Was von Dora blieb - Anja Hirsch - E-Book
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Was von Dora blieb E-Book

Anja Hirsch

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Beschreibung

Eine Dreiecksbeziehung in Künstlerkreisen der 20er Jahre, eine bürgerliche Ehe zur Nazizeit, eine moderne Beziehungsgeschichte – ein berührender Roman über das Leben und die Liebe in bewegten Zeiten

Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz am Bauhaus des Ruhrgebiets, der heutigen Folkwangschule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora — und auf sich selbst.

Ein ergreifender Roman über die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration sich im eigenen Leben zu verankern und eine faszinierende Spurensuche, in der sich die Leserinnen und Leser immer wieder selbst begegnen.

Großmutter und Enkelin — und ein ganzes Jahrhundert in Deutschland

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Zum Buch

Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er-Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz am »Bauhaus des Ruhrgebiets«, der heutigen Folkwang-Schule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora – und auf sich selbst.

Ein ergreifender Roman über die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration, sich im eigenen Leben zu verankern, und eine faszinierende Spurensuche, in der sich die Leserinnen und Leser immer wieder selbst begegnen.

Zur Autorin

Anja Hirsch, geboren 1969 in Frankfurt am Main, studierte in Freiburg im Breisgau, Kanada und Bielefeld und wurde in Germanistik promoviert. Sie arbeitet als freie Journalistin für überregionale Medien (u. a. Deutschlandfunk, FAZ, WDR) und lebt in Unna. Was von Dora blieb ist ihr Debüt.

ANJA

HIRSCH

WAS

VON

DORA

BLIEB

ROMAN

C. Bertelsmann

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© 2021 C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-25253-3V003

www.cbertelsmann.de

PROLOG

Als meine Großmutter starb, war ich drei Jahre alt. Es hieß, das Telefon habe am späten Abend geklingelt, und mein Vater nahm ab. Der Polizist begann ohne einführende Worte den Unfallbericht vorzulesen – so, als wäre der Tod eine bürokratische Angelegenheit und man könne seiner Wucht durch ein paar handfeste Formulierungen entkommen; Worte, wie sie Beamte benutzen, wenn sie ungeschützt zum Ort des Geschehens gerufen werden und beschreiben müssen, was sie sehen. Mein Vater unterbrach den Polizisten nicht. Er wartete, bis er zu Ende gelesen hatte, und fragte nach, worum es gehe. Er hörte Zahlen und die Gemarkung einer Autobahn bei Kilometer 594,5 und verstand immer noch nicht. In dem Unfallbericht kamen Autos vor. Ein Mercedes, das machte ihn schlagartig wach, er hätte selbst gern ein solches Auto gehabt. Aber das war nun offensichtlich kaputt. Mein Vater legte den Hörer auf und war verwirrt.

Es war sehr still in unserem Haus. Nur die vielen Uhren tickten alt und wie aus der Zeit gefallen. An jeder Wand befand sich eine Uhr. Die größte war die Standuhr. Sie stand auf einem geschnitzten Sockel aus dunkelbraun gemasertem Holz. Man konnte ihren Bauch mit einem kleinen Schlüssel öffnen wie einen Miniaturschrank, nur dass dahinter kein Stauraum war, sondern das große Pendel, das langsam hin- und herschwang. Jeden Abend schritt mein Vater die Uhren ab und zog an den Ketten, wodurch die Gewichte stoßweise in die Höhe fuhren. Bei manchen Uhren nahm er zusätzlich einen Aufziehschlüssel, den er vorsichtig und langsam wie ein chirurgisches Instrument auf die bleiumfasste Vierkantlochung setzte. Dann drehte er mit Anstrengungsfalten im Gesicht den Schlüssel um und um. »Mit Gefühl«, betonte er. »Das muss man mit Gefühl machen.« Zwischendurch legte er Pausen ein und schnaufte, bevor er zur nächsten Uhr ging. Das Uhrenaufziehen füllte seine Zeit vorm Zubettgehen. Niemand durfte die Uhren anrühren außer ihm. Wollte ich schlafen, bat ich, dass wenigstens die gewaltig schlagende Schwarzwalduhr direkt vor meinem Zimmer für die Nacht angehalten werde. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Zeit zwischen dem hellen Tick und dem dunkleren Tack und allen folgenden Ticktacks mit einer kleinen Melodie ausfüllte, die ich von Abend zu Abend zwanghaft erweiterte. Die Viertelnoten wurden zu Achteln und Sechzehnteln, die mir, wenn ich Glück hatte, in den Schlaf voraustanzten. Ich bewegte dazu meinen Kehlkopf, ohne Laut. Der Schlaf war ein fernes Land, in das ich umständlich reisen musste.

In meiner Vorstellung starb meine Großmutter an einem Abend, als alle Uhren der Reihe nach verstummten, weil mein Vater unter dem Schock der Nachricht, die langsam in ihm aufdämmerte, vergessen haben muss, die Uhren vor dem Schlafengehen noch einmal aufzuziehen.

Nach dem Autounfall klebte ihr Blut jahrzehntelang an den Ringen, die sie getragen hatte. Sie waren in eine alltägliche Frühstückstüte gesteckt worden und lagen im obersten Fach eines schmalen, weiß lackierten Wandschranks verschlossen. Niemand machte sich daran, die zerbeulten Ringe aus der Plastiktüte zu nehmen und zu reinigen. Das Rot war längst angetrocknet, ein Rest Dora, der von allein nicht abbröckelte.

Eines Abends, mein Vater war nicht zu Hause, nahmen wir die Tüte heraus. Wir kippten die dicken Ringe und Ketten und eine kleine Armbanduhr auf den Esstisch. Es war alles Modeschmuck. Wir hielten den Atem an, denn es stimmte, was meine Mutter uns die Jahre über immer wieder geschildert hatte: Das schwere Parfüm hatte überdauert. Es war nicht von der Zeit verdrängt worden, sondern an den Gegenständen haften geblieben. Ja, es hatte sich regelrecht eingeätzt.

TEIL EINS

ISA 2014

Paul war nicht mit hinausgekommen wie sonst, um mich zu verabschieden. Ich verstellte den Sitz, bis ich das Lenkrad zu fassen bekam. Den Schlüssel umdrehen und los. Im Rückspiegel entfernte sich die Rotbuche, erst langsam, dann immer schneller, bis sie nach dem Abbiegen in die Spielstraße ganz verschwand. Den Blinker setzen. Die Pedale. Aus dem Wohngebiet auf die Autobahn. Ich wischte mir die Augen, um sehen zu können, wo ich hinfuhr.

Erst zwei Stunden später bei meiner Mutter fiel alles von mir ab. Sie machte mir das Bett in meinem alten Kinderzimmer. Betäubt fiel ich hinein und war sofort eingeschlafen.

Ich betrat eine Brücke. Es war tiefe Nacht. Unterhalb floss ein breiter Fluss, der ordentlich Hochstand hatte. Diese Brücke musste schnell überquert werden, wusste ich und begann zu rennen. Da hörte ich hinter mir jemanden laufen. Ich versuchte mich umzudrehen, aber mein Genick war starr wie Stahl. Also rannte ich und rannte, den Blick geradeaus, in Erwartung, dass ich gleich von hinten gepackt würde. Der schwarze Strom unter mir hatte eine gallertartige Konsistenz. Die Masse stieg und quoll. Noch Kilometer, bis ich das Ende der Brücke erreichen würde. Ich wurde immer langsamer und sah plötzlich Gitterstäbe mit Händen, die daran rüttelten. Als ich näher kam, war da ein Mann. Kannte ich ihn? Er schrie mir etwas zu, doch es kam kein Laut. Ich beugte mich zu ihm hinunter und war auf einmal selbst die Gefangene. Mit Händen, die behaart waren wie seine, rüttelte ich an den Gitterstäben.

Im Schein der Nachtlampe, deren Schalter ich endlich fand, setzte ich mich auf. Alles tat weh. Der Schreck war mir buchstäblich in die Glieder gefahren. Ich drückte die Arme wie zur Wiederbelebung und ahnte die Umrisse der Möbel. Nichts war verändert worden in diesem Zimmer in diesem Haus, in dem mein Vater vor sieben Jahren gestorben war, im Raum gleich neben meinem.

Als ich aufstand, um zu sehen, ob meine Mutter schon wach war, musste ich an Dora vorbei, an ihrem Porträt in Öl, das seit ihrem Tod unser Treppenhaus bewachte. Unter der Macht des Albtraums kam sie mir noch unheimlicher vor als sonst, eine sitzende Melancholikerin in kaltblauem Kostüm, die Hände auf den Knien übereinandergeschlagen. Ihre Augen waren überall. Plötzlich wusste ich, dass sie es war, die mich auf der langen Brücke verfolgt hatte.

