davongelaufen wäre. Vor Furcht blieb es aber unbeweglich stehn und sagte kein Wort. In diesem Augenblick kam ein Herr die Treppe herunter und wollte aus der Haustür treten. Der zornige Mann machte ganz untertänig Platz und schob Dori von der Tür weg. Aber das Kind hatte den Herrn mit den weißen Haaren schon erkannt. Es stürzte wie auf einen Retter auf ihn zu und hielt seine Hand fest. Erst jetzt erkannte der alte Herr das Kind. »Na, das ist ja unsere kleine Freundin von Cavandone! Grüß Gott!« sagte er, Dori freundlich auf die Schulter klopfend. »Du wolltest wohl meine Tochter besuchen?«

»O nein, aber ja, ich will sie gern besuchen«, änderte das Kind schnell seine Rede, nur schon um den Blicken des zornigen Mannes zu entfliehn, die zwar in diesem Augenblick mehr mit Neugierde, als mit Zorn auf ihm ruhten.

»Komm mit mir!« sagte der alte Herr freundlich und führte Dori die Treppe hinauf. Dann öffnete er eine Tür und hieß Dori in das große Zimmer eintreten. Auf einem schneeweißen Bett am Fenster lag das kranke Fräulein und sah fast so weiß aus, wie die Kissen, an die sie sich lehnte. Sie streckte sogleich Dori ihre Hand entgegen. »So kommst du, mir einen Besuch zu machen, Dori? Wie hast du mich denn gefunden?« fragte sie, dem Kinde den Lehnstuhl an ihrem Bett als Sitz anweisend.

Dori erzählte nun, wie ihr Vater krank geworden und welchen großen Wunsch er hatte, auch welchen Rat die alte Maja ihr gegeben, um zu dem Bilde zu gelangen.

Herr von Aschen lachte herzlich. Aber das Fräulein wollte so gerne dem kranken Vater und auch dem Kinde die Freude machen, wenn es möglich wäre. »Ach Väterchen«, sagte sie bittend, »würdest du nicht in meinen Blättern nachsehn, ob nicht eine der Skizzen, die ich in unserm Norden gemacht, damals auf Borkum oder bei den Halligen oder am Strande bei Sylt, darunter ist, vielleicht wäre etwas davon zu gebrauchen.«

Der Vater schüttelte ein wenig zweifelnd den Kopf, er wollte aber gern dem Töchterchen den Gefallen tun. Als er das Zimmer verlassen hatte, fragte das Fräulein Dori, was denn ihrem Vater fehle, ob er sehr krank sei. Dori wußte nicht recht Bescheid. Die Mutter hatte gesagt, er sei sehr schwach und habe Fieber. »Und Sie sind auch so krank, wenn Sie im Bett liegen müssen«, sagte Dori ganz mitleidig.

»Ja, das bin ich, ich weiß es recht gut«, entgegnete die Kranke nachdenklich.

»Wollen Sie nicht auch den Doktor kommen lassen, daß er Ihnen helfe?« meinte Dori gleich in hilfreicher Weise.

Die Kranke lächelte ein wenig. »Er kommt wohl, aber er kann mir nicht helfen«, sagte sie leise, aber mit so überzeugtem Ton, daß Dori sie erschrocken anblickte. »Aber der liebe Gott kann mir noch helfen, siehst du, Dori, und darüber bin ich so froh, daß ich so sicher weiß, er hat mich wohl so lieb wie mein Vater, er will mich nur glücklich machen, ich muß nur seinen Willen annehmen. So sage ich immer wieder zu ihm:

›Nimm meine Hand! Wird mich die deine leiten, Geht's in ein selig Land!‹

Und dann wird es mir wieder so sicher zumut und so wohl! Und ich denke, wenn ich es nur meinem lieben Vater recht sagen könnte, daß es ihm auch wohl machen würde, aber er wird immer noch so traurig, wenn ich davon sprechen will!« Eben trat der gute Vater ein und legte mehrere große Blätter auf das Bett der Tochter nieder. Sie überschaute die Malereien. Schnell hatte sie gewählt. Sie hielt Dori das Blatt hin. »Glaubst du, daß das etwas ist, das den Vater freuen wird?« fragte sie.

Das Kind schaute auf die großen, grauen Wellen, die sich unter dem grauen Himmel aufbäumten und sagte etwas zweifelhaft: »Ich weiß nicht.«

»Nimm es nur mit«, fuhr das Fräulein fort das Blatt mit dem großen Papier umwickelnd, das der Vater ihr reichte, »und wenn es deinem Vater Freude macht, so soll er es nur behalten. Wenn du es dann etwa ansiehst, so denkst du dabei an mich, das freut mich. Willst du auch bald einmal wiederkommen und uns sagen, wie es dem Vater geht?«

Das Kind versprach, so zu tun, und dankte vielmals für das Geschenk an den Vater. »Und wenn ich komme, will ich auch noch Rosen bringen«, setzte es hinzu, denn es war ihm nicht entgangen, daß die drei Rosen, die es dem Fräulein und ihrem Vater auf dem Weg zur alten Maja hinauf geschenkt hatte, in einer kleinen Vase auf dem Tischchen am Bett der Kranken standen und noch ganz schön aussahen.