Dora hatte in der Familie keinen guten Ruf. Sie galt als streng, launisch, despotisch. Sie konnte Menschen manipulieren. Sie manipulierte sogar Kinder. Meine Schwester erzählte mir folgende Geschichte:

Sie ist noch ganz klein und hat Geburtstag. Dora sitzt mit ihr bei Kaffee und Kuchen im Garten. »Komm zu mir«, sagt Großmutter Dora zu ihr.

Meine Schwester, sechs Jahre alt, geht zu ihr.

»Ich will dir ein Geheimnis verraten.«

Meine Schwester tritt näher heran. Dora zieht sie sich zwischen die Knie und flüstert ihr ins Ohr: »Du hast heute gar nicht Geburtstag.«

»Doch«, sagt meine Schwester kleinlaut, »natürlich hab ich heute Geburtstag.«

»Nein. Ich weiß es genau. Deshalb schenke ich dir auch nichts. Und ich gratuliere dir auch nicht.«

»Aber …«

»Nein«, beharrt Dora, »du hast heute nicht Geburtstag.«

Sie wiederholt das immer und immer wieder. Meiner Schwester entzieht diese Behauptung den Boden unter den Füßen. Sie ist bald völlig aufgelöst und weint und hält immer wieder tapfer dagegen: »Aber natürlich habe ich heute Geburtstag!«

Dora: »Nein!«

Dieser Art waren Doras kleine Gemeinheiten.

»War Dora wirklich so böse?«, fragte ich meine Mutter beim Frühstück.

»Niemand ist nur böse«, sagte meine Mutter.

Vor meiner Weiterfahrt gen Süden tat ich etwas Ungehöriges. Ich nahm Dora von der Wand, musste sie jedoch schnell abstellen, weil der Rahmen schwerer war als erwartet. Meine Mutter kam gerade die Treppe herauf. Jetzt standen wir beide mit unseren Gesichtern zur Wand und sahen auf die angelehnte Dora herab.

»Ich könnte sie aus dem Rahmen nehmen«, überlegte ich.

Mit der Zustimmung meiner Mutter legte ich Hand an. Der Rahmen ließ sich einfach lösen. Neugierig besahen wir unser Werk.

»Lass sie uns auf die Terrasse bringen«, schlug ich vor.

Wieder willigte meine Mutter ein. Dora trug sich federleicht die Treppe hinab. Im Sonnenlicht bekam sie Farbe. Das Kostüm leuchtete. Dora konnte atmen, so schien es.

Und auch meine Mutter schien befreit, als sie sagte: »Ich wollte dir schon lange etwas mitgeben.« Sie sah mich prüfend an. Vom Bruch mit Paul hatte ich ihr nichts erzählt. Langsam, wie es ihre Art war, ging sie ins Haus, und ich folgte ihr zur Kammer der Nachlässe aller Art.

»Diese«, sagte sie und zeigte auf eine große Umzugskiste, die ich herausziehen sollte. »Da ist alles drin. Briefe und Fotoalben von Dora.«

Ich konnte die Kiste kaum aus der Kammer ziehen, so schwer war sie.

»Warum ich?«, fragte ich, als sie mich anwies, die Kiste an den Bodensee mitzunehmen.

»Anne bekommt die Kiste mit den Sachen von Oma«, erwiderte sie statt einer Antwort. Oma – das war ihre eigene Mutter.

»Und Friederike?« Es sollte gerecht zugehen.

»Bekommt alle anderen Familiendokumente, wenn ich mal sterbe«, sagte sie ohne Zögern. Es klang wie gut durchdacht.

»Du bist doch quicklebendig!«, sagte ich erschrocken. Aber sie winkte bestimmt ab, sodass ich nicht weiterfragte, sondern die Umzugskiste mit Doras Dokumenten in meinen Kofferraum hievte.

»Vergiss nicht, Dora wieder reinzustellen, falls es regnet!«, rief ich ihr beim Abfahren noch zu. »Die Farbe!«

Aber das konnte meine Mutter sicher schon nicht mehr hören. Ich sah sie im Rückspiegel tapfer winken, bis ich um die Kurve war.

Schon hinter Kronau, wo Dora gestorben war, erschienen erste Tropfen auf der Windschutzscheibe. Der Autobahnrandwald auf der Gegenseite wirkte noch trostloser als ohnehin. Wir nannten Dora nie »Großmutter« oder »Oma«, sondern immer nur »Om«, fiel mir ein. So, als würde etwas an ihr fehlen.

Als ich das nächste Mal hinübersah, war der Wald verschwunden. Stattdessen Acker, Bürotürme, Acker. Eine vollkommen rätselfreie, gut organisierte Landschaft.

DORA 1914

Die Wolken reisten mit, an diesem zweiten langen Reisetag zurück nach Hause. Sie hingen in weiten Schleifen vom Himmel und berührten das Dach der Eisenbahn. Einige hatten Gesichter, andere waren weiß wie der Schlagrahm, den Dora mit ihrer Tante zubereitet hatte. Die Tante hatte ihnen sogar ein Wurstpaket mitgegeben, das auf dem roten Sitzpolster neben der Mutter lag. Die Wurst roch gut und erinnerte Dora an das Abendbrot mit den Cousins. Der Aufenthalt auf dem Landgut in Lehrte bei den Haflingerstuten von Tante und Onkel war viel zu schnell zu Ende gegangen. Die Mutter nahm keinerlei Notiz von ihr, selbst dann nicht, als Dora mit einem Finger auf der Scheibe herummalte, ein Haus und noch eins, bald war es eine ganze Siedlung. Sie malte einen dicken Pfeil, der auf eines der Häuser zeigte, so, wie es der Vater gemacht hatte vor der Abreise, um ihr zu versichern, dass er hier zu Hause in Essen auf sie wartete. Der Vater mit seinem tiefen Brummen in der Stimme. Doras Herz machte auf einmal einen Sprung. Nur noch einige Stunden. Dann war sie wieder bei ihm. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Klack, klack machte es, wenn die Wagen über die Schienen rumpelten.

Die Stunden mühten sich mit gleicher Anstrengung ab wie die Eisenbahn. Dora sah sie wie kleine Zwerge in den Ecken des Abteils sitzen; Stundenzwerge, viele, viele Stundenzwerge in unterschiedlichen Größen. Manchmal trabte die Zeit erstaunlich schnell, und Dora rieb sich verwundert die Augen, als sie ihre Mutter fragte, wie lange die Fahrt noch dauern würde, und sich plötzlich wieder einer der Stundenzwerge geräuschlos zurückgezogen hatte. Tunnel, Hecken, Felder strichen vorbei, dazwischen schwarze Wälder, die sich gegen die korngelben Flächen wehrten, bis es so dunkel war, dass alles zu einem großen Nachtschwarz zusammenwuchs.

Es musste während einer dieser Waldstrecken gewesen sein, als die Eisenbahn zum Stehen gekommen war und Dora kurz vor dem Einschlafen, die Nase an der Scheibe, dort draußen einen großen Schatten ausmachte. Ein Tier, fast schon wieder verschwunden, kaum dass Dora seiner Gestalt gewahr wurde. Aber sie war ganz sicher, dass es ein Wolf gewesen war, so, wie sie ihn aus der Schulfibel kannte. Seine Ohren waren wachsam aufgestellt. Seine Stirn schimmerte gräulich. Die Partie über den schräg gestellten, algengrünen Augen setzte sich hell davon ab. Es sah fast aus, als hätte er Augenbrauen und schwarz umrandete Augen, wie mit einem Schminkstift gemalt. Sein Maul war leicht geöffnet, man konnte unter seiner Zunge die Zähne nur erahnen. Die Lefzen hatte er nach hinten gezogen. Er schien etwas entdeckt zu haben, im Polster hinter Doras Kopf.

Kurz vor der Einfahrt in den Essener Bahnhof wurde Dora wach. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen und verschmolzen zu Laternen, die einzelne Gebäude fahl erleuchteten, als der Zug in Schrittgeschwindigkeit in die große Halle einfuhr und mit lautem Ächzen zum Stehen kam. Die Mutter drückte ihr die kleine Reisetasche in die Hand und stieg mit der großen vor ihr aus. Dora musste auf den steilen Metallstiegen husten. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, aber ein Schaffner fasste sie eben noch rechtzeitig unter den Armen und hob sie mit einem Schwung auf den Bahnsteig. »Hoppla, kleines Fräulein, kostbare Fracht!«, rief er, als wäre sie eine Vase, die jederzeit zerbrechen könnte.

Der Zug stieß letzte Stöße von Dampf aus; ein lang gestrecktes, eisernes Ungeheuer, das bald nichts mehr auszuatmen hatte und nur noch hier und da genüsslich knackte. Überall bahnten sich Menschen ihren Weg, Damen mit breitkrempigen Hüten und Herren mit Zylinder. Oftmals überließen sie ihre schweren Kabinenkoffer herbeieilenden Trägern. Woher sie wohl anreisten? Dora versuchte, mit der Mutter Schritt zu halten. Da fiel ihr der Wolf wieder ein, und sie zuckte kurz zusammen bei der Erinnerung an das Bild, das jetzt plötzlich vor ihr auftauchte. Der Wolf war nach einer ewigen Weile aus seiner Starre erwacht und vorgesprungen, geradewegs an Dora vorbei, hin zu dem Unsichtbaren hinter ihr, das er die ganze Zeit fixiert hatte.

Dora verlor die Mutter fast im Gewühl und lief schneller. Wo war sie denn jetzt, sie sah sich ja kaum nach ihr um, war nur noch ein grauer Punkt. Gab es überhaupt Wölfe in Deutschland? Der Vater würde es wissen, gleich wäre Dora bei ihm. Sie flog jetzt über den Bahnsteig, und die Menschen traten beiseite, als wüssten sie, wie eilig sie es hatte.

Endlich erreichten sie den Bahnhofsvorplatz. Sie suchten einen freien Platz, stellten die schweren Taschen ab und blickten sich suchend um. Aber der große schlanke Mann mit seinem streng zu beiden Seiten hochgezwirbelten Backenbart war nirgends zu sehen.

ISA 2014

Die gelbstichige Farbfotografie, die ich als eine der ersten aus der Umzugskiste fischte, war in unserem Obstgarten entstanden, am Tag meiner Taufe, drei Jahre vor Doras Tod. Eine Kaffeerunde mit Sekt und Aschenbechern auf weißen Tischdecken. Dazu Stühle, die mit gelben Gummistriemen bespannt sind und nachgeben, wenn man sich daraufsetzt. Wir behielten sie so lange, bis sie vor lauter Rost unter uns fast zusammenbrachen. Deshalb wusste ich ganz genau, wie es sich anfühlte, wenn ein Finger zwischen den Striemen stecken blieb. Meine Schwestern sind zu sehen in Kleidchen, Sandalen und weißen Strümpfen bis ans Knie, von dieser und jener Verwandten geherzt und im Arm gehalten. Mich hat man vielleicht zum Schlafen in den Schatten gestellt.

Dora hingegen ist ganz präsent. Sie sitzt an der Kaffeetafel und schaut durch ihre strenge, weiß geränderte Brille in die Kamera, sonnengebräunt, das Haar sicher gefärbt, kein einziges graues mit dreiundsechzig Jahren.

Auf einem anderen Foto steht sie gestikulierend unter einem Baum, ins Gespräch vertieft mit meiner Mutter und meiner Patentante. Alle tragen die fast gleichen Modelle eines kurzen weißen Kleides und dazu kleine weiße Handtaschen, die am angewinkelten Unterarm hängen. Dora spricht mit erhobener Hand. Ihr Kopf ist dringlich nach vorne geschoben. Die anderen beiden hören ihr zu. Dieses eine Foto macht bereits deutlich: Dora ist nur schwer zu widersprechen.

Am meisten jedoch berührten mich die Fotografien, die ich von meinem Vater fand. Viele zeigen ihn zusammen mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Der Junge, der nie lächelt und so wirkt, als hasste er es, fotografiert zu werden, ist mein Vater.

Und wieder war da der Traum, der mich in meinem alten Kinderzimmer aufgeschreckt hatte. Die Brücke und meine Gewissheit, dass es Dora war, die mir folgte. Eisig wurde mir, als mir wieder einfiel, dass ich mit dem eingesperrten Mann den Platz getauscht hatte. Bald wurden aus den Traumsequenzen die realen Bilder meines Vaters. In meiner Erinnerung, die ich sieben Jahre lang hatte ruhen lassen, wurde mein Vater immer monströser. Seine Vorwürfe waren wie aus heiterem Himmel täglich auf uns niedergeprasselt. Hielt er unsere Lebendigkeit nicht aus? Dringlicher als früher fragte ich mich, welchen Anteil Dora daran hatte.

»Das ist eure Aufgabe«, hatte meine Mutter in der Kammer mit den Nachlässen schon vor langer Zeit einmal zu mir gesagt und sich damit selbst aus allem herausgezogen. Ich war der Aufgabe ausgewichen, verunsichert durch den Geschichtsunterricht, der mir den Zusammenhang zwischen Biografie und Zeitumständen nicht nahegebracht hatte, nur harte Fakten. Meist erreichten sie mich nicht, was auch an der monotonen Stimme der Geschichtslehrerin lag, die keine Unterschiede zwischen den Lehrinhalten machte. Als wollte sie explizit jede Zuweisung von Schuld vermeiden, hielt sie auch beim Thema Zweiter Weltkrieg alle Emotionen aus ihrer Schilderung der nationalsozialistischen Gräueltaten. War das mangelndes Temperament oder bewusste Strategie? Sollten wir selbst entscheiden können, wie sehr wir uns darauf einließen? In meinem Fall müssen viele Details, die sie mit Sicherheit geliefert hatte, ungehört geblieben sein. Mein Kopf sank regelmäßig während des Geschichtsunterrichts einige Minuten auf die splissige Platte der Schulbank, meine Hände schoben sich zur Unterstützung in die darunter liegenden Schubfächer und fanden dort manchmal einen alten Kaugummi, den sie selbstvergessen kneteten. Ich schützte mich durch Taubheit und tat so, als beträfe das Thema mich nicht.

Angebahnt worden war diese innere Abwehr aber auch in den vielen gescheiterten Gesprächen am familiären Mittagstisch.

»Was weißt du denn schon«, sagte mein Vater oft. »Du hast ja noch gar nichts erlebt.«

Vor allem hatte ich nicht den Krieg erlebt. Ich würde also nie etwas wissen können, falls nicht ein Krieg geschähe und mich darin verwickelte. Sein Vorwurf führte in mir ein Eigenleben und wuchs. Wenn es irgendwo um Krieg ging, verstummte ich, fast so, als hätte mir mein Vater Sprechverbot erteilt.

Als ich mich schließlich auf die Reise machte, war es deshalb wie das Lernen einer neuen Sprache, einer mit vielen neuen Wörtern, die ich oft erst über mehrere Brückenwörter entschlüsseln konnte. Es war eine Reise, die in Wirklichkeit schon viel früher begonnen hatte, deren Anfang in all dem Nichtverstandenen lag, das ich nicht zuordnen konnte; eine Reise also, die eine Bewegung war, die von mir wegführte, aber auch immer wieder zu mir hin. Bald wunderte ich mich nicht mehr darüber, dass ich mit meiner Freundin früher »Hinrichten« gespielt hatte – ein raffiniertes Zwei-Personen-Freiluftspiel mit vielen Varianten, wobei mir fast egal war, wie ich starb – Hauptsache schmerzfrei. Die Erlebnisse meiner Eltern und Großeltern, vor allem aber deren Kriege schienen nicht nur in ihnen selbst, sondern auch in uns Nachgeborenen ihre Spuren hinterlassen zu haben.

Der Schmerz, der sich seit der Abfahrt von Paul in mir ausbreitete, war ein Schmerz, den ich noch nicht kannte. Er fuhr mit bis an den See. Er wurde brennend, wenn ich auf fünfundzwanzig gemeinsame Jahre zurückschaute. All das Selbstverständliche, die Verständigung ohne Worte, fehlte mir wie die Luft zum Atmen. Eine Woche würde reichen, um mich zu sortieren. Dann wollte ich nach Hause zurück und um Paul und mich kämpfen – so mein Plan. Aber als ich Anstalten machte, den Koffer zu packen, wurden meine Bewegungen langsamer und langsamer, fast so langsam wie die Bewegungen meiner Mutter. Ich packte die Kleider wieder aus und wunderte mich, dass auch ein Winterpulli unter meinen rasch hineingeworfenen Kleidungsstücken war. Lieber setzte ich mich an den großen Tisch zu Doras Dingen, die mich anzogen. In der Dachwohnung einer Freundin, die ich schon manchmal zum ungestörten Arbeiten angemietet hatte, gab es einen Balkon, eine Küche zur Seeseite und ein Schlafzimmer zur Straßenseite. Ich zog die schwere Matratze aus dem Schlafzimmer direkt neben den Küchentisch und benutzte nur noch diesen Raum. Saß ich am Tisch, brauchte ich nur meinen Kopf zu heben, um den See zu sehen. Lag ich auf der Matratze, sah ich durchs Dachfenster direkt über mir Himmel – und blieb.