Herr von Aschen nahm jetzt das Kind väterlich bei der Hand und führte es bis vors Haus hinunter. Er wollte wohl damit die Begegnungen mit all den Kellnern im großen Korridor dem Kinde ersparen.

Die alte Maja hatte schon seit einiger Zeit draußen gewartet. Die Nachfrage im Hotel hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte. Die Sonne war schon hinter den Höhen des Motterone verschwunden, der ganze Himmel leuchtete wie feuriges Gold über dem Gebirge bis weit hin gegen die Schneegipfel im Westen.

»Sieh, sieh, wie schön!« rief Dori aus. »Du bist selbst wie ein Heiligenbild in der Kirche, ganz goldig und strahlend. Steh still, Maja, steh still! Sieh hinter dir die Kirche, wie rot und glühend, und die großen Bäume dort im Garten haben ganz goldene Blätter, sieh, sieh!«

»Was du auch sagst, Dori, eine sündige, alte, runzlige Frau ein Heiligenbild!« gab die Alte zurück, immer weiter gehend, »du könntest dich noch versündigen. Komm! Komm! Wir müssen machen, daß wir heimkommen, der Vater wartet, ich habe eine Arznei.«

Das Kind lief nach, aber von Zeit zu Zeit stand es wieder still und schaute zurück und hinüber, wo der ganze, lichte Abendhimmel vor ihm lag. Noch waren sie nicht am Berg angekommen. Die Alte mahnte immer wieder: »Komm! Komm! Wir müssen weiter!« Nun ging es von der Straße ab, den Felsenweg hinan.

»O der Turm, Maja, sieh den Turm!« schrie Dori auf, »er ist ganz neu, o wie er leuchtet!« Ein rosiger Schimmer umfloß das alte Gemäuer. Hoch oben über dem verfallenen Gestein jubelten die Vögel im goldenen Lichte. Von den grünglänzenden Sträuchern, die sich am rosigen Turm emporrankten, trug der leise Abendwind einen würzigen Duft auf den Fußpfad herüber. Dori lief dem Turm zu, in den Acker hinein, wo die Maisstauden grünten und die Weinreben sich um die Bäume schlangen. »Dies ist dein Acker, Maja, komm herein!« rief Dori hinüber; »komm sieh, wie's leuchtet darin!«

»Mein Acker, du lieber Gott, mein Acker!« wiederholte die Alte, »mein war er nie und pachten kann ich ihn auch nicht mehr. Ja, könnt' ich mit den goldigen Rebenblättern dort bezahlen, so hätte ich mein Äckerchen wieder!« Sie ging weiter. Das Kind, selbst von lichtem Gold umflossen, blieb staunend und sinnend unter den hängenden Weinranken stehn, dem leise verglimmenden Abendhimmel zugekehrt. Die Alte war schon oben bei der Kapelle angelangt, als Dori ihr nachgerannt kam und nun ohne Halt dem Felsenhause bei Cavandone zueilte.

Dorothea, die lange schon nach den Ankommenden ausgeschaut hatte, kam ihnen entgegengelaufen. »So hast du wirklich ein solches Bild gefunden!« rief sie freudig aus, als Dori ihr die Rolle hinhielt.

»Ja, aber es freut vielleicht den Vater nicht so besonders, es ist nicht so schön, wie es bei uns ist«, meinte das Kind.

Die Mutter war ins Haus eingetreten und hatte das Blatt aufgerollt. »O das wird ihm Freude machen; gewiß, davon hat er mir erzählt«, rief sie hocherfreut aus. »Es ist nicht wie sein Bild war, aber das muß er kennen! Das wird er sicher kennen.«

Maja gab nun ihren Bericht ab, daß der Doktor erst morgen kommen könne und überreichte Dorothea die mitgebrachte Arzneiflasche. »So helf Gott, ihm und allen armen Leidenden!« wünschte die Alte und ging.

Dorothea holte ein Schüsselchen herein, legte ein kleines, rundes Brötchen daneben und sagte: »Du mußt dein Abendessen allein einnehmen, Dori, ich muß zum Vater hinüber. Nachher mußt du ganz still zu Bette gehen.«

»Aber ich muß doch dem Vater gute Nacht sagen«, wandte Dori ein.

»Ja, leise herantreten kannst du wohl und ihm einen Kuß geben, aber du mußt nicht sprechen«, warnte die Mutter, »jeder Ton schreckt ihn auf, er schlummert so leise.«