DORA 1914–1918

»Was machen die Fliegen?«

»Die Fliegen fliegen!«

Ernst Leydecker und seine Tochter pflegten Rituale. Es bedurfte nur einiger Reizwörter, um Doras Tag aufzuhellen, am Abend, wenn der Vater nach der Arbeit bei der Hauptpost die Wohnung betrat. Manchmal waren es die unsinnigen Fliegen oder des Vaters Lieblingswort »Kabelsalat«, das er mit tiefer Stimme genüsslich jede Silbe betonend artikulierte. Doras Mutter schimpfte jedes Mal. »Kinderkram!«, rief sie und stampfte aus dem Wohnzimmer. Dann freuten sie sich und machten weiter mit ihrem Spiel. Es gab viele klingende Wörter, die sich, kaum waren sie ausgesprochen, leichtfüßig niederließen; manchmal direkt neben Dora auf dem Boden, wo die Mutter ihre eigenwillige Tochter gar nicht gern sitzen sah. Die Wörter waren Doras geheime »Fröhlichwörter«. Aber jetzt blieb es still in der großen Wohnung, und Dora starrte an die Zimmerdecke, wo der Stuck immer neue Formen annahm.

Der Vater war nicht gekommen. Er war nicht am Bahnhof gewesen und hatte auch nicht unter dem gemauerten Vordach des Leydecker’schen Hauses gewartet, nachdem Dora und die Mutter nach der langen Fahrt durch die Nacht auf dem Essener Bahnhofsvorplatz endlich eine Droschke gefunden hatten, die sie ins Bernewäldchen brachte. Der Vater ging morgens nicht mehr zur Arbeit in die kaiserliche Hauptpost. Und er kam abends auch nicht zurück, kurz vor der blauen Stunde, die Dora mit Elsa und dem großen Märchenbuch verbrachte, während das Licht im Haus gegenüber Kammer für Kammer erlosch und die Kastanie vor Doras halb geöffnetem Fenster je nach Wind leise raschelte.

»Nicht die blaue Stunde verpassen«, sagte der Vater gemeinhin und zwinkerte ihr dabei zu, um sodann an die große Vitrine im Rauchzimmer zu treten und den goldenen Saft in ein bauchiges Glas zu gießen. »Der Flaschengeist putzt die Seele«, pflegte er zu sagen und von seinem Getränk zu nippen.

Wenn Dora dann immer noch im Türrahmen stand, schon im Nachtgewand, dann drehte sich Ernst Leydecker in all seiner stattlichen Größe zu ihr um, setzte sein Monokel auf und machte den finstersten Gesichtsausdruck, den Dora je gesehen hatte. Wie ein Wiesel war sie dann im Bett.

Der Vater, hieß es, war zum Kriegsdienst eingezogen worden. Dora hatte eine genaue Vorstellung davon. Ausrufer waren gekommen und hatten ihn aus dem Haus gezogen. Er hatte sein Monokel abgenommen, es in seiner Westentasche verstaut und sich still zur Wehr gesetzt. Aber die Abgesandten des Kaisers präsentierten sehr bestimmt ein Schreiben mit Stempel, und als der Vater den Stempel sah, packte er ein paar Dinge in den Leinenbeutel, nahm die Tintenfeder und schrieb das Kärtchen, das er auf den großen Esszimmertisch legte, wo Dora und die Mutter es nach ihrer Heimkehr vorfanden.

Elsa, das Mädchen, war schon vor ihnen dort eingetroffen. Sie war gerade beim Lebensmittelladen gewesen. Sie hatte in der langen Schlange vor dem Geschäft warten müssen und mit Stricken angefangen – einen blauen, grobmaschigen Sommerschal für die Kleine. Der Landurlaub hatte Dora sicherlich gutgetan. Sie würde Farbe bekommen haben. Vielleicht waren auch ihre vielen Ticks und Nachtgespenster verschwunden.

Elsa wurde beim Stricken traurig. Niemand würde mehr in der Stube Constantin-Cigaretten rauchen. Aber alle sagten, der Feind würde schnell besiegt sein. Deshalb stellte sie vorausschauend eine kleine Zigarettendose der Marke Kaiserpreis gut gefüllt mit duftendem Rauchwerk neben das Abschiedskärtchen auf die Stickdecke. Die Ereignisse hatten sich in den letzten vier Wochen überschlagen. Dass es jetzt so kam und ausgerechnet heute, einen bedeutsamen Tag zu früh, das musste der blaue Schal wieder ausgleichen, der unter Elsas schwieligen Händen wuchs und bald schon das Aussehen einer sich windenden Schlange hatte.

Elsa strickte nicht sonderlich ordentlich. Aber jede Masche, die hinzukam, galt Dora mit den dunkelgrünen Augen, die so streng schauen konnten, dass Elsa manchmal darüber lachen musste.

Im zweiten Jahr nach Kriegsanfang, als Doras kleiner Spielfreund Frantek immer öfter an der Tür stand und fragte, ob Dora mit ihm Reifen drehen wolle, atmete Elsa endlich auf. Sie registrierte, wie die Strenge um Doras grüne Augen herum schwand, sobald die Klingel läutete. Dora rannte mit Frantek nach unten in den Hof. Elsa bereitete oben das Abendbrot zu. Oft sah sie beim Schnippeln durchs Fenster hinunter zu den Kindern, die den schwarzen, dünnen Holzreifen meist schnell wieder beiseitelegten. Viel lieber hockten sie in der schattigsten Ecke und kramten in ihrer großen Kiste. Sie enthielt ein paar bunte, abgetragene Kleidungsstücke, die Dora Frantek überzog und umgekehrt, bis beide lachend und mit Stoff beschwert auf dem Rücken lagen und zu Elsa hochschauten und ihr manchmal zuwinkten, wenn sie sie oben am Küchenfenster entdeckten.

Frantek aus der Werkskolonie, dessen Vater von Böhmen her und Steiger im Kohlebau war, hatte seine stolze Freundin sehr gern. Der Junge mit den strubbeligen Haaren und dem harten Akzent, der »Grubenlampe« mit einem rollenden »R« aussprach, besuchte mit Dora die dritte Klasse. Er saß rechts, bei den Jungen, und Dora links am Fenster, bei den Mädchen. Vermutlich wäre er Dora nicht weiter aufgefallen – gäbe es nicht jene Zeichnung, die Frantek mit seinem gut gehüteten Faberbleistift 6B während einiger Schulstunden angefertigt und Dora eines Tages heimlich zugeschoben hatte, als die Lehrerin wieder einmal damit beschäftigt war, die Schüler in Arbeitsgruppen einzuteilen: Sie sollten Liebesgaben basteln für die Soldaten an der Front. Seit diesem Tag bewahrte Dora Franteks Zeichnung, auf der ihr Gesicht bis zum Hals und sogar noch etwas Brustkorb zu sehen waren, in ihrer kleinen Holzschachtel auf, gebettet auf grünem Filz, weich und geheimnisvoll. Die Zeichnung war mit einem dicken, schwarz schraffierten Rahmen versehen. Sie sah aus wie eine Todesanzeige. Oft holte Dora Franteks Zeichnung heraus und fuhr mit dem Finger den schwarzen Rand entlang. Sie versuchte genauso verträumt zu schauen wie auf der Zeichnung. Frantek musste sich ganz schön bemüht haben, sie zwischen all den anderen Mädchen zu sehen. Oder hatte er sie gar frei aus dem Gedächtnis porträtiert?

Der Nachmittag legte sich mit wohliger Schwere über den Innenhof. Hinter den oberen Fenstern klapperte Geschirr, und der Hausmeister ging zwischen den Beeten über den schmalen, gepflasterten Fußweg, der zu den einzelnen Haustüren der Wohneinheit abzweigte. Sonst war er mit Unkrautjäten beschäftigt. Jetzt aber gab es Wichtigeres zu tun. Kohlen mussten besorgt werden. Und die neue Elektrik war schon wieder kaputt. Deshalb bemerkte er die beiden Kinder nicht, die kleine Striche auf einen der Wurstbegleitbriefe malten, die Doras Lehrter Tante vom Land in die Stadt geschickt hatte, zusammen mit leckerer Wurst.

»Weiter«, beharrte Frantek mit seiner leicht heiseren Stimme und bohrte ungeduldig seine Schuhe in die Steinchen jenseits der Beete. Einzelne Buchstaben standen schon auf den Strichen des Blattes, ein U, ein B und zwei zitronengelbe I, ergaben aber immer noch kein Wort. Jedes Mal, wenn Dora falsch riet, ergänzte Frantek seinen gezeichneten Galgen zur Strafe um eine weitere Gliedmaße; einen Arm, ein Bein und ganz am Ende den Kopf im Seil. Dora war keine gute Verliererin. Sie ärgerte sich, dass das Spiel »Vögel, Tiere und Fische« so schnell zu Ende war. Jetzt würde sie es Frantek heimzahlen, mit einem ganz besonders schwierigen Ratewort, auf das er nie und niemals kommen würde: »Strumpfband«.

Frantek tat genau das, was sie sich erhofft hatte. Ungeduldig zerknüllte er Tante Tonis Brief mit dem nun seinerseits verlorenen Ratespiel. »Gibt es nicht«, behauptete er, »und wenn doch, dann beweis es mir.«

Ein Windstoß fuhr durch das große Eingangstor in den Innenhof. Die kleine Papierkugel machte einen Satz und landete neben der Mauer, die ihr schattiges Plätzchen von der Kellertreppe abtrennte. Sie waren in einer Pattsituation, und alles hätte gut werden können, wenn Frantek nicht darauf bestanden hätte, ein solches »Strumpfband« einmal in seinen Händen halten zu wollen. Er stellte sich vor, es um sein Bein zu legen, vielleicht sogar um Doras Bein, wie Dora es ihm jetzt leise flüsternd beschrieb. Denn so hatte sie es einmal heimlich bei der Mutter gesehen: Die saß auf dem Rand ihres Bettes vor dem Ankleidezimmer und legte einen silbergrauen Streifen Stoff mit routiniertem Schwung um ihr Bein. Einen Moment lang wirkte sie auf Dora wie eine große Schauspielerin. Danach verlor sie das Bein der Mutter leider aus dem Blick, und sie konnte Frantek nicht recht erklären, wie der Abschluss gemacht wurde.

Sei’s drum – das Strumpfband war nun mal ein Ding für Frauenhände, und Frantek hatte eigentlich gar keinen Gedanken daran zu verschwenden. Dora ärgerte sich nun doch, das Wort, das zwischen Elsa und ihrer Mutter gefallen war, für ein gewöhnliches Ratespiel preisgegeben zu haben.

Im letzten Winkel des Blumenbeetes begann Dora deshalb auf einmal energisch Erde anzuhäufen. Ihre Hände arbeiteten flink. Die Erde setzte sich schwarz unter die Fingernägel. Das kleine Mädchen mit dem runden Gesicht, das Frantek nur für sich selbst »Mondgesicht« nannte, hörte gar nicht mehr mit Erdeschaufeln auf, und so gab Frantek das Strumpfband endlich auf und fragte, was sie da mache. Sie schaufelte und schaufelte, bis sich an der Hauswand ein kleiner Hügel gebildet hatte. Sie suchte etwas, fand schließlich eine kleine Astgabel, die geeignet schien. Die steckte sie oben auf, griff nach Franteks Hand und zog ihn mit sich. Sie kniete sich vor den Hügel und faltete die Hände wie zum Gebet und bedeutete ihm, es ihr nachzutun. Frantek ahnte, dass er jetzt nicht widersprechen durfte, und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Noch ein prüfender Blick zu ihr hinüber. Dann senkte er schweigend den Kopf.

»Sie werden siegen«, sagte Dora streng, und er beeilte sich zu nicken.

»Sie werden siegen«, wiederholte Dora, »genau so, wie Elsa das sagt.« Wieder nickte Frantek und starrte auf den kleinen Hügel mit dem Gipfelkreuz.

»Sie sollen aber auf keinen Fall Helden werden«, sagte sie.

Frantek stutzte. »Warum nicht?«

»Weil mein Vater dann nie mehr von der blauen Stunde spricht. Und weil wir dann keine Fröhlichwörter mehr tauschen.«

»Fröhlichwörter?« Frantek ließ verdutzt die Hände sinken.

Dora wies ihn stumm zurecht. Gehorsam brachte er sie wieder in Gebetshaltung.

»Fröhlichwörter. Genau.« Dora nickte eifrig. »Dann wird das Wetter schön.«

»Aber es ist doch schön.« Frantek sah in den wolkenlosen Himmel. Ein Engel mit schwarzen Locken.

Doch Dora war schon aufgestanden und bedeutete ihm zu gehen.

Später, als Frantek in seinen eigenen Hof in der Werksiedlung ein paar Kilometer entfernt getrottet war, unerlöst, weil das Strumpfband wie eine zarte Hand nach ihm griff, er aber nicht hätte sagen können, welcher Art der innere Tumult war, da ging Dora oben in der Wohnung rasch an Elsa vorbei in ihr Zimmer und verschwand in ihr Lieblingsversteck unter dem Tisch. Die Gaslampe schimmerte bläulich durch den Vorhang in ihre Höhle. Und nicht einmal Elsa konnte sehen, wie Dora jetzt leise vor sich hin summend das flache Holzschächtelchen hervorholte.

Mit einem kleinen Stab öffnete sie vorsichtig den Deckel. Franteks Zeichnung, die zuoberst lag, wanderte auf einen Extraplatz daneben. Sichtbar wurde der grüne Filzboden mit den leicht moderig riechenden Sägespänen aus dem Lehrter Stall von Tante und Onkel. Dora war froh, sie bei ihrer letzten Reise stibitzt zu haben. Der Stab, der die Schachtel öffnete, hielt jetzt den Deckel, und so konnte sie so lange hineinschauen, wie sie wollte.

Die Holzspäne bildeten eine Art Schlachtfeld, an dessen Rändern Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figuren aufgereiht nebeneinanderstanden: das Blauvolk gegenüber dem Gelbvolk und das Rotvolk gegenüber dem Grünvolk. Hätte jemand gehört, was Dora murmelte, während sie mit Fingerspitzengefühl einzelne Figürchen in Bahnen durch die Sägespäne zog, wäre das Wort »Krieg« gut zu hören gewesen, immer wieder aber auch die drei Worte »vertragt euch doch«. Erst leise, dann drängend und immer drängender.

Je mehr Rochaden gezogen wurden, desto bunter leuchtete das kleine Feld. Rot fasste Grün an der Hand, Gelb tanzte mit Blau. Das feierliche Finale war eingeläutet, wenn Franteks Dora-Porträt mitsamt der Figürchen in der Schachtel verschwunden waren.

Erst wenn Elsa rief, schlug Dora den Vorhang ihres Verstecks zurück, erschöpft und glücklich, als hätte sie eine verantwortungsvolle Aufgabe erneut gut gelöst.

»Mobil« war in diesen Jahren für Dora ein Wort mit Belag, eines ihrer Sammelwörter, die sie sich auf dem Papier notierte, das sie gleich unterhalb der kleinen Holzkiste mit den Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figuren aufbewahrte. Im gesamten Land und weit darüber hinaus wurde mobilgemacht. Brot und Butter und Zucker waren rationiert und auch mobil. Sie schienen Beine zu bekommen und davonzulaufen. Es gab Tage, da war die Schule wegen Kohlemangels geschlossen. Und andere, an denen minutenlang Fliegeralarm tönte. Die Trambahnen blieben stehen. Die Beleuchtung wurde abgeschaltet. Eltern griffen ihr Kind bei der Hand und liefen panisch los.

An solchen Tagen fühlte sich Dora dem Vater am nächsten. Sie war ja in Gefahr wie er selbst. Einmal ging der Alarm mitten auf der Straße los. Sie war allein und rannte und rannte und dachte an den Vater. Das Herz hüpfte wie ein wilder kleiner Ball, als wollte es aus ihrer Brust herausspringen. Sie rannte und suchte ihre Kastanie vor dem Fenster und das Eingangstor zum Hof und die Mutter oder Elsa, den Hausmeister wenigstens, diesen müden Mann, der immer die Beete aufwarf und goss. Niemand war da. Nicht einmal das Haus fand sie unter den vielen anderen Gebäuden der Straße.

Da stolperte sie und lag mitten auf dem kantigen Schotter, die Luft um sie herum sirrte und tönte wie tausend große, unsichtbare Insekten, und der Vater war da und nahm sie an der Hand. Ruhig, meine Kleine, sagte er. Gut sah er aus im Uniformrock, von der Fotografie über dem Esstisch direkt herausgetreten zu ihr auf die Straße. Er hatte keine Angst. Und mit einem Mal war auch bei Dora alle Angst verflogen. Ihre Haut fühlte sich an wie Metall, ganz kühl und glatt und fest. Nichts konnte ihr etwas anhaben. Sie war jetzt ganz stark und rappelte sich wieder auf, rannte los, aber nicht mehr konfus, sie sah sich um, registrierte die Gebäude, fand die Kastanie, das Törchen, die Mutter im Hof, die schon nach ihr gesucht hatte. Sie kämpfte, wie der Vater sicher kämpfte, sie wusste nicht, womit. Ein Gewehr hatte er sicher, und sie hielt jetzt auch ein solches Gewehr in der Hand, es fühlte sich gut an, angenehmer Holzgriff, so stellte sie es sich vor. Sie ließ es nicht mehr los, bis der Alarm endlich vorüber war.

Doch das Starksein kostete Kraft, und anschließend reagierte sie lange nicht, wenn jemand sie ansprach.

Einmal kam vom Vater auch für Dora ganz allein eine Feldpostkarte, die ihr Elsa abends am Bett vorlas, zusammen mit dem Bilderbuch Vater ist im Krieg, das Dora liebte und hasste zugleich, hin- und hergerissen war sie, ob sie den Vater einfach so hergeben wollte für das, was doch sicherlich richtig war, was nun einmal sein musste: sich zu wehren gegen den Feind. So sagte es auch Elsa. Und sogar Frantek sprach vom Feind als etwas, das zerstört werden musste.

Elsa steckte das Bilderbuch in einer Nacht unter Doras Kopfkissen. Am nächsten Morgen lag es am Boden, und Dora, gerade aufgewacht, zögerte lange, ob sie es aufheben sollte oder einfach liegen lassen. Dann nahm sie es doch in die Hand, blätterte darin und betrachtete lange die Bilder von den Soldaten, zu denen der Vater nun gehörte.

In der geräumigen Wohnung ging es sonst ruhig zu. Dem Vater hatte Dora jeden Abend, obwohl er sie schon ins Bett geschickt hatte, doch noch eine gute Nacht gewünscht. Ganz heimlich war sie in sein Zimmer geschlichen, wo er saß und las. Sie umarmte kurz seine Beine. Das traute sich nicht einmal Frantek bei seinem Vater, hatte er einmal gesagt. Doras Vater tätschelte ihren Kopf wie der Pastor in der Kirche. Mit seinem Segen konnte sie endlich einschlafen. Aber seit der Vater weg war, sagte ihr nur Elsa Gute Nacht. Die Mutter blieb abweisend, und Dora nannte sie im Stillen oft »Schneekönigin«.

Doras Zimmer lag direkt neben dem der Mutter – aber sie kam nie, um Dora Gute Nacht zu sagen. Dora nahm schließlich allen Mut zusammen und marschierte nach einigen Abenden, an denen sie hoffnungsvoll gewartet hatte, schnurstracks selbst hinüber. Sie klopfte, wartete auf eine Antwort, setzte sich auf den Stuhl zur Mutter, die meist schon im Bett lag, in weichen Wolken, das gelöste Haar wirr auf dem Kissen um ihren Kopf gelagert. Dora saß bei ihr wie bei einer Kranken. Doch die Mutter war nicht krank. Sie redete unentwegt. Sie sagte Dinge, die Dora überhaupt nicht verstand, weshalb Dora bald die Beine unter das Nachthemd zog und ganz fest wünschte, dass die Mutter sie einmal etwas fragte. Erfolglos. Es blieb zäh und zunehmend erschöpfend, und so unterließ Dora diese Abendbesuche bald ganz.

Nur mit Elsa verband sie eine große Wärme, die sie noch umgab, wenn Elsa zur Nacht die Zimmertür hinter ihr schloss. Elsas blauer, luftiger Sommerschal lag unter der Bettdecke bereit. Dora wickelte ihre kalten Füße darin ein. So konnte sie besser einschlafen.

Die Mutter sah sie bald nur noch bei den Mahlzeiten im Esszimmer, wo sie stets zu dritt aßen, zusammen mit Elsa, die neben dem leeren Platz des Vaters ihre Suppe löffelte und Dora dazu anhielt, ordentlich und gut zu essen, damit sie Speck auf die Rippen bekomme, den brauche sie, es seien schließlich harte Zeiten. Meist war die Mutter beim Essen erstaunlich stumm, ganz anders als abends in ihrem Schlafzimmer. Sie verschwand fast in den dunklen Tapeten, auf die Dora angestrengt ihren Blick heftete.

Wenn es die Mutter aber überkam, konnte es geschehen, dass sie sich Doras erinnerte und sie überfallartig an sich drückte. Dora rutschte dabei fast vom Stuhl. Es sei gut, dass der Krieg sie ihr noch gelassen habe, ihre Tochter, ihre einzige Tochter, sagte Louise Leydecker. Dann schob sie Dora wieder von sich, als könnte man sich an ihr verbrennen, hielt sie auf Abstand und studierte sie. Jede Hautveränderung fiel ihr auf. Das dauerte, und Dora wusste dann gar nicht mehr, wo sie noch hinschauen sollte, bis sie erneut in den Busen der Mutter eintauchen musste, um von ihr gedrückt und geherzt zu werden. Dora machte sich jedes Mal steif wie eine Holzpuppe. Wenn es vorbei war, atmete sie auf und kaute ihr Brot ganz weich.

Was ihr aber zusetzte wie sonst nichts, das war das Fehlen einer wichtigen Antwort. Sie hatte den Vater doch fragen wollen, ob es Wölfe gebe in Deutschland. Er hatte ihr nicht einmal in der einen seltsamen Nacht geantwortet, in der sie geträumt hatte, dass er selbst in einen Wolf verwandelt war. Er lebte gut aufgehoben in einem großen Rudel und trug sogar ein Monokel. Es ging das Gerücht, dass Sehhilfen dieser Art an der Front verboten waren. Ein Soldat mit Monokel war sicherlich genauso erstaunlich wie ein Wolf mit Monokel.

Am nächsten Tag erzählte sie Frantek davon und beschrieb ihm den Wolf, der ein Monokel trug. Frantek lachte so laut, dass sie ihm die Hand auf den Mund hielt. Kein weiteres Wort kam über ihre Lippen von dem komischen Traum. Rasch zählte sie einige ihrer Lieblingsspiele auf, Murmeln, Reifen, Hinkepott, bis sie selbst den Traum und bald sogar fast den Vater vergaß.

ISA 2014

An einem der nächsten Tage rief meine Tochter Clara an. Sie fragte: »Was machst du eigentlich am See?«

Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Ich beschäftige mich mit Dora, meiner Großmutter«, und betonte, »deiner Urgroßmutter«, so belehrend wie früher mein Vater uns gegenüber. »Dora hatte einen schlimmen Unfall«, ergänzte ich, um die Sache spannender zu machen.

»Echt?«, fragte Clara, und ich erzählte, was geschehen war. Ich holte weit aus und sprach von den Kriegen, die Dora erlebt hatte; und dass sie immer Zigaretten geraucht hatte mit Spitze. Ich erzählte, dass sie vieles aufgeschrieben hatte, und bot Clara sogar an, daraus vorzulesen. Ich drückte den Kunststoffknochen des Festnetztelefons fest an mein Ohr, während ich in den Unterlagen vor mir auf dem Tisch wühlte, um eine passende Stelle zu finden, die ihr Dora nahebringen würde.

»Schau, hier«, sagte ich und merkte gar nicht, dass Clara, das Luftwesen, schon wieder verweht war und mit anderen Dingen beschäftigt. Wenn ich ihr gegenübersaß, konnte ich immer gut sehen, wann sie ausscherte. Sie griff dann nach ihrem Handy, tippte etwas hinein, fixierte selbstvergessen in der Luft einen Punkt. Sie sagte sehr höflich »Ja«, wenn ich sie fragte, ob sie auch einen Espresso wolle. Stand das Tässchen vor ihr, schaute sie es verwundert an und fragte freundlich: »Für mich?«

Heute beendete Clara ebenso freundlich unser Gespräch, indem sie mitten in meine kleine, feierliche Dora-Rede hinein sagte, sie müsse leider auflegen, denn es habe an der Tür geklingelt. Was war nur über mich gekommen, so furchtbar missionarisch zu erzählen, als müsste Clara auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und sich postwendend ihren Ahnen zuwenden! Als gäbe es für eine Vierundzwanzigjährige nichts Wichtigeres zu tun. Hatte ich überhaupt nach ihrer neuen Arbeitsstelle gefragt? Wie die Kollegen waren? Ob sie noch aufgeregt sei bei den Konferenzen?

Ich konnte mich ohrfeigen für die vertane Chance, wollte alles wiedergutmachen, noch einmal bei Clara anrufen. Doch sie kam mir zuvor. Das Telefon in meiner Hand klingelte erneut.

»Clara?«, fragte ich.

»Papa«, sagte Clara, ich hörte ihre Schlüssel und Geschirr klimpern. – »Papa?«, fragte ich und: »Gut, dass du noch mal anrufst, ich wollte doch wissen, wie es dir geht.« Aber Clara sagte noch einmal, und jetzt klang es trocken, in ihren Aufbruch hinein, ich konnte fast sehen, wie sie ihre Tasche füllte, in die Schuhe schlüpfte, ich konnte sogar hören, wie sie jetzt auf der Toilette saß und dann spülte und sagte: »Papa. Der ist seltsam. Er ruft ständig hier an.« Das Wasser, als sie sich die Hände wusch. Den Hörer hatte sie jetzt untergeklemmt. Die nächsten Sätze klangen wie unter Wasser. »Alles in Ordnung bei euch?«

Dann musste sie aber wirklich schnell gehen und verabschiedete sich, noch bevor ich etwas erwidern konnte.

Nach dem Gespräch mit Clara war es still, stiller als still. Draußen flog erst ein großer Fischreiher vorbei. Danach zwei kleine Vögel im kunstvollen Synchronflug. Zeitgleich gelang ihnen eine Reihe gemeinsamer Flügelschläge. Sie wirkten auf einmal wie bestellt, so, als sollten sie mich unterhalten. Aber weder war ich der Mittelpunkt für zwei kleine Vögel noch für Clara. Genau genommen war ich derzeit niemandes Mittelpunkt. Ich stand nicht einmal bei jemandem »unter«. Früher war ich im Windschatten meiner großen Schwestern zur Schule geradelt, so nah, dass mein Vorderreifen fast ihre Hinterreifen berührte. Danach glitt ich von Beziehung zu Beziehung. Aber schon meine Kurzzeitfreunde, in der Zeit lange bevor ich Paul kennenlernte, boten längst nicht so guten Windschatten wie meine Schwestern. Auch Paul, erkannte ich nach Claras Bemerkung, suchte, anstatt die Konflikte mit mir auszutragen, offenbar woanders Windschatten, und ausgerechnet bei Clara, die gerade genug Eigenes zu stemmen hatte. War es so nicht immer schon gewesen? Hatte er sich nicht immer schon mit Clara und Lennard solidarisch zu machen versucht, um seine Positionen durchzusetzen? Ich hatte mich nur schon so daran gewöhnt, dass es mir gar nicht mehr richtig aufgefallen war – erst jetzt, wo ein Teil von mir Pauls Zuwendung dringend verlangte; der andere Teil zugleich dichtmachte. Ich konnte dabei zusehen, wie ich mich von Paul allmählich entfernte. Es tat mir leid, aber es gelang mir nicht, etwas dagegen zu tun.

Aufgewühlt verließ ich die Wohnung und marschierte durchs Dorf und die Steintreppen hinauf zur Kirche auf der Anhöhe. Von hier aus konnte man über den ganzen See blicken. Die Weite des Wassers, das sich zur nahen Insel hinüberspannte, wirkte großzügig. Könnte ich großzügig denken, würde ich uns eine neue Runde gönnen. Aber der Schock saß tief. Der Abend zu Hause, der meiner Abreise vorangegangen war. Paul hatte einen Auftritt und war wie so oft abends außer Haus. Ich saß an einem längeren Text mit Abgabedruck, hatte aber wenig Energie und wechselte bald in Pauls Sessel. Hier hörte er viel Musik und bereitete sich als Kontrabassist des städtischen Orchesters auf neue Stücke vor. Hatte er sie im Ohr, belohnte er sich mit Jazz, einer Musik, mit der ich nie so ganz warm wurde.

Trotzdem zog ich eine seiner Jazzplatten heraus, um es Paul zuliebe noch einmal damit zu versuchen. Vielleicht hatte ich da bereits eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte, vielleicht suchte ich da schon nach kleinen Unstimmigkeiten, wer weiß. Auf dem Zettel jedenfalls, der mit dem Vinyl aus der Hülle herausfiel, stand etwas in Pauls Handschrift. Diese Tatsache allein beunruhigte mich noch nicht. Er versteckte gerne überall Zettel. Botschaften mit wilden Hörassoziationen oder auch eine ausgeschnittene Plattenrezension. Manchmal auch Geldscheine zwischen Büchern, die mir entgegenfielen, wenn ich sie herausnahm und aufschlug. Einen Zwanzig-Mark-Schein fand ich erst zwanzig Jahre später in einem Roman, den ich einmal sehr gemocht hatte. Pauls Zettel und Scheine waren kleine Belohnungen für den Finder vergessener Bücher und Platten. Dass ich es sein würde, die eines Tages eine seiner Jazzplatten herausziehen würde, hatte Paul wohl nie für möglich gehalten.

Meine Hand mit dem Zettel auf dem abgewetzten Sitzpolster. Die Dauer, bis der Groschen fiel.

Tausend Dank für den Tag gestern im Park. Wann sehen wir uns wieder? Ich küsse Dich, küsse Dich, küsse Dich. Dein Paul.

Ich suchte im Plattengewirr vor mir nach einer Ordnung. Bestaunte auf einmal das technische Wunder, das Töne aus diesen Rillen zauberte. Begriff mit der Langsamkeit des Weges, den die Information brauchte, bis sie mich erreichte: Paul hatte diese Liebesworte an eine andere adressiert.

Wieder und wieder dieser Moment in Pauls Sessel. Seit meiner Ankunft kreiste er in meinem Kopf. Auch jetzt begleitete die Erinnerung mich die Stufen wieder hinunter ins Dorf und bildete quälende Wiederholungsschleifen, bis ich längst wieder in meiner Straße war.

Zurück an der Haustür, ging am Nachbareingang auch jemand hinein. Offenbar gab es nebenan Mieter. Der Mann war in meinem Alter und winkte freundlich. Ich winkte zurück. Als ich wenig später auf den Balkon trat, stand er auf dem Balkon direkt neben meinem. Ohne sich vorzustellen, verwickelte er mich über das kniehohe Trenngitter hinweg unmittelbar in ein Gespräch über Perspektiven, wobei er immer wieder temperamentvoll auf den See und die Voralpen deutete, die sich heute besonders scharf gegen den Himmel abzeichneten, was auch ich außergewöhnlich fand.

Lange vor den ersten Kinos habe es Panoramatheater gegeben, erzählte er. Stereoskopien. Doppelbilder mit 3-D-Effekt. Das habe sich auch der medienbewusste Kaiser Wilhelm nicht nehmen lassen. Man habe für diese phänomenale Aussicht nicht einmal vor die Tür gehen müssen. Ob ich das wisse?

Ich ließ es mir erklären, und tatsächlich war sein Vortrag anschaulich. Seine Stimme war angenehm; nicht zu laut und sehr dunkel, sodass ich mich dabei ertappte, mich dem uns trennenden Balkongitter immer mehr genähert zu haben. Es war eine seltsame Art der Kontaktaufnahme, da er mich selbst überhaupt nichts fragte. Er wollte nicht wissen, woher ich kam. Er wollte nicht wissen, wie lange ich blieb. Und auch ich hatte ihm diese Standardfragen nicht gestellt. Wir waren mit einem kurzen, selbstverständlichen Gruß von unseren Balkonen verschwunden.

Paul hatte mich ein paarmal versucht anzurufen. Aber ich war zu sprachlos, um ans Telefon zu gehen. Stattdessen suchte ich nach einer Möglichkeit, Dora auch auf den Spaziergängen bei mir zu haben – in Form eines Bildes. Um sie abzufotografieren, aktivierte ich die Kamera meines Handys – und stutzte: Statt ihrer war ich selbst im Display zu sehen, mit vorgeschobenem Kopf wie Dora, so, als wollte ich ins Gerät kriechen. Erschrocken legte ich das Smartphone beiseite und beging meinen zweiten Frevel an der Vergangenheit: Ich blätterte in dem Album und fand ein Foto, auf dem Dora allein zu sehen war, mit stoisch-undeutbarem Blick. Kurzerhand riss ich es heraus. Die Stille zerbarst. In der einen Hand hielt ich das Foto von Dora in die Höhe wie eine Trophäe. Meine andere Hand hielt noch die Albumseite, auf der jetzt ein kleines Loch klaffte. Ich blinzelte hindurch und sah das mir Bekannte: Die Küche, die Balkontür, den Griff der Balkontür. In wie vielen solcher Räume war ich schon gewesen? Als Tochter, Schwester, Berufstätige, Ehefrau, Mutter?

Statt Doras Foto abzufotografieren, fotografierte ich mich zur Versicherung meiner Anwesenheit selbst. »Red doch nicht so dumm daher«, hatte mein Vater oft gesagt. Ich drehte seine Worte in meinem Mund wie reife Pflaumen aus unserem alten Obstgarten. Ich kaute und schluckte und pulte den Stein aus meinem Mund und war wieder so klein wie damals, als die Pflaumenbäume noch standen und prächtig trugen.

DORA 1918–1920

Lange vier Kriegsjahre gingen ins Land. Dora wuchs um einige merkbare Zentimeter und musste sich bald krümmen, um in ihr Versteck unter dem Tisch zu passen. Als Dora merkte, dass sie genauso groß wie Frantek war, erfand sie den Gleiche-Größen-Tag, den sie gebührend feierten. Dem folgte bald der Tag kurz nach Doras zwölftem Geburtstag, als nach der Schule, anders als sonst, nicht Elsa, sondern die Mutter auf Dora wartete. Doras Herz klopfte, als sie die ungewohnte Abholerin sah. Es war jedoch eine gute Nachricht, die ihr der seltene Auftritt der Mutter am Schultor bescherte: Doras Vater, Soldat bei der Infanterie, Regiment 6, der in diesen vier Jahren nur einmal auf Fronturlaub in Essen gewesen war, wurde für die nächsten Tage erwartet. Er war doch kein Held geworden. Dora atmete erleichtert auf.

Wie der Vater aussah, das wusste sie fast nur noch von der gerahmten und von der Mutter täglich mit einem Gebet bedachten Fotografie an der Wand. An seinen Bart konnte sie sich am besten erinnern. Er raschelte, wenn der Vater sich daran kratzte. Jetzt stand da ein Mann, dessen kratziger Backenbart das ganze Kinn bewaldete.

Am Abend wollte Dora wie immer ihre Holzkiste öffnen, hatte aber gar keine rechte Lust. Sie tat es trotzdem, mehr aus Gewohnheit. Die Spielfiguren langweilten sie. Sie kämpften nicht und tanzten nicht. Es waren einfach nur Holzpöppel. Nicht mal mehr anfassen wollte Dora sie jetzt.

Nur die Zeichnung von Frantek studierte sie wie eh und je und sogar noch genauer als sonst. Wie gut er mit seinem Stift ihre Grübchen erfasst hatte! Sie trat vor Mutters Spiegel und suchte sie in ihrem Gesicht. Sie waren noch da. Aber drum herum sah es jetzt ganz anders aus. Sie war schmaler geworden. Von Pausbacken keine Spur.

Heute nahm sie zum ersten Mal selbst wieder ihr Skizzenbuch zur Hand. Viele Wölfe und allerlei Pferde waren darin verewigt. Diesmal genügten ein paar Striche mit dem Kohlestift für ihr erstes Porträt eines Menschen. Es war der Vater mit seinem Bartwald am Kinn. Sie notierte das Wort auf ihrer Wörterliste: »Bartwald«. Das klang nach einem guten Versteck.

Dass der Vater wieder im Haus war, bemerkte Dora nur an den vielen Zigarettenstummeln. Sie lagen im Innenhof, vor dem Haus und auf der Straße. Sie sammelten sich im Rauchzimmer und manchmal sogar in der Waschküche im Keller vor dem Eingang zum Kohlenverschlag. Man erkannte sie daran, dass sie angekaut waren, als hätte der Vater sie mit dem Naschwerk verwechselt, das er Dora früher in der Bahnhofsgaststätte Kaiserhof spendierte. Die blaue Stunde war aus seinem Gedächtnis gelöscht, und es galt allgemein als großes Herrengeheimnis, wie er es schaffte, von allen Bewohnern im Haus unbemerkt die verschiedenen Orte aufzusuchen. Keiner hatte ihn je beim Rauchen gesehen. Selbst sein Mantel, der mit den Raglanärmeln, den der Vater vor dem Krieg immer nur seinen »Braunen« genannt hatte, wie ein Pferd, schien den Rauch seiner vielen Zigaretten nicht halten zu können.

Man sah Ernst Leydecker dafür des Öfteren mit seinem Kompass im Essener Stadtgarten sitzen; dort, wo die Jungen eine kleine Fläche zugeteilt bekommen hatten, auf der sie Fußball spielten. Er kam, wenn der erste Schuh den Ball berührte, und er ging, wenn sich das letzte Kind nach Hause getrollt hatte. Über die ganze Zeit, also etwa zwei Runden des Stundenzeigers, nahm er von den Kindern keinerlei Notiz, sondern war ganz in seinen Bézard vertieft. Mit Andacht holte er ihn aus dem hellbraunen Lederetui, das von vielem Gebrauch und Nässe hart geworden war. Die Tragschnur legte er sich um den Hals. Erst klappte er das Gehäuse, danach den dünnen Metallspiegel auf. Sein Finger glitt über den drehbaren Glasring, unter dem die Magnetnadel zitterte. Der Blick verweilte auf der Windrose und deren Markierungen, während Erinnerungen in ihm aufstiegen, an Nächte mit Nebel und jenem anderen, einem Kameraden, dessen Name sich in ihm eingebrannt hatte. Es kam vor, dass er den Kompass an den Mund führte und auf das runde Spiegelmetall hauchte. Der Kompass hatte ihm gute Dienste geleistet. Und auch jetzt zeigte die Magnetnadel zuverlässig nach Norden.

Zu Hause nahm er sein Bézardchen, wie er den Kompass zärtlich nannte, umgehend aus der Rocktasche und gab ihn Elsa, die ihn in ihrer weißen Kittelschürze verstaute. Sie hatte nun die ehrenvolle Aufgabe, ihn zu putzen, was schnell getan war, da er handlich war, nur ein Taschenkompass in unempfindlichem Olivgrün. Schmutz haftete längst nicht mehr daran. Elsa gab sich trotzdem redlich Mühe, unter den wachsamen Augen Ernst Leydeckers keinen Quadratmillimeter auszulassen.

Bei diesem fast täglichen Ritual war Dora oft zugegen. Die Mutter war in der Küche beschäftigt oder hatte sich an ihre Spiegelkommode zurückgezogen. So saßen sie wiederum nur zu dritt am Esstisch, meist nachmittags zu einer Tasse Tee unter dem großen Gemälde und der Uhr, die das Ritual mit ihrem notorischen Ticktack begleitete. Dora zeigte Interesse für den Kompass und fragte, wohin man käme, folgte man der Nadel nach Norden. Aber der Vater hatte nur Augen für den Reinigungsvorgang und verfolgte genau, wie Elsa der Gründlichkeit wegen einen stählernen Zahnstocher zur Hilfe nahm, mit auf der Spitze aufgesetztem Stoffmützchen, um auch in die schmale Enge zwischen Gehäusedeckel und Kompass gelangen zu können.

War Elsa gegangen, saß Dora immer noch da, wie hypnotisiert von der Feierlichkeit der Handlung. Zu unterbrechen wagte sie nie, so fern war ihr dieser Mann, den sie manches Mal diese Worte vor sich hin murmeln hörte: »In Gottes Namen fang ich an, was mir zu tun gebühret. – In Gottes Namen fang ich an, was mir zu tun gebühret.«

Ernst Leydecker wiederholte die Worte wie eine Beschwörungsformel. Dann stand er auf, marschierte zielstrebig hinüber ins Rauchzimmer und trat an die große Vitrine, in der die Flasche mit dem goldenen Saft immer gut gefüllt bereitstand. Dora folgte ihm bis zum Türrahmen und verhielt sich mucksmäuschenstill. Irritiert lauschte sie seinem Selbstgespräch.

»Was man in Gottes Namen tut, mit glaubensvollem Sinn und Mut«, er goss sich noch etwas nach, »das muss uns wohlgedeihen.« Er hob das Glas und hielt es gegen das letzte Tageslicht. »Jawohl. Das muss uns wohl gedeihen. Na dann man Prost, Kameraden!«

Und dann hob er sein Glas – das war der gespenstischste Moment – einer Fotografie entgegen, auf der er selbst zu sehen war, ein stolzer Soldat in Uniformrock.

Machte Dora doch aus Versehen ein Geräusch, drehte er sich langsam um und sah sie lange an, als suchte er in seinem Gedächtnis, woher er sie kannte. Dann winkte er sie mit seinem dünnen Arm heran, und sie freute sich schon, weil er sie endlich bemerkt hatte. Seine bebende Hand deutete aber nur auf das Glas.

»Vitamine«, betonte er. »Vitamine sind wichtig, mein Kind.«

Dora trat einen Schritt zurück. Dann noch einen und noch einen, bis sie schließlich wieder an der Tür angekommen war. Der Vater schien wie ausgetauscht. Und doch war er ihr vertraut. Er machte ihr Eindruck mit seiner großen Erscheinung und den lässigen Armbewegungen. Aber es war etwas hinzugekommen, das sie nicht verstand.

Abgesehen von solchen Vorkommnissen ging der Hausherr seiner Arbeit bei der Hauptpost bald wieder zuverlässig nach. Er trug jetzt eine silberne Nickelbrille und statt eines Zylinders den bequemeren Herrenhut. Den Bart hatte er sich der Mode wegen vorübergehend ganz abrasieren lassen. Und auch das Zittern war nach einigen Monaten, in denen Dora ihm möglichst aus dem Weg gegangen war, fast gänzlich verschwunden. In der großen Leydecker’schen Beamtenwohnung nahm alles wieder seinen gewohnten Lauf. Gesprochen wurde nur über Belangloses, und das inzwischen sehr gerne auch bei Tisch. Sogar die Mutter lebte sichtlich auf und wandte sich ihrer kleinen Familie mit besonderem Augenmerk auf Äußerlichkeiten zu. Gebürstete Kleidung war ihr wichtiger als Tagesaktuelles. Die wirren Verhältnisse dieser noch jungen Republik entschied man, so weit möglich, zu ignorieren. Der Kaiser hatte abgedankt und war ins Exil nach Holland geflohen, wovon in der Familie Leydecker allgemein Notiz genommen wurde, viel mehr aber auch nicht.